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Bamberger Einführung in die Geschichte des Islams (BEGI) 06

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6. Die Desintegration des Dschihad-Staates und die Anfänge des Fiqh (692-750)

Die frühislamische Expansionsbewegung erlebt ihren Höhepunkt und Niedergang. Soziale Spannungen zwischen Arabern und Nicht-Arabern nehmen weiter zu. Als neue religiös-politische Parteien entstehen Murdschi'a, Qadarīya, Dschahmīya und Ibādīya. Darüber hinaus bildet sich mit dem Fiqh eine eigene islamische Normenlehre heraus, die in verschiedenen lokalen Schulen gepflegt wird.

6.1. Dritte Expansionsphase: von ʿAbd al-Malik bis Sulaimān (692-717)

6.1.1. Konsolidierung des Staates und dritte Expansionsphase

Unter ʿAbd al-Malik geprägter Gold-Dinar mit arabischer Legende.

Nach Wiedergewinnung Arabiens nahm ʿAbd al-Malik eine Verwaltungsreform (Einführung des Arabischen als Kanzleisprache) und Münzreform (Ablösung der sassanidischen und byzantinischen Prägungen durch Münzen mit arabisch-islamischer Legende) vor. Al-Haddschādsch ibn Yūsuf wurde 694 als Gouverneur in den Irak entsandt und regierte von dort aus bis 715 den gesamten Ostteil des Reiches. 705 verlegte er seinen Regierungssitz in die neugegründete Stadt Wāsit („die Mittlere“) zwischen Kufa und Basra. Um einen Rückgang der staatlichen Einnahmen zu verhindern, führte er die Regel ein, dass auch solche Ahl adh-Dhimma die Dschizya entrichten mussten, die bereits zum Islam konvertiert waren.

Die Eroberung der iberischen Halbinsel unter Tāriq ibn Ziyād und Mūsā ibn Nusair zwischen 711 und 714.

Während der zweiten Fitna waren die Araber von den Byzantinern aus Ifrīqiya zurückgedrängt worden. Zur Rückgewinnung des Gebiets stellte ʿAbd al-Malik dem neuernannten Gouverneur Ifrīqiyas, Hassān ibn Nuʿmān, das Steueraufkommen ganz Ägyptens zur Verfügung und ließ ihn eine Armee von 40.000 Mann anwerben. Den nach Westen vordringenden Arabern traten nun berberische Stämme aus dem Gebiet Nordostalgeriens unter Führung einer Frau entgegen, die in der muslimischen Geschichtsschreibung als die Kāhina („Priesterin“) bekannt geworden ist. Es war nicht ungewöhnlich, dass Frauen bei den Berbern politischen Einfluss hatten, denn sie waren zum Teil noch mutterrechtlich organisiert. Die Kāhina genoss den Ruf einer Prophetin und muss eine begabte Rednerin gewesen sein. Mit dem von ihr aufgebauten Stammesverband trat sie der Armee Hassāns entgegen und drängte ihn in die Cyrenaika zurück. Fast drei Jahre lang blieben die Muslime in der Defensive, unterdessen kehrten die Byzantiner wieder und besetzten Karthago und andere Küstenfestungen. Erst um das Jahr 698 gelang es Hassān ibn Nuʿmān mit Unterstützung berberischer Stämme und arabischer Schiffsverbände, die Byzantiner endgültig aus Karthago und den anderen Küstenfestungen zu vertreiben. Die berberische Kāhina fiel im Kampf. Mūsā ibn Nusair vollendete Anfang des 8. Jahrhunderts die Eroberung der nordafrikanischen Küste und setzte in Tingis, dem heutigen Tanger, einen berberischen Gouverneur ein, Tāriq ibn Ziyād.

Unter al-Walīd (reg. 705-715) setzte sich die Expansion des islamischen Staates fort. Die wichtigsten Eroberungen fanden innerhalb weniger Monate statt. Im Westen setzte im Frühjahr 711 Tāriq ibn Ziyād in einer eigenmächtigen Aktion mit einer Armee von 7.000 ausschließlich berberischen Kämpfern nach Europa über. Der Berg, an dessen Fuß er mit seinen Truppen landete, trägt seither seinen Namen (arab. ǧabal Ṭāriq = „Berg Tāriqs“ → Gibraltar). Nach dem Sieg über den Westgotenkönig Roderich im Juli 711 konnten Tāriq ibn Ziyād und Mūsā ibn Nusair innerhalb weniger Jahre die gesamte iberische Halbinsel einnehmen. Unter dem Namen al-Andalus wurde dieses Gebiet in das islamische Reich eingegliedert. Im Osten des islamischen Reiches eroberte im gleichen Jahr der junge Heerführer Muhammad ibn al-Qāsim das Gebiet von Sindh im heutigen Südpakistan mit der Stadt Multan. Und im Nordosten eroberte ein Jahr später Qutaiba ibn Muslim, der Gouverneur von Chorasan, Choresmien und Transoxanien mit den Städten Buchara und Samarkand.

6.1.2. Staatliche Maßnahmen im religiösen Bereich

Der Mihrāb der Umaiyaden-Moschee von Damaskus heute. Die darüber stehenden arabischen Wörter sind ein Zitat aus dem Koran (Sure 3:37) und setzen den Bau zur koranischen Johannesgeschichte in Beziehung.

Unter den beiden Kalifen ʿAbd al-Malik und al-Walīd wurden auch Maßnahmen im religiösen Bereich getroffen. Im Jahre 703 unternahm al-Haddschādsch eine eigene Initiative zur Vereinheitlichung der Orthographie der Koranschreibung. Damit alle Uneindeutigkeiten ausgeräumt waren, wurden alle Buchstaben mit ähnlichem Aussehen fortan mit diakritischen Zeichen versehen. Leiter der Kommission war der Gelehrte al-Hasan al-Basrī (gest. 728).

Al-Walīd setzte zwei anspruchsvolle religiöse Bauprojekte um: 1. in Damaskus ließ er die eigentlich vertraglich geschützte Johanneskirche im Zentrum der Stadt einreißen und in den bereits bestehenden Moscheekomplex einverleiben; an der Stelle wurde die noch heute bestehende Umaiyaden-Moschee errichtet; 2. in Medina ließ er von seinem Gouverneur die Prophetenmoschee abreißen und in größerem Maßstab wieder errichten. Die beiden Bauten erhielten als neues Architekturelement im Inneren eine Nische, die den Platz des Vorbeters und die Qibla anzeigte. Diese Gebetsnische, die man in Anspielung an die koranische Erzählung von der Verkündung des Johannes (Q 3:39) Mihrāb genannt hat, ist später fester Bestandteil der Moscheearchitektur geworden. Allerdings gab es von Seiten traditionalistisch gesinnter Muslime noch lange Zeit Widerstand gegen den Mihrāb. So wird zum Beispiel berichtet, dass der irakische Traditionarier Yazīd ibn Hārūn (gest. 821) einmal bei einer Privatmoschee, die gerade im Bau war, den Mihrāb einreißen ließ, weil er diesen offenbar für eine unrechtmäßige Neuerung hielt.

Der Felsendom scheint allerdings noch eine Zeitlang seine Rolle als religiöses Heiligtum behalten zu haben. So wird berichtet, dass an ihm unter al-Walīd Rituale vollzogen wurden, die nicht typisch sind für eine Moschee. Es wurden 40 zur lokalen Bevölkerung gehörende Diener für das Gebäude abgestellt, die „Felswächter“ (ḥurrās aṣ-ṣaḫra) genannt wurden. In Schichten arbeitend, waren sie für das Öffnen und Schließen der Tore, die Lampen und die allgemeine Instandhaltung verantwortlich. Jeden Montag und Donnerstag fand ein spezieller Gottesdienst statt, der mit der Vorbereitung der Felsendiener, der Einsalbung des Felsens und Beweihräucherung des Gebäudes begann. Dann wurden die Gläubigen der Stadt durch einen Rufer aufgefordert, zum Gebet zu kommen. Nach dem Gebet wurde der Felsen von Felsendienern erneut gewaschen und abgetrocknet, die Türen wurden wieder verschlossen.

6.1.3. Der Aufstand des Ibn al-Aschʿath und die neuen religiös-politischen Parteien

Auch nach innen bemühten sich die Kalifen, die Kontrolle des Staates ausweiten. Nach dem Sieg über ʿAbdallāh ibn az-Zubair trieben noch verschiedene charidschitische Gruppen im Irak und in Iran ihr Unwesen, darunter besonders die Azraqiten. Sie überzogen unter ihrem Kalifen al-Qatarī ibn al-Fudschāʿa weite Gebiete Persiens mit Feuer und Schwert und setzten mehrere Jahre hindurch den zahlenmäßig weit überlegenen Regierungstruppen hartnäckigen Widerstand entgegen. Im Jahre 698 gelang es aber al-Muhallab ibn Abī Sufra, sie endgültig zu vernichten.

