Wikiversity:Fellow-Programm Freies Wissen/Einreichungen/Die abgelösten Handschriftenfragmente der Universitäts- und Landesbibliothek Tirol und ihre digitale Erschließung

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= Die abgelösten Handschriftenfragmente der Universitäts- und Landesbibliothek Tirol und ihre digitale Erschließung =

Projektbeschreibung - Ausgangslage[Bearbeiten]

Die Erfassung und Erforschung von handschriftlichen Fragmenten wurde in den letzten Jahren in der Mediävistik bzw. Handschriftenforschung in bemerkenswerter Weise intensiviert, was sich auf mehreren Ebenen manifestierte:

Zunächst in einer Reihe von Ausstellungen und damit verbundenen Ausstellungskatalogen, die auch einer breiteren Öffentlichkeit die Faszination der Fragmentforschung vermitteln, beispielsweise 2010 in Kremsmünster oder 2011 in Stuttgart.

Zweitens häuften sich gerade in den letzten Jahren Publikationen, welche die Herausforderungen der Erfassung und Erforschung von Fragmenten (nicht nur der mittelalterlichen und handschriftlichen) auf einer mehr oder weniger theoretischen allgemeinen sowie auf praktischer, erschließungstechnischer Ebene angingen.

Drittens entstanden in den letzten Jahren eine Reihe von Handschriftenkatalogen, die ganz bewusst und ausschließlich die Fragmente mittelalterlicher Handschriften erfassten, wobei hier (in Deutschland oft im Rahmen von DFG-geförderten Projekten) vor allem große deutsche Sammlungen wie die BSB in München, die Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt, die ULB Düsseldorf oder, außerhalb des deutschen Sprachraums, etwa die Biblioteca Vallicelliana in Rom tätig wurden, seltener auch Archive wie das Stadtarchiv Duisburg. In Österreich wird die Aufarbeitung eines kleinen Bestands an Fragmenten der ÖNB (Mondsee) durch das Go!Digital-Projekt der Österreichischen Akademie der Wissenschaften „Modellfall Fragmentendigitalisierung – Die mittelalterlichen Fragmente des Klosters Mondsee“ derzeit in Angriff genommen (2017–2019).

Das Potenzial der Fragmentforschung ist in der Mediävistik aber schon viel früher entdeckt worden, und dieses Potenzial ist enorm: Fragmente können Teile von bisher unbekannten Texten enthalten; sie können auf schmaler Basis überlieferte Texte um weitere Überlieferungen vermehren; sie können für schon gut bekannte, unter Umständen auch breiter überlieferte Texte neue Lesarten und entscheidende Varianten für die Textkonstitution enthalten. Das ist ihr überlieferungsgeschichtlicher Wert.

Gleichzeitig können sie uns aber auch sehr viel über die Verbreitung und Migration von Texten sagen (wo und wann wurde ein Text kopiert, in welchem Skriptorium, unter Umständen auch von welchem Schreiber, wenn es sich um eine bekannte Hand handelt), über deren spätere Verwendung, Ausstattung und Ausführung, den Buchhandel sowie allgemeine Erkenntnisse zur Kultur- und Geistesgeschichte liefern (so lassen etwa die aus den Koperteinbänden der Amtsrechnungen der ehemaligen preußischen Ämter gewonnenen liturgischen Fragmente wichtige Rückschlüsse auf den Ritus im Deutschen Orden zu, über den sonst im Vergleich zu anderen Orden relativ wenig bekannt ist).

Und schließlich – und darauf wurde die Forschung vermehrt in jüngerer Vergangenheit aufmerksam, auch in Verbindung mit dem sogenannten „material turn“ – sind Fragmente (oder besser: ihre Zweitverwendung) auch wichtige Zeugnisse für die Buchkultur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit.

Die große Mehrzahl der Fragmente entstand nicht durch Herausschneiden einzelner Blätter aus Handschriften (sei es aufgrund ihres antiquarischen Werts im Kunsthandel; sei es vielleicht auch aufgrund des schlechten Zustands einer Seite), sondern sie ist das Ergebnis der Makulierung von Handschriften: nicht mehr gebrauchte oder nicht mehr für wichtig erachtete Handschriften (etwa veraltete liturgische Text etc.) oder Urkunden (die oft nur zeitlichen Wert hatten, wie etwa Handelsverträge etc.) wurden als Füllmaterial für Einbände neuer Handschriften oder früher Drucke verwendet; als Spiegelblätter, die auf die Innenseite der Buchdeckel aufgeklebt wurden; als Schmutzblätter am Beginn eines Buches, um den Anfang des Textes zu schützen; oder auch als Falzverstärkungen.

