Bamberger Einführung in die Geschichte des Islams (BEGI) 05

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5. Die Spaltung der Umma: Charidschiten und Schiiten (656-692)

Die Spannungen, die schon während des Kalifats ʿUthmāns sichtbar wurden, brechen voll aus. Die Gemeinschaft der Muslime spaltet sich in verschiedene Untergruppen, die eigene religiös-politische Lehren entwickeln und sich gegenseitig bekämpfen. Die Umaiyaden errichten als Gegenheiligtum zur Kaaba den Felsendom. Als neue religiöse Spezialisten treten Muftis und Koranexegeten auf.

5.1. Die erste Fitna (656-661)

Die Tötung ʿUthmāns brachte eine mehrjährigen Periode der Zwietracht über die islamische Gemeinschaft, die in den arabischen Quellen als Fitna („Versuchung“) bezeichnet wird. Es muss auch hier wiederum darauf hingewiesen werden, dass es für die Ereignisse und Entwicklungen in dieser Periode keine zeitgenössischen Quellen gibt. Die mündliche Überlieferung ist erst im 8. Jahrhundert schriftlich fixiert worden, und zwar in arabischen Monographien zu einzelnen Ereignissen, die vor allem von Schiiten, also Parteigängern ʿAlīs und seiner Nachkommen, verfasst wurden. Auf Auszügen aus diesen Werken fußt im Wesentlichen die Darstellung der Fitna in den erhaltenen arabischen Geschichtswerken. Wir liefern anhand dieser Quellen im Folgenden eine Zusammenfassung der wichtigsten Ereignisse.

5.1.1. Das umstrittene Kalifat ʿAlīs und die Kamelschlacht

ʿAlī (erkennbar an seinem Schwert Dhū l-faqār) und ʿĀ'ischa bei der Kamelschlacht, Darstellung in dem persischen Geschichtswerk Rauḍat aṣ-ṣafā von Mīrchānd (gest. 1498)

Nach der Ermordung ʿUthmāns leisteten viele der Aufständischen, die dessen Haus belagert hatten, ʿAlī den Treueid und forderten ihn dazu auf, das Kalifat zu übernehmen. ʿAlī zögerte zunächst, nahm aber fünf Tage später die Baiʿa als Kalif entgegen. Auch die Ansār sprachen ihm den Treueid aus. Das Kalifat ʿAlīs wurde jedoch nicht allgemein anerkannt. Viele bedeutende Prophetengefährten verweigerten ihm die Huldigung. Teilweise begründeten sie das damit, dass bei ʿAlīs Wahl kein reguläres Schūrā-Gremium getagt hatte. Auch wenn Mālik al-Aschtar, einer der glühendsten Anhänger ʿAlīs, einige von denjenigen, die die Huldigung verweigerten, mit Waffengewalt bedrängte, änderte das nichts an ihrer Haltung.

Die Angehörigen und Anhänger der Familie Umaiya, darunter auch mehrere bekannte Dichter, hatten schon vorher Medina verlassen und sich nach Syrien begeben, wo ʿUthmāns Gouverneur und Verwandter Muʿāwiya an der Macht blieb und ʿAlī die Gefolgschaft verweigerte. Sie machten ʿAlī den Vorwurf, an dem Mord ʿUthmāns mitschuldig zu sein, zumal da er gezwungen war, sich auf die Kräfte zu stützen, die gegen ʿUthmān opponiert hatten. Muʿāwiya, der sich selbst bereits einige Verdienste bei den Futūh in Syrien und Palästina erworben hatte, trat nun als Bluträcher seines Vetters ʿUthmān auf und erklärte die Wahl ʿAlīs für ungültig, da sie nur durch eine Minderheit erfolgt sei. ʿAlī wurde von dieser „Partei ʿUthmāns“ (šīʿat ʿUṯmān) als jemand dargestellt, der auf der Grundlage einer Bluttat in das Amt des Kalifen gelangt war.

Eine dritte Partei in dem Konflikt bildete sich in Mekka um die beiden Prophetengefährten Talha ibn ʿUbaidallāh und az-Zubair ibn al-ʿAuwām. Zusammen mit ʿĀ'ischa, der Prophetenwitwe und Tochter von Abū Bakr, und ca. 3.000 Kämpfern begaben sie sich im Oktober 656 nach Basra, wo sie sich eine Widerstandsbasis aufbauten. Ihren Kampf gegen ʿAlī rechtfertigten sie auch damit, dass dieser keine Anstalten machte, die Mörder ʿUthmāns zu bestrafen. Ihre Parteibildung hatte allerdings auch eine tribale Komponente, denn ʿĀ'ischa und Talha gehörten beide dem quraischitischen Clan der Taim an. Az-Zubair war zudem mit ʿĀ'ischas Halbschwester Asmā' verheiratet. Ein weiterer tiefer liegender Grund für diesen Konflikt war wahrscheinlich die latente Spannung, die zwischen ʿĀ'ischa und ʿAlī seit dem Halskettenskandal (vgl. oben 3.2.6.) bestand, denn ʿAlī hatte damals Muhammad dazu geraten, ʿĀʾischa zu verstoßen. Dies soll ʿĀʾischa ʿAlī niemals verziehen haben.

ʿAlī zog seine Truppen in Kufa zusammen. Nachdem halbherzig geführte Friedensverhandlungen gescheitert waren, schritt er Ende 656 zum Kampf und fügte seinen Gegnern eine vernichtende Niederlage zu: az-Zubair wurde auf der Flucht getötet, Talha fiel im Kampf, ʿĀʾischas Gefolge kämpfte danach noch wacker weiter, wurde aber ebenfalls besiegt. Da ʿĀʾischa dieser Schlacht in einer Kamelsänfte beigewohnt hatte, hat man sie Kamelschlacht genannt. ʿAlī ließ gegenüber seinen Gegnern allerdings Milde walten: ʿĀʾischa wurde mit einer Ehrenbegleitung nach Medina zurückgeschickt, die Rebellen mehrheitlich begnadigt.

Die Kamelschlacht war die erste Schlacht, bei der zwei muslimische Heere gegeneinander kämpften. Die vernichtende Niederlage der Partei ʿĀ'ischas bei dieser Schlacht ist auch darauf zurückzuführen, dass sie innerlich zerstritten war und wenig Rückhalt besaß. Einige Prophetengefährten hatten sich bewusst von jeglicher Parteinahme ferngehalten. Darunter waren auch solche, die es ablehnten, unter dem Kommando einer Frau zu kämpfen, wie Abū Bakra ath-Thaqafī, der in diesem Zusammenhang äußerte, er habe den Propheten sagen gehört, dass niemals ein Volk, dessen Angelegenheiten von Frauen regiert werden, zu Wohlstand gelangen werde. Dieses Diktum hat Aufnahme in die großen Sammlungen von Prophetentraditionen gefunden und wird bis heute von Muslimen als Argument dafür verwendet, Frauen von politischen und juristischen Ämtern auszuschließen.

5.1.2. Siffīn, die Einsetzung des Schiedsgerichts und die Sezession der Charidschiten

ʿAlīs Sieg in der Kamelschlacht sicherte ihm die Herrschaft über die beiden irakischen Lagerstädte Basra und Kufa, auf die gestützt er nun den Kampf gegen den Umaiyaden Muʿāwiya und die Syrer aufnehmen konnte. Von großer Bedeutung für den weiteren Verlauf der Ereignisse war, dass Muʿāwiya ʿAmr ibn al-ʿĀs, den bereits erwähnten Eroberer von Ägypten, mit dem Versprechen, ihn wieder als Statthalter in Ägypten einzusetzen, für seine Seite gewinnen konnte und dieser die Führung seines Heeres übernahm. Der kinditische Militärführer Schurahbīl ibn Simt verbreitete in Syrien, dass ʿAlī ʿUthmān ermordet habe, und half Muʿāwiya auf diese Weise, die syrischen Araber, in deren Reihen es bis dahin große Sympathien mit ʿAlī gegeben hatte, hinter sich zu vereinen. Im Frühsommer 657 trafen die beiden Heere bei Siffīn am oberen Euphrat nahe dem heutigen Raqqa aufeinander. Wochenlang lagen sich die beiden Armeen gegenüber; doch kam es trotz zahlreicher Gefechte nicht zu einer Entscheidungsschlacht. Als es schließlich im Juli einem Befehlshaber ʿAlīs gelang, die ihm gegenüberstehenden Syrer in die Enge zu treiben und teilweise zu schlagen, griff Muʿāwiya auf Rat von ʿAmr ibn al-ʿĀs zu einer List. Er schickte eine Schar Syrer in das Lager ʿAlīs, die an die Spitzen ihrer Lanzen Koranexemplare befestigt hatten und mit lauter Stimme riefen, man solle einen Waffenstillstand gewähren und die Entscheidung dem Urteil des heiligen Buches überlassen. Al-Aschʿath ibn Qais, der zwischen den beiden Seiten zu vermitteln versuchte, überredete ʿAlī, der Einsetzung eines Schiedsgerichtes zuzustimmen, das über das Verhalten ʿUthmāns, die Schuld an dessen Tod und damit auch indirekt auch die Rechtmäßigkeit seines eigenen Kalifats entscheiden sollte.

