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Depressive Kernsymptome. Ein psychopathologischer Beitrag.

Aus Wikiversity
(Weitergeleitet von Haack, Hans-Peter (2009))

Basic Symptoms of Depression

H.-P.Haack 2010, Überarbeitung 2012.
Druckversion: Depressive Kernsymptome. Zeitgemäßes zum Begriff Depression. 112 S., Hardcover, Großoktav. ISBN 978-3-86672-065-7 (2012) [1]

Abstract
The illness depression is defined by four basic symptoms:
• Loss of energy, linked with
• Agitation, subclinical (internal restlessness as a body feeling) to manifest (agitated depression),
• Biological rhythm disturbance (worsening of symptoms in the morning hours, early awakening) and
• Mood constriction (joylessness).

Projektdefinition und Vorwort

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Der Beitrag wurde verfasst sowohl für Psychiater und Ärzte anderer Fächer als auch für Nichtmediziner.

Beschrieben werden die vier Kernsymptome der Depression, mit denen sich die Diagnose festmachen lässt und getrennt werden kann zwischen leichter Depression mit somatischem (endogenem)) Kern und anderweitiger Verstimmung (Depressivität), depressiver Reaktion (Anpassungsstörung), neurotischer Depression (Dyshthymia) und der Verhaltensstörung Burnout. Fokussiert wird die bislang unterschätzte Verbindung von depressiver Antriebshemmung und depressiver Agitation (Unruhe als Leibgefühl) sowie die diagnostische Relevanz dieser Verknüpfung.

Das nosologische Dilemma

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Die wissenschaftliche Psychiatrie ist etwas mehr als 200 Jahre alt. Verglichen mit Chirurgie und innerer Medizin ist sie ein noch junges Fach. Die Weichenstellung zur systematischen Erforschung der Depression erfolgte 1899 mit der Trennung zwischen Schizophrenie (damals noch Dementia praecox genannt) und manisch-depressivem Irresein.[1] Leider konnte bis heute keine für alle Strömungen der Psychiatrie akzeptable Definition der Depression vereinbart werden. Die Herausgeber der deutschen Fassung der WHO-Klassifikation psychischer Störungen halten seit zwanzig Jahren von Auflage zu Auflage fest: [2]

«Die Beziehungen zwischen Ätiologie, Symptomatik, zugrunde liegenden biochemischen Prozessen,
Ansprechen auf Behandlung und weiterem Verlauf bei affektiven Störungen sind gegenwärtig noch
nicht so weit geklärt, dass ihre Klassifikation in einer für alle annehmbaren Weise möglich wäre.
Trotzdem muss eine Klassifikation versucht werden. Diese wird in der Hoffnung vorgelegt, dass sie als
Ergebnis vielfältiger Beratungen zumindest akzeptabel erscheint.»

Ein öffentliches Eingeständnis, das kaum bekannt sein dürfte.

Über siebzig Bezeichnungen für eine Krankheit
In der Fachliteratur finden sich zahlreiche Depressions-Diagnosen, deren Namensgebung von der angenommen Ursache oder dem Erscheinungsbild abgeleitet wurde:

Agitierte Depression (F32.2), Altersdepression, ängstliche Depression (F34.1), anaklitische -, anankastische -, autonome -, atypische Depression (F32.8), bipolare Störung, Depressio sine depressione, depressive Reaktion (F43.2, aber auch F32), endogene Depression (F33), endoreaktive Dysthymie, Entlastungsdepression, Entwurzelungsdepression, Erschöpfungsdepression, existenzielle -, exogene -, gehemmte Depression, hypochondrische -, hysterische -, ideenflüchtige -, initiale -, involutive Depression, klimakterische -, konstitutionelle -, larvierte Depression, major depression (F33), maskierte -, medizinische Depression, Melancholie (F32.2), melancholische -, milde -, minore -, monophasische -, monopolare -, motivierte -, neurotische Depression (F34.1), nihilistische -, organische -, periodische -, peripartale -, postinfektiöse -, postnatale -, postpartale -, postschizophrene Depression (F20.4), primäre -, psychische -, psychogene Depression (F32), psychogene depressive Psychose (F32.3), psychoreaktive Depression, psychotische Depression (F32.3), reaktive Depression (nach Schweregrad F32.0, F32.1, F32.2), reaktive depressive Episode, reaktive depressive Psychose (F32.3), reizbare -, saisonale -, schizophrene Depression, Schwangerschaftsdepression, sekundäre -, senile -, somatische -, somatisierte -, somatogene -, subklinische -, symptomatische -, unipolare -, vegetative Depression, Verlustdepression, vitale Depression (F33.2 oder F33.3), Winterdepression, zirkuläre -, zyklothyme Depression. [3] [4] Die alphanumerischen WHO-Kodierungen in Klammer stammen von Dilling u. Mitarb.[5]

Der s.g. diagnostische Gesamteindruck
Wenn für eine Krankheit eine Typologie mit mehr als siebzig Bezeichnungen erarbeitet wurde, ist deren Struktur nicht entschlüsselt. Die Diagnose Depression wird halb wissenschaftlich, halb intuitiv gestellt. Worüber Patienten und deren Angehörige sich nicht beunruhigen müssen. Zumindest «nach dem diagnostischen Gesamteindruck» [6] des Psychiaters oder «aufgrund seiner langen beruflichen Erfahrung» [7] oder «nach klinischem Augenmaß» [8] werden Depressionen nicht übersehen, auch wenn sich das Erkennen mitunter verzögert. Dass Psychiater depressiv Erkrankten helfen können, steht außer Frage.

Psychiater, in Klinik oder Praxis, bekommen nahezu regelhaft nur Patienten vorgestellt, die psychisch auffällig geworden sind. Sie bleiben, was das Erkennen und Entdecken von leichten Depressionen betrifft, in zweiter Reihe. Fast immer sind es Allgemeinärzte, die die Vordiagnostik leisten.

Bekommt der Klinikpsychiater einen schwer depressiven Patienten erstmals zu Gesicht, ist es keine Seltenheit, dass dieser bereits anbehandelt ist, sei es mit einem Antidepressivum, sei es mit einem Tranqilizer. Unter der Wirkung dieser Medikamente ist die ursprüngliche Symptomatik bereits modifiziert.

Naturwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche Psychiatrie
Die ausufernde Zahl von Depressionsbezeichnungen ist die Folge einer ungerechtfertigten Überbewertung der Anamnese gegenüber dem Befund in der Depressionsforschung des 20. Jahrhunderts. Mit Befund sind die Symptome im Sinne von Merkmalen gemeint.

Seit den Anfängen der wissenschaftlichen Psychiatrie bestehen zwei fundamentale Strömungen: eine geisteswissenschaftliche (psychologische) und eine naturwissenschaftliche (medizinische). Beide Richtungen waren an den Namensfindungen beteiligt. Die naturwissenschaftliche Psychiatrie hat gute Gründe, ein organisch-biochemisches Substrat der Depression zu postulieren. Ihr Hauptargument ist die Wirkung von Medikamenten, die auf zerebrale Neurotransmitter wirken. Trotzdem ist es (noch?) nicht möglich, die Depression biochemisch, mit Bildgebung oder elektrophysiologisch zu diagnostizieren. Die Diagnose wird anhand der Auskünfte und des Verhaltens der Patienten gestellt.

In der deutschsprachigen Psychiatrie behaupten sich die naturwissenschaftliche und die geisteswissenschaftliche Richtung in rivalisierender Akzeptanz. Doch die Aufmerksamkeit hat sich von der Lebenswelt des Patienten mehr den Organisations- und Funktionsmechanismen des biologischen Substrats zugewandt.[9] Die Psychiatrie in den USA dagegen wird seit den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts geprägt durch die psychologische, geisteswissenschaftliche Psychiatrie. Von der WHO wurden mit der Depressions-Definition in ICD-10 international verbindliche diagnostische Kriterien vorgegeben, mit denen, was leichte Depressionen betrifft, diese nur unscharf von Verstimmungen anderer Art unterschieden werden. Zugleich wurde eine Ausweitung des Depressionsbegriffs vorgenommen, die vermutlich – wer will das entscheiden – berufspolitische Ziele berücksichtigt. Die eigengesetzliche Entstehung von Depressionen wird von der WHO nicht geleugnet, aber der reaktiven Auslösung nachgeordnet: «Der Beginn der einzelnen [depressiven] Episoden ist oft mit belastenden Ereignissen oder Situationen in Zusammenhang zu bringen».

Endogene Depression
Die Bezeichnung endogen, ein zentraler nosologischer Begriff der deutschsprachigen Psychiatrie, kommt in ICD-10 nicht vor. Dort heißen Depressionen depressive Episoden und werden patientenfreundlich (klientenfreundlich) als Störung deklariert. Der Begriff Krankheit wird in ICD-10 für psychische Erkrankungen vermieden.

Zunahme der Diagnose Depression
Die Symptom-Reihungen in ICD-10 und die jeweilige Mindestzahl wählbarer Symptome, die dem jeweiligen Fall angepasst werden dürfen, erlauben, dass bereits eine Verstimmung als leichte depressive Episode bezeichnet werden darf. Ärztliche Psychotherapeuten, die nur Gesprächstherapien führen und zugelassene Psychologen mit eigener Praxis können so eine anhaltende Verdrossenheit oder Enttäuschung als Depression deklarieren (und abrechnen), wenn zusätzlich Apathie bejaht wird. Hier dürfte einer der Gründe oder Teilgründe für die Zunahme der Diagnose Depression in den Statistiken der Krankenkassen liegen.

Bedürfnis nach einem Konsens über depressive Kernsymptome
2009 wurde aus der Psychiatrischen Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität München von einem Autoren-Team, zu dem auch der Klinikdirektor gehörte, die Empfehlung publiziert, in der anstehenden Revision von ICD-10 depressive Kernsymptome zu benennen, die die Gemeinsamkeit der verschiedenen Depressionstypen und Subtypen erfassen, und die zugleich Indikatoren für die Behandlung mit Antidepressiva sind.[10]

Der depressive Symptomkomplex

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Depressionen, bei denen Antidepressiva anschlagen, sodass ihnen im Rückschluss ein biochemisches Basisgeschehen unterstellt werden kann, sind im Vollbild durch vier Kernsymptome definiert. Das so präzisierte Krankheitsbild wird in Anlehnung an ICD-10 im Folgenden somatische Depression genannt (versus anhaltende Verstimmung (Depressivität) versus neurotische Depression).

Antriebshemmung, verbunden mit
Agitation (Agitiertheit) von subklinisch (Unruhe als Leibgefühl, jedoch nicht sichtbar, s. g. «gehemmte Depression») bis manifest (mit nicht unterdrückbaren, leer laufenden Bewegungsstereotypien, s. g. «agitierte Depression»),
Rhythmusstörung (Tagesschwankungen mit vorzeitigem Erwachen und Morgentief),
Stimmungseinengung (sowohl Freudlosigkeit als auch die Unfähigkeit, Trauer zu empfinden).


