Bamberger Einführung in die Geschichte des Islams (BEGI) 07
7. Traditionalismus, Rationalismus und die Anfänge der Ismāʿīlīya (750-930)
Die Einheit des islamischen Reiches zerbricht. Abbasiden und Aliden, zwei Familien aus dem Clan des Propheten, ringen miteinander um die Macht. Mit Kalām und Hadith-Gelehrsamkeit entwickeln sich zwei gegensätzliche religiöse Kulturen. Die Frage der Erschaffenheit des Korans spaltet die Muslime. Die Schia fächert sich weiter auf; im Westen kommt die schiitische Dynastie der Fatimiden an die Macht.
7.1. Die Konsolidierung des abbasidischen Kalifats (750-809)
7.1.1. Der Abbasidenstaat und die oppositionellen Staatsgründungen
Der abbasidische Umsturz, auf Arabisch daula, „die (große, endzeitliche) Wendung“, genannt, brachte einige Veränderungen mit sich. Syrien und Palästina verloren ihre Position als politisches Zentrum des Kalifats. Der Clan der Banū Hāschim, der sich seit dem Kalifat ʿAlīs in der politischen Opposition befand, war zurück an die Herrschaft gelangt. Die Banū Hāschim, der Clan des Propheten, bildeten fortan in diesem Reich eine Art religiös- politischen Adel. Angehörige dieses Clans wurden als Scherif (arab. šarīf „Vornehmer“; pl. ašrāf) bzw. Saiyid (arab. „Herr“) tituliert. Allerdings hatte der Umsturz nur eine Familie aus dem Clan der Banū Hāschim an die Macht gebracht, nämlich die Abbasiden. Mit Ausnahme von Chorasan, wo weiter Abū Muslim herrschte, gingen die meisten anderen Gouverneursposten im Reich an die Oheime des neuen Kalifen. Die Aliden, die zum Teil an der hāschimitischen Daʿwa mitgewirkt hatten, gingen dagegen leer aus. Um ihren Anspruch auf das Kalifat zu legitimieren, stellten die Abbasiden die Behauptung auf, dass Abū Hāschim, der Sohn des Muhammad ibn al-Hanafīya, die Stellung des Oberhauptes des Haschimiden-Clans schon Anfang des 8. Jahrhunderts dem Abbasiden Muhammad ibn ʿAlī übertragen habe.
Auf das kurze Kalifat des ersten Abbasiden Abū l-ʿAbbās as-Saffāh (749-754) folgte das seines Bruders Abū l-Dschaʿfar, der sich den Thronnamen al-Mansūr („der von Gott Unterstützte“) beilegte. Unter seiner Herrschaft (754-75) konsolidierte sich die Macht der Abbasiden. Ein wichtiger Schritt war hierbei die Entmachtung Abū Muslims, der von Chorasan aus über den gesamten Ostteil des Reiches herrschte und über eine zahlenstarke zoroastrische Anhängerschaft verfügte. Al-Mansūr ließ ihn 755 ermorden. Damit war die Gefahr allerdings noch nicht ganz gebannt, denn schon zwei Monate später sammelte in Nischapur der Zoroastrier Sunbādh die Anhänger Abū Muslims um sich, zog mit 100.000 Mann gegen Westen und drohte, die Kaaba zu zerstören. Al-Mansūr ließ eine ganze Armee in Iran aufmarschieren, um den Aufstand niederzuschlagen. An der Grenze zum Byzantinischen Reich und an den Küsten des Mittelmeeres richtete al-Mansūr eine Linie von befestigten Vorposten (ṯuġūr) ein. 762 begann er mit dem Bau einer neuen Residenz, der „Stadt des Heils“ (Madīnat as-Salām) bei dem kleinen Ort Baghdād am Tigris. Bagdad wurde zum politischen Zentrum des Abbasidenreiches und entwickelte sich im Laufe der Zeit zu einer der größten Städte des Vorderen Orients schlechthin. Indem al-Mansūr und sein Sohn al-Mahdī (reg. 775-785) die al-Harām-Moschee in Mekka ausbauten, bekräftigten sie außerdem ihren Herrschaftsanspruch über das zentrale Heiligtum des Islams.
Allerdings ging die Einheit des islamischen Reiches für immer verloren. Auf der iberischen Halbinsel gründete 755 ʿAbd ar-Rahmān ibn Muʿāwiya, ein Mitglied der Umaiyaden-Familie, dem es gelungen war, der abbasidischen Verfolgung zu entkommen, ein eigenständiges Emirat mit Sitz in Cordoba. Daneben entstanden mehrere Staatsgebilde mit charidschitischer Ausrichtung. Zwar wurde der ibaditische Imam von Oman, Dschulandā ibn Masʿūd, 752 von einer abbasidischen Militärexpedition beseitigt, doch wurde 793 in der omanischen Stadt Nizwā ein zweites ibaditisches Imamat gegründet. Die Ibaditen von Basra wanderten dorthin aus. Das ibaditische Imamat von Oman hat sich mit Unterbrechungen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts erhalten. Noch heute stellen die Ibaditen in Oman auch die Bevölkerungsmehrheit.
Ein weiterer Staat mit ibaditischer Ausrichtung entstand 778 mit dem Rustamiden-Imamat von Tāhart, dessen Herrschaftsgebiet im 9. Jahrhundert weite Teile der heutigen Staaten Algerien und Libyen sowie den südlichen Staat des heutigen Tunesiens einschloss. Führer der sufritischen Charidschiten gründeten 757 im Südosten des heutigen Staates Marokko die Stadt Sidschilmāsa und errichteten dort ein eigenes Imamat, das über zwei Jahrhunderte in der Hand der berberischen Familie der Midrāriden blieb. Weiter westlich an der Atlantikküste gründete Sālih ibn Tarīf (749–795), der am Aufstand des Maisara teilgenommen hatte, den Staat der Bargawata, der sich hauptsächlich auf die Masmūda-Berber stützte. Sālih trat selbst als Prophet auf, behauptete, einen eigenen Koran mit 80 Suren erhalten zu haben, und verkündete eine neue Religion, in der sich islamische, jüdische und berberische Elemente vermischten. Er selbst nahm in Anlehnung an Sure 66:4 den Herrschertitel "Rechtschaffener der Gläubigen" (ṣāliḥ al-muʾminīn) an. Der Staat der Bargawata existierte bis ins 12. Jahrhundert weiter.