Ein Teil von ʿAlīs Anhängern lehnte mit Verweis auf Koranverse, die den Kampf gegen Rebellen gebieten, das geplante Schiedsgericht als unrechtmäßig ab, da es nur ein menschliches Urteil fällen konnte, während sie ein Gottesurteil in Form einer Schlacht verlangten. Noch während sie in Siffīn waren, erhoben einige von ihnen in Anlehnung an koranische Formeln (vgl. z.B. Q 12:40) den Ruf: „Die Entscheidung/Herrschaft steht allein Gott zu!“ (lā ḥukma illā li-Llāh). Diesen Leuten schlossen sich andere an, und nach der Rückkehr nach Kufa zogen sich mehrere tausend von ihnen in einen in der Nachbarschaft gelegenen Ort namens Hārūrā zurück und sagten sich von ʿAlī los. Offenbar verbanden sie mit ihrer Parole theokratische Vorstellungen, denn sie verkündeten, dass man die Baiʿa allein gegen Gott leisten dürfe. Sie betonten außerdem das koranische Prinzip des Gebieten des Rechten und Verbieten des Unrechten (vgl. Q 3:110) und forderten, dass ein Konsultativgremium (Schūrā) den neuen Führer der Gemeinschaft wählen sollte.

Der Nahrawan-Kanal auf einer Photographie aus dem Jahr 1909

Um die Leute von Hārūrā zur Aufgabe ihres Widerstandes zu bewegen, nahm ʿAlī mit ihren Anführern Verhandlungen auf. Aus dem, was über diese Verhandlungen überliefert ist, wird klar, dass die Leute von Hārūrā die Tötung von ʿUthmān, von Talha und Zubair bei der Kamelschlacht sowie der Anhänger von Muʿāwiya als rechtmäßig ansahen und von einem Schiedsgericht erwarteten, dass ihnen die Berechtigung für ein Vorgehen gegen diese Personen abgesprochen werden sollte. Offenbar gelang es ʿAlī, einige Leute von Hārūrā mit seiner Herrschaft zu versöhnen und zur Rückkehr in sein Lager zu bewegen. Allerdings kam es im Frühjahr 658 zu einem zweiten Auszug der Unzufriedenen, als klar wurde, dass ʿAlī an der Abhaltung des Schiedsgerichts festhalten wollte. Dieser Auszug, an dem sich drei- oder viertausend Menschen beteiligten, führte zum Kanal von an-Nahrawān östlich des Tigris. Die Leute von Nahrawān, die sich mit ʿAbdallāh ibn Wahb ar-Rāsibī einen eigenen Anführer wählten, verlangten von ʿAlī das Eingeständnis, dass er mit seiner Zustimmung zum Schiedsgericht eine Sünde und einen Akt des Unglaubens begangen habe, und forderten weiter die Rücknahme seiner Entscheidung. Der Fanatismus der Angehörigen dieser Gruppierung manifestierte sich in einer Anzahl von terroristischen Aktionen. Sie erklärten bald nicht nur ʿAlī und ʿUthmān für Ungläubige, sondern auch alle diejenigen, die ihnen in dieser Auffassung nicht zustimmten. Personen, die ʿUthmān und ʿAlī nicht verfluchen wollten, wurden grausam ermordet. Eines ihrer prominentesten Opfer war der Sohn des Prophetengefährten Chabbāb ibn al-Aratt. Er wurde 658 zusammen mit seiner schwangeren Frau von Leuten aus an-Nahrawān umgebracht. In den arabischen Quellen wird die Gruppe von Menschen, die sich an dem Auszug nach an-Nahrawān beteiligte, als ḫawāriǧ (sing. ḫāriǧī „Auszügler“) bezeichnet, was im Deutschen mit dem Begriff Charidschiten wiedergegeben wird.

Die Berichte der arabischen Historiker über das Schiedsgericht (ḥukūma) sind verworren. Wahrscheinlich trafen sich die beiden Schiedsmänner – Abū Mūsā al-Aschʿarī für ʿAlī, und ʿAmr ibn al-ʿĀs für Muʿāwiya – zum ersten Mal im Frühjahr 658 in dem Ort Adhruh (im südlichen Jordanien, zwischen Petra und Maʿān). Bei den Unterredungen stand zunächst die Frage im Vordergrund, ob es notwendig sei, die Tötung ʿUthmāns zu rächen. ʿAmr argumentierte mit Sure 17:33: „Tötet niemanden, den zu töten Gott verboten hat, außer wenn ihr dazu berechtigt seid! Wenn einer zu Unrecht getötet worden ist, so geben wir seinem Sachwalter eine Vollmacht (zur Rache). Allerdings darf er (in der Rache) nicht zu weit gehen.“ Aus der Tatsache, dass Muʿāwiya als Sachwalter der Racheforderung für den Mord an ʿUthmān auftrat, schloss er, dass er einen größeren Anspruch auf das Kalifat hatte als ʿAlī. Abū Mūsā hatte dem anscheinend nichts entgegenzusetzen. Ein gemeinsamer Schiedsspruch kam offensichtlich nicht zustande. Muʿāwiya legte diese Situation zu seinen Gunsten aus und ließ sich im Mai 658 in Jerusalem von seinen Truppen als Kalif huldigen. Zwei Monate später nahm ʿAmr für ihn Ägypten ein.

Die Herrschaftsgebiete von ʿAlī (grün) und Muʿāwiya (rot) während der ersten Fitna (657-660)

Die Größe der charidschitischen Armee schwoll unterdessen immer weiter an. Das hatte auch mit der egalitaristischen Ausrichtung dieser Gruppierung zu tun. Die Charidschiten gingen davon aus, dass die Quraisch kein Vorrecht auf die Herrschaft hatten, sondern dass grundsätzlich jeder Mensch die Führung über die islamische Gemeinschaft übernehmen könne, wenn er sich nur von großen Sünden fernhalte. ʿAlī, der zunächst einer Konfrontation mit den Charidschiten aus dem Weg gegangen war, um einen Zweifrontenkrieg zu vermeiden, war aufgrund der zunehmenden Aggressivität dieser Gruppe gezwungen, gegen sie vorzugehen. Nachdem es ihm gelungen war, einige von jenen, die nach Nahrawān gezogen waren, zurückzugewinnen, unternahm er im Juli 658 einen Angriff auf die Übriggebliebenen und richtete am Nahrawān-Kanal ein schlimmes Massaker unter ihnen an. In der Folgezeit verschlechterte sich die Situation für ʿAlī zusehends. In der Zeit zwischen September 658 und Februar 659 kam es zu einer ganzen Reihe charidschitischer Aufstände gegen ihn.

Die Umma war somit erneut in drei Parteien zerfallen, in die „Partei ʿAlīs“ (šīʿat ʿAlī), die „Partei ʿUthmāns“ (šīʿat ʿUṯmān), die sich hinter Muʿāwiya scharte, und die Charidschiten. Im Rahmen der Auseinandersetzung mit seinen Gegnern verteidigte ʿAlī seinen politischen Machtanspruch damit, dass schon Muhammad ihn als Nachfolger designiert habe, und zwar auf der Rückkehr von der Abschiedswallfahrt in der Oase Ghadīr Chumm auf halbem Wege zwischen Mekka und Medina. Die Worte, die von Muhammad in diesem Zusammenhang überliefert werden, lauten: „Jeder, dessen Herr ich bin, der hat auch ʿAlī zum Herrn“ (man kuntu maulā-hu fa-ʿAlī maulā-hu). Sie implizieren, dass ʿAlī eigentlich schon unmittelbar nach Muhammads Tod die Herrschaft hätte übernehmen müssen und die Herrschaft von Abū Bakr, ʿUmar und ʿUthmān unrechtmäßig war. Einige von ʿAlīs Anhängern, so zum Beispiel ʿAbdallāh ibn Saba', vertraten genau diese Auffassung. Sie verfluchten deswegen auch die ersten drei Kalifen.

