Selige Sehnsucht (J. W. Goethe)

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Hans-Peter Haack


Denn wer einmal uns versteht
Wird uns auch verzeihn.
(W.-ö. Divan)

Das Gedicht spricht Bekenntnis und Selbstwahrnehmung des Künstlers aus, im Fall Goethes des Dichters. Es besteht aus fünf Strophen zu je vier Versen in vierhebigen Trochäen, kreuzweise gereimt. Goethe hat es in seinen Gedichtband«West-östlicher Divan» eingefügt (Abb. re.: Druck in der Erstausgabe 1819).

Die erste Vers mahnt: Sagt es niemand, nur den Weisen (1). Daran hält sich Goethe im Folgenden, indem der sich in Gleichnissen mitteilt. Die Weisen werden ihn verstehen, und die Menge (2) wird ihn nicht verhöhnen (2), da sie die Metaphorik nicht erfasst.

In der ersten Strophe preist der Dichter das Lebendige (3), das nach Flammentod sich sehnet (4), seine selige Sehnsucht benennend. Nur dieses Lebendige will er preisen. Flamme ist hier ein Symbol sowohl für Auflösung als auch für Licht. Licht symbolisiert Erkennen (Erhellen, Licht in eine Sache bringen). Der Flammentod meint ein Transzendieren des Lebendigen in der Flamme der Kunst ins Geistige.

In der zweiten Strophe wird dieses Transzendieren verbildlicht. In der Liebesnächte Kühlung (5) liegt die Betonung auf Kühlung: Die Leidenschaften müssen gekühlt sein, damit fremde Fühlung (7), d. h. kontemplatives Sinnen aufkommen kann, eine dem Kreatürlichen fremde Fühlung. Thomas Mann bezeichnete die Gestimmtheit, aus der künstlerische Produktion entsteht, als kalten Exstasen («Tonio Kröger»). Nur in dieser Verfassung erreiche künstlerisches Kalkül Wirkung. Vers (8) wiederholt das Licht-Motiv (Wenn die stille Kerze leuchtet).

Nicht mehr bleibest Du umfangen / In der Finsternis Beschattung, / Und dich reißet neu Verlangen (9 - 11) poetisiert kreativen Impetus, dessen Wirken höhere[r] Begattung (12) gleichkommt, einer geistigen Zeugung. Weiter ausgemalt wird dieser Gestaltungswille in der vierten Strophe, in der der Schmetterling (für die schwebende Anmut der Poesie) in der Flamme der Kunst verbrennt, Leben und Leib hingebend für ein unvergängliches Bleiben im Werk.

Das oft zitierte Stirb und werde (18) beschwört eine proteische Wandlungsfähigkeit, wie sie Goethe als Künstler verwirklicht hat, brillierend in wechselnden Kunstepochen: Rokkoko «Willkommen und Abschied», Sturm und Drang «Götz von Berlichingen», Zeitalter der Empfindsamkeit «Die Leiden des jungen Werthers», Aufklärung «Dichtung und Wahrheit» ( die essayistischen Einschaltungen betreffend), Klassik «Iphigenie auf Tauris», Romantik (?) «Ein Gleiches» (Über allen Wipfeln ist Ruh), lässt auch an die Leistungen Goethes als Wissenschafter denken (darunter die Entdeckung des Zwischenkieferknochens beim Menschen, des Os incisivum) und vor allem an den facettenreichen, vielgestaltigen Teil II seiner Faust-Dichtung. Goethes Selbstauskunft zu Wandel und Werden: Unser ganzes Kunststück besteht darin, dass wir unsere Existenz aufgeben, um zu existieren. (Maximen und Reflexionen)