Ansprüche auf das Kalifat erhoben zu dieser Zeit auch die Söhne des Hasaniden ʿAbdallāh. Sie genossen die Unterstützung der zaiditischen Schiiten, die den Kreis der Personen, welche die Herrschaft beanspruchen können, auf die aus der Ehe mit der Prophetentochter Fātima stammenden Nachkommen ʿAlīs beschränken wollten und die Ansicht vertraten, dass sich der wahre Imam aus diesem Personenkreis mit der Waffe in der Hand durchsetzen müsste. 762 unternahmen die beiden Söhne ʿAbdallāhs, Muhammad mit dem Beinamen an-Nafs az-Zakīya („die reine Seele“) und Ibrāhīm, mit zaiditischer und muʿtazilitischer Unterstützung einen großangelegten Aufstand in Medina und Basra. Der Aufstand wurde schon nach wenigen Monaten niedergeschlagen, aber ein dritter Bruder, Idrīs ibn ʿAbdallāh, konnte einige Jahre später in den westlichen Maghreb fliehen, wo er bei dem Berberstamm der Auraba, der den Lehren von Wāsil ibn ʿAtā' folgte, Unterschlupf fand. Dieser Stamm und andere verbündete Stämme riefen ihn 789 zum herrschenden Imam aus. Als neue Residenz für das von ihm beherrschte Territorium gründete Idrīs die Stadt Fès. Seine Nachkommen, die sogenannten Idrīsiden, herrschten bis 926 über weite Teile des heutigen Marokko. Der idrīsidische Staat hatte zumindest in seiner Anfangszeit eine klar muʿtazilitische Ausrichtung.
Als eine Reaktion auf diese alidischen politischen Ambitionen kann es betrachtet werden, dass unter dem Kalifen al-Mahdī (reg. 775-785) die Abbasiden-Familie mit einem neuen religiös-politischen Legitimationsmodell aufwartete: schon ihr Vorvater al-ʿAbbās, der Onkel des Propheten, habe nach dessen Tod den rechtmäßigen Anspruch auf das Imamat gehabt, und dieser Anspruch sei danach innerhalb der Familie von al-ʿAbbās weitergegeben worden. Einziges Standbein der Abbasiden im Maghreb blieb die Statthalterdynastie der Aghlabiden (800-909) in Ifrīqiya mit der Hauptstadt Kairouan.
7.1.2. Das Sektenwesen unter den frühen Abbasiden und die Anfänge des Kalām
Neben den schiitischen Gruppen, die politische Ambitionen verfolgten, gab es andere, die sich um den Husainiden Dschaʿfar ibn Muhammad scharten und eher quietistisch gesonnen waren. Wegen der Herrschaftsansprüche alidischer Kreise standen sie aber ebenfalls unter einem Generalverdacht und wurden zum Teil rigoros verfolgt. Einige dieser Gruppen beschäftigten sich mit religiösen Spekulationen wie zum Beispiel der Kreis um den kufischen Stoffhändler Abū l-Chattāb, der Dschaʿfar als eine Inkarnation Gottes verehrte. Mit etwa 70 Anhängern wurde er 755 in der Moschee von Kufa von abbasidischen Polizeitruppen getötet. Dschaʿfar selbst wurde allerdings geschont, da er den Kalifen al-Mansūr im Irak aufsuchte, um ihm zu huldigen. Von ihm soll er auch den Beinamen „der Aufrichtige“ (aṣ-Ṣādiq) erhalten haben. Möglicherweise war die Huldigung Dschaʿfars aber auch nur vorgetäuscht. Er selbst wird in der schiitischen Literatur mit zahlreichen Aussagen zitiert, in denen er zur Taqīya, dem Verbergen des wahren Glaubens in Bedrohungssituationen, aufruft. Er empfahl dieses Prinzip, das sich auf Sure 3:28 stützt, als Mittel, um politischer Verfolgung durch andere Gruppen zu entgehen. In der Lehre der Imamiten, also der Schiiten, die Dschaʿfar als Imam betrachteten und das Imamat in der Linie seiner Nachkommen weiterführten, erhielt das Prinzip der Taqīya später dogmatischen Rang. Zwei weitere Konzepte, die zum Bestandteil der imamitischen Lehre wurden, sind die Vorstellung von der Unfehlbarkeit (ʿIsma) der Imame sowie das Prinzip ihrer Festlegung durch Designation (naṣṣ) des Vorgängers. Sie gehen auf den imamitischen Theologen Hischām ibn al-Hakam (gest. ca. 795) zurück.
Neben den schiitischen Gruppen trat in dieser Zeit eine Form häretischen Glaubens auf, die vom Manichäismus, Zoroastrismus und anderen iranischen Religionen beeinflusst war. Personen, die sich dieser Form der Häresie schuldig machten, wurden als Mulhidūn bzw. Zanādiqa bezeichnet. Der Kalif al-Mahdī ließ solche Häretiker zum ersten Mal systematisch verfolgen und beauftragte in dialektischer Disputation (Dschadal) geschulte Theologen damit, Bücher gegen sie abzufassen. Um die muslimischen Theologen in dieser Art der Disputation zu schulen, ließ er Aristoteles' Topik ins Arabische übersetzen. Diejenigen, die sich mit der Widerlegung der Häretiker befassten, wurden auch als „Leute des Kalām“ (aṣḥāb al-kalām) bezeichnet. Das arabische Wort kalām bedeutet eigentlich „Rede“, allerdings ist es in diesem Zusammenhang die Bezeichnung für eine auf rationale Argumente gegründete Kontroverstheologie, die der Verteidigung des eigenen Glaubens dient. Al-Mahdī war der erste Kalif, der dieser Form der Theologie herrscherliche Unterstützung gab. Ein weiterer Förderer des Kalām war Yahyā ibn Chālid, der Wesir des Kalifen Hārūn ar-Raschīd (reg. 786-809), der selbst aus einer Familie buddhistischer Priester kam. Er ließ in seinem regelmäßig Kalām-Diskussionen ausrichten, an denen Vertreter verschiedener islamischer Sekten und nicht-islamischer Religionen teilnahmen. So bildete sich in dieser Zeit mit dem Kalām eine überkonfessionelle und interreligiöse Kultur des Streitgesprächs heraus. Von den Vertretern der Hadith- und Fiqh-Gelehrsamkeit wurde diese Form des Streitgesprächs allerdings abgelehnt.