Rhythmusstörung ist die Kurzform, die sich im psychiatrischen Sprachgebrauch für Veränderungen des 24-Stundenbiorhythmus eingebürgert hat. Sie tritt als regelmäßige Tagesschwankung der Symptomstärke auf und als Durchschlafstörung mit vorzeitigem Erwachen.

Im typischen Fall geht es den depressiven Patienten morgens und vormittags am schlechtesten. Die Stimmung ist eingeengt in Bedrücktheit. Bedrücktheit von einer Art, wie sie die Patienten in gesunden Tagen noch nie erlebt haben. Gleichzeitig besteht Antriebslosigkeit mit innerer Unruhe. Diese stumme Exzitation lässt keine Erholung zu. Obwohl entkräftet und energielos, können die Patienten nicht entspannen. Angst, gegenstandslos und unbestimmt, kann dabei sein, auf jeden Fall jedoch morgens Furcht vor dem angebrochenen Tag mit seinen Pflichten. Am späten Nachmittag und Abend bessert sich das Befinden und die Patienten können einigermaßen einschlafen. Ab der zweiten Nachthälfte nimmt die Symptomstärke wieder zu, sodass die Patienten aufwachen und dem Tag mit Grauen entgegenharrren. Bei einer seltenen Verlaufsform besteht ein Abendtief mit Einschlafstörungen. Es gibt auch Fälle von Hypersomnie, bei denen die Patienten ihre Depression quasi verschlafen.[11] Dieses vermehrte Schlafbedürfnis tritt bei der atypischen Depression auf.

Dem Verfasser hat sich über zwei Jahrzehnte (Mitte der achtziger Jahre bis 2005) die enge Korrelation dieser Kernsymptome mit der therapeutischen Wirkung von Antidepressiva bestätigt. Psychiatrisches Wissen entsteht nicht nur im Vergleich von repräsentativen Stichproben und statistischen Signifikanzberechnungen, sondern auch aus Erkennen und der Festigung des Erkannten durch Anwendung über eine hinreichend lange Zeit.

Erkenntnisse an psychiatrisch nicht vordiagnostizierten Patienten
Der Autor, der Neurologe und Psychiater war, hatte oft Patienten mit neurologisch anmutenden Beschwerdeschilderungen sowie neurologischen Fragestellungen der überweisenden Ärzte zu untersuchen, bei denen sich herausstellte, dass sie neurologisch unauffällig waren, aber an einer Depression litten. In diesen Fällen hielt es der Verfasser für geboten, die Diagnose nicht psychodynamisch zu begründen, sondern anhand der Symptome.

Die Vier-Symptom-Kombination, damals von ihm noch endogen-depressive Achsensymptome genannt,[12] hatte ihm diagnostische Sicherheit gegeben, besonders wenn die Frage nach innerer Unruhe (Agitation) bejaht worden war. In den letzten zwanzig Jahren seiner Berufstätigkeit hat er, wenn sich Hinweise auf eine Depression ergaben, stets nach Unruhe gefragt. Die Frage wurde zum festen Bestandteil seines diagnostischen Repertoires für Depression. Bis dahin hatte er sich an die Kriterien Antriebs- und Stimmungsrestriktion gehalten plus Rhythmusstörung.

Mit einer leichten Depression fühlt sich der Betreffende krank und leidet unter den Symptomen, kann aber seinen Verpflichtungen noch einigermaßen gerecht werden. Unterschätzt wurde nach Einführung von ICD-10 lange, wie sehr eine leichte Depression Leistung und Lebensqualität einschränkt. Dabei weisen leichte somatische Depressionen dieselben vier Kernsymptome auf wie die schweren Ausprägungsgrade, zwar schwächer, aber qualitativ identisch.

Leichte Depressionen werden ambulant behandelt und sind in Kliniken, der Heimstatt der Depressionsforschung, kaum zu beobachten. Aufgabe der Klinikpsychiatrie ist neben der Therapie von schweren Depressionen deren Differentialdiagnostik, d. h. die Differenzierung zwischen schwerer Depression und einer anderen psychischen Erkrankung, die mit Depressivität einhergeht. Dafür spielt die Stimmung (Affektivität) eine entschiedenere Rolle als eine subklinisch bleibende Agitation. Bei leichten Depressionen dagegen erweist sich Unruhe, wenn sie mit einem Energiedefizit einhergeht, als eine diagnostisch hoch charakteristische Symptomverbindung.

Neurotische und endogene Depression in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Neurotische Depression war in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Sammelbegriff für leichte, ätiologisch unklare und anhaltende Verstimmungen. Doch was auf den ersten Blick für eine neurotische Depression gehalten werden konnte, erwies sich für den Verfasser bei sachlicher Exploration als endogen. Ob er wollte oder nicht, er musste, um authentisch zu bleiben, nach damaligem Sprachgebrauch die Diagnose endogene Depression stellen. Zu dieser Zeit wurde endogen noch mit einer schweren psychischen Erkrankung assoziiert, neurotisch mit einer leichten.

Wegen einer gewissen Häufung der Diagnose endogene Depression lag die Gefahr nahe, von den überweisenden Ärzten verdächtigt zu werden, eine diagnostische Marotte auszuleben. Um so mehr war ihm daran gelegen, seine Diagnosen stichhaltig zu begründen. Er hatte in seiner beruflichen Entwicklung u. a. zwei Jahre pathologisch-anatomisch gearbeitet, und in ihm wirkte der Respekt vor dem Befund nach, der in der pathologischen Anatomie höher veranschlagt wird als das Etikett Diagnose. So war ihm hoch willkommen, zu den Beeinträchtigungen von Antrieb und Stimmung plus Rhythmusstörung ein viertes markantes Symptom zu fokussieren, das seine Depressionsdiagnosen zusätzlich absicherte.

Offene Fragen
Der Verbund der vier Kernsymptome bildet eine nosologische Entität, die der symptomatischen Achse der endogenen Depression entspricht. Doch was hält diese Kernsymptome zusammen? Antrieb und Stimmung lassen sich als seelische Dynamik fassen (Janzarik 1959). Was darüber hinaus diese vier Symptome verbindet, warum eine dynamische Restriktion (Hemmung von Antrieb und Stimmung) mit Agitation und einer Störung des 24-Stundenbiorhythmus einhergeht, etwa infolge einer gemeinsamen Grundstörung, bleibt offen.

Der Terminus «somatische Depression» ist mit ICD-10 kompatibel
Nachdem der Terminus endogen [13] aus ICD-10 verbannt wurde, ist kaum mit seiner Rehabilitierung zu rechnen. Semantisch geeignet für die Engfassung und Präzisierung der Depression (vier Kernsymptome) ist die Bezeichnung somatische Depression mit ihrer Konnotation eines somatischen Basisgeschehens. Die Benennung eines Typus von Depression als somatisch ist ICD-10 zufolge zulässig. Dort wird ein somatisches Syndrom gelistet, das bei einer depressiven Episode vorhanden sein kann und sie als somatisch spezifiziert.[14] Im zutreffenden Fall lautet die WHO-Diagnose «depressive Episode mit somatischem Syndrom».

Typische Merkmale des «somatischen Syndroms» (ICD-10-Begriff)

(1) Abhanden gekommene Interessen oder Verlust von Freude an normalerweise angenehmen Aktivitäten.
(2) Mangelnde Fähigkeit, auf eine freundliche Umgebung oder freudige Ereignisse emotional zu reagieren.
(3) Frühes Erwachen (zwei oder mehr Stunden vor der gewohnten Zeit).
(4) Morgentief.
(5) Der objektive Befund einer psychomotorischen Hemmung oder Agitiertheit (festgestellt und berichtet von Personen der Umgebung des Kranken).
(6) Deutlicher Appetitverlust.
(7) Gewichtsverlust, häufig mehr als 5 Prozent des Körpergewichts im vergangenen Monat.
(8) Deutlicher Libidoverlust.

Das somatische Syndrom ist nur dann zu diagnostizieren, wenn wenigstens vier der genannten Symptome eindeutig feststellbar sind.

Kommentar in ICD-10 zu dem dort inaugurierten «somatischen Syndrom»

Das hier als «somatisch» bezeichnete Syndrom könnte ebenso «melancholisch»,«vital»,
«biologisch» oder «endogenomorph» genannt werden; die wissenschaftliche Absicherung
dieses Syndroms ist in jedem Fall etwas fragwürdig [nur etwas]. Der Berücksichtigung hier
folgt hoffentlich eine weitreichende kritische Einschätzung [keine engreichende kritische] der Nützlichkeit
der gesonderten Feststellung [nicht nur der Feststellung schlechthin, sondern der gesonderten Feststellung].
Die Klassifikation erlaubt die Verwendung dieses somatischen Syndroms. Es kann aber
auch ohne Verlust von sonstiger Information [nur von sonstiger Information] darauf verzichtet werden.[15]


Diese Formulierungen lassen Dilling et al. seit 1991 unverändert drucken, 2014 in der 9. Auflage.

Mit den fünf Adjektiven von somatisch bis endogenomorph ist die Existenz der endogenen Depression nicht aufgehoben. Im Gegenteil: Endogenität wird definiert. Die Synonyma veranschaulichen den von der US-amerikanischen Psychiatrie abgelehnten Biologismus endogen. Sie hebeln ihn nicht aus, sondern machen ihn kenntlich. Möglicherweise ist damit eine absichtsvolle Bewahrung intendiert.

Die Simultanität von depressiver Unruhe und depressiver Antriebshemmung
Tölle/Windgassen (2012) setzen für somatische Depression in didaktischer Tautologie melancholische Depression.[16] «Melancholisch» dort und «somatisch» hier entsprechen einander weitgehend.

Agitation ist nach den Beobachtungen des Verfassers über zwei Jahrzehnte immer, nach Tölle/Windgassen (2012) bei der von ihnen so bezeichneten melancholischen Depression oft mit depressiver Antriebshemmung verbunden.

Die ICD-10-GM Version 2013 in DIMDI (Netzpublikation) stellt Antriebshemmung und Agitation (dort Agitiertheit genannt) in ihrer Listung nebeneinander.

ICD-10 sowie die amerikanische Klassifikation DSM-IV schließen eine Simultanität von depressiver Agitation und depressiver Antriebshemmung aus.

Leichte somatische Depression

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Der ungerechtfertigte Ausschluss der Simultanität von depressiver Antriebshemmung und depressiver Unruhe, apodiktisch für das s. g. somatische Syndrom bei Depression in ICD-10, erschwert das Erkennen von leichten Depressionen. Sie weisen häufig nur die vier Kernsymptome auf plus körperliche Beschwerden im Sinne einer maskierten (somatisierten) Depression auf.