Um das Jahr 700 brach aber noch einmal ein Aufstand aus, der das arabische Reich fast zum Zusammensturz brachte. Auslöser dafür war das Verhalten von al-Haddschādsch ibn Yūsuf im Irak. Er ging sehr hart gegen die arabischen Stammesführer in Kufa vor und versuchte, ihre Macht zu brechen. Um 700 stellte sich der kinditische Stammesführer Ibn al-Aschʿath, ein Enkel von al-Aschʿath ibn Qais an die Spitze einer Aufstandsbewegung, die von Ostiran aus in Richtung Irak vorrückte und die Absetzung von al-Haddschādsch forderte. Nachdem al-Haddschādsch den Aufstand, der auch von den Schiiten von Kufa unterstützt wurde, niedergeschlagen hatte, ließ er seine Unterstützer erbarmungslos verfolgen. Einige Schiiten aus Kufa flohen darauf hin nach Iran und gründeten dort die Stadt Qom. Sie wurde später zu einem der wichtigsten Zentren der Schia.

Innerhalb der Schia spielte damals die Kaisānīya (siehe dazu oben 5.3.3.) eine wichtige Rolle. Die Kaisāniten knüpften noch immer soteriologische Erwartungen an Muhammad ibn al-Hanafīya, den früher von al-Muchtār verkündeten Mahdī, der selbst gar kein Mahdī sein wollte. Als Muhammad ibn al-Hanafīya im Jahre 700 starb, meinten viele von ihnen, er sei nicht wirklich gestorben, sondern nur der Welt entrückt; in Wahrheit weile er versteckt in den Schluchten des Berges Radwā nördlich von Medina, von Engeln bewacht und mit Speise aus dem Paradies ernährt; in naher Zukunft werde er aus seinem Versteck hervortreten, seine Anhänger um sich scharen, die Feinde zerschmettern und „die Erde mit Gerechtigkeit erfüllen, sowie sie mit Ungerechtigkeit erfüllt war“. Die Lehren der Kaisānīya, insbesondere das Modell der „Verborgenheit“ (Ghaiba) und erwarteten Rückkehr (raǧʿa) des Mahdī wurde später von anderen Zweigen der Schia auf andere Personen übertragen, das Konzept des Imams und die Gestalt des Mahdī fanden auch Eingang in die Lehren der nicht-schiitischen Muslime. Deswegen ist die Kaisānīya von großer religionsgeschichtlicher Bedeutung für den Islam.

6.1.3.1. Murdschiiten

Während Schiiten bei dem Aufstand des Ibn al-Aschʿath eigentlich nur eine marginale Rolle spielte, gab es eine andere Gruppe, die dabei erheblich stärker hervortrat, nämlich die Koranleser der Murdschi'a. Die religiös-politische Bewegung der Murdschi'a („Aufschieber“) geht auf Hasan, den Sohn Muhammad ibn al-Hanafīyas zurück. Er hatte in den frühen 690er Jahren einen offenen Brief verfasst, in dem er die Lehre entwickelte, dass entsprechend Sure 9:106 das Urteil über die Menschen, die sich an der Fitna beteiligt hatten, also Talha, az-Zubair, ʿAlī und ʿUthmān, aufgeschoben werden müsse, bis Gott (im Jenseits) über sie entscheide. Da Gott über diese Menschen urteile, sollten sich die Muslime bis dahin jeglicher Parteinahme enthalten. Mit diesem Gedanken der Versöhnung und des Ausgleichs standen die Murdschi'a er oder Murdschiiten, wie man sie auch nennt, den ahl as-sunna sehr nah.

Dass sich trotz ihrer konzilianten Haltung so viele Murdschiiten in den Ibn-al-Aschʿath-Aufstand hineinziehen ließen, hat damit zu tun, dass viele von ihnen Mawālī waren und al-Haddschādsch eine Politik betrieb, die auf Bewahrung der politischen Vorrechte der Araber ausgerichtet war. So verfügte er, dass Nicht-Muslime, die zum Islam übertraten, trotzdem die Dschizya weiterzahlen mussten. Dass sich vor allem murdschiitische Koranleser der Ibn-al-Aschʿath-Revolte anschlossen, dürfte darin seinen Grund haben, dass al-Haddschādsch Ibn Masʿūd und seine Koranlesung verspottete und der Bevölkerung in Kufa mit einem Massaker drohte, wenn sie nicht aufhören würden, den Koran nach seiner Lesung zu rezitieren. Viele der murdschiitischen Koranleser wurden nach der Niederschlagung des Aufstands durch al-Haddschādsch hingerichtet, andere flohen in den Haram von Mekka. Jahre später, 713, wurden die nach Mekka geflüchteten Murdschiiten, die an den Aufstand des Ibn al-Aschʿath teilgenommen hatten, von dem mekkanischen Gouverneur Chālid al-Qasrī verhaftet und zur Hinrichtung an al-Haddschādsch ausgeliefert. Die Brutalität, mit der al-Walīd und seine Gouverneure gegen diese Oppositionellen vorgingen, entfremdete die frommen Milieus dem Umaiyadenstaat und verstärkte bei ihnen die Überzeugung, dass es sich um ein „Unrechtsregime“ handelte.

6.1.3.2. Qadariten

Neben den Murdschiiten gab es damals noch eine andere Gruppe, die auf religiös-politischer Ebene Kritik an den Herrschenden übte. Der Name dieser Gruppe geht auf den arabischen Begriff Qadar zurück, der im Koran allgemein Akte der göttlichen Festlegung bezeichnet. Für die politisch-theologische Diskussion der Umaiyadenzeit über das Qadar war eine Koranstelle besonders bedeutsam, an der die von Muammads Umgebung kritisierte Eheschließung mit Zainab bint Dschahsch mit Qadar gerechtfertigt wird. Gottes Befehl dazu sei qadar maqdūr „von Gott bestimmte Festlegung“ gewesen, heißt es im Koran (Q 33:38). Wie arabischen Quellen zu entnehmen ist, rechtfertigten auch die Umaiyaden ihre Unrechtstaten mit dem Qadar Gottes. Al-Hasan al-Basrī soll dies empört zurückgewiesen haben, was ihm offenbar einige politische Schwierigkeiten einbrachte.

Diejenigen, die dieses Problem weiter thematisierten und die Eigenverantwortlichkeit der Menschen für ihr Tun betonten, wurden als Qadariten bezeichnet. Niemand, so war ihre Auffassung, sollte seine Sünden mit der Behauptung rechtfertigen können, dass er dazu gezwungen sei, weil Gott die Sünden vorherbestimmt habe. Zu denjenigen, die sich in dieser Zeit gegen die Verwendung prädestinatianischer Formeln zur Rechtfertigung von Missetaten der politischen Machthaber gewandt haben, gehörte auch der ursprünglich aus Ostiran stammende Gelehrte Makhūl ibn Abī Muslim (gest. 731-37). Er vertrat die Auffassung, dass nur das Gute dem Menschen von Gott zugemessen werde, das Schlechte aber von ihm selbst komme.

Derjenige, der eine große Sünde begangen hatte und nicht bußfertig umkehrte, war nach der Lehre der Qadariten ein Munāfiq und somit zu ewigen Höllenqualen verdammt. Die Qadariten waren also in gewisser Weise ethische Rigoristen. Viele von ihnen gerieten in Konflikt mit der Staatsgewalt, weil sie bei ihrer Kritik an den Herrschenden kein Blatt vor den Mund nahmen. Anders als die Murdschiiten ließen sie sich aber niemals in politische Aufstände hineinziehen. Al-Hasan al-Basrī warnte davor, durch Rebellion gegen vermeintlich sündige Herrscher die einträchtige Gemeinschaft aufs Spiel zu setzen. Allerdings musste er sich selbst nach Kritik an al-Haddschādsch ibn Yūsuf aus dem öffentlichen Leben zurückziehen. Eine der bedeutendsten islamischen Ideen, die ursprünglich auf qadaritisches Milieu zurückgeht, ist die Vorstellung von der Grabesstrafe (ʿaḏāb al-qabr), die der eigentlichen Bestrafung des Menschen im Jenseits vorausgehen soll. Schon al-Hasan al-Basrī soll dieses Konzept mit Verweis auf das Koranwort: „Wir werden sie zweimal strafen“ (Q 9:101) propagiert haben.