Zu den muslimischen Gelehrten, die an den Kalām-Diskussionen im Hause von Yahyā ibn Chālid teilnahmen, gehörten auch die beiden muʿtazilitischen Denker Abū l-Hudhail und Dirār ibn ʿAmr (gest. ca. 815). Abū l-Hudhail kann als derjenige betrachtet werden, der den Atomismus in die islamische Theologie einführte. Demnach ist die Welt aus kleinsten Teilchen zusammengesetzt, den Atomen, die nicht mehr teilbar sind. Die sichtbare Wirklichkeit entsteht erst dadurch, dass Gott diese Teilchen mit Akzidentien versieht und zu Körpern zusammensetzt. Diese Theorie, die zum festen Bestandteil des Kalām-Lehrsystems wurde, ist möglicherweise der indischen Philosophie entlehnt worden. Dirār ibn ʿAmr (gest. ca. 815) ist dafür bekannt, dass er in dieser Zeit eine neue synergistische Handlungstheorie entwickelte, die gewissermaßen einen Kompromiss zwischen den beiden Extrempositionen der Qadariten und Dschahmiten hinsichtlich der Beurteilung menschlicher Handlungsfreiheit darstellte. Demnach ist Gott zwar der eigentliche Erschaffer der Taten, doch der Mensch ist an ihnen ebenfalls beteiligt, indem er diese Taten durch eigenes Handeln „erwerben“ muss. Diese Theorie des „Erwerbs“ (Kasb), die an koranische Aussagen (Q 2:286) anknüpft, sollte den Glauben an die Allmacht Gottes und die Überzeugung, dass der Mensch für seine Taten selbst verantwortlich ist, zum Ausgleich bringen.
7.1.3. Die Synthesen im Fiqh
Während im Umaiyaden-Emirat die Tradition der syrischen Gelehrtenschule weitergeführt wurde und ein Schüler von al-Auzāʿī die Position der höchsten religiösen Autorität des Staates übernahm, musste der neue Abbasiden-Staat seine eigene Identität im Fiqh erst noch finden. Von dem Kalifen al-Mansūr wird berichtet, dass er zu fast allen bedeutenden Fiqh-Gelehrten seiner Zeit Kontakt aufnahm. Den Gelehrten Abū Hanīfa, Sufyān ath-Thaurī und al-Auzāʿī bot er Qādī-Ämter an, doch weigerten sich diese, ein solches Amt anzunehmen. Die Normensammlung al-Muwaṭṭā Mālik ibn Anas hätte al-Mansūr gerne zum Rechtsbuch des Staates gemacht, doch lehnte Mālik dies ebenfalls ab. Die Rechtsgelehrten, deren Unterstützung al-Mansūr suchte, standen den herrschenden Abbasiden sehr distanziert gegenüber. Von Mālik ibn Anas und Abū Hanīfa weiß man, dass sie 762 den Aufstand der Aliden unterstützten; bei al-Auzāʿī und Sufyān ath-Thaurī hatte die Verweigerung wohl damit zu tun, dass diese größere Sympathien für die untergegangene Umaiyaden-Dynastie hatten. Die Staatsferne der genannten Fiqh-Gelehrten verhinderte nicht, dass sich ihre Lehrrichtungen in den islamischen Ländern weiter ausbreiteten.
Schließlich gelang es dem abbasidischen Kalifen Hārūn ar-Raschīd aber, zwei bedeutende Rechtsgelehrte an sich zu binden. Dies waren Abū Yūsuf (gest. 798) und Muhammad asch-Schaibānī (gest. 804), beide Schüler von Abū Hanīfa. Abū Yūsuf wurde zum Obersten Qādī (qāḍī l-quḍāt) des Reiches ernannt und erhielt die Vollmacht, alle anderen Qādīs im Reich zu ernennen. Asch-Schaibānī gehörte zu den wichtigsten Fiqh-Theoretikern dieser Zeit. Anders als die anderen Schüler Abū Hanīfas, die man auch die „Anhänger des Ra'y“ (ahl ar-raʾy) nannte, da sie dem selbständigen Räsonnieren und Argumentieren einen beträchtlichen Platz einräumten, erkannte asch-Schaibānī auch dem Hadith eine wichtige Rolle zu und betonte die Komplementarität der beiden Prinzipien. Asch-Schaibānī hat somit gewissermaßen eine Synthese zwischen den Normenfindungsprinzipien der Mehrheitsschule von Kufa und der Schule von Medina hergestellt. Darüber hinaus hat er sich aber auch intensiv mit der syrischen Rechtsschule al-Auzāʿīs auseinandergesetzt und daraus Methoden und Konzepte übernommen. Bis zur zweiten Hälfte des 9. Jahrhundert gehörten alle Ober-Qādīs des Abbasidenstaates der von Abū Yūsuf und asch-Schaibānī begründeten hanafitischen Lehrtradition an.
Neben asch-Schaibānī gab es zu dieser noch einen bedeutenden anderen Rechtsdenker, der eine Synthese aus früheren Schulen der Normenlehre herstellte, nämlich asch-Schāfiʿī (gest. 820). Das Angebot Hārūn ar-Raschīds, als Qādī in den Jemen zu gehen, lehnte er ab, vermutlich wegen seiner Sympathien für die Aliden, die daran erkennbar sind, dass er sich 792 am Aufstand des Hasaniden Yahyā ibn ʿAbdallāh beteiligte. Später ließ er sich in al-Fustāt nieder, wo er bis zu seinem Tod im Jahre 820 in der ʿAmr-Moschee lehrte. Ebenfalls in Auseindersetzung mit der medinischen Schule und der kufischen Mehrheitsschule, versuchte asch-Schāfiʿī, die zu seiner Zeit bereits anerkannten Prinzipien der Rechtsfindung zum ersten Mal in ein kohärentes theoretisches System zu bringen. Sein Hauptwerk, die sogenannte Risāla, dreht sich vor allem um das juristisch-hermeneutische Konzept des Bayān ("Erläuterung"). Danach ist das islamische Gesetz grundsätzlich in Koran und Sunna enthalten, wobei sich die einzelnen normativen Regeln auf fünferlei Art aus diesen Quellen ergeben: (1) aus dem Koran allein; (2) aus Koran und Sunna zusammen, wobei beide auf dasselbe hinauslaufen; (3) aus Koran und Sunna zusammen, wobei die Sunna den Koran erläutert; (4) aus der Sunna allein; (5) aus keiner der beiden Rechtsquellen. In letztgenanntem Fall sei Idschtihād (eigene Urteilsbemühung) erforderlich.