Hält sich das dynamische Defizit (Restriktion von Antrieb und Stimmung) in Grenzen, so dass die Patienten sich zwar krank fühlen, ihre Routinepflichten jedoch noch bewältigen können, hat eine leichte Depression die affektive Selbstwahrnehmung noch nicht tiefgreifend verändert und kaum depressive Denkinhalte aufkommen lassen. Zu depressiven Denkinhalten siehe Abschnitt depressive Zusatzsymptome.

Kodierung der somatischen Depression

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F32.01 leichte somatische Depression
(ICD-10: leichte depressive Episode mit somatischem Syndrom)


F32.11 mittelgradige somatische Depression
(ICD-10:mittelgradige depressive Episode mit somatischem Syndrom)


F32.2 schwere somatische Depression
(ICD-10: schwere depressive Episode).


Für die Diagnose aller drei Schweregrade wird in ICD-10 eine Dauer von mindestens zwei Wochen gefordert. Kürzere Zeiten können berücksichtigt werden, wenn die Symptome ungewöhnlich schwer oder schnell aufgetreten sind.

Unruhe als Leibgefühl (innere Unruhe)

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Depressive Antriebshemmung - soll die Bezeichnung zutreffen - ist stets verbunden mit innerer Unruhe (Agitation als Leibgefühlsstörung). Diese merkwürdige Simultanität von Adynamie und leibhaft gefühlter Ruhelosigkeit tritt im gesunden Seelenleben nicht auf. Für die somatische Depression ist sie, wenn nicht bereits pathognomonisch, so doch eine hoch charakterisitsche Symptomverbindung.

Depressive Antriebshemmung und depressive Agitation haben nur selten die gleiche Intensität. Überwiegt Hemmung extrem, entsteht Immobilität (depressiver Stupor). Bei starker Agitation kommt es zu rastloser, leer laufender Getriebenheit mit stereotypen Bewegungen, wie Trippeln, Händeringen und ziellosem Hin- und Herlaufen (agitierte Depression), nicht selten verbunden mit monotonem Jammern. Dieses Krankheitsbild tritt bei älteren Patienten häufiger auf als bei jüngeren und geht oft mit Angst einher. Trotz motorischer Unruhe ist der agitiert Depressive im Antrieb entleert und zu keinen komplexen oder längeren Verrichtungen fähig.

In Fällen von agitierter Depression wird Agitation manifest. Bei leichten somatischen Depressionen bleibt Agitation subklinisch.

Subklinische depressive Agitation wird vom Patienten leiblich als Unruhe gespürt. Nach diesem Leibgefühl muss immer gefragt werden, wenn der Verdacht auf eine Depression besteht. Es ist gewissermaßen der i-Punkt auf die Diagnose. Unruhe wird zum entscheidenden Symptom, wenn es gilt, bei leichter Ausprägung zwischen Depression und Depressivität zu unterscheiden. Dem Leibgefühl Unruhe kann im Einzelfall mehr diagnostisches Gewicht zukommen als depressiver Freudlosigkeit.

Die depressive Leibgefühlsstörung Unruhe, wie soll sie anders einzuordnen sein, denn als Agitation? Abwegig ist diese Kategorisierung nicht. Lehrbuchtext Schulte/TöllE (1977):

«Mit der psychomotrischen Hemmung ist quälende innere Unruhe verbunden, die in bestimmte Körperregionen, oft in den Brustraum oder auch in den ganzen Körper lokalisiert wird. Sie läßt sich nur mühsam unterdrücken und tritt auch nach außen trotzdem nicht unbedingt in Erscheinung. Wird sie im Verhalten erkennbar, nämlich in unproduktiven hektischen flatterigen Bewegungen oder in unstetem Auf-der-Stelle-Treten, so spricht man von Agitiertheit. Sie ist ein zusätzliches, kein alternatives Symptom. Daher kann die agitierte Depression nicht als eigenes Krankheitsbild gelten.» Die agitiert Depressiven sind ebenso gehemmt wie die Patienten, bei denen die Antriebshemmung die Erscheinung des Patienten prägt.[17]

Diese Textpassage aus der 4. Aufl. (1977) wurde gering verändert bis in die 16. Aufl. (2012) beibehalten, wobei der Hinweis auf die Simultanität von Hemmung und Agitation dort pointierter formuliert ist: «Die Kranken sind zugleich gehemmt und gehetzt (lautlose Panik)».[18]

Erkennt man diese Lehrbuchtexte für zutreffend an, ist es nur ein kleiner Schritt, Agitation den Rang eines depressiven Kernsymptoms zuzusprechen. Wird dagegen gehalten, Depressionen gäbe es auch ohne Agitation, so ist nicht zu bestreiten, dass, wenn stetig gefühlte Ruhe- und Rastlosigkeit mit Abgeschlagenheit verbunden ist, diese Konstellation mehr für eine somatische Depression spricht als die alleinige Antriebshemmung. Man ist mit den vier Kernsymptomen sozusagen diagnostisch auf der sicheren Seite.

Insgesamt wirkt der Depressionsbegriff geschlossener und in sich stimmiger, werden depressive Agitation und depressiv Antriebshemmung nicht länger als ein Entweder-Oder deklariert wie in ICD-10. Dass bei diesem Deperessionsbegriff auch leichte Depressionen erfasst werden (ohne oder mit unterschwellig ausgeprägten depressiven Denkinhalten), wurde bereits festgehalten.

Depressive Zusatzsymptome

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Die hier propagierten vier depressiven Kernsymptome sind gewissermaßen depressive Symptome 1. Rangs, sofern sie als Verbund vollständig vorliegen. Sie gehen mit weiteren depressiven Symptomen einher, die zwar charakteristisch sind für eine somatische Depression, aber nicht beweisend, auch nicht in ihrer Summe, dass so zu sagen Menge und Quantität essentiell Fehlendes ersetzen könnten. Man kann sie als depressive Symptome 2 . Rangs oder als depressive Leitsymptome einstufen.

Viele dieser depressiven Zusatzsymptome lassen sich aus den Kernsymptomen Antriebs- und Stimmungshemmung ableiten als intrapsychische Reaktion auf das eingetretene dynamische Defizit. Die Anzahl der hier so bezeichneten depressiven Zusatzsymptome ist von Patient zu Patient unterschiedlich. Fallen sie auf, können sie gleich der Spitze eines Eisbergs auf eine Depression verweisen.

Denkhemmung

Wie die körperliche Energie ist auch die geistige Spannkraft reduziert. Sie ist das psychische Äquivalent der Antriebshemmung. Im Alltag äußert sich depressive Denkhemmung in erschwerter Auffassung und in einem Verlust an Konzentrationsfähigkeit. Bei älteren Patienten darf das Auftreten dieser Einbußen nicht mit einer beginnenden Demenz verwechselt werden. Hier hilft differentialdiagnostisch das Konstrukt der vier depressiven Kernsymptome. Innere Unruhe und Tagesschwankungen sind für eine Demenz uncharakteristisch.

Interesselosigkeit

Depressive Interesselosigkeit und das Versiegen von geistiger Aktivität lässt sich auf die dynamischen Reduktion zurückführen. Hobbys und berufliche Ziele werden vernachlässigt. Es kommt zum Stillstand von Liebhabereien und zu beruflichem Stau. Interesselosigkeit ist jedoch nicht an Depression gebunden. Sie tritt ebenso bei anhaltendem Kummer auf oder bei einer schleichend sich entwickelnden schizophrenen Psychose.

Verlust an Selbstvertrauen

Mit der Antriebs- und Denkhemmung leiden Selbstvertrauen und Selbstgewissheit. Die Patienten erleben die depressive Antriebshemmung als ein Nichtkönnen-trotz-Wollen.

Selbstvorwürfe

Sind die Erkankten ihrem Naturell nach pflichtbewusst, auf Ordnung und Ordentlichkeit festgelegt, ist die Qual des Nicht-mehr-Könnens um so größer. Selbstvorwürfe fallen um so peinigender aus, je ordentlicher die Patienten ihrer Persönlichkeitsstruktur nach sind (Typus melancholicus)

Reduzierte Expressivität und Wirkung

Die emotionale Resonanz- und Schwingungsfähigkeit geht verloren. Die Patienten wirken ausdruckslos, beteiligen ich nicht an Gesprächen. Mimik und Pantomimik verarmen. Charisma, wenn es in gesunden Tagen vorhanden war, ist erloschen. Persönliche Wirkung und Expressivität sind verloren gegangen.

Kreativitätsverlust

Künstler verlieren während einer Depression ihre Kreativität. Mit der Denkhemmung versiegt die Intuition. Selbst wenn gute Einfälle möglich wären, würde das Antriebsdefizit Gestaltung und Verwirklichung verhindern. In Künstlerbiographien wird, wenn die Erkrankungszeit erwähnt wird, gelegentlich von Schaffenskrise gesprochen.

Sebstvorwürfe, Minderwertigkeit

Selbstvorwürfe bahnen das Gefühl von Minderwertigkeit. Kommt es zum Selbstmord bei schweren Depressionen - auf depressive Suizidalität wird noch eingegangen - fällt aufgrund der empfunden Minderwertigkeit die Art, sich zu töten, rigoros und brutal aus. Weniger die sanfte Schlaftablette wird gewählt, sondern Erhängen, Ertrinken und das Sich-vor-den-Zug-werfen.

Schuldgefühle

Depressive Selbstvorwürfe führen zu Schuldgefühlen, die in schweren Depressionen sich zum Wahn steigern können. Kleine Verfehlungen die Jahrzehnte zurückliegen, werden dann Kristallisationskern für monströse Selbstanklage. Diese Ausprägung der somatischen Depression wird in ICD-10 als schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen klassifiziert.

Hoffnungslosigkeit

Das Daniederliegen von Antrieb und Stimmung lässt Zuversicht verkümmern. Der Kranke kann sich nicht mehr vorstellen, kann nicht glauben, dass es ihm jemals wieder besser gehen wird. Trotzdem braucht er von Dritten Zuspruch und Ermutigung. Mitunter äußern Patienten nach Abklingen einer schweren Depression, dass ihnen die Versicherung von ärztlicher Seite, wieder gesund zu werden, einen gewissen Halt gegeben habe, auch wenn sie es nicht glauben konnten.

Entscheidungsschwäche

Aus dem sich Nicht-Aufraffen-Können infolge von Antriebs- und Denkhemmung resultiert Entscheidungsschwäche, die bis zur Entscheidungsunfähigkeit gehen kann. Im diagnostischen Gespräch lässt sich diese Folge der dynamischen Restriktion festmachen mit der Frage: „Können Sie sich noch entscheiden?“

Pessimismus, Zukunftsangst

Entscheidungsschwäche geht mit Furcht vor Anstehendem einher. Banal-Alltägliches kann nicht mehr bewältigt werden. Die Patienten sprechen von Angst, die genau genommen Furcht ist. Aber auch Angst im eigentliche Sinn kann auftreten, gegenstandslos und ungerichtet. Diese unbestimmte Angst ist eines der wenigen depressiven Begleitsymptome. das sich nicht oder nur bedingt aus den Kernsymptomen ableiten lässt. Tritt gegenstandslose Angst ohne die vier Kernsymptome auf, besteht eine generalisierte Angststörung (F41.1). Kann der Diagnostiker bei depressiver Symptomatik und Angst sich nicht entscheiden, was überwiegt, darf er mit ICD-10 «Angst und depressive Störung, gemischt» diagnostizieren (F41.2).