6.1.3.3. Das antisektarische Ideal

Einige Muslime scheinen schon in dieser Zeit daran Anstoß genommen zu haben, dass sich die Qadariten und Murdschi'iten zu eigenen religiös-politischen Parteien entwickelten. Sie stellten sie als solche mit den Schiiten und Charidschiten auf eine Stufe. Als Beispiel kann man wiederum auf asch-Schaʿbī verweisen, der 699 in den Aufstand des Ibn al-Aschʿath hineingezogen worden war, sich danach aber mit den Umaiyaden versöhnte und als Prinzenerzieher wirkte. Von ihm wird folgender Leitspruch überliefert: "Wisse, dass die gute Tat von Gott kommt und die schlechte von dir, aber sei kein Qadarit. Liebe die Familie des Propheten Gottes, aber sei kein Schiit. Enthalte Dich bei den zweifelhaften Dingen des Urteils, aber sei kein 'Aufschieber' (= Murdschiit). Handle nach dem Koran, aber sei kein Hārūrit (= Charidschit)." Asch-Schaʿbī meinte also, dass die Prinzipien, die die verschiedenen Bewegungen seiner Zeit verfolgten, grundsätzlich richtig waren, jedoch ihr Sektierertum keine Nachahmung verdiente. Dieses antisektarische Ideal wurde später zu einem festen Bestandteil sunnitischer Identität.

6.2. ʿUmar ibn ʿAbd al-ʿAzīz und die Mawālī (717-720)

Unter den Kalifen Sulaimān ibn ʿAbd al-Malik (715-717) und ʿUmar ibn ʿAbd al-ʿAzīz (717-720) kam es zu einer Verlangsamung der Expansionsbewegung. Mit ʿUmar ibn ʿAbd al-ʿAzīz kam ein Mann auf den Thron, der bereits seit seiner Jugendzeit in Medina in einem engen Verhältnis zur religiösen Gelehrsamkeit stand. Während des Kalifats al-Walīds hatte er dessen Herrschaft als Unrechtsregime kritisiert. Bei seinem Herrschaftsantritt soll er einen seiner Gouverneure dafür getadelt haben, dass er die Sunna des Propheten nicht befolgte und unrechtmäßige Neuerungen (bidaʿ) einführte. Dies lässt darauf schließen, dass er den ahl as-sunna sehr nahestand. Während seines Kalifats unterbrach ʿUmar die Offensivstrategie des Staates und wandte sich den im Inneren herrschenden Spannungen zu. Eine einjährige Belagerung von Konstantinopel wurde 718 abgebrochen. Lediglich im Westen gab es in dieser Zeit noch territoriale Zugewinne: 719 nahm der Gouverneur von al-Andalus die gallische Stadt Narbonne ein.

Der islamische Staat, der damals bereits ein Weltreich geworden war, wurde bis dahin immer noch als ein Bündnis arabischer Stämme geführt. Nicht-Araber, die zum Islam konvertiert waren, mussten deshalb zu Klienten (Mawālī) arabischer Stämme werden. Das Überlegenheitsgefühl der Araber gegenüber den nicht-arabischen Völkern zeigte sich auch auf dem Gebiet der Koranexegese. Bis zum frühen 8. Jahrhundert wurde der im Koran erwähnte Sohn Abrahams, der sich hinzugeben bereit war, als Gott seine Opferung verlangte (vgl. Q 37:102-105), in Anknüpfung an den biblischen Bericht allgemein mit Isaak, dem Stammvater der Juden, identifiziert. In der Zeit von ʿUmar II. kam zum ersten Mal die Vorstellung auf, dass es sich um Ismāʿīl, den Stammvater der Araber, handeln müsste. Diese Lehre hat sich später auch allgemein im Islam durchgesetzt.

Die Murdschi'a-Bewegung, die ursprünglich vor allem auf die Wiederherstellung der Eintracht unter den Muslimen ausgerichtet war, übernahm Anfang des 8. Jahrhunderts eine neue politische Rolle, indem sie in Chorasan und Transoxanien für die Rechte der Mawālī kämpfte. Im Jahre 718/9 beschwerte sich ein murdschi'itischer Klient, Abū s-Saidā', bei ʿUmar darüber, dass 20.000 Mawālī in Chorasan in der Armee ohne Sold dienten und eine ähnliche Zahl neuer Konvertiten zur Zahlung der Dschizya gezwungen sei. ʿUmar sorgte daraufhin dafür, dass diese neuen nicht-arabischen Konvertiten den Arabern gleichgestellt wurden. Jeder, der das Glaubensbekenntnis der Muslime sprach und zu ihrer Qibla hin betete, wurde nach seiner Anordnung von der Bezahlung der Dschizya ausgenommen.

Eine Frage, die in dieser Zeit viel diskutiert wurde, war die Beschneidung der Konvertiten. Müssen auch Männer, die sich im Erwachsenenalter zum Islam bekehrten, noch beschnitten werden? Während die umaiyadischen Gouverneure in Chorasan dies für notwendig hielten, urteilte Hasan al-Basrī, dass eine Beschneidung nicht vorgenommen werden sollte, wenn zu befürchten war, dass der Mann gesundheitliche Schäden davon tragen würde. ʿUmar ging sogar noch weiter und hob die Beschneidungspflicht für neu bekehrte Muslime vollständig auf. In diesem Zusammenhang wird von ihm der Ausspruch überliefert: „Gott hat Muhammad als Prediger entsandt, nicht aber als Beschneider.“ Um einen weiteren Anreiz für den Übertritt zum Islam zu schaffen, erlegte er umgekehrt den Dhimmīs den sogenannten Ghiyār auf, die Pflicht, eine bestimmte Kleidung zu tragen, die sie von den Muslimen unterschied.

6.3. Yazīd II., Hischām und das Anwachsen der religiös-politischen Opposition (720-743)

6.3.1. Vierte Expansionsphase und das Ende des Dschihad-Staates

Expansion des Islamischen Reichs bis zum Ende der Herrschaft von Hischām ibn ʿAbd al-Malik

ʿUmars Nachfolger, die Brüder Yazīd ibn ʿAbd al-Malik (reg. 720-724) und Hischām ibn ʿAbd al-Malik (reg. 724-743) nahmen die frühere Expansionspolitik wieder auf. 725 unterwarf der Gouverneur von al-Andalus, ʿAnbasa, das Gebiet von Septimanien im Süden des heutigen Frankreichs und installierte arabische Garnisonen in den Städten des unteren Rhone-Tals. 735 wurde im äußersten Westen Nordafrikas das zwischen Hohem Atlas, Antiatlas und Atlantik liegende Sūs-Tal eingenommen und die Bevölkerung zum Islam bekehrt.

Doch gab es in dieser Zeit auch schon einige Gebietsverluste. Auf der iberischen Halbinsel unternahm 722 Pelayo, ein westgotischer Militäradliger, einen Aufstand gegen die muslimische Herrschaft; das von ihm beherrschte Gebiet im äußersten Norden der Halbinsel konnte nie mehr zurückgewonnen werden. 727 musste der Versuch, die byzantinische Stadt Nikäa zu erobern, abgebrochen werden. Alle weiteren Vorstöße auf fränkisches und byzantinisches Gebiet endeten mit empfindlichen Niederlagen (Tours und Poitiers 732, Akroinon 740). Das Rhone-Tal ging 737 wieder verloren. Das islamische Reich geriet immer mehr in eine militärische Krise. Die Expansionspolitik ließ sich nicht mehr in gewohnter Weise fortsetzen.

Grund für die Krise waren die Probleme bei der Verwaltung eines derart großen Reiches, die immer heftiger werdenden Rivalitäten zwischen verschiedenen arabischen Stämmen und der allgemeine politische Legitimitätsverlust des Umaiyadenhauses. Schon im Jahre 720 unternahm Yazīd ibn al-Muhallab, der Sohn von al-Muhallab ibn Abī Sufra, in Basra einen charidschitisch inspirierten Aufstand und rief im Namen des „Buches Gottes und der Sunna des Propheten“ zu einem Dschihad gegen die Umaiyaden auf. Immer mehr Gruppierungen, darunter auch Qadariten, stellten das Vorrecht dieser Familie auf das Imamat, also die religiös-politische Führung der Umma, in Frage.