Somit sagen uns die Fragmente auch kultur- und mentalitätsgeschichtlich (welche Texte wurden wann nicht mehr gebraucht usw.) wie auch in Hinsicht auf die Buchproduktion manchmal mehr, als wir vollständigen Handschriften entnehmen können. Der eigentliche Impetus für die vor allem in den letzten Jahren massiv vorangetriebene Erfassung und Erforschung von Fragmenten sind aber die neuen Möglichkeiten der Digital Humanities.

Gerade Sammlungen von Fragmenten sind aufgrund des oft bedenklichen Ausgangszustandes ihrer Objekte wie auch durch die Tatsache, dass es sich um (oft sehr kleine und empfindliche) Einzelobjekte handelt, rein materiell gefährdet, sei es durch einfachen Materialverschleiß, Diebstahl oder schlicht durch Vernachlässigung in den großen Sammlungen neben den „vollständigen“ Handschriften.

Insofern ist die in den letzten Jahren stark vorangetriebene Digitalisierung schon aus konservatorischen Gründen dringend angeraten. Dazu kommt aber noch ein weiterer Aspekt: Viel mehr noch als die Handschriftenforschung ist die Fragmentforschung auf Abbildungen angewiesen. Keine verbale Beschreibung eines Fragments kann so präzise sein wie eine qualitativ gute Abbildung.

Und nur diese Abbildungen ermöglichen es, entweder das Trägerobjekt zu identifizieren, aus der dieses Fragment stammt, oder weitere Bruchstücke in anderen Sammlungen diesem einen Fragment zuzuordnen. Aus diesem Grund entstanden gerade in den letzten Jahren eine Reihe von Websites, die über die gedruckten Kataloge hinaus oder überhaupt anstelle der gedruckten Fragmentkataloge die Fragmentsammlungen größerer Bibliotheken ins Netz stellten, mit entsprechenden Metadaten versahen und so der scientific community die Möglichkeit geben, entweder weitere zugehörige Fragmente oder ein eventuelles Trägerobjekt zu identifizieren oder auch zu weiteren Erkenntnissen, die dem ursprünglichen Bearbeiter des Fragments entgangen waren, zu kommen.

Darüber hinaus bieten die modernen digitalen Möglichkeiten wie Textdatenbanken oder Suchmaschinen bei der Identifizierung der Textbruchstücke auf den Fragmenten, die sich im vordigitalen Zeitalter sehr mühsam gestalten konnte, ausgezeichnete Voraussetzungen und tragen zur erheblichen Beschleunigung bei der Erfassung von Fragmenten bei; in der Folge erlauben wiederum die digitalen Fragmentdatenbanken verbesserte Möglichkeiten zur Auffindung von Fragmenten und zu weiteren Präzisierungen in ihrer Erfassung und Zuordnung.

Vor allem zwei Tendenzen können für die moderne Fragmentforschung festgehalten werden. Erstens: Diese Bestrebungen wurden bisher – ungeachtet der oben genannten Websites von Bibliotheken, welche die raren Ausnahmen darstellen und vielfach (zumindest bei den österreichischen Bibliotheken) älteren Datums sind, sodass die heutigen Möglichkeiten der Digital Humanities noch in keiner Weise genutzt werden konnten – häufig von geisteswissenschaftlichen Spezialdisziplinen vorangetrieben, nämlich vor allem der Judaistik sowie der Musikwissenschaft, zum Teil auch von der Germanistik.

Eher unsystematisch und von den jeweils bibliothekseigenen Verhältnissen und Intentionen abhängig wurden zumindest in Österreich, wenn überhaupt, die nicht in diese Bereiche fallenden, „herkömmlichen“ Fragmente mit Klassikertexten, theologischer und sonstiger spätantiker und mittelalterliche Literatur erfasst.

Zweitens: Gerade kleinere Bibliotheken wie die ULB Tirol haben häufig Probleme, ihre Fragmentsammlungen sowohl ausreichend zu erschließen als auch zu präsentieren, da dies mit dem meist begrenzten Personalstand kaum möglich ist. Teile dieser Sammlungen werden dann zwar gelegentlich im Rahmen von Drittmittelprojekten erschlossen, aber diese betreffen eben häufig nur die musikhistorischen, hebräischen Fragmente usw., während die deutliche Mehrzahl der Fragmente, die nicht in diese Kategorien fällt, unbeachtet bleiben und oft nicht einmal rudimentär erfasst sind. Diese Situation trifft auch auf die ULB Tirol zu, und hier setzt dieses Projekt an.