Selbstisolation

Aus der verminderten Belastungsfähigkeit heraus suchen die Patienten Rückzug und Isolation. Diesem Bedürfnis müssen Bezugspersonen Rechnung tragen, dürfen aber den Kontakt mit dem Kranken nicht abbrechen. Gut gemeinte Aufforderungen, sich aufzuraffen, helfen nicht, sondern verdeutlichen dem Patienten nur seine Misere, da er der Aufforderung nicht nachkommen kann.

Insuffizienzerfahrung

Ebenfalls ableitbar von der dynamischen Reduktion sind die Leiden an Unvermögen und drohendem Versagen.

Grübelzwang

Bei schweren Depressionen kann nicht unterdrückbares Gedankenkreisen des gleichen quälenden Inhalts auftreten. Der Kranke muss sich z. B. immer wieder vergegenwärtigen, dass er Schuld und Verfehlungen nicht mehr korrigieren kann, dass er ein Verworfener ist.

Suizidalität

Hoffnungslosigkeit kann den Anstoß zum Suizid geben. Stille Suiziderwägungen treten im Verlauf von fast allen depressiven Erkrankungen auf. Wenn die Diagnose einer Depression gesichert und der Patient äußert Suizidgedanken, müssen sie ernst genommen werden. Wird der Entschluss, nachdem er gefasst worden ist, verschwiegen, kann der Patient beruhigter und gelassener seiner Umgebung erschienen, was keineswegs eine Besserung der Depression zu bedeuten hat. Der nahe Tod verheißt endlich Ruhe und Befreiung. Schwer Depressive müssen auf Suiziderwägungen angesprochen werden, behutsam, aber gezielt. Die Beurteilung von Suizidalität ist schwierig und immer mit einem Rest von Unsicherheit und Risiko verbunden. Unglaubwürdig ist die Verneinung von Suizidimpulsen, wenn vorgebracht wird, dazu fehle der Mut. Prognostisch günstiger klingt, wenn Pflichten oder religiöses Gewissen den Kranken von diesem letzten Schritt zurückhalten.

Verändertes Zeiterleben

Zeitgefühl und Zeiterleben sind bei schweren Depressionen verändert. Die Zeit steht für diese Patienten still. Künftige Zeit wird als endlos empfunden und als bedrohlich. Das Grauen vor nicht enden wollender Pein kann stärker werden als die Furcht vor dem Tod.

Liebe und Mitleid versiegen

Die mit dem gesunden Seelenleben nicht vergleichbare emotionale Erstarrung in schweren somatischen Depressionen lässt weder Liebe noch Mitgefühl empfinden. Das Kranke wird seinen Bezugspersonen wesensmäßig fremd. Äußerungen, die eine Partnerschaft oder Ehe pessimistisch beurteilen oder Selbsteinschätzungen des Kranken über seine Rolle in einer Zweierbeziehung können Ehe- oder Partnerkrisen auslösen.

Entfremdung

Nicht nur dem umgebenden Personenkreis wird der Depressive fremd. Er fühlt sich auch selbst entfremdet.

Libidoverlust, Apettitlossigkeit, Gewichtsverlust

Sexuelles Begehren erlischt in mittelgradigen und erst recht während schwerer Depressionen. Fast immer bestehen Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust. Selten kann der Appetit vermehrt sein und es kommt zu Übergewicht, im Volksmund Kummerspeck genannt.

Beklemmungen

Charakteristisch sind Beklemmungen im Bereich des Brustbeins. Engegefühl im Hals ist ebenfalls nicht ungewöhnlich.

Wahn

Schwere Depressionen können einen Wahn ausbilden (schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen F32.3). Wahn ist bei Depressionen weitaus seltener als bei Schizophrenie. Sie ist die Wahnkrankheit schlechthin.[19]Weiter kann Wahn Symptom von toxischen Hirnschädigungen sein, z. B. durch chronischen Alkoholmissbrauch oder unter Drogen wie Cannabis, Kokain, Amphetamine und Designerdrogen. Wahn bei progressiver Paralyse als Folge einer unbehandelten Syphilis kommt heute kaum noch vor.

Wahnthemen

Wahnbildende Erkrankungen produzieren nicht selten Wahnthemen, die für die jeweilige Erkrankung charakteristisch sind, z. B. den Eifersuchtswahn bei Alkoholismus oder den Größenwahn bei Gehirnsyphilis. In der Depression ist die Wahnthematik von Sorge geprägt, Sorge um das Seelenheil, das finanzielle Auskommen oder um die Gesundheit.

Versündigungswahn

Anlässlich der Erwähnung des depressiven Symptoms Schuldgefühle waren bereits grotesk übertriebene oder gegenstandslose Selbstbezichtigungen erwähnt worden. Die vermeintlichen Sünden sind erdrückend, da sie nicht mehr ungeschehen gemacht werden können. Verfehlungen lassen sich ebenfalls nicht mehr ausgleichen, weder jetzt, noch in ferner Zukunft. An der eigenen Schlechtigkeit besteht kein Zweifel.

Verarmungswahn

Sorge um das finanzielle Auskommen kann ebenfalls Wahnthema sei. Zum Beispiel der Kleinunternehmer, der bei guter Auftragslage Mitarbeiter entlässt, weil er davon überzeugt ist, vor dem Ruin zu stehen. Depressiver Verarmungswahn tritt nicht selten bei tüchtigen, erfolgreichen Persönlichkeiten auf, für die Unabhängigkeit einen hohen Stellenwert hat, und die aus einem starken Sicherheitsbedürfnis bei privaten Ausgaben eher einen Schritt unter ihren Möglichkeiten bleiben, als einen darüber zu gehen.

hypochondrischer Wahn

Eine weitere Wahnthematik bei schweren Depressionen kann die Sorge um die Zuverlässigkeit des eigenen Körpers betreffen. Er und seine Organe sind für den Patienten mit unumstößlicher Gewissheit geschädigt durch unheilbare Krankheit. Die Zeit, die noch verbleibt, ist eine letzte Frist.

nihilistischer Wahn

Die vierte typische depressive Wahnthematik ist eine Sinnentleerung von Welt und eigener Existenz, so umfassend, dass Welt und das eigene Selbst aufgehört haben zu existieren. Der Patient ist z. B. nur noch dem Namen nach vorhanden. Als Person ist er ausgelöscht. Gott und die Welt sind abhanden gekommen. Geblieben sind Leere und Ödnis.

Halluzinationen

Akustische Halluzinationen in Form von Stimmenhören können auftreten, Symptome, die eher typisch für eine Schizophrenie sind. Gehört werden Anklagen und Vorwürfe. Geruchshalluzinationen können Fäulnis und Verwesung imitieren.[20]

Viele Symptome, die hier benannt wurden, sind nur bei schweren oder mittelgradigen Depressionen vorhanden. Leichte Depressionen weisen oft nur die vier Kernsymptomen auf bei ausgprägtem Krankheitsgefühl.

Maskierte Depression

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Die Bezeichnungen maskierte, larvierte und somatisierte (≠ somatische) Depression benennen denselben Sachverhalt: Die Depression wird als körperliche Erkrankung empfunden. Sie verbirgt sich hinter der Maske bzw. Larve von somatischen Beschwerden. Nosologische Begriffe sind diese Bezeichnungen nicht, sondern didaktische Konstruktionen, Schlagwörter gewissermaßen, um die Möglichkeit einer versteckten Depression nicht zu übersehen. In ICD-10 werden diese handfesten Depressionen fälschlich als «sonstige depressive Episoden» geführt (F32.8).

Patienten mit einer maskierte Depression fühlen sich krank und suchen ärztliche Hilfe. Doch aus einer geringen Neigung zu emotionaler Introspektion und Selbstreflexion erklären sie sich ihr schlechtes Befinden als körperliche Erkrankung. Sie fokussieren entweder leichtere objektive Beeinträchtigungen so, dass sie ausgesprochen lästig werden, nicht selten zu Qual und Pein. Aber auch in gesunde Körperregionen kann die depressive Befindlichkeit projiziert werden. Dies sind die eigentlichen somatisierten bzw. maskierten Depressionen. Die zuerst genannte Variante wäre eine Depression, die eine körperliche Erkrankung begleitet, eine Parallelerkrankung. Als Begleitdepression verzögert sie Gesundung und Wiederherstellung.

Unerkannte maskierte Depression führen nicht selten zu einer diagnostischen Odyssee durch zahlreiche Arztpraxen unterschiedlicher Fachrichtungen. Zumeist sind es Schmerzen, die geschildert werden, am häufigsten in Kopf, Hals, Schulter, Brust und Lumbalregion. Halsbeschwerden werden als Engegefühl gespürt. Somatisierung in der Brustregion kann den Charakter von Beklemmung annehmen. Einschlägig ist auch ungerichteter Schwindel (Schwankschwindel) als Präsentiersymptom einer maskierten Depression.

Typisch sind weiter schmerzhafte Muskelverspannungen. Treten sie polytop auf, können sie das Beschwerdebild einer Fibromyalgie imitieren. Die wichtigste Differentialdiagnose der Fibromyalgie ist die maskierte Depression. Oft klingt eine Fibromyalgie unter der Einnahme von Antidepressiva ab.

Zwei markante Varianten von somatisierter Depression, die der Autor in Erinnerung hat und bei denen alle vier depressiven Kernsymptome bejaht wurden gemäß seinen diagnostischen Kriterien, waren ein schmerzhaftes Mundbrennen ohne internistischen und zahnärztlichen Befund sowie eine psychogene Aphonie. Beide Zustände klangen unter der Behandlung mit einem Antidepressivum ab.

Das Burning-Mouth-Syndrom (Mundbrennen), das der Verfasser hier aus der Erinnerung erwähnt, war für ihn als Nervenarzt eine Seltenheit. Wenn er sich recht erinnert, hatte dieser Patient auf Empfehlung seines Zahnarztes einen Neurologen aufgesucht. Zahnärzte sehen diese Patienten häufiger als Nervenärzte. Es bleibt zu hoffen, dass sich unter Zahnmedizinern herumspricht, hinter schmerzhaftem Mundbrennen kann sich eine veritable Depression verbergen. Wie sie diese Patienten gezielt und unauffällig befragt werden können, wird weiter unten gebracht.

Es ist müßig, alle körperlichen Beschwerden aufzuzählen, die zu Präsentiersymptomen einer maskierten Depression werden können. Eine Depression, die somatisiert, kann so gut wie jede Art köperbezogener Symptome in der Wahrnehmung des Patienten entstehen lassen. Differentialdiagnostisch ist es sinnvoll, Patienten auf depressive Kernsymptome anzusprechen, wenn den Beschwerdeschilderungen kein klinischer oder Zusatzbefund entspricht.

