Möbius, Paul Julius (1898)

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Möbius, Paul Julius: Ueber das Pathologische bei Goethe. Leipzig: J. A. Barth 1898. Erstdruck (Werkverzeichnis Steinberg 1898i).


Einen Zweig der Menschenkunde nennt Möbius das Fach Psychiatrie. (S. 4) Heute ist Anthropologie ein unentbehrlicher Begriff in der wissenschaftlichen Psychiatrie geworden.

Zur Wahrnehmung von psychischer Krankheit in der Gesellschaft schreibt Möbius, dass jeder für geistig gesund gelte, sofern ihm nicht das Gegenteil nachgewiesen worden sei. Dann allerdings werde er aus der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen, sozusagen in eine andere Klasse versetzt. Am Beispiel Goethes zeigt Möbius, dass es Zwischenformen gibt zwischen Gesundheit und psychischer Erkrankung.

Er beschreibt in Goethes Lebenslauf periodisch auftretende Phasen mit gesteigerter dichterischer Produktivität, die jeweils etwa zwei Jahre anhalten. Dazwischen liegen in der Regel sieben bis acht Jahre mit weniger herausragenden Werken. Diese Periodizität deutet Möbius als bipolares Alternieren zwischen hypomanen Phasen und Depressivität. Manifeste Psychosen attestiert Möbius Goethe nicht.

Goethe selbst hatte in "Dichtung und Wahrheit" (II/8) bekannt: Meine Natur, von hinlänglichen Kräften der Jugend unterstützt, schwankte zwischen den Extremen von ausgelassener Lustigkeit und melancholischem Unbehagen. Das dürfte - folgt man Möbius - nicht nur für die Studienzeit in Leipzig gegolten haben, sondern für Goethes gesamtes Leben.


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Thomas Manns Künstler-Roman «Doktor Faustus» und der Psychiater Paul Julius Möbius[Bearbeiten]

Als Medizinschriftsteller blieb Möbius nicht unbeeinflusst vom Zeitgeist des Fin de siècle und der literarischen Décadence. Ein Blick auf die neuere schöne Literatur zeigt, daß das Interesse am Pathologischen wächst. (S. 5) Zu einer Genialisierung durch Krankheit meint Möbius in dieser Schrift von 1898:

Aber das Elementarische, das Hinreißende, das Jeden auf unerklärliche Weise ergreifende, das kommt fast nur den Erzeugnissen der dichterischen Entzündung zu: das Pathologische ist Bedingung des Höchsten. Die Inspiration setzt einen veränderten Geisteszustand voraus, der nach Goethes eigener Aussage dem Schlafwandeln verwandt ist. Die Willkür kann zu bewunderungswürdiger Schönheit führen, aber das Dämonische entsteht unbewusst. (S. 174/75) [1]

Thomas Mann kannte Möbius’ Pathographien. 1901 konzipierte er seinen Syphilis-Roman Doktor Faustus, den er erst 1943, im Alter von 68 Jahren, zu schreiben beginnt.[2] In ihm nimmt er Möbius’ Formel der dichterischen Entzündung wörtlich, klinisch sozusagen und beschreibt im Roman, wie eine syphilitische Enzephalitis einem Komponisten die begehrte geniale Inspiration ermöglicht, ihm künstlerisch zum Durchbruch verhilft.

Im I. Kapitel ist bereits die Rede von der jedenfalls (von Thomas Mann hervorgehoben) dämonisch beeinflussten Natur des Genies. Im XXV. Kapitel lässt Thomas Mann den Teufel persönlich auftreten. Vor dem Komponisten, dem es nach dem Elementarischen verlangte, doziert er über die Lage der Kunst in der sich ankündigenden Postmodern. Dabei wiederholt der Teufel fast wörtlich Möbius' fragwürdige Voraussetzung für Genialität.

In einem Brief vom 30.12.1945 an Theodor W. Adorno hat er diese Aneignung von Material für die Gestaltung von Sprachkunst selbstironisch höheres Abschreiben genannt.

  1. Anmerkung des Herausgebers: Naturwissenschaftlich oder empirisch-kasuistisch lässt sich eine Genialisierung durch Krankheit nicht verifizieren. Die Verbindung von Krankheit und Genie ist ein Mythologem, dessen Wurzeln bis in die Antike zurückreichen. Die Gottheit Apoll sendete Krankheiten und beschützte zugleich die Künste.
  2. Thomas Mann datierte die Entwurfsskizzen seiner Erinnerung nach auf 1901. Die Editoren von Thomas Manns Notizbüchern halten 1904 für wahrscheinlicher.