Asch-Schāfiʿī verwendete den Begriff des Idschtihād hierbei als Synonym für den Analogieschluss (Qiyās), für den er feste Regeln festlegte. Entsprechend dem Verhältnis zwischen Ausgangsfall und Zielfall teilte er ihn in verschiedene Arten ein und bestimmte genaue Voraussetzungen für deren Anwendung. Allerdings meinte er, dass darüber gewonnen Urteile keinen definitiven Charakter haben. Auch marginalisierte er die praktische Bedeutung des Idschmāʿ, indem er sich im Gegensatz zu seinem Lehrer Mālik nicht mit dem Idschmāʿ der Bewohner von Medina begnügte, sondern ihn auf die Gelehrten der Glaubensgemeinschaft in allen Garnisonsstädten ausweitete. Anders als die Anhänger Abū Hanīfas verwarf asch-Schāfiʿī das ungebundene freie Räsonnieren des Ra'y und Istihsān; als erlaubte Mittel der Normenfindung betrachtete er allein Koran, Sunna, Idschmāʿ und Qiyās. Diese Lehre von den vier Rechtsquellen hat sich später im Bereich des sunnitischen Islams weitgehend durchgesetzt.
Äußerst bedeutsam war des Weiteren, dass sich asch-Schāfiʿī zum ersten Mal ausführlicher über die Überprüfung der Authentizität von Hadithen, die für die Abstützung von Normen benutzt werden sollten, Gedanken machte. So erhob er den Anspruch, dass man sich nur auf solche Hadithe stützen sollte, die auf den Propheten zurückgeführt wurden und im Isnād keine Lücke aufwiesen. Dies hatte zur Folge, dass einige Kreise damit begannen, für liebgewonnene Traditionen, die bisher ohne vollständigen Isnād übermittelt wurden, eine Überliefererkette zu erfinden.
Obwohl sich asch-Schāfiʿī in seinen Werken sehr stark gegen das Prinzip des Taqlīd aussprach, hat sich schließlich auch eine eigene Schule um seine Lehren gebildet. Ihr Zentrum war Ägypten. Von dort verbreitete sie sich später auch in den Irak und nach Chorasan. In Ägypten wirkten allerdings auch viele Gelehrte der mālikitischen Lehrrichtung. Schüler von ihnen wie Sahnūn und ʿAbd al-Malik ibn Habīb verbreiteten diese Lehre nach Nordafrika und al-Andalus. Unter ihrem Einfluss ging auch das Umaiyaden-Emirat um die Mitte des 9. Jahrhunderts zur mālikitischen Lehre über.
Als eine Reaktion auf den Pluralismus der Lehrrichtungen kann man die erkenntnistheoretische Doktrin betrachten, die in dieser Zeit ʿUbaidallāh al-ʿAnbarī (gest. 785) formulierte, den der Kalif al-Mansūr als Gouverneur und Qādī von Basra einsetzte. Sie besagt, dass jeder Mudschtahid, also jeder Gelehrte, der Idschtihād betreibt, etwas Wahres trifft. Bei Fragen, zu denen ein einschlägiger Text aus Koran und Sunna fehlt, soll es also mehrere richtige Antworten geben könne. Diese Doktrin, die fallibilistischen Positionen nahesteht, hat im Fiqh große Verbreitung gefunden.
7.2. Die Hinwendung zur Schia und zum Rationalismus (809-847)
7.2.1. Die vierte Fitna
Nach dem Tod von Hārūn ar-Raschīd im Jahre 809 geriet das abbasidische Reich in eine schwere Krise, die auch als die vierte Fitna bezeichnet wird. In einem Testament, das in der Kaaba niedergelegt wurde, hatte Hārūn die Teilung des Reiches verfügt: sein Sohn Muhammad al-Amīn sollte Kalif werden und in Bagdad regieren, ein weiterer Sohn, ʿAbdallāh, sollte in Marw Gouverneur von Chorasan werden und den Bruder als Kalif beerben. Al-Amīn brach jedoch den Vertrag und setzte seine eigenen Söhne als Thronerben ein. Daraufhin belagerte ʿAbdallāh 811 Bagdad mit seinen Truppen. 812 ließ er sich in Marw als Kalif huldigen und nahm den Thronnamen al-Ma'mūn an. Ein Jahr später wurde al-Amīn gefangengenommen und getötet. Damit war der Bürgerkrieg aber noch nicht beendet.
Al-Ma'mūn herrschte von Marw aus, das im Zentrum des Reiches entstandene Machtvakuum nutzte ein gewisser Abū s-Sarāyā aus, der im Irak im Namen des riḍā min āl Muḥammad (vgl. oben 6.3.2.) einen großangelegten Aufstand anzettelte, der von verschiedenen schiitischen Gruppen, darunter auch den Zaiditen, unterstützt wurde. In Kufa, Basra, dem Hidschāz und dem Jemen ergriffen verschiedene fatimidische Aliden die Macht und vertrieben die abbasidischen Gouverneure aus ihren Positionen. In Mekka wurde zum Neujahrstag des Jahres 200 (11. August 815) die Kaaba mit gelben und weißen Tüchern neu eingekleidet, um symbolisch anzuzeigen, dass ein neues Zeitalter begonnen hatte.