Manche Patienten fühlen sich düpiert, reagieren sogar feindselig, wenn sie auf eine Depression als Ursache ihrer Beschwerden angesprochen werden. Bei ihnen kann der Untersuchende mit dem s. g. «Zwei-Fragen-Test» anecken, besonders dann, wenn sich Arzt und Patient noch nicht lange kennen.

(1) «Haben Sie sich im letzten Monat öfter unglücklich, niedergeschlagen, bedrückt oder hoffnungslos gefühlt?»
(2) «Haben ihre Interessen und ihre Lebensfreude im letzten Monat abgenommen?» [21]

Die zwei Fragen erfassen lediglich Verstimmung. Werden sie bejaht, muss nach weiteren depressiven Symptomen gefahndet werden.

Ebenso kann die diagnostische Frage: «Können Sie sich noch freuen?» ins Leere gehen, wenn es sich um gewissenhafte und dankbare Persönlichkeiten handelt. Dem Verfasser war von einer älteren Patientin mit leichter Depression geantwortet worden: «Ich habe Enkelkinder, da muss ich mich doch freuen können». Oder es wurden vergleichbare familiäre Gegebenheiten genannt, die zum Sich-freuen verpflichten.

Die Befragung bei Verdacht auf eine maskierte Depression braucht keineswegs psychiatrisch zu wirken. Unverfänglich bleibt, wenn der Arzt , auf die körperlichen Beschwerden bezogen, fragt:

(1) «Leidet auch der Schlaf darunter?» Wird dies bejaht, erkundigt er sich, ob das Einschlafen erschwert ist oder ob es sich um Durchschlafstörungen handelt. Durchschlafstörungen weisen auf eine Biorhythmusstörung hin. Nicht psychiatrisch wirkt ebenso die Frage nach einem Energiedefizit:
(2) «Fühlen Sie sich durch den Schlafmangel matt und schwunglos? Müssen Sie sich in letzter Zeit zu Vielem zwingen, das ihnen sonst glatt von der Hand gegangen ist?»
(3) Und weiter: «Tritt auch innere Unruhe auf?» Ist sie vorhanden, wird die Frage verstanden. Sollte der Patient zurückfragen, was mit innerer Unruhe gemeint sei oder sich kurz besinnen, um richtig zu antworten, besteht keine subklinische Agitation.
(4) Nach Freudlosigkeit fragt man am besten zuletzt.

In einer Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft können Persönlichkeiten mit Fassadenstärke eine psychische Störung despektierlich empfinden. Als psychiatrisch intendierte Befragung erkannt und vom Patienten abgebogen, ist ein Weiterkommen in der Diagnostik blockiert. Findet der Arzt mit behutsamer Befragung zu der Diagnose Depression, kann sich der Patient, nun diagnostiziert, ärztlicher Argumentation nicht mehr ohne weiters verschließen.

Ist der Patient trotzdem irritiert und ablehnend, kann ein Konsens hergestellt werden, wenn das Naturell der Depression als ein biologisches, eigengesetzliches Geschehen erläutert wird, für dessen Eintritt der Patient nicht verantwortlich zu machen ist. Die Erkrankung lässt sich mit den Kernsymptomen definitorisch umreißen. Dazu käme der Hinweis auf neuronale Transmitter, die eine Rolle spielen. Und das Wichtigste: Dem Patienten muss versichert werden, dass ihm geholfen werden kann und geholfen wird. Leichte Depressionen vermag der Allgemeinarzt problemlos mit einem Antidepressivum behandeln, hat er sich anhand der vier Kernsymptome Klarheit über die Stimmigkeit seiner Diagnose verschafft. Sind die Kernsymptome unvollständig, ist eine Gesprächstherapie der medikamentösen Behandlung überlegen.

Burn-out-Syndrom

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Burn-out-Syndrom ist eine gesellschaftsfähige Diagnose geworden, die für zahlreiche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen durch Allgemeinärzte herhalten muss. Nicht selten verbirgt sich dahinter eine verkannte leichte Depression, deren gezielte und effiziente Behandlung so versäumt wird. Der Patient wird in diesem Fall nicht über die biologische (pathobiologische) Ursache des eingetretenen Energiedefizits aufgeklärt.

Merkmale des Burn-out-Syndrom sind eine geistige und emotionale Erschöpfung (keine körperliche), Schuldzuweisung für das schlechte Befinden gegenüber den Bedingungen des Berufslebens und das Eingeständnis eigener Wirkungslosigkeit, ohne sich dieses Selbstbildes ernsthaft zu schämen. Beim Burn-out-Syndrom ist der Zeiger der Schuld nach außen gerichtet, bei der Depression auf das eigene Ich (Selbstvorwürfe). Die Schilderungen von Konflikten durch depressive Patienten dagegen sind Erklärungsversuche (Kausalitätsbedürfnis), keine Bezichtigungen.

Die Bezeichnung geht vermutlich auf den Roman „A Burn-Out Case“ von Graham Greene (Erstdruck 1961) zurück, in dem ein desillusionierter Architekt
seinen Beruf aufgibt, um im afrikanischen Dschungel einen neuen Lebenssinn zu finden. Dort engagiert er sich in einer Leprastation, bis er - grundlos -
von einem eifersüchtigen Ehemann erschossen wird.

Ursache des Burn-out-Syndroms ist der Verlust von Sinnfindung und Zielen (aufgegebener Lebensplan). Belastungen werden kompensiert, solange Bemühungen auf ein selbst gesetztes oder akzeptiertes Ziel gerichtet sind. Wird nun mehr und mehr deutlich, dass Ziel und Sinn fragwürdig geworden sind, sich neue Ziele aber nicht finden lassen, sodass eine Selbstverwirklichung aussichtslos erscheint, bietet das Zertifikat Burnout gleichermaßen primären Krankheitsgewinn (Mitgefühl für den durch die Härten des Berufslebens emotional ruinierten Mitmenschen) wie auch sekundären Krankheitsgewinn (ärztliche Befreiung von den beruflichen Pflichten mit Lohnausgleichs).

Die Verhaltensstörung Burn-out-Syndrom gilt nicht als Erkrankung, die Neurasthenie dagegen doch. Aus diesem Grunde wird die Diagnose mit «Neurasthenie, burnoutbasiert» formuliert. Bis in die neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts war die Bezeichnung «nervöser Erschöpfungszustand» gebräuchlich, wenn eine ausgeprägte Antriebsminderung mit Stimmungstief und Reizbarkeit vorlag. Da Burnout semantisch auch als Endzustand aufgefasst werden kann, wird gegenwärtig mit der klangvollen Bezeichnung ein längerer Krankenstand begründet.

Trennung zwischen Burn-out-Syndrom und Depression

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Die Krankheit Depression unterscheidet sich von der Verhaltensstörung Burn-out-Syndrom durch gleichförmig-konstante Tageschwankungen der schlechten Befindlichkeit mit Verkürzung des Nachtschlafs mit anschließendem Morgentief (= Biorhythmusstörung) sowie Unruhe als Leibgefühl (innere Unruhe). Diese Symptome sind typisch für eine Depression und gehören nicht zum Burn-out-Syndrom. Sind sie dennoch vorhanden, muss die Diagnose Burnout in Depression geändert werden.

Reaktive Auslösung somatischer Depressionen

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Schwere psychische Belastungen können zum Ausbruch einer somatischen Depression beitragen. Diese sog. psychoreaktive Auslösung findet sich bei einem Teil der Erkrankten, doch meist treten somatische Depressionen spontan auf im Sinn von eigengesetzlich.

Wie häufig somatische Depressionen ausgelöst werden ist, mangels exakter Diagnose-Kriterien schwer zu belegen. Doch sind im Verlaufe des Lebens depressive Phasen bereits aufgetreten, ist es möglich, dass belastende Lebensereignisse weitere depressive Phasen auslösen können. Erklären lässt sich dieses Phänomen damit, dass vorangegangene Phasen Spuren in der psychischen Struktur hinterlassen haben, durch die eine depressive Entgleisung gebahnt wird (Modell der strukturdynamischen Kohärenz Janzarik). [22]

Eine Krankengeschichte in Form von Tagebuch-Notizen über eine reaktiv ausglöste somatische Depression ist → hier wiedergegeben.

Gesprächstherapie bei leichter somatischer Depression

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Fachfremde erwarten eine begreifliche Ursache für Depressionen (Kausalitätsbedürfnis). Manche Therapeuten wiederum meinen, sie hätten, wenn sie eine psychologische Ursache der Depression namhaft machen können (Trauma, Konflikt, Fehlverhalten), eine somatische Depression ausgeschlossen

Liegen die vier depressiven Kernsymptome vor, spielt es therapeutisch keine Rolle, ob die Depression reaktiv oder eigengesetzlich in Gang gekommen ist. Eine somatische Depression erfordert eine somatische Therapie, d. h. die Einnahme von Antidepressiva. Deren Wirksamkeit ist weltweit unbestritten.

Das Erkennen der somatischen Natur einer leichten Depression ist entscheidend, weil in diesem Fall die alleinige Psychotherapie wirkungslos bleibt. Wird sie dennoch durchgeführt, überbrückt sie lediglich die Zeit, bis die Depression eigengesetzlich abgeklungen ist. Oder sie bestimmt den Patienten, sich mit der Befindlichkeit einer leichten Depression abzufinden, weil sie sich länger hinzieht.

Therapeutische Grundhaltungen

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Die naturwissenschaftliche Psychiatrie postuliert eine initiale biologische Entgleisung, die zu neuronalen Störungen führt. Sekundär thematisiert die Depression Befürchtungen oder Wertvorstellungen, die sich lebensgeschichtlich in der betreffenden Persönlichkeit verfestigt haben.

Frühe Vertreter der naturwissenschaftlichen Psychiatrie, mehr intuitiv als neurowissenschaftlich gesichert, waren Reil (1803) [23] Esquirol (1827) [24] und Griesinger (1845) [25].

Die Antithese, den psychogenetischen Ansatz, gibt es ebenfalls seit den Anfängen der Psychiatrie. Die geisteswissenschaftliche Richtung bestreitet seit Heinroth (1818) die Regelhaftigkeit eines somatischen Basisgeschehens.[26] Die Entstehung von psychischen Erkrankungen wird erlebnisreaktiv begründet. Anfang der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab Janzarik (1959) dieser aus der deutschen Romantik stammenden Psychiatrie eine philosophische Grundlage: Seelische Belastungen schädigen die psychische Struktur, die so die seelische Dynamik nicht mehr modifizieren und steuern kann. Konstitutionelle Dispositionen werden aus dieser geisteswissenschaftlichen Sicht nicht geleugnet, sind als Ursache jedoch nachgeordnet.