6.3.2. Die haschimitische Daʿwa und die Schiiten

Stammbaum der Banū Hāschim mit Aliden (grün) und Abbasiden (rötlich)

Die Marwāniden, die seit 685 herrschten, waren zwar keine Nachkommen von Abū Sufyān mehr, sie gehörten aber immer noch dem mekkanischen Clan der ʿAbd Schams an. Gegen deren Vorherrschaft im islamischen Staat richtete sich eine Oppositionsbewegung, die für eine Vorherrschaft des Clans der Banū Hāschim kämpfte, dem ja auch der Prophet selbst angehört hatte. Die Propaganda (Daʿwa) dieser Bewegung, die man als haschimitisch bezeichnete, wurde durch Werbeagenten (duʿāt, sing. dāʿī) bis in die Garnisonen Ostirans getragen. Diese Werbeagenten wirkten im Verborgenen und traten nur mit Pseudonym auf, die Identität des künftigen Imam-Kalifen wurde noch nicht enthüllt, die Werbung vielmehr im Namen eines noch Namenlosen betrieben, „desjenigen aus dem Hause Muhammads, der Zustimmung findet“ (ar-riḍā min āl Muḥammad).

Innerhalb dieser haschimitischen Daʿwa spielten die Abbasiden, die Nachkommen des Prophetenonkels ʿAbbās, die damals in Humaima, einem kleinen Ort in Südjordanien lebten, eine wichtige Rolle. Schon um das Jahr 718 hatten Angehörige dieser Familie Pläne entwickelt, die Macht im Kalifat zu ergreifen. Der erste Abbaside, der sich in der Daʿwa engagierte, war Muhammad ibn ʿAlī (gest. 743), ein Enkel von ʿAbdallāh ibn ʿAbbās. Aber auch Anhänger der Aliden, die ja ebenfalls dem Clan der Banū Hāschim angehörten, beteiligten sich an der Daʿwa-Bewegung. Diese Schiiten sandten von Kufa aus eigene Werber nach Chorasan, die sich mit denjenigen der Abbasiden vermischten. Zeitweise verselbständigte sich der chorasanische Daʿwa-Apparat und verfolgte eigene Ziele.

Welche politischen und religiösen Vorstellungen die kufischen Schiiten damals hegten, ist durch das sogenannte Kitāb Sulaim ibn Qais dokumentiert, das als das älteste Buch der Schia gilt. Hier wird der Anspruch der Familie Muhammads auf die Herrschaft über die Muslime bekräftigt und ihre Verdrängung von der Macht als ein Komplott verschiedener Prophetengefährten interpretiert, das schon vor Muhammads Tod geschmiedet wurde. Unter den kufischen Schiiten gab es einige Persönlichkeiten, die das Imamat göttlich überhöhten und gnostischen Vorstellungen anhingen. Zu ihnen gehörten insbesondere al-Mughīra ibn Saʿīd und Abū Mansūr al-ʿIdschlī, die beide für sich das Prophetentum beanspruchten. Al-Mughīra entwickelte eine extrem anthropomorphistische Gotteslehre und lehrte, dass Gott die Welt durch Aussprechen des „größten Gottesnamen“ (ism Allāh al-aʿẓam) erschaffen habe. Dies leitete er aus dem Koranwort von Sure 87:1-2 ab, das er folgendermaßen las: „Preise den höchsten Namen deines Herrn, der erschuf und ebenmäßig formte“. Er selbst behauptete, den „größten Gottesnamen“ zu kennen und damit Tote zum Leben erwecken zu können. Nach Mughīra interessierten sich noch viele andere muslimische Gnostiker für diesen „größten Gottesnamen“ und maßen ihm magische Eigenschaften zu. Mughīras extremes Schiitentum zeigte sich darin, dass er ʿAlī göttliche Eigenschaften zuerkannte und die beiden Kalifen Abū Bakr und ʿUmar zu Ungläubigen erklärte, weil sie ihn nach dem Tode des Propheten davon abgehalten hatten, sein Kalifat anzutreten.

Abū Mansūr al-ʿIdschlī führte das Prinzip der allegorischen Koranauslegung (taʾwīl) in den Islam ein. Er meinte, dass koranische Begriffe wie Dschanna („Garten“) und Nār („Feuer“) nur Personen bezeichneten, die es zu verehren bzw. zu bekämpfen galt. Auch die koranischen Gesetze und Verbote deutete er in dieser Weise, woraus sich eine antinomistische Grundhaltung ergab. Selbst Morde an Gegnern hielt er für zulässig. Die Imame betrachtete er als Propheten. Das Prophetentum ʿAlīs erklärte er damit, dass sich der Engel Gabriel geirrt habe, und die für ʿAlī bestimmte göttliche Botschaft fälschlicherweise Muhammad überbracht habe. Beide, al-Mughīra und Abū Mansūr, die als Ghulāt, also extreme Schiiten gelten, wurden noch während Hischāms Kalifat hingerichtet.

Die Herausbildung der verschiedenen schiitischen Gruppierungen im Laufe der Jahrhunderte

Eine andere schiitische Gruppe dieser Zeit war die Butrīya, die hinsichtlich der islamischen Frühgeschichte sehr gemäßigte Ansichten vertrat. ʿAlī hielten die Butriten zwar nach dem Propheten für den besten (al-afḍal) aller Muslime, doch erkannten sie das Kalifat Abū Bakrs und ʿUmars als rechtmäßig an, da ʿAlī ihnen gehuldigt hatte. Ähnliche Ansichten vertrat der in Medina lebende Husainide Zaid ibn ʿAlī. Als er sich im Jahre 739 nach Kufa begab und die Schiiten zur Rebellion gegen die Umaiyaden aufrief, kam es dort innerhalb der schiitischen Gemeinde zum Konflikt. Zaid konnte zwar zunächst mehrere Tausend Schiiten hinter sich versammeln, doch fielen die meisten von ihm wieder ab, als sie sahen, dass er nicht bereit war, die beiden ersten Kalifen zu schmähen. Diejenigen Schiiten, die auf Schmähung der beiden ersten Kalifen bestehen, werden seither in der islamischen Doxographie als Rāfida („Ablehner“; nämlich von Zaid ibn ʿAlī), bezeichnet, die anderen Schiiten, die das Imamat der beiden ersten Kalifen Abū Bakr und ʿUmar als rechtmäßig anerkennen und insofern eine gemäßigtere schiitische Lehre vertreten, wurden aufgrund ihrer Verbindung mit Zaid ibn ʿAlī unter dem Namen Zaidīya geführt.

Zaids Aufstand gegen den Kalifen Hischām im Jahre 740 schlug aufgrund der geringen Unterstützung durch die kufischen Schiiten fehl; Zaid fiel in Kufa im Straßenkampf gegen die Truppen des Statthalters. Zaids junger Sohn Yahyā floh nach Chorasan (Ostiran), fiel aber in die Hand der Umaiyaden. Wieder freigelassen, suchte er sich in der Gegend von Herat (im westlichen Afghanistan) erneut zu erheben, fiel aber 743 im Kampf gegen die umaiyadischen Regierungstruppen.

6.3.3. Die Sezession des Ibn Suraidsch und die Dschahmīya

Transoxanien, das Gebiet, in das sich al-Hārith ibn Suraidsch zurückzog.

Im Jahre 734 zettelte der arabische Kämpfer al-Hārith ibn Suraidsch, ein Mann, der eng mit den Murdschi'iten von Abū s-Saidā' verbunden war, in Chorasan einen Aufstand gegen die Umaiyaden an. Ibn Suraidsch, der in einer öffentlichen Erklärung forderte, dass der Gouverneur von Chorasan durch eine Schūrā gewählt werden und gemäß dem Buch Gottes und der Sunna des Propheten handeln müsse, konnte die chorasanische Stadt Balch erobern. Nach einer Niederlage gegen umaiyadische Truppen verbündete er sich mit nicht-muslimischen türkischen Stammesführern, die in dieser Zeit von Transoxanien aus die Araber bekämpften. Zwar konnte der umaiyadische Gouverneur Ibn Suraidsch und seinen türkischen Verbündeten 737 eine Niederlage beibringen, doch gelang es ihm nicht, Ibn Suraidsch endgültig zu besiegen. Er zog sich für die folgenden Jahre in das nördliche Transoxanien zurück und lebte dort auf dem Gebiet türkischer Stammesverbände, die einem buddhistischen Glauben anhingen.