Unter dem Eindruck dieses alidischen Aufstands, der erst zwei Jahre später endgültig niedergeschlagen werden konnte, besann sich al-Ma'mūn auf die Prinzipien der hāschimitischen Daʿwa zurück und versuchte, die Linien der Abbasiden und Aliden zu vereinigen. Im März 817 rief er den husainidischen Aliden, ʿAlī ibn Mūsā, der den Beinamen ar-Riḍā erhielt, zu seinem Nachfolger aus. Die schwarzen Banner der Abbasiden wurden durch die grünen des Prophetenhauses ersetzt.
Als in Bagdad die von der Thronfolge ausgeschlossenen abbasidischen Prinzen revoltierten und einen Gegenkalifen ausriefen, rüstete sich al-Ma'mūn zum Marsch nach Westen; ʿAlī ar-Ridā, der ihn begleitete, starb jedoch unterwegs in Tūs. Der Kalif ließ ihn neben dem Grab seines Vaters Hārūn ar-Raschīd in der Nähe von Tūs beisetzen; sein Grab wurde wie die Gräber seiner Vorfahren zu einem wichtigen Wallfahrtsort der Schiiten; die aus dem Heiligtum erwachsene Stadt Maschhad ist heute die zweitgrößte Stadt Irans. Im Jahre 819 nahm al-Ma'mūn Baghdad ein und wählte die Stadt als seine neue Residenz. Die Herrschaft im Osten des Reiches überließ er Statthaltern, die später eigene Dynastien bildeten: die Tāhirīden (821-873) in Chorasan mit Residenz in Nischapur und die zunächst von ihnen abhängigen Sāmāniden (819-1005) in Transoxanien mit Residenz in Buchara.
7.2.2. Förderung der rationalistischen Theologie
Auch nach seiner Übersiedlung nach Baghdad verfolgte al-Ma'mūn seine pro-alidische und pro-schiitische Politik weiter. So suchte er den siebenjährigen Sohn ar-Ridās, Muhammad al-Dschawād, eng an die regierende Dynastie zu binden, indem er ihm eine seiner Töchter zur Frau gab und ihn an seinem Hof in Bagdad behielt. 826 verfügte er in dem Willen, geschehenes Unrecht wieder gut zu machen, dass das Landgut Fadak, das Abū Bakr der Prophetentochter Fātima entzogen hatte (vgl. oben 4.2.1.), deren Nachkommen zurückgegeben wurde. Und als Zeichen des Entgegenkommens gegenüber den imamitischen Rechtsgelehrten, die die Mutʿa-Ehe für zulässig hielten, wurde diese wieder erlaubt.
Besonders wichtig für das religiös-intellektuelle Klima in der Zeit al-Ma'mūns waren die Disputationen, die er von Vertretern der verschiedenen im Reich vertretenen Religionen und Konfessionen am Hof abhalten ließ. In seiner Regierungszeit und derjenigen seiner Nachfolger al-Muʿtasim (833-842) und al-Wāthiq (842-847) gelangte der Rationalismus am Abbasidenhof zum Höhepunkt. Die drei Kalifen förderten in massiver Weise die Übersetzungen aus dem Griechischen und die Beschäftigung mit Logik und den Naturwissenschaften. Als Zentrum für wissenschaftliche Aktivitäten und die Übersetzung griechischer naturwissenschaftlicher und philosophischer Werke wurde 832 das sogenannte Bait al-hikma („Haus der Weisheit“) gegründet. Die drei Kalifen wirkten auch als Mäzene des ersten muslimischen Philosophen al-Kindī. Ungefähr um 800 in Kufa geboren, verfasste er für al-Muʿtasim seine Abhandlung „Über die erste Philosophie“. Sie richtet sich gegen die Lehre der Naturphilosophen von der Unerschaffenheit der Welt und beschäftigt sich mit dem Beweis der Existenz Gottes.
Die rationalistische Ausrichtung der drei Kalifen zeigt sich auch darin, dass sie im Bereich der Religion auf solche Kalām-Gelehrte setzten, die in der Tradition der Qadarīya und Muʿtazila standen und die Eigenverantwortlichkeit des Menschen betonten. Mehrere von ihnen wurden in der Zeit an den Hof al-Ma'mūns berufen, darunter zum Beispiel Bischr ibn al-Muʿtamir (gest. 825) und an-Nazzām (gest. 835). Für sie war der Gedanke der Gerechtigkeit (ʿadl) Gottes von zentraler Bedeutung. Zum Besten des Menschen ist es, wenn Gott die Guten belohnt und die Bösen bestraft, denn auf diese Weise haben die Menschen mit ihrem freien Willen die Möglichkeit, Verdienste zu erwerben. Schüler von an-Nazzām, unter ihnen Ahmad ibn Chābit (gest. 842-847), führten diesen Gedanken fort und entwickelten darauf aufbauend die Theorie der Transmigration der Geister (tanāsuḫ al-arwāḥ). Demnach sind die Menschen eigentlich Geistwesen, die am Anfang der Zeiten von Gott mit Erkenntnis, Handlungsfähigkeit und dem Wissen von Gott ausgestattet wurden. Je nach ihrem Verhalten ändert sich die Hülle, in die sie eingeschlossen sind. Wenn sie Sünden begangen haben, erhalten sie in ihrem nächsten Leben eine Tierhülle, wenn sie sich sündlos halten, können sie dagegen einen Läuterungsprozess durchlaufen, der sie am Ende ins Paradies führt.
Eine weitere Lehre, die am Hof viele Anhänger hatte, war diejenige von Dschahm ibn Safwān. Theologen, die unter dem Einfluss dieser Lehre standen, stritten jegliche Ähnlichkeit zwischen Gott und seiner Schöpfung ab und entschärften anthropomorphe Beschreibungen Gottes im Koran, die ihrer abstrahierenden Gotteslehre widersprachen, dadurch, dass sie diese als metaphorische Ausdrucksweise (Madschāz) auslegten. Bischr al-Marīsī (gest. 833), ein Hanafit und Murdschi'it, der unter al-Ma'mūn großen Einfluss am Hof hatte, verbreitete dort die Lehre von der Erschaffenheit des Korans (ḫalq al-qurʾān) und stützte sich zu deren Begründung auch auf Schriftbeweise, nämlich Q 43:2−3 „Bei der deutlichen Schrift! Wir haben sie zu einem arabischen Koran gemacht. Vielleicht würdet ihr verständig sein.“ und Q 42:52 „Wir haben ihn (sc. den Koran) zu jedoch zu einem Licht gemacht, mit dem wir rechtleiten, wen von unseren Dienern wir wollen.“ Aus der Verwendung des Ausdrucks „wir haben... gemacht“ schloss er, dass Gott den Koran erschaffen haben müsse.