Die Begriffe Struktur und Dynamik haben keine hirnanatomische Entsprechung im Sinne einer Lokalisationlehre, auch kein biochemisches oder elektrophysiologisches Korrelat. Die seelischen Fundamentalbereiche Struktur und Dynamik (Dynamik umfasst Antrieb und Stimmung) bleiben in einer black box.

Ein eloquenter Flügel der geisteswissenschaftlichen Psychiatrie ist die Psychoanalyse. Ihr Stammvater Freud tritt in seinen Schriften mit hoher Sprachbeherrschung auf, deren Brillanz inhaltliche Dignität suggeriert. Er übernahm die Sicht der moralisierenden geisteswissenschaftlichen Psychiatrie und griff den Begriff Psychodynamik auf. Sie ist der Erklärungsversuch [27] der Psychoanalyse für intrapsychische Kausalitäten. Im deutschen Sprachraum entstanden und von dort in die Emigration vertrieben, hat sich die Psychoanalyse in den USA etabliert. Nach dem zweiten Weltkrieg kehrte sie nach Deutschland zurück. Hier favorisierte sie mit psychoanalytischen Begriffsbildungen eine psychodynamische Konzeption der Psychosen. In den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde die naturwissenschaftliche Psychiatrie in Westdeutschland von dieser Strömung als rückständig denunziert.

Interpreten und Diagnostiker

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Fachintern werden seit alters her die geisteswissenschaftlichen Vertreter der Psychiatrie Psychiker genannt, die der naturwissenschaftlichen Somatiker. Man könnte ebenso und treffender von Interpreten und Diagnostikern sprechen.

Die Verinnerlichung der einen oder anderen pathogenetischen Prämisse durch den Behandler führt zu zwei grundverschiedenen therapeutischen Haltungen: Eigenverantwortung (oder Teilverantwortung) für eine psychische Erkrankung oder Entlastung des Patienten durch die Wertung von Krankheit als ein biologisches (pathobiologisches) Ereignis.

Eigenverantwortung für die Entstehung einer Depression?

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Eigenverantwortung im Sinne der sozialwissenschaftlich orientierten Psychiatrie impliziert eine indirekte Schuldzuweisung, die Krankheit nicht durch eine besonnene Lebensführung vermieden zu haben. Von Sünde (Heinroth 1825 [28]) als Ursache von Psychosen ist heute nicht mehr die Rede. Auch nicht von unbeherrschten Leidenschaften (Ideler 1841 [29]). Für Verfehlung sowie nicht gesteuerte Dynamik wird in der sozialpsychiatrischen Psychiatrie Fehlverhalten gesetzt oder eine missglücke Lebensbewältigung. Ein ernster Vorwurf in einer Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft. Das sozialpsychiatrische Krankheitskonzept inthronisiert den allwissenden Behandler und beschämt den Patienten mehr oder weniger mit einer unterstellten Eigen- oder Teilverantwortung für seine psychische Erkrankung.

Entlastung des Patienten

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Entlastung durch die naturwissenschaftliche Erklärung psychischer Erkrankungen (nicht von Persönlichkeitsstörungen oder abnormen Erlebnisverarbeitungen) demütigt die Patienten nicht und wirkt einer Selbststigmatisierung entgegen. Sie perhorresziert nicht die Einnahme von Antidepressiva und macht nicht befangen gegenüber einer medikamentösen Rezidivprophylaxe.

Manche Psychiater sehen in dieser Entlastung von psychisch Kranken deren Entmündigung. Ob ein schizophrener oder depressiver Patient (selbst mit nur einer leichten Depression) den mündigen Patienten repräsentiert, darf bezweifelt werden.

Gar nicht selten bieten Patienten mit einer leichten oder mittelgradigen Depression einen Konflikt an, in dem sie die Ursache ihres schlechten Befindens sehen. In diesen Fällen ist es sinnvoll, mit dem Patienten zu verabreden, dass eine Erörterung dieser Belastung in Angriff genommen wird, sobald z. B. der Schlaf sich gebessert hat oder die Unruhe nachgelassen hat oder die depressive Apathie gewichen ist. Sind Antrieb und Stimmung wieder equilibriert und der Arzt spricht den als Ursache reklamierten Konflikt an, winken die Patienten häufig ab und äußern sinngemäß, die Belastung bestehe ja schon immer und sei nicht zu ändern. Inzwischen hätten sie sich damit abgefunden. Diese Unannehmlichkeiten würden sie jetzt nicht mehr so belasten wie vor der Behandlung. Sie könnten damit umgehen.

Möglich ist auch, dass vermeintliche Belastungen oder Konflikte aus der depressiven Erlebnisverarbeitung entstanden sind. Mit Remission der Depression lösen sie sich auf. Eine konfliktzentrierte Psychotherapie ist bei somatischer Depression kontraindiziert. Die Deutungen des Therapeuten würden als Bestätigung eigener Schuld genommen werden. Auch nach abgeklungener Depression durchgeführt, garantiert sie keine Rezidivprophylaxe.

Psychiatrie als Menschenkunde

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Innerhalb der Medizin ist die Psychiatrie das menschenkundliche Fach par excellence, denn immer modifizieren Person und Persönlichkeit das psychiatrische Krankheitsbild. Im Falle einer somatischen Depression mit ihrer eigengesetzlich guten Prognose begleitet der Arzt den Patienten in der Krankheit und gibt ihm Halt. Die medikamentöse Therapie verkürzt die Dauer der depressiven Episode.

Empathie des Behandlers ist Voraussetzung. Bei leichten und mittelgradigen Depressionen erreicht sie den die Patienten noch. Geht Empathie dem Therapeuten ab, weil er seinem Naturell nach steif und spröde ist, sollte zumindest ein therapeutisches Bündnis erreicht werden.

Aufklärung über jede psychische Erkrankung ist unerlässlich. Die Diagnose muss korrekt mitgeteilt und darf nicht als nervöse Erschöpfung bemäntelt werden. Die gelegentlich ominös empfundene Bezeichnung Depression kann leichter akzeptiert werden, wenn sie dem Patienten als ein biologisches Ereignis erklärt wird. Vertritt der Therapeut eine naturwissenschaftliche Psychiatrie, wird ihm das nicht schwer fallen.

Das psychiatrische Gespräch

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Psychiatrie ist immer sprechende Medizin, auch die naturwissenschaftliche. Sie behandelt zweigleisig, medikamentös und verbal. Und sie erfordert unmittelbare Zuwendung, will sie glaubhaft sein. Psychiater müssen als Person dem Patienten begegnen, nicht nur als Dienstleister. In anderen medizinischen Fächern mag die persönliche Wirkung das Arztes hinter dem handwerklichen Aspekt zurückstehen, etwa in der Chirurgie oder der Augenheilkunde. Kontaktgestörte Mediziner sollten sich nicht entschließen, Psychiater zu werden. Immerhin müssen sie die Kontakthemmung von psychisch Kranken überbrücken.

Allein die Länge des ärztlichen Gesprächs (versus psychotherapeutische Sitzung) garantiert noch keine Effizienz. Sprechende Medizin ist vom Behandler zu strukturieren, nicht vom Patienten. Der Arzt soll in der Lage sein, in einfacher Syntax, aber treffender Wortwahl mit den Patienten zu reden, klar, in ruhigem Sprechtempo und mit dichter Information. Das gilt auch für Fragen, die er stellt.

Erörterungen über die Ursache einer somatischen Depression sind während der Behandlung nicht hilfreich. Diese Themen können diskutiert werden, wenn Antrieb und Stimmung wieder vitalisiert sind.

Patienten mit einer somatischen Depression brauchen das Gefühl von unverbrüchlichem Beistand. Tätige Heilkunde ist mehr als angewandte Naturwissenschaft.[30] Sie schließt soziale, humane, aufklärende, menschenkundliche, psychagogische, pädagogische Bemühungen ein, auch wenn sie naturwissenschaftlich fundiert ist.

Die unterschwellige Nähe der Medizin zur Pädagogik verkörpert mythologisch der Kentauer Chiron,kein Unhold, wie dieübrigen Kentauren der antiken Mythologie, sondern
ein Sohn des Titanen Kronos und Halbbruder von Zeus, d. h. von göttlicher Herkunft. Er war Erzieher namhafter Heroen der Antike und Arzt gleichermaßen. Zudem wurde er
der Lehrer des Asklepios.

Philosophische Psychiatrie

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Die geisteswissenschaftliche Psychiatrie kann, wenn sie sich philosophisch gibt, distanzierter ausfallen als die naturwissenschaftliche. Wird Psychopathologie um ihrer selbst willen getrieben, können herablassende Äußerungen fallen, z. B. «auf Aktion und therapeutische Aktionsforschung verkürztes Verständnis der Psychiatrie» oder «therapiebezogene Pragmatik». [31]

Heilkunde wird durch Pragmatismus nicht herabgesetzt, auch nicht die psychiatrische Heilkunde.

Typische depressive Symptome versus depressive Kernsymptome

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Dilling et al. nennen 2010 und 2011 für die leichte, mittelgradige und schwere depressive Episode typische Symptome: Gedrückte Stimmung, Verlust von Interessen, Freudlosigkeit, Verminderung des Antriebs, erhöhte Ermüdbarkeit.[32] Diese fünf Merkmale entsprechen einer Reduktion von Antrieb und Stimmung. Die ist zwar charakteristisch für eine somatische Depression, deckt sie aber nicht ab. Es fehlen Rhythmusstörungen und Agitation. Weiter sprechen andere Psychiater von den depressiven Hauptsymptomen herabgesetzte Stimmung und verminderter Antrieb.[33] Auch sie benennen nur eine dynamische Restriktion, die vieldeutig ist. U. a. kann auch beim Burn-out-Syndrom ein dynamisches Defizit eingetreten sein (ohne körperlich gespürte Unruhe und ohne Rhythmusstörungen)

Psychologen tendieren dazu, den Depressionsbegriff weiter zu fassen als Psychiater. Wird im Internet nach depressiven Kernsymptomen gesucht, finden sich unterschiedliche Definitionen: Die hier vorgestellten depressiven Kernsymptome in Vorabpublikationen des Verfassers (2010) und die von klinischen Psychologen, die teils Freiberufler, teils Universitätsangehörige sind. Einige ändern unbekümmert die Bezeichnung typische depressiven Symptome in ICD-10 in depressive Kernsymptome, obwohl sie nur Antrieb und Stimmung erfassen. [2] [3]. Wissenschaftlich sind solche Sprachverbiegungen fragwürdig.