Als im Dezember 658 das Schiedsgericht in Dūmat al-Dschandal zum zweiten Mal zusammentraf, konnten sich die beiden Schiedsmänner erneut nicht auf einen gemeinsamen Schiedsspruch einigen. Abū Mūsā schlug bei diesem Mal ʿAbdallāh ibn ʿUmar als Kompromisskandidaten für das Kalifat vor, die Gegenseite ließ sich jedoch nicht darauf ein. Muʿāwiya selbst erschien bei dem Schiedsgericht und bekräftigte seinen Anspruch auf die Herrschaft über die Muslime. Nach Dūmat al-Dschandal begannen beide Seiten, einander zu verfluchen. Im Sommer 660 konnte Muʿāwiya seine Position noch einmal dadurch verbessern, dass seine Truppen den Hedschas und den Jemen einnahmen. Im Januar 661 wurde dann ʿAlī durch den Charidschiten ʿAbd ar-Rahmān ibn Muldscham, der das Gemetzel von an-Nahrawān rächen wollte, ermordet. Für die Anhänger ʿAlīs war dies ein harter Schlag. Einige von ihnen wollten nicht wahrhaben, dass ʿAlī gestorben war, und verkündeten, dass er nur in die Verborgenheit eingetreten und bald zurückkehren werde. Hierzu gehörte insbesondere der Kreis um ʿAbdallāh ibn Saba'.

5.2. Das Kalifat des Umaiyaden Muʿāwiya (661-680)

5.2.1. Zweite Expansionsphase

Im Namen von Ziyād geprägte Dirham-Münze in sassanidischem Stil

ʿAlī hinterließ zwei Söhne aus der Ehe mit Muhammads Tochter Fātima, al-Hasan und al-Husain. Al-Hasan, der ältere von den beiden, der die Familie anführte, wurde von den Anhängern seines Vaters zum Kalifen gewählt, dankte jedoch ab, als die Truppen Muʿāwiyas aus Syrien heranrückten und er seine Lage für aussichtslos hielt. Der Verzicht wurde ihm durch größere Summen Geldes, die Überlassung der Tributeinkünfte einer persischen Provinz und die Anerkennung seines Rechtes auf die Thronnachfolge erleichtert. Die beiden ʿAlī-Söhne verließen nun den Irak und ließen sich in Medina nieder. Damit endete die erste Fitna, und die Führung der islamischen Gemeinschaft ging wieder an die Umaiyaden über. Das Zentrum des neuen islamischen Reiches verlagerte sich auf diese Weise nach Syrien.

Wie ʿUthmān besetzte Muʿāwiya die wichtigsten Posten im Reich wieder mit Verwandten aus der Umaiyaden-Familie. Dazu gehörten Marwān ibn al-Hakam, Saʿīd ibn al-ʿĀs und al-Walīd ibn ʿUtba. Zu einer der wichtigsten Stützen Muʿāwiyas im Ostteil des Reiches wurde Ziyād ibn Abīhi, ein früherer Anhänger ʿAlīs, der nach seiner Ermordung als sein Gouverneur in Fārs ausgeharrt hatte. 665 erkannte ihn Muʿāwiya als seinen Bruder an und entsandte ihn als Gouverneur nach Basra, 670 unterstellte er ihm auch die Stadt Kufa. Als Gouverneur des Irak unterstand Ziyād der gesamte Ostteil des Reiches einschließlich Chorasan. 671 siedelte er 50.000 arabische Familien aus Kufa und Basra in der chorasanischen Stadt Marw an. Auf diese Wiese konnte er die arabische Herrschaft über den Ostteil des Reiches festigen. In Nordafrika begann in den 660er Jahren der mekkanische Heerführer ʿUqba ibn Nāfiʿ Operationen gegen die Berber Tripolitaniens. 670 eroberte er das Gebiet des heutigen Tunesien und gründete dort als neues Misr des Westens die Stadt Kairouan. Nach dem früheren lateinischen Namen Africa wurde dieses neu eroberte Gebiet auf Arabisch als Ifrīqiya bezeichnet. Außerdem setzte Muʿāwiya seine expansive Politik auf dem Mittelmeer fort, besetzte 672 die Insel Rhodos und belagerte Konstantinopel. Es kam somit zu einer neuen Expansionsphase des islamischen Staates.

Die Große Moschee von Kairouan mit Minarett

Unter Muʿāwiya wurden die großen Moscheen in Syrien und den arabischen Lagerstädten Basra, Kufa und al-Fustāt zum ersten Mal mit Türmen ausgestattet. Dieses neue Element der Moscheearchitektur hat sich später allgemein im Islam durchgesetzt. Der Turm, von dem aus der Gebetsruf durchgeführt wurde, hat man aufgrund seiner Ähnlichkeit mit einem Leuchtturm auch als manār bzw. manāra („Lichthaus“) bezeichnet worden. Davon ist der deutsche Begriff Minarett abgeleitet.

5.2.2. Die ersten Muftis und Koranexegeten

In das relativ lange Kalifat von Muʿāwiya fällt auch die Wirkungszeit der ersten großen Muftis und Koranexegeten. Der arabische Begriff muftī ist von dem Verb aftā, yuftī abgeleitet, das die religiöse Ratgebung bzw. Erteilung von Rechtsauskünften bezeichnet. Der erteilte Rat bzw. die Rechtsauskunft selbst wird Fatwa genannt. Fatwas sind das islamische Gegenstück zu den Responsen, mit denen in der Spätantike die jüdischen Geonim der babylonischen Talmudakademien auf Anfragen ihrer Glaubensgenossen zu antworten pflegten. Das islamische Fatwa-Wesen hat seinen Ursprung in der Beratungsaktivität des Propheten Muhammad gegenüber seiner Gemeinde. Sie schlägt sich auch im Koran nieder. So heißt es in Sure 4:127: „Sie bitten dich um Auskunft (yastaftūnaka) über die Frauen. Sprich: ‚Gott gibt euch Auskunft über sie‘ (Allāhu yuftīkum fīhinna).“ Bei den Antworten, die Muhammad den Fragestellern gab, stützte er sich allerdings keineswegs immer auf Offenbarung.

Nach Muhammads Tod übernahmen die Kalifen zum Teil auch seine Rolle als Auskunftgeber. Daneben gab es jedoch noch viele andere Personen, an die man sich bei Fragen zu rituellen, ethischen und rechtlichen Angelegenheiten wandte. Hierzu gehörten insbesondere Muhammads Diener Abū Huraira und Anas ibn Mālik und seine Frauen ʿĀ'ischa und Umm Salama, die man vor allem deswegen als wichtige Autoritäten betrachtete, weil sie sich häufig in seinem Umfeld aufgehalten hatten. ʿAbdallāh ibn ʿUmar war als Spezialist für die Wallfahrtsriten geschätzt und hielt bei Ankunft der Pilger in Mekka Fatwa-Sitzungen ab. Andere Personen waren deswegen als Auskunftgeber begehrt, weil sie eine besonders intime Kenntnis des Korans besaßen, wie Muhammads Schreiber Zaid ibn Thābit in Medina und Abū Mūsā al-Aschʿarī in Basra.

Schließlich gab es noch diejenigen, die man vor allem wegen ihres umfassenden Wissens, ihrer Intelligenz und Urteilsfähigkeit um Auskünfte bat. Hierzu gehörte insbesondere ʿAbdallāh ibn ʿAbbās. Er war ein Sohn von ʿAbbās, dem Onkel des Propheten, der ursprünglich ein Gegner seines Neffen gewesen war und erst kurz vor der Eroberung Mekkas 630 zum Islam übergetreten war. Ibn ʿAbbās lebte, seit Muʿāwiya das Kalifat übernommen hatte, von der politischen Bühne zurückgezogen in der Stadt Mekka. Bei seinen Auskünften zu Fragen der Lebenspraxis stützte er sich meist auf sein eigenes Urteil (Ra'y). Bekannt war Ibn ʿAbbās‘ Position zur zeitlich begrenzten Genussehe (Mutʿa), die er trotz des Verbotes durch ʿUmar erlaubte. In gleicher Weise soll übrigens auch ʿAbdallāh ibn ʿUmar geurteilt haben.