Sekretär von Ibn Suraidsch war ein gewisser Dschahm ibn Safwān. Auf ihn wird eine eigene theologische Richtung des Islams zurückgeführt, die für ihre Tendenz, Gott von jeder Eigenschaft zu „entleeren“ (arab. taʿṭīl), bekannt war. Dschahm unterschied in seiner Theologie in Anknüpfung an koranische Aussagen (z.B. Q 39:63 und 42:11) scharf zwischen Gott und allem, was „Ding“ (šaiʾ) genannt wird und erschaffen ist, und verlangte auf dieser Grundlage, dass Gott keine Eigenschaften von erschaffenen Dingen und Wesen, also auch Menschen, zugeschrieben werden dürften. Diese Ablehung von jeglicher Form des Anthropomorphismus brachte Dschahm auch dazu, darauf zu beharren, dass die Rede Gottes erschaffen sein müsse. Denn da Gott keinen physischen Körper habe, so meinte er, könne er nicht selbst sprechen, sondern Rede, die von Menschen wahrgenommen wird, nur erschaffen. Da die Rede Gottes erschaffen ist, musste folgerichtig auch der Koran erschaffen sein. Dschahm wird nachgesagt, dass er mit buddhistischen Mönchen, die in den Quellen als Sumanīya erscheinen, Streitgespräche geführt habe. Es ist sehr gut möglich, dass er seinen streng abstrakten und transzendenten Gottesbegriff in Auseinandersetzung mit dem Buddhismus, in dem das Konzept der Leere (Shunyata) eine wichtige Rolle spielt, entwickelt hat. Die Dschahmīya, also die von Dschahm ibn Safwān begründete Lehrrichtung, zeichnete sich noch durch einen anderen Zug aus, nämlich ihre spezielle deterministische Handlungstheorie. Demnach handelt der Mensch nicht wirklich selbst, sondern seine Handlungen werden durch Gott hervorgebracht. Diese Auffassung, die gewissermaßen die Gegenposition zur Qadarīya darstellt und auf Arabisch als Dschabrīya ("Zwang-Lehre") bezeichnet wird, wurde später in etwas abgeschwächter Form von anderen islamischen Gruppen übernommen.

6.3.4. Die Charidschiten in Nordafrika

Seit Anfang des 8. Jahrhunderts fanden die Lehren der gemäßigten Charidschiten starken Zuspruch bei den Berbern des westlichen Nordafrika. Für sie waren diese Lehren ein geeignetes Mittel, um ihrem Widerstand gegen die arabische Vorherrschaft Ausdruck zu verleihen. Der sogenannte sufritische Zweig der charidschitischen Bewegung wurde im Maghreb zum „Sammelbecken politischer Opposition“ (U. Rebstock). Um 739 gingen Berberstämme mit sufritischer Ausrichtung in der Region um Tanger unter ihrem Kalifen Maisara zum offenen Aufstand gegen die umaiyadische Herrschaft über. Sie nahmen Tanger ein und konnten in den folgenden drei Jahren ihre Rebellion in Richtung Osten bis nach Kairouan ausweiten. Weitere sufritische Führer aus Tlemcen und Beja schlossen sich mit ihren Berberstämmen dem Aufstand an, der 741 eine umaiyadische Armee in die Flucht schlug. Erst in der zweiten Hälfte der 740er Jahre gelang es ʿAbd ar-Rahmān ibn Habīb, einem in Ifrīqiya zu dieser Zeit unabhängig herrschenden Gouverneur der Umaiyaden, den Ansturm der sufritischen Berberstämme zu brechen und eine Phase der Ruhe einzuleiten.

6.4. Fiqh: die islamische Normenlehre

Im Verlauf des 8. Jahrhunderts kam es im Bereich der islamischen Gelehrsamkeit zu einem bedeutenden Ausdifferenzierungsprozess. Der Begriff Fiqh (wörtl. „Verständnis, Kenntnis“), der im Anschluss an den koranischen Gebrauch (vgl. Q 9:122), zunächst ganz allgemein die Kenntnis der Religion bezeichnete, wurde zum Namen einer eigenen Disziplin, die sich mit der ethischen und rechtlichen Bewertung von Handlungen befasst. Diejenigen, die sich mit dieser Disziplin auskennen, werden seither als fuqahāʾ (Singular: faqīh) bezeichnet. Der Begriff wird üblicherweise mit „Rechtsgelehrte“ übersetzt, allerdings ist dieses Wort etwas irreführend, weil sich die Fuqahā' nicht nur mit weltlichem Recht befassen, sondern auch mit rituellen Fragen.

6.4.1. Die lokalen Schulen

Innerhalb des Fiqh, das man als islamische Normenlehre bezeichnen kann, gab es um die Mitte des 8. Jahrhunderts insgesamt vier bedeutende Zentren: Medina, Basra, Syrien und Kufa. Bemerkenswert ist, dass in fast allen Zentren im Laufe der Zeit Mawālī, also Nicht-Araber, die Führung der Gelehrsamkeit übernahmen. Im Folgenden werden die Besonderheiten dieser Gelehrtenzentren vorgestellt, wobei auch auf die Rolle von religiös-politischen Strömungen eingegangen wird.

6.4.1.1. Medina

Medina war der erste Ort, an dem sich eine Rechtsgelehrsamkeit herausbildete. Schon um die Wende zum 8. Jahrhundert gab es hier ein Kollegium von sieben fuqahāʾ, das bei rituellen, rechtlichen und ethischen Fragen konsultiert wurde. An seiner Spitze stand lange Zeit Saʿīd ibn al-Musaiyab. Er war ein hervorragender Kenner der Rechtsentscheidungen ʿUmars und stützt sich auch bei seinen Rechtsentscheiden auf sie. Um die Mitte des achten Jahrhunderts spielte der Husainide Dschaʿfar ibn Muhammad (gest. 765) eine wichtige Rolle. Er wurde nach dem Tod seines Vaters im Jahre 733 von vielen Schiiten auch als Imam betrachtet, blieb allerdings im Gegensatz zu seinem Cousin Zaid unpolitisch. Oberhaupt der Rechtsschule von Medina wurde später Mālik ibn Anas (gest. 795). Er war der Auffassung, dass Medina als der Ort, in dem der Prophet seine religiöse Bewegung zur Entfaltung gebracht und einen Staat gegründet hatte, eine heilige, lebendige Tradition korrekter Praxis (ʿamal) verkörperte, die als Orientierungspunkt für die Bewertung rechtlicher Lehren dienen könnte. Das, was an Praktiken in Medina allgemein anerkannt war, wurde hier auch Idschmāʿ („Konsens“) genannt. Mālik hat seinen Wissensschatz schriftlich in seinem Werk al-Muwaṭṭā niedergelegt, dem ersten vollständig erhaltenen Werk der islamischen Normenlehre. Seine Rechtsschule verbreitete sich noch zu seinen Lebzeiten nach Ägypten. Dort, wo sie Fuß gefasst hat, ist auch die spezifisch medinische Lesart des Korans, die als die Lesart des Nāfiʿ bekannt ist, heimisch geworden.

6.4.1.2. Basra

In Basra war das intellektuelle Klima stark von den Ibaditen, einer gemäßigten Untergruppe der Charidschiten, geprägt. Sie sind nach ʿAbdallāh ibn Ibād benannt, einer Person, deren Identität allerdings im Dunkeln liegt. Als Selbstbezeichnung verwendeten die Ibaditen den Ausdruck ǧamāʿat al-muslimīn („Gemeinschaft der Muslime“), den anderen Muslimen erkannten sie nur den Status von ahl al-qibla, Leuten, die in die richtige Gebetsrichtung beten, zu. Sie hielten sich allerdings die meiste Zeit bedeckt und verheimlichten ihr wahres Bekenntnis vor der Obrigkeit. Die beiden wichtigsten ibaditischen Fiqh-Autoritäten im frühen 8. Jahrhundert waren Dschābir ibn Zaid (gest. zw. 711 u. 723) und Abū ʿUbaida Muslim ibn Abī Karīma.

Ansonsten galt der bereits genannte al-Hasan al-Basrī als die wichtigste Fiqh-Autorität in Basra. Qatāda ibn Diʿāma as-Sadūsī (st. 736), ein Schüler al-Basrīs, verfasste eines der ersten Werke zur Lehre von der Abrogation (nasḫ). Diese Lehre gibt eine Antwort auf die Frage, wie mit koranischen Vorschriften zu verfahren ist, die einander zu widersprechen scheinen. Nach der Abrogationslehre war in diesem Fall nur der zeitlich später anzusetzende Koranvers gültig, während der frühere in seiner Verbindlichkeit aufgehoben war. Qatāda vertrat zum Beispiel die Meinung, dass der Schwertvers (Q 9:5) und der Vers, der zum Kampf gegen die Ahl al-kitāb auffordert (9:29), alle anderen Koranverse, die ein friedfertiges Verhalten gegenüber den Ungläubigen anempfehlen (z.B. Q 8:61; 29:46), aufgehoben hätten. Später verfassten noch viele andere Gelehrte Werke zur Abrogationslehre, die zu einem der wichtigsten Teilbereiche der juristischen Koranexegese wurde. Zur Begründung dieser Lehre berief man sich auf Sure 2:106: „Wenn wir einen Vers tilgen oder in Vergessenheit geraten lassen, bringen wir einen besseren oder einen, der ihm gleich ist.“ Eine Entscheidung über die Aufhebung von bestimmten Versen durch andere setzte die Kenntnis der Chronologie der Suren und Verse voraus. Das Wissen hierzu wurde im frühen 8. Jahrhundert ebenfalls gesammelt und schriftlich in eigenständigen Werken zu den Offenbarungsanlässen (Asbāb an-nuzūl) der verschiedenen Verse fixiert.