Stimmung und Antrieb unterliegen Schwankungen, die das Ausmaß einer Depression nicht erreichen. Ein so definiertes dynamisches Defizit kann Reaktion auf Sorge sein oder Symptom einer körperlichen Erkrankung oder ist Folge einer vermehrten Kortisolausschüttung bei chronischem Stress (Depressivität als Symptom). Aber auch ohne derartige Anlässe unterliegen Antrieb und Stimmung natürlichen Schwankungen. Gleichbleibende Heiterkeit und Aktivität gibt es nur in der Manie, einer psychischen Erkrankung. In die diagnostische Gewichtung von bedrückter Stimmung und Schwunglosigkeit muss, sollen sie für depressive Symptome genommen werden, notwendig das Ermessen des potentiellen Behandlers einfließen, befähigt «aufgrund seiner langen beruflichen Erfahrung» [34] oder «nach dem diagnostischen Gesamteindruck» [35] oder «nach klinischem Augenmaß» [36]. Ab welcher Ausprägung ist eine Verstimmung als depressiv einzustufen? Wo hört Erschöpfung auf und beginnt depressive Antriebshemmung? Welche «diagnostische Schwelle» wird angesetzt?

Der Verbund der vier depressiven Kernsymptome (depressiver Symptomkomplex) dagegen ist ein qualitatives Merkmal, das nicht quantifiziert werden muss.

Depressivität versus Depression

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Anpassungsstörung

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Der Begriff in entspricht der depression Reaktion. Es handelt sich um eine emotionale Beeinträchtigung, die die sozialen Funktionen und die Leistung behindern. Auslösend (Beispiele) können der Wendepunkt von einer abgeschlossenen Entwicklungs- und Lebensstufe zur neuen sein, die Diagnose einer schweren Erkrankung, eine Existenzgefährdung, der Verlust von wichtigen Bezugspersonen (Trauerfall, Trennung), der Verlust der vertrauten Umgebung (Flucht, Emigration). Das belastende Ereignis kann auch die Gemeinschaft betreffen, der sich der Patient verbunden fühlt.

Die individuelle Disposition (Vulnerabilität) spielt sowohl für die Bahnung eine Rolle als auch für die Symptomgestaltung. Diagnostisch muss plausibel sein, dass die Störung ohne ein benennenbares gravierendes Ereignis nicht eingetreten wäre.

Die Merkmale sind variabel und bestehen in Depressivität, Angst oder Befürchtung (oder beide gemischt), dem Gefühl, nicht mehr zurecht zu kommen (Verzagtheit), Entscheidungsschwäche und Anstrengung, die gewohnte tägliche Routine zu bewältigen. Auch kann das Gefühl aufkommen, kurz vor einem dramatischen gestischen und verbalen Ausbruch zu stehen, zu dem es meist doch nicht kommt. Bei Jugendlichen kann eine Anpassungsstörung aggressives oder dissoziales Verhalten auslösen. - Keines dieser Symptome ist schwer oder markant genug, um zur Diagnose zu werden.

Aufmerksamkeit und Konzentration sind kaum eingeschränkt. Und Kreativität wird im Gegensatz zur somatischen Depression bei einer Anpassungsstörung nicht gemindert, kann sogar zur Bewältigungsstrategie werden.

Goethes Gedicht «Elegie» ist entstanden unter der schmerzlichen Erkenntnis, von einer
jungen Frau, die er heiraten wollte, aufgrund seines Alters abgewiesen worden zu sein.

Die Störung stellt sich innerhalb eines Monats nach der Lebenszäsur oder dem belastenden Ereignis ein. Die Symptome halten höchstens sechs Monate vor. Dauern sie bis zu zwei Jahren, lautet die Diagnose längere depressive Reaktion. Die Diagnose der kurzen wie der längeren depressiven Episode hängt laut ICD-10 ab von einer sorgfältigen Bewertung der Beziehung zwischen Art, Inhalt und Schwere der Symptome; Anamnese und Persönlichkeit und belastendem Ereignis, Situation oder Lebenskrise. «Sorgfältige Bewertung» ist in diesem Zusammenhang eine Umschreibung für Ermessen.

Dysthymia

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Synonyma

Diese Bezeichnung deckt in ICD-10 neurotische Depression, depressive Neurose, anhaltende ängstliche Depression und depressive Persönlichkeit ab. Bei der Dythymia besteht Depressivität über Jahre, mitunter ein Leben lang, ohne das Vollbild (vier Kernsymptome) der somatischen Depression zu erreichen, auch nicht gemäß den ICD-10-Kriterien für Depression.

Leitsymotme

Pessimismus und Skepsis sich selbst gegenübe weisen auf diese Störung hin. Ohne außergewöhnliche Belastungen sind diese Personen ihren Pflichten einigermaßen gewachsen. Doch alles wird zur Anstrengung, kaum etwas kann genossen werden. Humor, d. h. die kuriose Kehrseite von Begebenheiten zu erkennen, ist nicht möglich.

double depression

Die dysthymen Defizite von Antrieb und Stimmung unterliegen Schwankungen. Treten zwischenzeitlich jedoch abgegrenzte depressive Episoden auf, wird von double depression gesprochen.

neurotische Depression

Bis gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts hießen derartige chronischen Verläufe neurotische Depression. Merkmale waren damals das Fehlen von Symptomen der endogenen (somatischen) Depression. Die Depressivität konnte Folge eines Ereignisses sein, einer anhaltenden Belastung oder Symptom einer primär fehlangepassten Persönlichkeit.

Verlauf

Kennzeichen der Dysthymia ist die lang dauernde depressive Verstimmung, die nicht oder allenfalls nur wenige Tage so ausgeprägt ist, dass sie die Kriterien einer leichten Depression erfüllt. Der sich lang hinziehende Verlauf setzt zumeist im frühen Erwachsenenalter ein. Im höheren Lebensalter kann sich eine Dysthymia nach einem Trauerfall einstellen oder nach einer Depression.

Depressive Neurose

Dilling et al. subsumieren neurotische Depression und depressive Neurose als gleichsinnige Begriffe. Psychoanalytisch bedeutet depressive Neurose eine ängstlich-traurige Verstimmung, die auf einem verdrängtem Konflikt beruht. Nach der strengen psychoanalytischen Observanz besteht der Konflikt in einer seelischen Verletzung (Trauma), die aus der frühen Kindheit stammt, und die psychodynamisch ins Unbewusste verdrängt wurde. Begebenheiten, denen eine Analogie oder symbolische Parallelität zu dem verdrängtem Konflikt unbewusst beigemessen wird, lösen die depressive Verstimmung aus, die jedoch hinsichtlich der Symptomschwere die so genannte endogene Depression nicht erreicht. Bei der reaktiven Depression hingegen ist die Ursache der Depressivität dem Patienten ersichtlich.

Zyklothymia

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Bei der Zyklothymia (≠ Zyklothymie) handelt es sich um persönlichkeitseigene Schwankungen der seelischen Dynamik (d. h. von Antrieb und Stimmung), gleichsam um eine milde Form der bipolaren affektiven Störung gelten. Es treten zahlreiche Perioden sowohl von Depressivität als auch leicht gehobener Stimmung auf. Beide Schwankungen erreichen jedoch nicht die Intensität einer leichten depressiven Episode oder, wenn überhaupt, allenfalls das Ausmaß einer Hypomanie. Die emotionale Instabilität entwickelt sich in der Regel im frühen Erwachsenenalter und nimmt einen chronischen Verlauf. Ein spätes Einsetzen ist eher die Ausnahme.

Die Stimmungsschwankungen können von manischen Phasen oder depressiven Episoden überlagert werden. Anderseits kann über Monate ein ausgeglichenes Befinden bestehen.

Die Stimmungsschwankungen sowohl in Richtung Gehobenheit als auch Bedrückung werden von den Patienten überwiegend ohne Bezug zu Ereignissen beschrieben, können aber auch erlebnisreaktiv ausgelöst werden. Da die Perioden von gehobener Stimmung angenehm erlebt werden und mit Tatkraft verbunden sind, suchen Patienten mit Zyklothymia selten ärztliche Behandlung.

Diese Veränderungen kommen häufig bei Verwandten von Patienten mit bipolarer affektiver Störung vor. Einige Personen mit Zyklothymia entwickeln nach Jahren eine bipolare affektive Störung. Wegen dieser Bezüge wird die Zyklothymia nicht zu den Persönlichkeitsstörungen gezählt. Die Diagnose kann nur nach längerer Beobachtungszeit gestellt werden als Längsschnittdiagnose. Eine Querschnittsdiagnose mittels definierter Symptome wie bei der somatischen Depression ist für die Zyklothymia nicht möglich.

Möbius hat für Goethe anhand biographischer Fakten und Gewichtung der dichterischen Produktion Schwankungen beschrieben, die einer Zyklothymia entsprechen. Er macht am Beispiel Goethes deutlich, dass es zwischen psychischer Krankheit und Gesundheit Zwischenformen gibt, die sich kreativitätsfördernd auswirken können. Hinsichtlich der Hypomanie kann dem nicht widersprochen werden. Eine Genialisierung durch Krankheit jedoch gibt es nur im Roman.[37] In «Doktor Faustus» z. B. beschreibt Thomas Mann eine Genialisierung durch Gehinrsyphilis. In Kapitel XXV, dem s. g. Teufelsgespräch, zitiert er dafür → Möbius in Form von unbenannten Textcollagen.

Erfolge mit Antidepressiva bei fehlender Agitation

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Die stationäre Behandlung mit einem Antidepressivum kann erfolgreich ausfallen, obwohl Fragen, die auf eine subklinische Agitation zielten, bei Klinikaufnahme verneint wurden. Ursächlich kämen dafür zwei Gründe infrage:

Es ist eine ambulante medikamentöse Therapie vorausgegangen, wodurch die ursprüngliche Symptomatik bereits modifiziert worden ist.

Oder es handelte sich um eine als Depression verkannte Anpassungsstörung (längere depressive Reaktion F43.21) mit einer beeindruckenden Verstimmung, mit Apathie und mit Schlafstörungen. Das belastende Ereignis, das die depressive Dekompensation ausgelöst hat, ist in den therapeutischen Gesprächen thematisiert und bearbeitet worden. Davon darf bei einer Klinikbehandlung ausgegangen werden. Das wäre jedoch als Psychotherapie oder deren Äquivalent einzustufen: Eine psychiatrische Hilfestellung zur individuellen, der persönlichen Wertehierarchie gemäße Bewältigung eines Rückschlags, eines Verlusts oder anderen Unglücks. Zwar wurde ein Antidepressivum unter der Annahme einer Depression eingenommen und unter stationären Bedingungen auch vertragen, doch kann der therapeutische Erfolg sich ebenso der hospitalen Abschirmung und der ärztlichen Gesprächsführung verdanken, nicht dem Antidepressivum. Man darf solche Behandlungserfolge nicht als Beweis dafür nehmen, dass Antidepressiva anschlagen, auch wenn nicht alle Kernsymptome vollständig sind und z. B. agitierte Anteile fehlen.

Mit anderen Worten: Die Wirksamkeit eines Antidepressivums ist nicht eindeutig erwiesen, wenn während einer Kinikbehandlung parallel therapeutische Gespräche stattgefunden haben. Das hieße, deren strukturierende Wirkung bei einer Anpassungsstörung zu unterschätzen.