Ibn ʿAbbās trat auch als bedeutende Autorität der Koranexegese (tafsīr) hervor. Selbst gebildeten Leuten der Gemeinde waren seltenere Ausdrücke der Koransprache zuweilen nicht verständlich, so dass sie über deren Bedeutung Erkundigungen einzogen. Ibn ʿAbbās zog bei solchen Anfragen die Verse der altarabischen Dichter zur Erklärung heran. Anlässlich der Erklärung des Wortes ḥaraǧ („Beschwerlichkeit“; Q 22:78) sprach er den Grundsatz aus: „Wenn im Koran etwas als fremdartig erscheint, so sehet euch um in der Poesie; denn sie ist echt arabisch“. Zur Erklärung des Korans griff er öfters auch auf Überlieferungen der Ahl al-kitāb zurück. In Syrien wurde ʿAbdallāh, der asketisch gesonnene Sohn von ʿAmr ibn al-ʿĀs, zur wichtigsten Autorität im Tafsīr. Er behauptete, Aussprüche des Propheten mit dessen Erlaubnis mitgeschrieben zu haben. Wie Ibn ʿAbbās stützte er sich bei der Exegese aber vorzugsweise auf Geschichten (qiṣaṣ) der Ahl al-kitāb. Von ihm wird überliefert, dass er auch selbst imstande war, Bücher in aramäischer Sprache zu lesen.

5.2.3. Kufa und Basra als Zentren der religiös-politischen Opposition

Die irakischen Lagerstädte Kufa und Basra blieben über die gesamte Herrschaftszeit von Muʿāwiya Hochburgen der religiös-politischen Opposition. In Kufa kam der Widerstand vor allem von den Anhängern ʿAlīs und seiner Söhne. Sie protestierten gegen die von Muʿāwiya eingeführte öffentliche Verfluchung ʿAlīs beim Freitagsgebet in den Moscheen, beschimpften den Kalifen, behaupteten, dass der Oberbefehl über die Muslime in gültiger Weise nur in den Händen der Familie von Abū Tālib sein könnte, und übten Lossagung von allen Feinden ʿAlīs und denjenigen, die ihn bekämpft hatten. Dabei wurden sie zum Teil auch gewalttätig. Anführer dieser „Partei ʿAlīs“ (šīʿat ʿAlī) war Hudschr ibn ʿAdī, ein früherer Kommandeur ʿAlīs. Ziyād lieferte ihn nach einem Aufstand mit seinen engsten Gefährten an Muʿāwiya in Syrien aus. Da sie nicht bereit waren, sich von ʿAlī loszusagen und ihn zu verfluchen, wurden sie von Muʿāwiya hingerichtet. Mit Hudschrs Märtyrertod vollzieht sich der Übergang der „Partei ʿAlīs“ von einer politischen zu einer religiösen Bewegung. Hudschrs Interesse an der Frage, wer Kalif sein solle, hatte nichts mit politischen oder ökonomischen Erwägungen zu tun. Vielmehr glaubte er an besondere von Gott der Familie des Propheten übertragene Qualitäten und war auch bereit, dafür zu sterben. Der Begriff šīʿa („Partei“) für die Anhänger ʿAlīs und seiner Söhne wurde zu dieser Zeit so geläufig, dass er an ihr haften blieb. Bis heute bezeichnet er eine besondere religiös-politische Richtung des Islams, die auf ʿAlī und seine Nachkommen ausgerichtet ist. Im Deutschen gibt man diesen Begriff üblicherweise mit Schia wieder, die Anhänger der Bewegung werden als Schiiten bezeichnet.

Die Opposition der Leute von Kufa hatte zum Teil auch damit zu tun, dass sie auf ihrer eigenen Korantradition beharrten. ʿUbaidallāh, der Sohn von Ziyād, den Muʿāwiya 675 als Gouverneur des Irak einsetzte, provozierte sie dadurch, dass er im öffentlichen Gebet die beiden Beschwörungssuren, genannt al-Muʿauwidhatān, rezitierte, die im Kodex des Ibn Masʿūd, nach dem die Kufier zu dieser Zeit immer noch lasen, fehlten.

In Basra wurde die Opposition vor allem von Charidschiten getragen. Der umaiyadische Statthalter ʿUbaidallāh soll 4.000 von ihnen gefangengesetzt haben, einige fielen auch im Kampf. Die Charidschiten sahen die umaiyadische Herrschaft ebenfalls als unrechtmäßig an und meinten, dass es ihre Pflicht sei, sich im Kampf gegen diese unrechtmäßigen Herrscher aufzuopfern. Dies leiteten sie aus solchen Stellen im Koran ab, an denen die Gläubigen aufgefordert werden, sich im Kampf um den Preis des ewigen Lebens ihre Person an Gott zu verkaufen (Q 4:74, 9:111). Über den charidschitischen Kämpfer Abū Bilāl Mirdās ibn Hudair, der 679 bei seinem Einsatz gegen die Truppen ʿUbaidallāhs gefallen war, sagte man zum Beispiel: „Gott hat Ibn Hudair's Leben gekauft und er hat das Paradies mit all seinen Segnungen erlangt“. Das Motiv des Schirā', des Selbstverkaufs an Gott, erscheint besonders häufig in der charidschitischen Dichtung. Schurāt („[Selbst]verkaufende“) war auch die wichtigste Selbstbezeichnung der Charidschiten.

Zwar agitierte man in Kufa und Basra über die gesamten 670er Jahre gegen Muʿāwiya, doch wurde seine Herrschaft ansonsten weitgehend anerkannt. Dies änderte sich jedoch, als Muʿāwiya gegen Ende seines Lebens seinen Sohn Yazīd ibn Muʿāwiya als Nachfolger designierte und Marwān die Prophetengefährten dazu aufrief, ihm den Treueid zu leisten. Dieser Schritt ließ die alten Ressentiments gegen seinen bis zuletzt heidnisch gebliebenen Clan wieder aufleben. ʿAbd ar-Rahmān, der Sohn Abū Bakrs, warf Muʿāwiya vor, eine erbliche Dynastie nach Art der Byzantiner und Sassaniden errichten zu wollen. ʿĀ'ischa, seine Schwester, wetterte gegen Marwān, dass der Gottesgesandte ihn verflucht habe und dieser Fluch weiter an ihm hafte. Viele Prophetengefährten, darunter auch ʿAbdallāh ibn ʿAmr, wandten sich in dieser Zeit von Muʿāwiya ab. Andere zogen sich in den Hidschāz zurück, um Yazīd nicht den Treueid leisten zu müssen.

5.3. Die zweite Fitna (680-692)

5.3.1. Der Tod al-Husains bei Karbalā' und der Beginn der schiitischen Bußriten

Nach dem Ableben seines Vaters im April 680 und seiner Erhebung zum neuen Kalifen setzte Yazīd alles daran, den Treueid der prominentesten Verweigerer zu erzwingen. Seinen Statthalter in Medina wies er an, ʿAbdallāh ibn az-Zubair, den Sohn von Zubair ibn al-ʿAuwām, ʿAlīs einstigem Gegenspieler in der Kamelschlacht, und al-Husain, den 34 Jahre alten zweiten Sohn ʿAlīs, so lange zu bedrängen, bis sie Yazīd den Treueid leisteten. Um dem Druck auszuweichen, flüchteten die beiden nach Mekka, das aus der heidnischen Zeit seinen Status als unantastbares Asyl behalten hatte.

Die anti-umaiyadische Opposition in Kufa sah in al-Husain einen geeigneten Prätendenten, der sich gegen den Umaiyaden ins Spiel bringen ließ. Auf ihre Einladung machte er sich im September 680 auf den Weg nach dem Irak. Begleitet von etwa 50 Personen – seiner Familie und einigen Anhängern – zog er von Mekka auf der Pilgerstraße quer durch die Arabische Wüste. Da ihm von der Regierung entgegengesandte Reiter den Weg nach Kufa versperrten und ihm auch die Rückkehr nach Medina verwehrten, war er gezwungen, weiter den Euphrat aufwärts nach Norden zu ziehen. Parteigänger aus Kufa verstärkten seine kleine Schar, während die Regierungstruppen ihm folgten und ihn beschatteten. Als al-Husain der Aufforderung des Statthalters von Kufa, Yazīd zu huldigen, nicht nachkam und die Regierungstruppen daraufhin seinen Leuten den Zugang zum Fluss und zum lebenswichtigen Trinkwasser abschnitten, kam es am 10. Oktober 680 (10. Muharram 61) in der Ebene von Karbalā' zum Kampf. Al-Husains Trupp zählte nur etwa siebzig Streiter und war den Regierungstruppen hoffnungslos unterlegen. Die Männer wurden niedergemacht, darunter al-Husain selbst, sein ältester Sohn ʿAlī al-Akbar und ein Neffe. Frauen und Kinder wurden gefangengenommen.

Schiiten in Bahrain beim Tatbīr, einem Ritual, bei dem sie sich selbst mit dem Schwert verletzen.