6.4.1.3. Syrien

Dominierende Gestalt des syrischen Fiqh im frühen 8. Jahrhundert war der bereits genannte Qadarit Makhūl ibn Abī Muslim (gest. 731). Er soll sich bei seinen Gutachten ganz auf eigenes "Urteil" (Ra'y) gestützt haben. Wenn er Gutachten erteilte, soll er gesagt haben: „Es gibt keine Macht noch Stärke außer bei Gott. Das ist mein Urteil (raʾy). Und das Urteil geht fehl oder trifft das Richtige.“ Später wurde die syrische Schule, die in einem Näheverhältnis zur herrschenden Umaiyaden-Dynastie stand, von dem Gelehrten al-Auzāʿī (gest. 774) angeführt. Kennzeichnend für die syrische Rechtsschule ist das große Interesse an Fragen des Dschihad und der Beziehungen mit Nicht-Muslimen. Makhūl wird in der Traditionsliteratur mit der Aussage zitiert, dass der Dschihad eine Pflicht sei, die jedem einzelnen (männlichen und gesunden) Muslim obliege. Al-Auzāʿī ist dafür bekannt, dass er in einem Werk mit dem Titel Siyar, das sich mit den Handlungsweisen (siyar, pl. zu sīra) der Muslime in ihren Beziehungen mit den Ungläubigen befasst, zum ersten Mal im Islam eine Art Völkerrecht ausarbeitete. Grundlegend war dabei die Unterscheidung zwischen dem Gebiet, in dem die islamischen Normen gelten und das Dār al-islām („Haus des Islams“) genannt wird, und dem Gebiet, in dem der Dschihad gegen die Ungläubigen geführt werden muss und als Dār al-harb („Haus des Krieges“) bezeichnet wird. Bei den Ungläubigen wird dementsprechend zwischen dem Harbī, der auf feindlichem Gebiet wohnt, demjenigen, der kurzzeitig aufgrund einer Sicherheitsgarantie (amān) auf muslimischem Territorium weilt (Musta'min), und demjenigen, der auf muslimischem Territorium lebt und die Dschizya entrichtet (Dhimmī), unterschieden. Al-Auzāʿī hat außerdem Regeln festgelegt, wie man mit Apostaten und Rebellen umzugehen hat, wie die Beute im Krieg aufzuteilen ist, wie man sich als Muslim im Dār al-harb zu verhalten hat usw. Nach seinem Modell haben später noch mehrere andere arabische Gelehrte Siyar-Werke verfasst.

6.4.1.4. Kufa

In dieser Stadt gab es zwei Juristengruppen. Die eine war stärker rationalistisch orientiert und sah neben dem Koran eigene Urteilsbemühung (Idschtihād ar-ra'y) in Form von Analogieschluss (Qiyās) als das wichtigste Mittel zur Normenfindung an. Kennzeichnend für diese Gruppe, in der Mawālī dominierten, war außerdem, dass sie viele ihrer Rechtsentscheidungen auf die außerkanonischen Koranlesungen von ʿAbdallāh ibn Masʿūd und Ubaiy ibn Kaʿb stützte. Die andere Juristengruppe, die Anfang des achten Jahrhunderts von dem bereits erwähnten asch-Schaʿbī angeführt wurde, war dagegen stärker an der Sunna orientiert und lehnte den Qiyās ab. Die rationalistische Schule, in der die Mawālī dominierten, gelangte um die Mitte des achten Jahrhunderts unter die Führung des aus Ostiran stammenden Gelehrten Abū Hanīfa (gest. 767). Er führte die pragmatische Erwägung (istiḥsān) als neues Instrument der Normenfindung in den Fiqh ein und entwickelte Rechtskniffe (Hiyal), um normative Beschränkungen des Korans und der Sunna zu umgehen. Als Oberhaupt der traditionalistischen Schule stand ihm der arabische Gelehrte Sufyān ath-Thaurī (gest. 778) gegenüber.

Die Exponenten der beiden Schulen standen sich auch auf dogmatischer Ebene gegensätzlich gegenüber: Abū Hanīfa war Murdschi'it, Sufyān war Gegner der Murdschi'iten und betrachtete sie als Ketzer. Abū Hanīfa verteidigte sie gegen diesen Vorwurf und bestand darauf, dass sie in Wirklichkeit ahl as-sunna seien. Wie die Murdschi'iten zog er die Grenzen des Glaubens sehr weit. So lehrte er, dass ein muslimischer Konvertit, der sich zum Islam bekannte, ohne etwas vom Koran und den religiösen Pflichten des Islams zu kennen, ein wahrer Gläubiger (Mu'min) sei. Dies hatte auch politische Implikationen: Auf diese Weise konnten die Mawālī als vollwertige Muslime anerkannt werden. Sufyān ath-Thaurī zog dagegen die Grenzen des Glaubens sehr eng. Er meinte, dass man nicht einmal von sich selbst wissen könne, ob man ein Gläubiger sei, und verlangte, dass man eine solche Aussage immer mit dem istiṯnāʾ, der Ausnahme-Formel: „So Gott will“, versehen müsste.

Die beiden nahmen auch hinsichtlich der Koran-Frage unterschiedliche Positionen ein. Von Abū Hanīfa wird überliefert, dass er einer der ersten Gelehrten war, der die von Dschahm ibn Safwān aufgebrachte Lehre von der Erschaffenheit des Korans im Irak öffentlich vertrat. Es wird berichtet, dass ihn der Gouverneur des Iraks wegen dieser Lehre zur Tauba aufgefordert habe. Die Lehre von der Erschaffenheit des Korans erregte deswegen Anstoß, weil sich in dieser Zeit in der breiten Bevölkerung bereits die Vorstellung von einer Präexistenz des Korans durchgesetzt hatte. Auch Sufyān ath-Thaurī teilte diese Vorstellung. Er stellte den Glaubenssatz auf: „Der Koran ist die Rede Gottes, ungeschaffen, von ihm nahm er seinen Anfang und zu ihm kehrt er zurück.“ Diejenigen, die behaupteten, dass der Koran erschaffen sei, betrachtete er als Ungläubige.

Abū Hanīfas Engagement im Kampf für die Gleichstellung von nicht-arabischen Neu-Muslimen sorgte dafür, dass sich seine Lehre, die Hanafīya, schon früh über den östlichen Iran, Transoxanien und besonders bei den konvertierten Türken verbreitete.

6.4.2. Die Weiterentwicklung des islamischen Kultus im Fiqh

Im Fiqh wurden auch die Vorschriften zum islamischen Kultus weiter ausgearbeitet. So wurde zum Beispiel die Anzahl der täglichen Pflichtgebete – wahrscheinlich unter persischem Einfluss – auf fünf erhöht. Bezüglich des Zustands der Reinheit, die Voraussetzung für die Gültigkeit von gottesdienstlichen Handlungen ist, wurde ein System von zwei Abstufungen der Unreinheit eingeführt, die jeweils unterschiedliche Waschungen erfordern. Die große Unreinheit (ǧanāba), die durch Geschlechtsverkehr oder Samenerguss verursacht wird, erfordert demnach eine Ghusl genannte Vollwaschung, bei der alle Teile des Körpers vom Wasser berührt werden müssen. Die kleine Unreinheit (ḥadaṯ) hingegen, die durch Ereignisse wie Verrichtung der Notdurft oder Schlaf eintritt, erfordert nur eine kleine Waschung, Wudū' genannt, die als obligatorische Elemente das Waschen des Gesichts, das Waschen der Unterarme bis zu den Ellbogen, das Streichen mit nassen Händen über den Kopf und das Waschen der Füße bzw. einschließt. Strittig war allerdings die Frage, ob anstelle des Waschens der Füße auch das Überstreichen der Schuhe reicht.

Für die Einleitung des Gebets wurde neben dem Adhān noch ein zweiter Gebetsruf eingeführt, die sogenannte Iqāma. Er wird innerhalb der Moschee durchgeführt, bevor das Gebet beginnt. Bei der Salāt setzte sich die Auffassung durch, dass sie mit einer Nīya, einer Absichtserklärung, zu beginnen habe, in der der Betende festhält, welche Salāt er verrichten will. Der Freitagsgottesdienst wurde um eine Ansprache ergänzt, die vor dem Freitagsgebet abgehalten wird. Als Freitagspredigt ist sie bis heute ein wichtiger Bestandteil des islamischen religiösen Lebens.