Umfang und Art der zu digitalisierenden und zu beschreibenden Fragmente an der ULB Tirol[Bearbeiten]

Dass die Erschließung der Fragmente der ULB Tirol ein Desiderat darstellt, hat bereits vor mehr 30 Jahren der frühere Direktor der ULB Tirol, Hofrat Dr. Walter Neuhauser, ausführlich erläutert (Walter Neuhauser, Die Bearbeitung von Fragmenten an österreichischen Bibliotheken, in: Biblos 35 (1986), 352–371). Schon die bisher in der Forschung eingehender behandelten Fragmente zeigen das Potenzial der Fragmentsammlung der ULB Tirol deutlich auf.

Hier seien nur exemplarisch folgende Fragmente genannt:

Frg. 2: Ist im Rahmen einer Kooperationsvereinbarung zwischen der Universitäts- und Landesbibliothek Tirol sowie der Universitätsbibliothek Heidelberg Gegenstand des Projekts „Bibliotheca Laureshamensis – digital: Virtuelle Klosterbibliothek Lorsch“ (http://www.bibliotheca-laureshamensis-digital.de/de/index.html). Frg. 64: Ist im Rahmen einer Kooperationsvereinbarung zwischen der Universitäts- und Landesbibliothek Tirol und der Johns Hopkins University Gegenstand des „Kaiserchronik-Projekts“ (http://www.mml.cam.ac.uk/german/research/kaiserchronik), des größten germanistischen Forschungsprojekts in Großbritannien unter Federführung der Universität Cambridge in Zusammenarbeit mit der Universität Marburg a. d. Lahn, der BSB München, der Österreichischen Nationalbibliothek, der Österreichischen Akademie der Wissenschaften sowie der Johns Hopkins University Baltimore. In den Projektjahren 2012–2017 war geplant, alle drei Fassungen der „Kaiserchronik“ zu edieren, zu kommentieren und ins Englische zu übersetzen. Im Rahmen des Forschungsprojektes soll möglichst auch die gesamte Überlieferung erfasst, analysiert und in digitaler Form über ein von der Johns Hopkins University aufzubauendes Online-Portal der Forschungscommunity zur Verfügung gestellt werden.

Zu den Frg. 65: http://www.mr1314.de/1224; Frg. B 8: http://www.mr1314.de/2442 vgl. man die unter den angegebenen Links im Marburger Repertorium angegebenen Information.

Dieses Projekt wird ähnliche Funde im bisher noch unerschlossenen weiteren Fragmentbestand ermöglichen.

Während die „in situ“, also in den Handschriften der ULB Tirol selbst angebrachten Fragmente im Rahmen der Katalogisierung der Handschriften der ULB Tirol schon erfasst und bearbeitet wurden, gibt es noch eine größere Anzahl von abgelösten Fragmenten: Anhand der maschinenschriftlichen nicht veröffentlichten Inventarlisten, die von Frau Sieglinde Sepp, einer Mitarbeiterin der Abteilung für Sondersammlungen, 1982 erstellt wurden, sind 193 Fragmentsignaturen für handschriftliche Fragmente in der Abteilung für Sondersammlungen der Universitäts- und Landesbibliothek Tirol verzeichnet. Diese Inventarlisten unterteilen sich in ein erstes Kurzverzeichnis mit den Fragmentsignaturen 1–90 sowie ein zweites Kurzverzeichnis der 1982 erstmals erfassten Fragmente der Gruppen A–E, unterteilt in: A 1–18, B 1–9, C 1–33, D 1–3 und E 1–40. Hinzu kommen 21 Fragmentesignaturen, die seit den 80iger Jahren zusätzlich hinzu gekommen sind.

Alle 214 Fragmentsignaturen bedürfen einer Digitalisierung mit einheitlichen Standards. Nur 123 Fragmentsignaturen bedürfen jedoch einer umfassenden Neuerschließung, da 51 Fragmentsignaturen bereits von einschlägig arbeitenden Projektgruppen behandelt werden und die dort gewonnenen Daten leicht in die Datenbank übernommen werden können:

Die abgelösten handschriftlichen hebräischen Fragmente werden vom Team „Hebräische Fragmente in Österreich, www.hebraica.at“ bearbeitet.

Die abgelösten handschriftlichen Musikfragmente, deren Trägerobjekte aus der Bibliothek des Augustiner Chorherrenstift Neustift bei Brixen stammen, werden von Dr. Giulia Gabrielli und ihrem Team in einem Forschungsprojekt, das an der Freien Universität Bozen angesiedelt ist, bearbeitet und (voraussichtl. 2018) im Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften publiziert.

Die abgelösten deutschsprachigen Fragmente des 8.–14. Jahrhunderts werden im Paderborner bzw. Marburger Repertorium („Handschriftencensus“) bearbeitet.

Ein Fragment ist Gegenstand des Projektes „Bibliotheca Laureshamensis – digital: Virtuelle Klosterbibliothek Lorsch“ (s. jeweils oben).