Der Untergang des Prophetenenkels al-Husain rief unter seinen Parteigängern in Kufa eine schwere Gewissenskrise hervor. Sie bereuten ihr Versagen und suchten ihr Gewissen durch bußfertige Umkehr (Tauba) zu erleichtern. Sulaimān ibn Surad, der nach Husains Tod als „Scheich der Schia“ galt, organisierte im November 684 einen Zug von mehreren Tausend „Büßern“ (tauwābūn), die ihre Mitschuld am Untergang al-Husains durch aktive Tauba mit dem Schwert in der Hand sühnen wollten. Ihr Ziel war der Sturz der Umaiyaden. Weinend verbrachten sie einen Tag am Grab al-Husains in Karbalā' und zogen dann den Euphrat aufwärts in Richtung Syrien. Einige Wochen später wurden sie jedoch durch ein umaiyadisches Heer vernichtet. Mit seinem Büßerzug begründete Sulaimān ibn Surads die spezifisch schiitische Tradition von Bußriten. Bis heute werden am ʿĀschūrā'-Tag, d.h. dem 10. Tag des Monats Muharram, von vielen Schiiten zum Gedenken an die Schlacht von Kerbela Bußriten durchgeführt. An einigen Orten verletzen sich die Männer dabei auch selbst mit Schwertern am Kopf. Bis heute spielen die Ereignisse von Karbalā', insbesondere al-Husains Tod als „Märtyrer“, eine enorm große Bedeutung im kollektiven Gedächtnis der Schiiten, sein Grab an eben diesem Ort wurde zu einem der meist besuchten schiitischen Wallfahrtsorte.

5.3.2. ʿAbdallāh ibn az-Zubair und die mekkanische Kultreform

Nach dem Tod al-Husains begann ʿAbdallāh ibn az-Zubair in Mekka, eine Streitmacht aufzubauen, und erklärte Yazīd für abgesetzt. Die Bewohner von Medina folgten seinem Beispiel und wählten sich einen eigenen Führer. Yazīd sandte daraufhin eine Armee nach Medina aus, die den dortigen Aufständischen im August 683 in Harra bei Medina eine vernichtende Niederlage beibrachten. Im September begann die umaiyadische Armee mit einer mehrwöchigen Belagerung Mekkas. Die Stadt wurde dabei mit Steinen und Felsbrocken beschossen, und auch die Kaaba geriet in Brand. Erst im November, als aus Syrien die Nachricht von Yazīds Tod eintraf, zog die umaiyadische Armee ab.

In Mekka rief sich daraufhin ʿAbdallāh ibn az-Zubair zum Kalifen aus. Die treibende Kraft hinter seiner Widerstandsbewegung gegen die Umaiyaden soll seine Mutter Asmā', die Tochter Abū Bakrs, gewesen sein. Zwar hatte ʿAbdallāh ibn az-Zubair ein Legitimitätsproblem, da bedeutende Persönlichkeiten wie ʿAbdallāh ibn ʿAbbās und ʿAbdallāh ibn ʿUmar ihm den Treueid verweigerten, doch kam ihm zugute, dass nach Yazīds Tod bei den Umaiyaden eine Thronfolgekrise ausbrach. Sie endete erst im Sommer 684, als die syrischen Truppen dem Umaiyaden und früheren Sekretär von ʿUthmān, Marwān ibn al-Hakam (vgl. oben 4.4.1.), zum neuen Kalifen erhoben wurde. Seine Herrschaft dauerte nur wenige Monate, doch gelang ihm in dieser Zeit immerhin die Rückeroberung Ägyptens. Kurz vor seinem Tod im Frühjahr 685 teilte er das Reich unter seinen beiden Söhnen auf: Der ältere von ihnen ʿAbd al-Malik erhielt Syrien und den Kalifentitel, der jüngere, ʿAbd al-ʿAzīz, Ägypten. ʿAbd al-Malik stand allerdings erst einmal vor der Aufgabe, die Herrschaft über Syrien zu sichern.

ʿAbdallāh ibn Zubair nutzte seine Herrschaft über Mekka für eine umfassende Kultreform. Er baute nicht nur die Heilige Moschee aus, sondern ließ auch die Kaaba, die bei der Belagerung Mekkas im Herbst 683 in Brand geraten und stark beschädigt worden war, vollständig abreißen und neu aufbauen. Bei dem Neubau verfolgte er die Absicht, die Kaaba „in ihren früheren Zustand“ zurückzuversetzen, der vor dem Umbau der Quraisch Anfang des 7. Jahrhunderts bestanden hatte. Hierbei berief er sich auf eine Aussage seiner Tante ʿĀʾischa, wonach der Prophet selbst nach der Einnahme von Mekka gewillt gewesen war, die von den Quraisch vorgenommenen Änderungen rückgängig zu machen, dies jedoch mit Rücksicht darauf, dass sie gerade erst zum Islam übergetreten waren, nicht umgesetzt hatte. Nach dem von ʿĀʾischa überlieferten Prophetenwort, auf das sich ʿAbdallāh ibn az-Zubair berief, hatten die Quraisch bei ihrer Wiedererrichtung der Kaaba aus Geldmangel die ursprünglich bis zum Dach reichende Hatīm-Mauer nicht mehr aufgerichtet, dafür aber die ursprünglich auf der Rückseite befindliche zweite Tür der Kaaba verschlossen und den Boden der Kaaba angehoben, so dass sie nur noch über eine Treppe erreicht werden konnte. Der Prophet hatte dies damit erklärt, dass die Quraisch auf diese Weise ihre Übermacht zeigen wollten, da sie nun jeden nach ihrem Willen in die Kaaba eintreten oder die Treppe hinunterwerfen konnten. Mit Verweis auf dieses Prophetenwort ließ nun ʿAbdallāh ibn az-Zubair bei seinem Kaaba-Neubau auf der östlichen Seite des Gebäudes eine zweite Tür öffnen, den Boden der Kaaba auf Erdbodenniveau absenken und die Hatīm-Mauer zu einer Apsis aufstocken. Da der schwarze Stein bei der Belagerung von einem Katapultgeschoss getroffen und in Stücke gebrochen worden war, ließ ʿAbdallāh ibn az-Zubair ihn mit einer Silbereinfassung versehen. Im März 685 wurde das Gebäude in dieser neuen Gestalt neu eingeweiht.

ʿAbdallāhs Kaaba-Umbau verrät einen egalitaristischen Impetus: es ging ihm offenbar um die Beseitigung von kultischen Vorrechten bestimmter Clane der Quraisch. Die Umaiyaden sahen in dem Umbau dagegen eine Unrechtstat und brandmarkten ʿAbdallāh ibn az-Zubair in ihrer Propaganda unter Anspielung auf ein Koranwort (Q 22:25) als den „Abweichler (Mulhid) in der Heiligen Kultstätte“. Um ihren Gegener zu delegitimieren, verbreitete die Umaiyaden auch Hadithe, also Berichte über den Propheten Muhammad, wonach dieser das unheilvolle Wirke von ʿAbdallāh ibn az-Zubair in Mekka vorausgesagt hatte.

5.3.3. Der schiitische Aufstand des Muchtār

Die verschiedenen Lager während der Zweiten Fitna (ca. 686)

Die Statthalter des mekkanischen Kalifen ʿAbdallāh ibn az-Zubair hielten nach dem Scheitern des Büßerzugs von Sulaimān ibn Surad auch Einzug in Kufa, allerdings neigten viele der Bewohner der Stadt weiter der Schia zu. Ein gewisser al-Muchtār aus dem Stamm Thaqīf konnte diese pro-alidischen Gruppen an sich binden. Er rief die Menschen öffentlich „zum Buch Gottes und zur Sunna des Propheten“ auf, forderte „Rache für Husain“ und trat als Sachwalter von Muhammad Ibn al-Hanafīya auf, einem dritten Sohn ʿAlīs, dessen Mutter nicht die Prophetentochter Fātima war, sondern eine andere Frau ʿAlīs aus dem arabischen Stamm der Banū Hanīfa. Diesen Muhammad ibn al-Hanafīya, der in Medina lebte, bezeichnete al-Muchtār als „rechtgeleiteten Führer“ (al-imām al-mahdī), im Gegensatz zu den beiden irregeleiteten Führen in Syrien und in Mekka.