Die Fiqh-Gelehrten machten sich auch darüber Gedanken, wann beim Ramadān-Fasten der richtige Zeitpunkt für den Sahūr, die letzte Mahlzeit vor Tagesanbruch, ist, wie genau die Sichtung der Mondsichel (ruʾyat hilāl), die für die Bestimmung des Ramadān-Monatsanfangs notwendig ist, zu erfolgen hat, sowie über die Frage, für wen genau das Fasten obligatorisch ist. Hinsichtlich des letztgenannten Punktes wurde zum Beispiel festgelegt, dass Frauen während der Menstruation bzw. des Wochenbetts nicht fasten dürfen, dieses jedoch nachzuholen haben.

6.4.3. Der Bereich des Strafrechts

Bei dem Delikt des außerehelichen Geschlechtsverkehrs (Zinā) griffen die Rechtsgelehrten weiter auf die Steinigung als mögliche Strafform zurück, führten allerdings eine wichtige Abstufung ein: nur Personen, die sich im sogenannten Ihsān-Status befinden, sollten im Falle von Zinā mit Steinigung bestraft werden, Personen, bei denen dieser Status nicht vorliegt, dagegen entsprechend der koranischen Regelung (Q 24:2) nur hundert Peitschenhiebe erhalten. Hinsichtlich der Voraussetzungen für das Eintreten des Ihsān-Zustandes bestanden unter den Fiqh-Gelehrten große Meinungsverschiedenheiten. Allgemein wurde jedoch angenommen, dass dafür Geschlechtsreife, Freiheit und eine gültig vollzogene Ehe notwendig seien. Man meinte, dass diese Eigenschaften, wenn sie bei einer Person vorlägen, sie vor Zinā schützten – daher der Begriff iḥṣān („Immunisierung“) – und dementsprechend das Vergehen dann schärfer bestraft werden müsse. Im Ergebnis führte das Ihsān-Konzept, das von verschiedenen Koranstellen (u.a. Sure 4:25) abgeleitet wurde, zu einer starken Einschränkung der Steinigungsstrafe im Einzugsbereich des islamischen Rechts.

6.5. Die dritte Fitna und der Sturz des umaiyadischen Kalifats (744-750)

6.5.1. Der Putsch Yazīds III. und die frühe Muʿtazila

Das Schloss Qusair ʿAmra, das sich der schöngeistig orientierte Kalif al-Walīd II in der jordanischen Wüste erbauen ließ.

Nach dem Tode Hischāms im Jahre 743 ging die Herrschaft zunächst an den schöngeistig orientierten Walīd II über, doch wurde dieser schon bald durch einen anderen Umaiyaden beseitigt, Yazīd ibn al-Walīd. Dieser Yazīd III., der im April 744 die Herrschaft antrat, war selbst Qadarit und zeigte asketische Neigungen. Sein Putsch war auch von einem religiös-politischen Programm getragen. In seiner Antrittsrede präsentierte er sich als Anwalt des Korans und der Sunna des Propheten und bot seinen Rücktritt für den Fall an, dass er sich nicht an das halte, was er versprochen habe. Auf den Parolen, die die Truppe Yazīds auf ihre Lanzen steckte, stand nicht nur, „Wir rufen euch auf zum Buch Gottes und zur Sunna des Propheten“, sondern auch in Verweis auf den Schūrā-Gedanken, „dass man sich untereinander berate“. Trotz seiner qadaritischen Neigungen, bemühte sich Yazīd III. auch um Unterstützung der Murdschiiten. So begnadigte er auf Fürsprache Abū Hanīfas den murdschiitischen Sezessionisten Ibn Suraidsch.

Diese ausgleichende Position ist nicht ganz zufällig. Innerhalb der Qadarīya hatte sich in den 730er Jahren eine neue Strömung gebildet, die auf religiös-politischen Ausgleich bedacht war. Begründer dieser Denkrichtung war der basrische Prediger Wāsil ibn ʿAtā'. Der angestrebte Ausgleich betraf vor allem die Beurteilung des großen Sünders, eine Frage, zu der insbesondere Charidschiten und Murdschiiten konträre Auffassungen vertraten. Während erstere meinten, dass der große Sünder als Ungläubiger einzuordnen sei, betrachteten ihn letztere als vollwertigen Gläubigen. Indem Wāsil sich einer solchen Einordnung enthielt und ihn als „Frevler“ (fāsiq) auf eine Zwischenstufe (manzila baina manzilatain) stellte, versuchte er, einen Ausgleich zwischen Charidschiten und Murdschiiten herzustellen. Diese Position wurde als Iʿtizāl („Zurückhaltung“) bezeichnet, und diejenigen, die sich an sie hielten, als Muʿtazila. Wāsil sandte Prediger aus, die seine Lehre in den verschiedenen Regionen des islamischen Reiches verbreiteten. Auf dem Gebiet des heutigen Marokko fiel seine Lehre auf besonders fruchtbaren Boden. Dort sollen sich 100.000 Menschen der Wāsilīya angeschlossen haben. Von großer Bedeutung war auch, dass Wāsil ʿAmr ibn ʿUbaid, einen der angesehensten Schüler von al-Hasan al-Basrī, auf seine Seite ziehen konnte. Hieraufhin kam es zu einer Spaltung von al-Hasans Schülerkreis. Der loyalistisch gesinnte Traditionalist ʿAbdallāh ibn ʿAun stellte jeden Kontakt zu ʿAmr ibn ʿUbaid ein und empfahl seinen Anhängern, sich ebenso zu verhalten. ʿAmr ibn ʿUbaid selbst konnte aber in den folgenden Jahren eine Anhängerschaft von ca. 30.000 Menschen aufbauen.

Sowohl ʿAmr ibn ʿUbaid als auch Wāsil ibn ʿAtā' unterstützten das religiös-politische Reformprojekt Yazīds III., allerdings starb der Herrscher schon sechs Monate später, so dass dieses Projekt nur eine kurze Episode blieb. Nach seinem Tod im September 744 nahmen die tribalen Auseinandersetzungen und religiös-politische Erhebungen im Reich stark zu. Im Oktober 744 erhoben die kufischen Schiiten einen gewissen ʿAbdallāh ibn Muʿāwiya zum Imam. Er war kein Nachkomme ʿAlīs, sondern stammte von dessen Bruder Dschaʿfar ibn Abī Tālib ab. Von seinen Anhängern unterstützt, konnte er große Gebiete Westirans unter seine Kontrolle bringen. Der Umaiyade Marwān II., dem im Dezember 744 in Damaskus als neuem Kalifen gehuldigt wurde, musste sich mit zahlreichen Gegnern auseinandersetzen. Mit religiös-politischem Anspruch kämpften gegen ihn die Ibaditen und die Anhänger der hāschimitischen Daʿwa.

6.5.2. Das geheime Missionsnetzwerk der Ibaditen

Um die gleiche Zeit wurde auch der ibaditische Rechtsgelehrte Abū ʿUbaida politisch aktiv. Er machte Basra zum Zentrum einer Propagandabewegung, die an anderen Orten Aufstände vorbereiten sollte. Diese Aufstände sollten letztendlich ein universales ibaditisches Imamat herbeiführen, das auf den Ruinen des Umaiyadenstaates errichtet würde. Um sein Ziel zu erreichen, formte Abū ʿUbaida sein Lehrkolleg, das mittlerweile von Studierenden aus den verschiedensten Gebieten des islamischen Reiches besucht wurde, in eine geheime Propagandazentrale um. Er schickte ḥamalat al-ʿilm („Wissensträger“) genannte Werber in die verschiedenen Provinzen des islamischen Reiches, mit dem Auftrag, dort ibaditische Gemeinden zu gründen. Die Sendboten traten nicht nur in arabischen Gebieten wie dem Hidschāz oder Südarabien und Bahrain auf, sondern auch in Ägypten, Nordafrika, Chorasan, Choresm und sogar in Indien. Die meisten dieser Werber waren gleichzeitig als Händler tätig. Mit dem von ihnen erwirtschafteten Geld wurde in Basra eine Kasse gegründet, mit der die Gemeinschaft finanzielle Selbständigkeit erlangte.