Gesichert ist die Wirkung eines Antidepressivums nur bei ambulanter Behandlung von leichten oder mittelgradigen Depressionen, die alle vier Kernsymptome aufweisen, wobei in den Arztgesprächen die Natur der Depression als ein pathobiologisches Ereignis erklärt wird sowie die Wirkungen des verordneten Medikaments. Legitim ist dieser Verzicht auf sozialpsychiatrische Ursachenforschung in der Führung des Patienten.

Wer als Psychiater in der Lebensgeschichte eines Patienten mit einer leichten Depression nach Verwerfungen, Enttäuschungen, Verlusten, Kränkungen sucht, findet sie und kann sie - wenn er analytisch orientiert ist - dem Patienten als Ursache seiner Depression deklarieren.

Anhang: Rechtliche Belange bei Depression

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An einer schweren somatischen Depression Erkrankte sind geschäftsunfähig (§104 StGB), testierunfähig (§2229 BGB) und schuldunfähig (§20 StGB). Depressive kommen im Vergleich zu Persönlichkeitsstörungen und psychotischen Erkrankungen selten zur forensisch-psychiatrischen Begutachtung.

Erweiterer Suizid
Beim erweiterten Suizid werden Angehörige oder nahe stehende Menschen ohne deren Wissen in die Selbsttötung einbezogen (Mitnahme in den Tod). Entscheidend für die depressive Schuldunfähigkeit beim erweiterten Suizid ist, dass der Entschluss zur Selbsttötung vor der Tötung der Bezugspersonen gefasst wurde.

Die Selbstvernichtung kann auch Sachwerte einbeziehen (Wohnung, Haus, mobiler Besitz). Die häufigste Ausführung ist Brandstiftung.

Suizidversuch im Straßenverkehr
Schuldunfähigkeit betrifft auch Suizidmanöver im Straßenverkehr, wenn der depressive Suizident überlebt.

Berentung
Begutachtungen werden mitunter notwendig bei langer Arbeitsun-fähigkeit infolge einer Depression, wenn der Anspruch auf Krankengeld erlischt und eine Berentung ansteht. Manchmal wird erst dann die Diagnose Depression gestellt bei bis dahin körperlichen Beschwerdeschilderungen, wie der Autor aus eigener Gutachtertätigkeit weiß. Chronifizierte, therapieresistente Depressionen rechtfertigen eine Berentung auf Zeit.

Fahrtauglichkeit
Bei einer schweren somatischen Depression besteht Fahruntauglichkeit. Nach Abklingen der Phase ist der Patient wieder fahrtüchtig. Nehmen die Patienten mit einer leichten oder mittelgradigen Depression Antidepressiva ein, besteht Fahruntauglichkeit für die ersten vier Wochen. Danach ist die anfängliche sedierende Nebenwirkung abgeklungen.

Psychiatrische Gutachen
Die Schizophrenie z. B. ist besser definiert als die Depression. Juristen sollten, was Gutachten über Depressionen betrifft, den psychiatrischen Befund höher veranschlagen als die Diagnose. Entsprechen die Symptome dem Vollbild der Depression (vier Kernsymptome) oder beschreiben sie nur Depressivität? Nutzlos ist die Vorgeschichte (Anamnese) als Krankheitsbegründung. Es gibt keine biographische Konstellation, die zwingend eine somatische Depression (versus Depressivität) auslöst. Anderseits wird ihre Entstehung ohne erkennbare Ursachen in der psychiatrischen Wissenschaft nicht bestritten.

Schluss

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Es gibt kein Feld menschlicher Tätigkeit, in dem in ähnlich subtiler Weise
wie in der Wissenschaft um Geltung und um Macht gestritten wird.
JANZARIK: Menschenkundliche Anmerkungen zu Wissenschaft und Wissenschaftsbetrieb.
Nervenarzt 60 (1989), 614
Salus aegroti suprema lex.
(Das Heil der Kranken ist oberstes Gesetz. Tradierte ärztiche Maxime.)

Es ist nur eine Frage der Zeit, dass die vier depressiven Kernsymptome ärztliches Standardwissen geworden sind. Wer als Allgemeinarzt anhand dieser Merkmale leichte und mittelgradige Depressionen bei seinen Patienten diagnostiziert und mit einem Antidepressivum erfolgreich behandelt hat, wird an dem so konturierten Depressionsbegriff festhalten.

Zu erwarten sind ideologische Vorwürfe, einem rückständigen Biologismus das Wort zu reden. Die überwundene Deutung der eigengesetzlich verlaufenden Depression als endogen soll mit der Kennzeichnung somatisch revitalisiert werden.

Nicht nur psychische Störungen, das wird weiter vorgeworfen werden, auch psychische Krankheiten seien die Folge sozialer und gesellschaftlicher Interaktionen. Diese Weltanschauung komme entschieden zu kurz. Dafür werde, die Krankheit Depression betreffend, aufgefordert, sich nicht kausal zu orientieren, sondern ontologisch.

Diese Vorwürfe lässt sich der Autor gern gefallen. Begrifflichkeit ist das Anliegen dieses Beitrags.

Quellen

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  2. Internationale Klassifikation psychischer Störungen ICD-10 Kapitel V(F). Klinisch-diagnostische Leitlinien, 8., überarbeitete Aufl. (2011). Übersetzt und hrsg. von H. Dilling et al., S.159
  3. Internationale Klassifikation psychischer Störungen ICD-10 Kapitel V (F). Klinisch-diagnostische Leitlinien, 8., überarbeitete Aufl. (2011). Übersetzt und hrsg. von H. Dilling et al.
  4. Peters, U. H. : Lexikon Psychiatrie Psychotherapie Medizinische Psychologie, 5. Aufl. München-Jena: Urban & Fischer (2000)
  5. Internationale Klassifikation psychischer Störungen ICD-10 Kapitel V(F) siehe 3,Summe aus „dazugehörige Begriffe“
  6. ICD-10-Text F32.8 für die maskierte Depression
  7. Althaus, D. et. al.: Depressiv? Zwei Fachleute und ein Betroffener beantworten die 111 wichtigsten Fragen. München: Kösel 2008, S. 40
  8. Raison, C. L.: Depression und Krebs. In: Depressionen und bipolare Erkrankungen. Hrsg. von A. Marneros et. al. Berlin: Wissenschaftsverlag 2007, S. 515
  9. Mundt, C. und M. Spitzer: Psychopathologie heute. In: Helmchen, H. et al. (Hrsg.)Psychiatrie der Gegenwart 4. Aufl. Bd. I Berlin Heidelberg New York 1999, S.39
  10. Damm, J. et al.: Depressive Kernsymptome. Wirksamkeit antidepressiver medikamentöse Therapieverfahren. Nervenarzt 2009. 80 :515-531
  11. Behandlungsfall des Verfassers, Hausbesuche.
  12. Haack, H.-P.: Häufigkeit der larvierten Depression. Med. Welt 4385 (1985), S. 1370
  13. Die Bezeichnung endogen bedeutet eigengesetzlich, von innen, aus dem Organismus heraus, aber ohne körperliche Veränderungen (einschließlich Laborwerte und gerätegestützter Untersuchungen), auch ohne erkennbaren Zusammenhang mit Erlebnissen.
  14. Dilling et al. 2011 a. a. O. [2], S. 170
  15. Internationale Klassifikation psychischer Störungen ICD-10 Kapitel V (F). Klinisch-diagnostische Leitlinien, 8 . Aufl., übersetzt und hg. von H. Dilling et al. Bern: Huber 2011, S. 159
  16. Tölle, R. und K. Windgassen: Psychiatrie einschließlich Psychotherapie, 16. Aufl. Heidelberg: Springer 2012, S. 238
  17. Schulte, W. u. R. Tölle: Psychiatrie. 4. Aufl. Berlin Heidelberg New York: Springer 1977, S. 214
  18. Tölle, R. und K. Windgassen: Psychiatrie einschließlich Psychotherapie. 16. Aufl., Heidelberg: Springer 2012, S. 240
  19. Janzarik, W.: Psychopathologie des Wahns. Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft (2010), S.4
  20. Dilling et al. (Hrsg.): Internationale Klassifikation psychischer Störungen ICD-10 Kapitel V(F). Klinisch-diagnostische Leitlinien, 8., überarbeitete Aufl. (2011), S. 175
  21. De Gruy, F. III et al.:Diagnose und Therapie von depressiven Erkrankungen und bipolaren Störungen in der Allgemeinpraxis. In: Depressionen und bipolare Erkrankungen. Hrsg. von A. Marneros et. al. Berlin: Wissenschaftsverlag 2007, S. 11
  22. Janzarik, W.: Schizophrene Verläufe. Eine strukturdynamische Interpretation. Berlin Heidelberg New York: Springer 1968, S. 109
  23. Reil, J. C.: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle: Curt 1803, S. 46
  24. Esquirol, J. E. D.: Allgemeine und spezielle Pathologie und Therapie der Seelenstörungen. Frei bearbeitet von K. C. Hille. Nebst einem Anhange kritischer und erläuternder Zusätze von J. C. A. Heinroth. Mit XI lithographierten Tafeln. Leipzig: Hartmann 1827, S. 617
  25. Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten für Ärzte und Studirende. Stuttgart: Krabbe 1845, S. 11
  26. Janzarik, W.: Themen und Tendenzen der deutschsprachigen Psychiatrie. Berlin Heidelberg New York: Springer 1974, S. 5
  27. Peters, U. H.: Lexikon Psychiatrie Psychotherapie medizinische Psychologie. 5. Aufl. München- Jena: Urban & Fischer 2000, S. 437
  28. Heinroth, J. C. A.: Anweisung für angehende Irrenärzte zu richtiger Behandlung ihrer Kranken. Leipzig: Vogel 1825, S. 39
  29. Ideler, K. W.: Biographieen Geisteskranker in ihrer psychologischen Entwicklung. Berlin: Schroeder 1841, S. X
  30. Wiesing, U.: Das Verhältnis der Medizin zu den Wissenschaften. In: Ethik des Arztes, Ethik des Patienten, Ethik der Gesellschaft, hrsg. von H. A. Kick et al.. Berlin: LIT Verlag 2012, S. 141
  31. Janzarik, W.: Die Krise der Psychopathologie Nervenarzt 47 (1977), S. 78
  32. Dilling et al. 2011 a. a. O. [9], S. 169
  33. Roessner, V.: Depressionen erkennen und behandeln. Ärzteblatt Sachsen 23 (2012), S. 412
  34. Althaus, D. et. al. a. a. O. [7.] , S. 40
  35. Dilling et al. 2011 a. a. O. [3.], S. 176
  36. Raison, C. L.: Depression und Krebs. In: A. Marneros et. al. (Hrsg.) 2007 a. a. O. [8.], S. 515
  37. Haack, H,. P.: Genialisierung durch Krankheit. Nervenheilkunde 22 (2003), S. 486


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