Al-Muchtār stützte sich nicht so sehr auf die arabischen Stammesführer, als vielmehr auf nichtarabische, zum Islam bekehrte Mawālī, denen er auch eigenen Sold zahlte. Einer von ihnen, ein gewisser Kaisān, entwickelte eine eigene religiös-politische Lehre, die in der islamischen Doxographie als Kaisānīya bezeichnet wird. Zentrales Element dieser Lehre war die Vorstellung von den vier „Nachkommen“ (asbāṭ) Muhammads, denen Imamat, Kalifat und Herrschaft gebühre. Mit diesen vier Nachkommen waren ʿAlī ibn Abī Tālib und seine drei Söhne al-Hasan, al-Husain und Muhammad ibn al-Hanafīya gemeint. Einige der Kaisaniten maßen diesen vier Nachkommen sogar kosmologische Bedeutung zu. Sie behaupteten, dass durch sie „die Schöpfung mit Regen getränkt, der Feind bekämpft, der Beweis offenbart und der Irrtum abgetötet“ werde. „Wer ihnen folge“, so sagten sie, „komme ans Ziel, wer hinter ihnen zurückbleibe, werde vernichtet. Zu ihnen nehme man Zuflucht; sie seien wie die Arche Noah: wer sie betrete, tue das Rechte und werde errettet; wer aber draußen bleibe, ertrinke und versinke.“

Im Oktober 685 erhob sich al-Muchtār gegen den Statthalter Ibn az-Zubairs und brachte Stadt und Zitadelle in seine Gewalt. Gegen die zubairidischen Statthalter, die Truppen der syrischen Umaiyaden und die gegnerischen Stammesführer in Kufa selbst konnte er sich über ein Jahr lang erfolgreich behaupten. In dieser Zeit entsandte er auch eigene Statthalter in die Kufa unterstehenden Gebiete von Armenien, Aserbaidschan und Mosul. Der Mann, in dessen Namen das alles geschah, Muhammad ibn al-Hanafīya, hatte an dem, was in Kufa in seinem Namen geschah, keinerlei Anteil. Er war nach dem Beginn von al-Muchtārs Aufstand von ʿAbdallāh ibn az-Zubair gefangengenommen worden. Doch auch nachdem ihn al-Muchtārs Anhänger in einer spektakulären Aktion befreit hatten, weigerte er sich, nach Kufa zu kommen und das Erbe seines Vaters ʿAlī anzutreten, obwohl dort bereits einige Anhänger al-Muchtārs einen mit Seide und Brokat geschmückten Thron für ihn errichtet hatten.

5.3.4. Die Aufspaltung der Charidschiten

Ein viertes Lager innerhalb dieses Bürgerkrieges bildeten die Charidschiten von Basra. Sie unterstützten zunächst ʿAbdallāh ibn az-Zubair und zogen zu ihm nach Mekka, sagten sich aber von ihm los, als sie erkannten, dass er ihre politischen Auffassungen nicht teilte. Einige von ihnen, unter ihnen ein gewisser Nāfiʿ Ibn al-Azraq, leisteten Widerstand, als Ibn Zubair 683 einen Gouverneur in Basra einsetzen wollte. Ibn al-Azraq wurde zwar schon recht bald im Kampf getötet, doch setzte seine Anhänger den Kampf fort und zogen sich mit einer großen Anzahl nach Chusistan zurück. Wo immer die Azraqiten, also die Anhänger Ibn al-Azraqs, stark genug und ihre Gegner schwach waren, waren Plünderungen und Brandschatzungen an der Tagesordnung. Muslime, die in ihren Ansichten von ihnen abwichen oder die sich weigerten, ihnen zu folgen, wurden einschließlich ihrer Kinder und Frauen getötet. Diese Praxis wurde istiʿrāḍ genannt. Nur diejenigen wurden verschont, die die Azraqiten aktiv unterstützten.

Den kämpfenden Azraqiten standen in Basra gemäßigte Charidschiten gegenüber. Sie waren religiös gesinnte Männer, die den islamischen Staat und die Gemeinschaft auf den Prinzipien des Korans gegründet sehen wollten, die aber die istiʿrāḍ-Praxis missbilligten. Sie waren auch bereit, die Herrschaft Ibn Zubairs zu akzeptieren, solange sie nicht verfolgt wurden. Die Azraqiten verpönten diese „quietistische“ Gruppe als Sitzenbleiber (qaʿada) und sahen sie ebenfalls als Ungläubige an, die getötet werden müssten, da sie sich nicht aktiv an ihrem Kampf beteiligten. Die Begrifflichkeit ist an die Stellen im Koran angelehnt, wo zwischen den wahren Gläubigen, die die den Dschihad führen, und denjenigen, die sitzenbleiben, unterschieden wird (Q 4:95). Die Azraqiten betrachteten nur die Schurāt, also diejenigen, die zur Selbstaufopferung im Kampf bereit waren, als wahre Muslime und meinten, mit Ausnahme der Juden und Christen, die von der islamischen Gemeinde insgesamt offiziellen Schutz (Dhimma) erhielten, alle anderen Menschen rechtmäßig berauben oder töten zu dürfen.

Eine weitere charidschitische Bewegung bildete sich auf der Arabischen Halbinsel. Der Charidschit Nadschda ibn ʿĀmir, der noch 683 mit Nāfiʿ ibn al-Azraq gegen von Ibn az-Zubair entsandten Gouverneur gekämpft hatte, trat 686 in al-Yamāma in Ostarabien als Führer einer Gruppe von Charidschiten hervor und konnte ein großes Gebiet, das Bahrain am Persischen Golf und Oman sowie Teile des Jemen und Hadramauts im Süden umfasste, unter seine Herrschaft bringen. Als er auf dem Gipfel seiner Macht stand, war sein Einfluss auf der Arabischen Halbinsel größer als der des Ibn az-Zubair. Ein Unterschied zwischen Nadschda und den Azraqiten war, dass er die quietistische Gruppe der Charidschiten nicht als Ungläubige, sondern nur als Heuchler ansah und weiter Beziehungen zu ihnen unterhielt.

Trotz der Aufsplitterung in verschiedene Untergruppen gab es doch auch Punkte, die diese charidschitischen Gruppen miteinander verbanden, so insbesondere die Lehre von Walāya und Barā'a. Loyalität und Solidarität (walāya) sollte man demnach nur zu den Gläubigen unterhalten, den Ungläubigen gegenüber dagegen Lossagung und Meidung (barāʾa) üben. In die Gruppe der Ungläubigen wurden alle Personen eingeschlossen, die eine große Sünde (kabīra) begangen hatten. Dazu gehörten nach charidschitischem Verständnis auch die beiden Kalifen ʿUthmān und ʿAlī. ʿUthmān war nach ihrer Auffassung deswegen als großer Sünder anzusehen, weil er sich selbst bereichert und Prophetengefährten misshandelt hatte, ʿAlī deswegen, weil er das Schiedsgericht akzeptiert hatte. Mit ihrer Zugehörigkeit zu den Ungläubigen rechtfertigten die Charidschiten auch ihre Ermordung.

5.3.5. ʿAbdallāh ibn ʿUmar und die fünf Säulen des Islams

Die Zerstrittenheit der Umma kam besonders bei der Wallfahrt von 686 zum Ausdruck, bei der sich in der Ebene von ʿArafa die Pilgerscharen von vier Parteien, die um die Herrschaft im islamischen Reich stritten, mit eigenen Fahnen gegenüberstanden: 1. die Partei Ibn az-Zubairs, 2. die Partei des Charidschiten Nadschda ibn ʿĀmir; 3. die Partei der Schiiten von Kufa, die Muhammad ibn al-Hanafīya als Mahdī verehrten und 4. die Partei der Syrer, die die Umaiyaden als rechtmäßigen Herrscher erkannten. Eine Persönlichkeit, die während dieser Zeit enormes Ansehen genoss, war der bereits genannte ʿAbdallāh ibn ʿUmar, der sich in Medina aufhielt. Alle Kriegsparteien umwarben ihn und versuchten ihn auf ihre Seite zu ziehen. Er aber weigerte sich, irgendeinem der Herrscher den Treueid zu leisten, weil er meinte, dass dies nur dann zulässig sei, wenn dieser Herrscher die gesamte Gemeinschaft (ǧamāʿa) hinter sich hatte. Die Herrschaft Ibn az-Zubairs hielt er deswegen für Unrecht, weil sie den Menschen ohne Abhaltung einer Schūrā aufgezwungen worden war.

Personen, die Ibn ʿUmar vorschlugen, selbst zum Kampf auszuziehen, weil er als Sohn ʿUmars die größten Chancen hätte, die Gemeinschaft der Muslime hinter sich zu vereinen, hielt er das Koranwort: „Kämpft gegen sie, bis keine Fitna mehr besteht und die Verehrung Gott gilt.“ (Q 2:193) entgegen. Dieses kommentierte er mit den Worten: „Wir haben gekämpft, damit die Verehrung Gott gehörte und die Fitna beendet war. Ihr aber wollt heute kämpfen, damit sich die Fitna einstellt und die Verehrung anderem als Gott gilt.“ Zu einer anderen Gelegenheit soll er geäußert haben: „Wer mich zum Gebet aufruft, dem schenke ich Gehör. Wer mich aber dazu aufruft, seinen muslimischen Bruder zu bekämpfen und sein Vermögen zu rauben, dem schenke ich kein Gehör.“ Mit dieser Verweigerung der Teilnahme an innermuslimischen Kämpfen gewann Ibn ʿUmar bei vielen Muslimen Respekt.