10 Fragmentsignaturen verlangen lediglich eine minimale Bearbeitung, da sie bereits intensiv in der Forschungsliteratur behandelt wurden.

Für 30 Fragmentsignaturen liegen bereits Tiefenerschließungen vor, wenngleich unveröffentlicht und in Form von handschriftlichen Repertoriumsblättern. Die Erschließung erfolgte durch Frau Sieglinde Sepp auf Basis der von der Kommission für Schrift- und Buchwesen des Mittelalters der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zwischen 1983 und 1985 erstellten Richtlinien. Diese Repertoriumsblätter enthalten Angaben zu: „Signatur“, „Abgelöst von“, „Autor/Titel/Inhaltsschlagwort/Sprache“, „Erhaltene Stelle(n)“, „Bibliographischer Nachweis/Edition“, „Lokalisierung“, „Datierung“, „Beschreibstoff“, „Umfang“, „Abmessungen“, „Spaltenzahl“, „Schriftcharakter“, „Ausstattung“, „Art der Überlieferung“, „Weitere Fragmente derselben Handschrift/desselben Drucks“, „Sonstige Bemerkungen zum Fragment“, „Angaben zum (ehemaligen) Träger“, „Autor/Titel/Lokalisierung/Datierung bzw. Impressum/bibliographischer Nachweis“, „Vorbesitzer (mit Angabe von Besitzvermerken, Kaufvermerken, alten Signaturen u. Ä.)“, „Anmerkungen zum Einband“, „Sonstige Bemerkungen“, „Dokumentation des Fragments“, „Edition(en) des Fragments und Literatur zum Fragment“.

Diese Repertoriumsblätter liefern wertvolle Vorarbeiten und Hinweise, die zeitaufwändige Erstrecherchen überflüssig machen, da die Informationen lediglich nachgeprüft, verifiziert, erweitert sowie mit aktuellen Literaturverweisen versehen werden müssen. Somit müssen nur 123 Fragmentsignaturen von Grund auf und völlig neu erschlossen werden.

Beschreibung zur geplanten Methodik[Bearbeiten]

Das Projekt verknüpft zwei verschiedene methodische Vorgehensweisen und will auf innovative Art und Weise Synergien nutzbar machen, die bisher noch nicht für die Erfassung und Auswertung von Fragmenten ausgeschöpft wurden.

Zunächst werden in einem ersten Schritt die klassischen Methoden der Paläographie und Kodikologie für die Beschreibung von Handschriften und Fragmenten angewandt: Erfasst werden zunächst die äußeren Eigenschaften der Fragmente wie Abmessungen, Beschreibstoff, Linierung usw., dann müssen mit Hilfe der Bestimmung der Schrift, der Identifizierung des Textes oder inhaltlicher Kriterien (wie möglicherweise im Fragment enthaltener Kolophone mit Datierungen o.ä.) Entstehungsort und –zeit der Fragmente möglichst genau bestimmt werden, gleiches gilt für die möglichst genaue Feststellung der Provenienz der Fragmente, d.h. des Trägerobjekts, in dem sich das Fragment vor der Ablösung befunden hat, sowie, wenn möglich, der Zugehörigkeit des Fragments.

Im zweiten Schritt erfolgt die Anfertigung hochauflösender Digitalisate sowie die Eingabe der im ersten Schritt gewonnenen Ergebnisse in das angelegte Datenset. Die Digitalisierung der 214 Fragmentsignaturen wird mit dem an der Universitätsbibliothek Graz speziell für sensibles Buchgut entwickelten und an der ULB Tirol vorhandenen Book Traveller (auch Grazer Bücherwiege, TCCS 4232 = The Traveller’s Conservations Copy Stand 4232) durchgeführt. Diese spezielle Vorrichtung für die Retrodigitalisierung von sensiblem Buchkulturgut arbeitet mit hochauflösenden Single-Shot-Kameras (Sony DCS-R1, 10,3 MPix, Zeiss-Optik, 5-fach analaoges Zoom; Panasonic Lumix DMC- FZ50, 10MPix, 12-fach analoges Zoom) und wird in den Digitalisierungsabteilungen weltweit führender einschlägiger Häuser eingesetzt.

Autor/in[Bearbeiten]

  • Name: Dr. Claudia Sojer
  • Institution: Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie, Projekt des Jubiläumsfonds der Oesterreichischen Nationalbank: Die abgelösten Handschriftenfragmente der Universitäts- und Landesbibliothek Tirol und ihre digitale Erschließung. Projektleitung: Univ.-Prof. Mag. Mag. Dr. Martin Wagendorfer, M.A.S. Projektlaufzeit: Oktober 2018–Oktober 2020.
  • Kontakt: claudia.sojer@uibk.ac.at