Die meisten Ibaditen gehörten arabischen Stämmen an, die nicht besonders angesehen waren, deswegen hatte das Ideal der Gleichheit einen hohen Stellenwert in ihrer Propaganda. Wie die anderen Charidschiten waren die Ibaditen der Auffassung, dass das Imamat nicht auf den Stamm der Quraisch beschränkt sei, sondern jedem zustehe, den die Muslime zur Führung ihres Staates auswählten. Mit dieser Vorstellung stießen sie vor allem bei den Berbern Nordafrikas auf viel Zustimmung. In den verschiedenen Außenposten der ibaditischen Gemeinde kam es ab 745 zu Aufständen. Im Hadramaut wurde 746 ein erstes ibaditisches Imamat begründet, dessen Truppen 747 Sanʿāʾ, die Hauptstadt Südarabiens, sowie Mekka und Medina einnehmen konnten, aber 748 von umaiyadischen Truppen niedergeworfen werden. Ungefähr um 748 errichteten die Ibaditen außerdem in Tripolitanien ein eigenes Imamat. Und um 750 huldigten die Ibaditen von Oman al-Dschulandā ibn Masʿūd, einem Nachkommen der dortigen ehemaligen Herrscherfamilie, als erstem „Imam des Hervortretens“ (imām aẓ-ẓuhūr). Im basrischen Zentrum betrieben die Ibaditen dagegen Geheimhaltung (kitmān), um nicht die Aufmerksamkeit der Obrigkeit auf sich zu ziehen und die Bewegung besser steuern zu können.

6.5.3. Der abbasidische Umsturz

Als nach dem Tod von al-Walīd II. der Zerfall des umaiyadischen Kalifats immer deutlicher geworden war, verstärkten auch die Haschimiten ihre Aktivitäten zur Übernahme der Herrschaft im Reich. Der Hasanide ʿAbdallāh rief 744 die Angehörigen seiner Familie und verschiedene andere Gruppen, die mit ihr sympathisierten, darunter auch verschiedene Muʿtaziliten, in dem Ort al-Abwā im Hedschas zusammen und ließ sie seinem Sohn Muhammad an-Nafs az-Zakīya als zukünftigem Herrscher huldigen. Erheblich erfolgreicher waren allerdings die Bemühungen des Abbasiden Ibrāhīm, der nach dem Tode seines Vaters Muhammad 743 die Führung der Abbasiden-Familie übernommen hatte. Er sandte in dieser Zeit zwei neue Propagandisten für die Abbasiden nach Chorasan, Abū Salama und Abū Muslim, letzterer ein früherer Anhänger des Gnostikers Mughīra ibn Saʿīd. Abū Muslim schaffte es 747, die anti-umaiyadische Opposition in Chorasan hinter der hāschimitischen Daʿwa zu vereinen und daraus einen offenen Aufstand gegen das geschwächte Umaiyaden-Regime zu organisieren. Rasch konnte er seine Herrschaft über Ostiran festigen. Rivalisierende Aufständische wie den Tālibiden ʿAbdallah ibn Muʿāwiya ließ er beseitigen.

In den Jahre 748/49 drang das Heer von Abū Muslim von Ostiran nach Westen in den Irak vor, was schließlich den Untergang des Umaiyaden-Reiches und die Machtergreifung der Abbasiden herbeiführte.

Von der Stadt Marw aus, die noch 747 eingenommen wurde, trat Abū Muslims Heerführer Qahtaba mit dem Rebellenheer im Jahr 748 den Marsch nach Westen an. Nach mehreren Siegen überschritt er 749 den Tigris und Euphrat. Sein plötzlicher Tod in der Schlacht um Kufa und die Hinrichtung des Abbasiden Ibrāhīm, der die Fäden der Daʿwa in der Hand gehalten hatte, durch die Umaiyaden stürzten das Unternehmen jedoch kurzfristig in Verwirrung. Wer sollte nun die Position des Imāms einnehmen, für dessen Herrschaft das Rebellenheer gekämpft hatte? Nach dem siegreichen Einzug des Heeres in Kufa trug Abū Salama dieses Amt zunächst einem prominenten Aliden an, nämlich dem bereits erwähnten Husainiden Dschaʿfar ibn Muhammad, der in Medina als Fiqh-Gelehrter wirkte. Dieser lehnte jedoch ab, da er keinerlei politische Ambitionen hegte. Dafür aber reiste sehr bald die Abbasidenfamilie aus Humaima an und beanspruchte die Herrschaft für sich. Zum Kalifen selbst wurde der relativ schwache Abū l-ʿAbbās, er ließ sich im November 749 in Kufa huldigen. Sein Onkel, ʿAbdallāh ibn ʿAlī, fügte dem umaiyadischen Kalifen Marwān II. Anfang Februar 750 am Ufer des großen Zāb im Irak eine vernichtende Niederlage zu und verfolgte ihn anschließend durch Syrien und Palästina, wobei er zwischendurch Damaskus einnahm. Während seines Aufenthaltes in Palästina ließ er 80 Angehörige des Umaiyaden-Hauses auf einmal hinrichten, Marwān selbst wurde im August 750 in Oberägypten getötet. Damit endete die Umaiyaden-Dynastie im Vorderen Orient.

6.6. Literatur

  • Blankinship, Khalid Yahya: The End of the Jihâd State. The Reign of Hishām ibn ʿAbd al-Malik and the Collapse of the Umaiyads. Albany 1994.
  • Bonner, Michael: Aristocratic Violence and Holy War. Studies in the Jihad and the Arab-Byzantine Frontier. New Haven, Connecticut 1996.
  • Bouzenita, Anke: ʿAbdarraḥmān al-Auzāʿī - ein Rechtsgelehrter des 2. Jahrhunderts d.H. und sein Beitrag zu den Siyar erarbeitet auf der Grundlage des k. ar-Radd ʿalā siyar al-Auzāʿī. Berlin 2001.
  • Crone, Patricia and Martin Hinds: God’s Caliph. Religious authority in the first centuries of Islam. Cambridge 1986.
  • Daiber, Hans: Wāṣil ibn ʿAṭāʾ als Prediger und Theologe. Ein neuer Text aus dem 8. Jahrhundert n. Chr. Leiden 1988.
  • Ess, Josef van: Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. Eine Geschichte des religiösen Denkens im frühen Islam. Bd. I und II. Berlin 1991-1992.
  • Gramlich, Richard: Weltverzicht. Grundlagen und Weisen islamischer Askese. Wiesbaden 1997.
  • Hamdan, Omar: Studien zur Kanonisierung des Korantextes al-Ḥasan al-Başrīs. Beiträge zur Geschichte des Korans. Wiesbaden 2006.
  • Hawting, G.R.: The First Dynasty of Islam. The Umaiyad Caliphate AD 661-750. London 1986.
  • Juynboll, G.H.A.: Muslim Tradition. Studies in chronology, provenance and authorship of early ḥadīth. Cambridge 1983.
  • Levy-Rubin, Milka: Non-Muslims in the Early Islamic Empire. From Surrender to Coexistence. Cambridge 2011.
  • Motzki, Harald: Die Anfänge der islamischen Jurisprudenz. Ihre Entwicklung in Mekka bis zur Mitte des 2./8. Jahrhunderts. Stuttgart 1991.
  • Raddatz, Hans-Peter: Die Stellung und Bedeutung des Sufyān aṯ-Ṯaurī (gest. 778). Ein Beitrag zur Geistesgeschichte des frühen Islam. Bonn 1967.
  • Rebstock, Ulrich: Die Ibāḍiten im Maġrib (2./8.-4./10. Jh.). Die Geschichte einer Berberbewegung im Gewand des Islam. Berlin 1983.
  • Sayed, Redwan: Die Revolte des Ibn al-Ašʿaṯ und die Koranleser. Ein Beitrag zur Religions- und Sozialgeschichte der frühen Umaiyadenzeit. Freiburg i. Br. 1977. Digitalisat
  • Tucker, William F.: Mahdis and millenarians. Shi’ite extremists in early Muslim Iraq. Cambridge 2011.
  • Watt, W. Montgomery und Michael Marmura: Der Islam II. Politische Entwicklungen und theologische Konzepte. Stuttgart u.a. 1985. S. 72-149.

6.7. Fragen/Aufgaben

1. Geben Sie einen Überblick über die frühe Entwicklung der Moschee.

2. Erklären Sie, was Mawālī sind und welche gesellschaftliche Rolle sie im frühen Islam spielten.

3. Erklären Sie die Bedeutung der Begriffe Sunna, Hadīth und Isnād.

4. Zu den frühesten theologischen Strömungen des Islams gehören die Qadarīya und die Murdschi'a. Was waren ihre Lehren?

5. Geben Sie einen Überblick über die Geschichte der islamischen Expansion bis zum Ende der Umaiyadenzeit.

6. Nennen Sie drei schiitische Gruppen, die sich in der Umaiyadenzeit herausgebildet haben, und erklären Sie die Unterschiede zwischen ihnen.

7. Erklären Sie, was Fiqh ist und warum er für die Entwicklung des islamischen Kultus von Bedeutung war.

8. Was besagt die Abrogationslehre?