Vertreter der Hadith-Gelehrsamkeit wie Yazīd ibn Harūn (gest. 821) bekämpften die Lehre von der Erschaffenheit des Korans. Diese Anhänger des Hadith (aṣḥāb al-ḥadīṯ), die man auch als Traditionalisten bezeichnen kann, wurden allerdings unter al-Ma'mūn zunehmend an den Rand gedrängt. Kritik an dem Hadith-Betrieb kam damals nicht nur von Seiten der Rationalisten, sondern auch aus den Kreisen von Asketen, die darin eine Form falscher, nach außen getragener Frömmigkeit sahen. Der von al-Ma'mūn verehrte Asket Bischr al-Hāfī (gest. 845) zum Beispiel, der sich lange Zeit der Hadith-Gelehrsamkeit verschrieben hatte, verzichtete am Ende seines Lebens auf die Weitergabe von Hadith und riet den anderen Traditionariern, es ihm gleich zu tun.
7.2.3. Die Mihna
Im Jahre 827 verkündete al-Ma'mūn unter dem Einfluss seiner Theologen die Erschaffenheit des Korans sowie den Vorrang ʿAlīs vor Abū Bakr und ʿUmar zur offiziellen Lehre des Staates. In Ägypten ließ der Gouverneur Ibn Abī l-Laith an allen Moscheen den Spruch anbringen: „Es gibt keinen Gott außer Gott, dem Herrn des erschaffenen Korans.“ Im Jahre 833, einige Monate vor seinem Tod, wies al-Ma'mūn seine Gouverneure an, von den Qādīs und anderen prominenten Persönlichkeiten ein öffentliches Bekenntnis zu dieser Doktrin zu verlangen. Dieses inquisitionsartige Verfahren wurde als Mihna („Prüfung“) bezeichnet. Diejenigen, die sich in den Verhören weigerten, die Erschaffenheit des Korans anzuerkennen, wurden eingekerkert und grausam behandelt. Die beiden Kalifen al-Muʿtasim und al-Wāthiq setzten diese Praxis fort.
Die Mihna traf viele Hadith-Gelehrte. Das bekannteste Opfer unter ihnen war der Bagdader Prediger Ahmad ibn Hanbal (780-855), der viele Jahre in Mekka verbracht hatte, um dort gottesdienstlichen Aktivitäten und religiösen Studien nachzugehen. Ahmad ibn Hanbal betonte die Notwendigkeit des Weltverzichts (zuhd) und der Gewissensfrömmigkeit (waraʿ), zu denen er jeweils eigene Sammlungen von Geschichten und Aussprüchen früherer Frommer zusammenstellte. Den Kalām lehnte er ab. Sein moralischer Rigorismus wird darin deutlich, dass er wie Sufyān ath-Thaurī (vgl. oben 6.5.1.) die Notwendigkeit des Istithnā' lehrte. Ahmad ibn Hanbal wurde unter dem Kalifen al-Muʿtasim verhaftet und zu einer Prügelstrafe verurteilt und zum Schweigen gebracht. Das Prinzip, für das Ibn Hanbal verfolgt worden war, war die unverbrüchliche Loyalität zum Koran als unerschaffenem Wort Gottes und die Anerkennung des wörtlichen Sinnes des Korans und der Sunna.
Auch Asketen wurden während der Mihna in Bagdad gefangen gesetzt wie zum Beispiel der Ägypter Dhū n-Nūn al-Misrī (gest. 861). Er ist in der Geschichte der islamischen Frömmigkeit deswegen besonders wichtig, weil er ein System von spirituellen Stationen (Maqāmāt) und Zuständen (aḥwāl) entwickelt hat, das später von vielen anderen Asketen übernommen wurde. Besonders schlimm erging es dem Bagdader Notabeln Ahmad ibn Nasr al-Chuzāʿī, der unter al-Wāthiq gewaltsam gegen die Lehre von der Erschaffenheit des Korans vorgehen wollte. Er wurde 846 vom Kalifen eigenhändig hingerichtet. Selbst im nordafrikanischen Vasallenstaaat der Aghlabiden setzte man Gegner der Lehre vom erschaffenen Koran gefangen, wie etwa den mālikitischen Gelehrten Sahnūn.
Als Reaktion auf die Verfolgungen der Mihna entwickelte der basrische Theologe Ibn Kullāb eine neue Lehre, die es den Traditionalisten ermöglichen sollte, ihre Position in abgeschwächter Form aufrechterhalten zu können. Sie stellte gewissermaßen einen Kompromiss zwischen der Lehre der Dschahmīya von der Erschaffenheit des Korans und der Position der Traditionalisten, die die Unerschaffenheit des Korans lehrten, dar und fußte auf einer Differenzierung zwischen der Rede Gottes (kalām Allāh) und ihrer Ausdrucksform (ʿibāra). Die Rede Gottes war hierbei für Ibn Kullāb der Inhalt der Offenbarung, die Ausdrucksform die Laute und Buchstaben. Während die Ausdrucksform variieren könne, wie an den früheren Heiligen Schriften erkennbar sei, die in anderen Sprachen offenbart worden sind, bleibe der Inhalt der Offenbarung unverändert. Hieraus schloss er, dass die Ausdrucksform der Offenbarung erschaffen ist, der Inhalt jedoch unerschaffen. Auf die gleiche Weise formulierte er auch hinsichtlich der Attribute Gottes eine ausgleichende Lehre. Er meinte, dass es für die im Koran erwähnten Gottesnamen wie „wissend“, „mächtig“, „lebendig“ jeweils korrelierende Attribute wie „Wissen“, „Macht“, „Leben“ gebe, denen eine reale Existenz zukomme. Allerdings nahm er an, dass diese Attribute nicht außerhalb von Gott bestehen, sondern in seinem Wesen (ḏāt) selbst als Hypostasen. Seine Formel lautete, dass die Attribute Gottes „weder identisch mit Gott noch nicht-identisch mit ihm“ seien. Muʿtaziliten warfen ihm vor, dass er diese Lehre von den Christen übernommen hatte, die Ähnliches über Jesus Christus lehrten.