Nach einem Bericht, der auf seinen Klienten Nāfiʿ zurückgeführt wird, wurde Ibn ʿUmar während des Zweiten Bürgerkriegs von einem Charidschiten aufgesucht, der ihn fragte, warum er regelmäßig auf Haddsch und ʿUmra gehe, den Dschihad für die Sache Gottes aber vernachlässige, obwohl er wisse, was Gott in ihn gelegt habe. Hierauf antwortete er, dass der Islam nur auf fünf Säulen erbaut sei, dem Glauben an Gott und seinen Gesandten, den fünf Gebeten, dem Ramadān-Fasten, der Entrichtung der Zakāt und dem Haddsch. Dies ist wahrscheinlich der früheste Beleg für das Konzept von den fünf Säulen des Islams. Er zeigt, dass dieses Konzept eine anti-militante Ausrichtung hat.

5.3.6. Die zubairidische Propaganda und die Errichtung des Felsendoms

In den späteren Jahren konnte Ibn az-Zubair seine Macht konsolidieren. Um seine Herrschaftsansprüche im Osten durchzusetzen, sandte er 686 seinen Bruder Musʿab in den Irak. Ihm gelang es, den in Persien tätigen südarabischen Heerführer Muhallab ibn Abī Sufra für das mekkanische Kalifat zu gewinnen. Muhallab befreite noch im gleichen Jahr die Umgebung von Basra von den Azraqiten und beendete im April 687 die schiitische Herrschaft des Muchtār über Kufa. Die Azraqiten zogen sich nach Iran zurück, dort dauerten ihre Umtriebe allerdings weiter an.

Da während der Wallfahrt auch viele Syrer und Ägypter nach Mekka kamen, nutzte ʿAbdallāh ibn Zubair diese Zeit zu Propagandazwecken. Er versuchte bei dieser Gelegenheit, die Marwaniden zu desavouieren, und rief die Menschen dazu auf, ihm den Treueid zu leisten. An den Tagen von Minā und ʿArafa, und wenn die Menschen in Mekka waren, verkündete er in der Predigt, der Gottesgesandte habe al-Hakam, den Vater Marwāns, und seine Nachkommen verflucht. Das wurde ʿAbd al-Malik bekannt, und er hielt deswegen die Menschen zeitweise davon ab, die Wallfahrt nach Mekka zu verrichten.

Der von ʿAbd al-Malik errichtete Felsendom in Jerusalem. Die blauen Keramikfliesen wurden erst zu osmanischer Zeit angebracht.
Der Felsendom ist ein Zentralbau, der im Gegensatz zu Moscheen nicht nach Mekka ausgerichtet ist.

Nach den arabischen Historiographen war dies auch der eigentliche Hintergrund für die Errichtung des Felsendoms in Jerusalem. Als es wegen des Wallfahrtsverbots in Syrien zu Unruhen unter den Menschen kam, soll ʿAbd al-Malik für sie den Felsendom und die al-Aqsā-Moschee errichtet haben, um ihre Aufmerksamkeit von der mekkanischen Wallfahrt abzulenken. Der für das zweite Gebäude gewählte Name al-Masdschid al-aqsā („der ferne Gebetsort“) verweist auf den Anfang von Sure 17, wo die Nachtreise (isrāʾ) von der heiligen Gebetsstätte zur fernen Gebetsstätte beschrieben wird. Der hier erwähnte Gottesknecht wurde nun eindeutig mit Muhammad identifiziert. Für die Umaiyaden bestand außerdem kein Zweifel, dass sich der Ausdruck al-Masdschid al-aqsā auf Jerusalem bezog. Diese Interpretation wurde wahrscheinlich von ʿAbd al-Malik bewusst lanciert, als ein Mittel, um Jerusalem gegenüber dem Heiligen Land, das sich im Besitz des ʿAbdallāh ibn az-Zubair befand, als neues Heiligtum zu positionieren.

Al-Yaʿqūbī und andere arabische Geschichtsschreiber berichten, ʿAbd al-Malik habe bei Gelegenheit der Errichtung des Felsendoms an die Bewohner der Lagerstädte in Syrien, Ägypten, Armenien und der Dschazīra, die unter seiner Herrschaft standen, ein Schreiben folgenden Inhalts geschickt:

„Der Befehlshaber der Gläubigen hat beschlossen, eine Kuppel über den Felsen von Jerusalem zu bauen, so dass die Muslime einen Schirm und Schutz haben. Und für seine Nachkommen und wer immer ihm nachfolgt, möge er Macht und Ruhm bringen.“

Ein in Medina lebender Religionsgelehrter, der ʿAbdallāh ibn az-Zubair kritisch gegenüberstand, Saʿīd ibn al-Musaiyab, brachte in dieser Zeit das Prophetenwort: „Allein zu drei Moscheen soll man reisen: der Heiligen Moschee (in Mekka), meiner Moschee (in Medina) und der Moschee von Jerusalem (Bait al-maqdis)“ in Umlauf und erteilte damit gewissermaßen die Erlaubnis für die Einrichtung einer Gedenkstätte in Jerusalem.

Trotzdem kam ʿAbd al-Malik damit nicht zur Ruhe, weil Ibn az-Zubair ihn damit zu verunglimpfen begann, dass er mit seinen Bauten den Palast des Königs von Persien nachzuahmen suche, und dass er den Tawāf vom Haus Gottes auf die Qibla der Israeliten übertragen habe. Möglicherweise gab es für diese Propaganda auch eine reale Grundlage. Einige arabische Autoren berichten, dass die Jerusalem-Pilger den wuqūf bei dem Felsen vollzogen und ihn umkreisten, so wie man die Kaaba zu umkreisen pflegte, und am Tag des Opferfestes dort Tiere schlachteten.

5.3.7. Das zunehmende Misstrauen gegenüber Hadithen und die Idee des Sunnitentums

Während der Zweiten Fitna wurden von den verschiedenen Kriegsparteien zahlreiche Hadithe in Umlauf gebracht, um die eigenen Sichtweisen und Herrschaftsansprüche zu legitimieren und die Gegner zu verunglimpfen. Die Tatsache, dass Hadithe auch zu Propagandazwecken verbreitet wurden, ließ die Notwendigkeit entstehen, sie hinsichtlich ihrer Echtheit zu überprüfen. Um auszuschließen, dass einem gefälschte oder tendenziöse Hadithe einer dieser Parteien untergeschoben wurden, begann man damit, sich die Gewährsleute für die betreffenden Hadithe nennen zu lassen. Dieses Sich-Berufen auf Gewährsleute zur Erhärtung der Glaubwürdigkeit von Überlieferungen, das auf Arabisch als Isnād (wörtl. ‚Anlehnung, Abstützung‘) bezeichnet wird, wurde später zu einer allgemein üblichen Praxis in fast allen Bereichen der islamischen Gelehrsamkeit. Darauf, dass diese Praxis zum ersten Mal während der Zweiten Fitna aufgekommen ist, deutet eine Aussage des basrischen Gelehrten Muhammad Ibn Sīrīn (gest. 728) hin, die in einem der kanonischen Hadith-Werken überliefert wird. Er wird dort mit den Worten zitiert: „Früher hat man nicht nach dem Isnād gefragt. Als aber die Fitna ausbrach, sagte man: ‚Nennt uns Eure Gewährsleute‘. Man schaute dann auf sie: Wenn es ahl as-sunna („Leute der Sunna“) waren, übernahm man ihren Hadith. Wenn es aber ahl al-bidaʿ („Leute der Neuerungen“) waren, übernahm man ihren Hadith nicht.“

Die Aussage Ibn Sīrīns ist auch deswegen sehr interessant, weil sie den frühesten Beleg für den Ausdruck ahl as-sunna darstellt, der später zu einer eigenen Konfessionsbezeichnung wurde. Er wird üblicherweise mit „Sunniten“ übersetzt. Hadithe sollten nur von solchen Personen übernommen werden, die ahl as-sunna waren. Was mit diesem Begriff ursprünglich gemeint war, ist nicht ganz klar, allerdings gibt es verschiedene Aussagen von Zeitgenossen, die darauf hindeuten, dass damit eine anti-schiitische Ausrichtung verbunden war. Von dem kufischen Gelehrten asch-Schaʿbī (gest. 721–29), der während des Bürgerkriegs zuerst auf der Seite der Schiiten stand, dann aber von ihrem Fanatismus angewidert nach Medina auswich, heißt es, dass er an dem Hass der Kaisāniten auf ʿĀ'ischa Anstoß nahm und diesen als einen Verstoß gegen die Sunna des Propheten verurteilte. Von seinem Lehrer Masrūq ibn al-Adschdaʿ (gest. 683), der in Kufa als Muftī wirkte, überlieferte asch-Schaʿbī, dass er es für einen Teil der Sunna hielt, die beiden ersten Kalifen Abū Bakr und ʿUmar ibn al-Chattāb zu lieben und ihren Vorrang zu kennen. Sunna bezeichnete also für diese beiden Gelehrten nicht mehr nur die vom Propheten festgelegte Lebensordnung, sondern auch eine bestimmte religiös-politische Haltung, die die Liebe zu den Prophetengefährten, die den Schiiten verhasst waren, einschloss. Diese Haltung ist später zu einem festen Bestandteil des Sunnitentums geworden.