Für die Muʿtaziliten war die Mihna insgesamt eher kontraproduktiv. Sie galten fortan als Komplizen des Unrechtsregimes, das für dieses inquisitionsartige Verfahren verantwortlich war. Hadith-Gelehrte, die das in der Mihna geforderte Bekenntnis zur Geschaffenheit des Korans verweigerten und deshalb bestraft wurden, genossen umgekehrt bei der Bevölkerung höheres Prestige als je zuvor.
7.3. Staatliche Rückkehr zum Traditionalismus und schiitische Umtriebe (847-904)
7.3.1. Die religionspolitische Wende unter al-Mutawakkil
Unter dem Kalifat von al-Mutawakkil (847-861) wurde die Mihna beendet, und es fand eine antirationalistische Reaktion statt. 851/2 wurden Diskussionen über das Problem der Rede Gottes und die Lehre von der Erschaffenheit des Korans im ganzen Reich verboten. Al-Kindī fiel unter nicht ganz geklärten Umständen in Ungnade, seine Bibliothek wurde beschlagnahmt. Zu einem Kurswechsel kam es auch gegenüber den Dhimmīs und Schiiten. Den Dhimmīs gegenüber wurden Anfang der 850er Jahre härtere Restriktionen angewandt. Sie durften keine öffentlichen Ämter mehr annehmen, die Ghiyār-Pflicht wurde in der Weise konkretisiert, dass sie von nun an Kleidung mit gelben Ärmeln zu tragen hatten, sie durften keine Pferde mehr benutzen, sondern nur noch Maulesel und Esel, und auch das Erlernen der arabischen Sprache wurde ihnen verboten. Diese Restriktionen wurden auch von vielen nachfolgenden Herrschern durchgesetzt. Was die Schiiten betrifft, so ließ al-Mutawakkil 850 das Grabmal al-Husains in Karbalā' zerstören, um die schiitischen Wallfahrten zu unterbinden. Der Literat al-Dschāhiz, der eine Pension des Kalifen bezog, fasste in dieser Zeit ein Werk ab, in dem er die Legitimität des abbasidischen Kalifat gegenüber den Schiiten verteidigte und deren Auffassung, wonach ʿAlī schon nach dem Tode des Propheten das Kalifat zugestanden hätte, zurückwies, und den Vorzug Abū Bakrs vor allen anderen Muslimen herausstellte.
Umgekehrt gelangten nun mehrere Traditionalisten zu hohen Positionen im Staat. Der Hadith-Gelehrte Ibn Abī Schaiba, der als Prediger in einer der Hauptmoscheen von Baghdad tätig war, wurde 848 damit beauftragt, Überlieferungen zur Widerlegung der Lehre der Dschahmiten und der von ihnen abgelehnten Gottesschau im Jenseits vorzutragen. Ahmad ibn Hanbal, das prominenteste Opfer der Mihna, wurde 851 an den Kalifenhof in Sāmarrā geholt, um den Prinzen al-Muʿtazz im Hadith zu unterrichten. Bei den Hadithen legten die Traditionalisten jetzt strengere Maßstäbe an: Sie akzeptierten nur noch solche Tradenten, die keine „Irrlehren“ (qadaritisch, dschahmitisch oder schiitisch) vertraten. Der Hadith-Gelehrte Ibn Abī Hātim ar-Rāzī (gest. 938) verfasste zu dieser Zeit ein biographisches Lexikon von ca. 20.000 Überlieferern, in dem er diese nach ihrer Glaubwürdigkeit klassifizierte. Der von ihm für das Werk gewählte Titel al-Ǧarḥ wa-t-taʿdīl („Unglaubwürdig- und Glaubwürdig-Erklärung“) wurde namengebend für eine eigene wissenschaftliche Disziplin, die sich mit der Beurteilung von Gewährsleuten befasst. Die Traditionalisten grenzten sich zu dieser Zeit nicht mehr nur durch ihre Hadith-Orientierung ab, sondern auch durch bestimmte dogmatische Positionen. Im Bereich der Normenlehre lehnten sie zum Beispiel den Qiyās ab. Ibn Qutaiba (gest. 889), der sich selbst den „Anhängern des Hadith“ zurechnete, berichtet, dass alle Vertreter dieser Gruppe in folgenden Punkten übereinstimmten:
- Der Koran ist die nicht-erschaffene Rede Gottes;
- Die beiden Scheiche (Abū Bakr und ʿUmar) haben Vorrang; und
- Die Grabesstrafe ist wirklich.
Muʿtazilitische Gelehrte wie Abū ʿAlī al-Dschubbā'ī (gest. 916) hatten es nun im Irak schwerer. Sie betrachteten Bagdad als „Haus des Unglaubens“ (dār al-kufr), weil sie dort gezwungen waren, sich zur Unerschaffenheit des Korans zu bekennen.
Die religionspolitische Wende erfasste übrigens auch das Aghlabiden-Emirat. Hier erhielt der während der Mihna inhaftierte Sahnūn 849 die Position des obersten Qādī. Er ging rigide gegen Muʿtaziliten vor und ließ einen von ihnen sogar zu Tode peitschen. Durch das Wirken von Sahnūn, der selbst ein Kompendium der Lehre Māliks verfasst hatte, die sogenannte Mudauwana (arab. „Niederschrift“), wurde Kairouan zu einem der wichtigsten Zentren des mālikitischen Fiqh.