Der Begriff Bidʿa („Neuerung“), der dem Ausdruck ahl al-bidaʿ zugrundeliegt, ist spätestens seit der Zeit der Bürgerkriege Gegenbegriff zu Sunna. Er bezeichnet nicht nur eine Abweichung gegenüber der vom Propheten festgesetzten Lebensordnung, sondern auch eine als ketzerisch betrachtete Lehre. Dass der Begriff in Ibn Sīrīns Diktum im Plural steht, deutet darauf hin, dass er mit den ahl al-bidaʿ nicht nur die Schiiten meinte, sondern auch die Anhänger der anderen Kriegsparteien, die mit eigenen Lehren hervortraten. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang eine weitere Aussage, die von asch-Schaʿbī überliefert wird. Er soll gesagt haben, die Muslime hätten sich in vier Gruppen aufgespalten: 1. diejenige, die ʿAlī liebt und ʿUthmān hasst, 2. diejenige, die ʿUthmān liebt und ʿAlī hasst, 3. diejenige, die beide liebt und 4. diejenige, die beide hasst. Als er gefragt wurde, zu welcher Gruppe er gehörte, antwortete er: „Ich gehöre zu denjenigen, die beide lieben und für beide um Vergebung bitten.“ Als Verfechter der anderen drei Positionen lassen sich unschwer die Schiiten (1.), die Umaiyaden (2.) und die Charidschiten (4.) erkennen. Die Position asch-Schaʿbīs dagegen hat später Eingang in viele sunnitische Glaubensbekenntnisse gefunden.

5.3.8. Das Ende des mekkanischen Kalifats und das „Jahr der Gemeinschaft“

Eine neue Situation trat dadurch ein, dass ʿAbd al-Malik Anfang der 690er Jahre seinen Rivalen ʿAbdallāh ibn az-Zubair ausschalten konnte. Im Oktober 691 fiel zunächst Musʿab, der Bruder ʿAbdallāhs, im Irak. Gegen ʿAbdallāh selbst sandte ʿAbd al-Malik Ende 691 seinen General al-Haddschādsch ibn Yūsuf mit dem Auftrag, mit diesem Verhandlungen zu führen und, wenn notwendig, die Stadt auszuhungern. Al-Haddschādsch ging aber die Geduld aus, er forderte weitere Truppen an und bombardierte die Stadt. Im Oktober 692 konnte er dann Ibn az-Zubair besiegen. Da zur gleichen Zeit auch der charidschitische Staat von Nadschda ibn ʿĀmir wegen innerer Streitigkeiten zusammenbrach, wurde das Jahr 692 als das „Jahr der Gemeinschaft“ (ʿām al-ǧamāʿa) gefeiert.

Al-Haddschādsch machte die von ʿAbdallāh ibn az-Zubair vorgenommenen Änderungen an der Kaaba kurze Zeit später rückgängig. ʿAbd al-Malik soll aber später die neuerliche Veränderung des Baus durch al-Haddschādsch bedauert haben, als ihm al-Hārith ibn ʿAbdallāh, ein früherer Statthalter von ʿAbdallāh ibn az-Zubair in Basra, die Authentizität der Aussage ʿĀʾischas, auf die sich ʿAbdallāh ibn az-Zubair berufen hatte, bestätigte. Um die gleiche Zeit wurde auch der Felsendom fertig. Die Außenseite der achteckigen Arkade ist mit einer Inschrift versehen, die das Gebäude auf das Jahr 72h (= 691/2 u.Z.) datiert. Die Inschriften im Felsendom rücken genau solche Suren des Korans in den Vordergrund, die sich gegen die christliche Lehre aussprechen. So war z.B. an der Außenseite des Achtecks Sure 112 angebracht:

„Sag: Er ist Gott, ein Einziger, Gott, der ewige. Er hat weder gezeugt, noch ist er gezeugt worden. Und keiner ist ihm ebenbürtig.“

Und an der Innenseite des Achtecks Sure 4, 171f.:

„Ihr Leute der Buchs! Treibt es in eurer Religion nicht zu weit und sagt gegen Gott nichts aus, als die Wahrheit! Christus Jesus, der Sohn der Maria, ist nur der Gesandte Gottes und sein Wort, das er der Maria entboten hat, und Geist von ihm. Darum glaubt an Gott und seine Gesandten und sagt nicht (von Gott, dass er in einem) drei (sei)! Hört auf damit! Das ist besser für euch. Gott ist nur ein einziger Gott. Er ist darüber erhaben, ein Kind zu haben. Ihm gehört, was im Himmel und auf der Erde ist. Und Gott genügt als Sachwalter. Christus wird es nicht verschmähen, ein Knecht Gottes zu sein, auch nicht die Gott nahestehenden Engel.“

Damit erscheint der Felsendom nun nicht mehr als ein Gegenheiligtum zur unter zubairidischer Herrschaft stehenden Kaaba, sondern als ein Bau mit „anti-christlicher“ Tendenz. Viele Kunsthistoriker sehen in ihm deswegen auch vornehmlich eine islamische Antwort auf christliche Sakralbauten im Vorderen Orient, insbesondere die Grabeskirche in Jerusalem.

5.5. Weiterführende Literatur

  • Sean W. Anthony: The caliph and the heretic: Ibn Sabaʾ and the origins of Shīʿism. Brill, Leiden, 2012.
  • Rudolf Ernst Brünnow: Die Charidschiten unter den ersten Omaiyaden. Ein Beitrag zur Geschichte des ersten islamischen Jahrhunderts. Leiden 1884. Digitalisat
  • Werner Caskel: Der Felsendom und die Wallfahrt nach Jerusalem. Köln 1963.
  • Hichem Djait: La grande discorde: religion et politique dans l’Islam des origines. Paris 1989.
  • S. Husain M. Jafri: Origins and early development of Shiʿa Islam. Longman, London, 1979.
  • Wilferd Madelung: The Succession to Muhammad. A study of the early caliphate. Cambridge 1997.
  • Harald Motzki: Die Anfänge der islamischen Jurisprudenz. Ihre Entwicklung in Mekka bis zur Mitte des 2./8. Jahrhunderts. Stuttgart 1991.
  • Harald Motzki: „Religiöse Ratgebung im Islam: Entstehung, Bedeutung und Praxis des muftī und der fatwā“ in Zeitschrift für Religionswissenschaft 2 (1994) 3-22.
  • Gernot Rotter: Die Umaiyaden und der Zweite Bürgerkrieg (680-92). Das Ende der mekkanisch-medinensischen Vorherrschaft. Wiesbaden 1982.
  • ʿAzmī Muḥammad A. Ṣāliḥī: The society, beliefs and political theories of the K̮hārijites as revealed in their poetry of the Umayyad era. London Univ. Diss. 1975.
  • Julius Wellhausen: Die religiös-politischen Oppositionsparteien im alten Islam. Berlin 1901.

5.6. Fragen/Aufgaben

1. Unmittelbar nach dem Tode ʿUthmāns spalteten sich die Muslime in drei politische Lager. Erklären Sie die Gründe.

2. Wie kamen die vier ersten Kalifen zu ihrem Amt?

3. Geben Sie einen Überblick über den Verlauf der ersten Fitna.

4. Wer waren die Charidschiten und welche politischen Lehren vertraten sie?

5. Erklären Sie, wie die Schia entstanden ist.

6. Was ist der ʿĀschūrā-Tag? Welchen historischen Ereignisses gedenken die schiitischen Muslime an diesem Tag?

7. Was waren nach der arabischen Historiographie die Gründe für die Errichtung des Felsendoms in Jerusalem?