7.3.2. Die Anfänge der Nusairīya
Zu den Maßnahmen, die al-Mutawakkil gegen die Schiiten ergriff, gehörte auch, dass er den Enkel ʿAlī ar-Ridās, der von den quietistischen Schiiten als Imam verehrt wurde, aus Medina in seine Residenzstadt Sāmarrā verbringen ließ. Auf diese Weise hoffte er, ihn besser kontrollieren zu können. Dieser Enkel ʿAlī ar-Ridās hieß ebenfalls ʿAlī und erhielt den Beinamen al-Hādī („der Rechtleitende“). In seinem Kreis hielten sich viele Ghulāt auf, also Schiiten, die den Imamen göttliche Eigenschaften zuschrieben. Einer von ihnen war Muhammad ibn Nusair an-Numairī. Er verkündete die Göttlichkeit von ʿAlī al-Hādī und später von seinem Sohn al-Hasan al-ʿAskarī. Nachdem letzterer im Winter 873/874 im Alter von 28 Jahren in Sāmarrā kinderlos gestorben war, trat Ibn Nusair mit der Behauptung auf, er sei das „Tor“ (bāb) zum verstorbenen Imam und im Besitz geheimer Offenbarungen von ihm. Ähnlich wie die extremen Schiiten des 8. Jahrhunderts (siehe oben 6.3.2.) vertrat er antinomistische Positionen, und von Ahmad ibn Chābit (siehe oben 7.2.2.) übernahm er die Idee der Transmigration der Geister. Mit diesen Lehren wurde Muhammad ibn Nusair, der auch in Kreisen des Bagdader Kalifenhofes Rückhalt hatte, zum Begründer einer eigenen schiitischen Richtung, der sogenannten Nusairīya, die bis heute weiter existiert.
Die Ausformung der nusairischen Lehre erfolgte erst später durch verschiedene Scheiche, die nach Ibn Nusair lebten. Der älteste fassbare Autor der Nusairīya ist al-Dschunbulānī (gest. 900). Auf ihn gehen einige auffällige iranisierende Züge der nusairischen Lehre zurück. So hat er etwa in seinem „Buch der Äonen“ die iranischen Sonnen-Feste Naurūz und Mehrgan, das Frühjahrs- und das Herbstäquinoktium, als nusairische Feste institutionalisiert – als die Tage, an denen sich der göttliche ʿAlī in der Sonne offenbaren soll.
7.3.3. Die zaiditischen Staatsgründungen
Auch die zaiditischen Schiiten blieben weiter aktiv. Die Zaidīya hatte sich um die Mitte des 9. Jahrhunderts zu einer geschlossenen schiitischen Gemeinschaft mit eigener Rechts- und Imamatslehre entwickelt. Nach der zaiditischen Imamatslehre vererbt sich der Anspruch auf das Imamat nicht allein in der husainidischen Linie, sondern schließt auch die Hasaniden ein. Jeder Nachkomme von ʿAlī und Fātima hat also im Prinzip Anspruch auf das Imamat; der wahre Imam ist aber nur derjenige, der sich tatsächlich mit der Waffe in der Hand durchsetzt. Dies war nicht nur Theorie, der Gedanke wurde auch praktisch in Form von zwei zaiditischen Staatsgründungen umgesetzt. Der „große Werber“ (ad-dāʿī al-kabīr) al-Hasan ibn Zaid gründete im Jahre 864 im nordiranischen Tabaristān südlich des Kaspischen Meeres ein eigenes zaiditisches Imamat. Knapp dreißig Jahre später, 893, wurde ein zweites zaiditisches Imamat in der jemenitischen Stadt Saʿda errichtet. Anders als der kaspische Zaiditen-Staat, der schon im 12. Jahrhundert unterging, hatte der jemenitische Zaiditen-Staat mit kurzen Unterbrechungen bis ins 20. Jahrhundert Bestand. Im Jemen hat sich die Zaidīya als eigene schiitische Lehrrichtung auch bis heute erhalten. In der Theologie orientierten sich die Zaiditen durchgehend an dem Rationalismus der Muʿtazila. Abū l-Qāsim al-Balchī, einer der bedeutendsten Muʿtaziliten des späten 9. Jahrhundert, stand eine Zeitlang im Dienst der Zaiditen von Tabaristān.
7.3.4. Die ismailitische Daʿwa
Die sieben Imame der frühen Ismāʿīlīya | |
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1. | al-Hasan ibn ʿAlī (gest. 670) |
2. | al-Husain ibn ʿAlī (gest. 680) |
3. | ʿAlī ibn Husain Zain al-ʿĀbidīn (gest. 713) |
4. | Muhammad al-Bāqir (gest. 732 od. 736) |
5. | Dschaʿfar as-Sādiq (gest. 765) |
6. | Ismāʿīl ibn Dschaʿfar (gest. um 760) |
7. | Muhammad ibn Ismāʿīl (entrückt) |
Anders als die Zaiditen beschränkten die imamitischen Schiiten das Imamat auf die husainidische Linie. Der kinderlose Tod ihres elften Imams al-Hasan al-ʿAskarī im Jahre 874 stürzte sie in eine schwere Krise. Es kam unter ihnen zu einer großen Zahl unterschiedlicher Lehrmeinungen über die Nachfolge im Imamat. In dieser Zeit der allgemeinen Verunsicherung trat in Chusistan ein Mann mit einer neuen Lehre her, der in den Quellen ʿAbdallāh, der Ältere genannt wird. Nach mehreren voneinander unabhängigen Quellen sandte er, ganz ähnlich wie das früher bei der hāschimitischen Daʿwa (vgl. oben 6.3.2.) der Fall gewesen war, Dāʿīs aus, die Anhänger für den zu erwartenden Mahdī werben sollten. In den Dörfern östlich von Kufa wurde eine erste Gemeinde von Anhängern gegründet, die als „Stätte der Auswanderung“ (dār al-hiǧra) bezeichnet wurde, weil sie wie Medina nach der Hidschra des Propheten die Keimzelle eines neuen religiös fundierten Staates werden sollte.
Die Anhänger der neuen Daʿwa wurden in ihrer Umgebung als Qarmaten bezeichnet, nach einem ihrer frühesten Bekehrten, dem Rinderzüchter und Fuhrmann Hamdān Qarmat, der sich 875 der Daʿwa angeschlossen hatte. So wurde zum Beispiel in den 880er Jahren in Bagdad bekannt, dass die Qarmaten eine nicht-islamische Religion (dīn ġair al-islām) gegründet und den Beschluss gefasst hätten, die Gemeinde Muhammads mit dem Schwert zu bekämpfen. Der Begriff, der sich allerdings später für diese Bewegung durchgesetzt hat, ist Ismāʿīliyya. Dieser Name bezieht sich auf Ismāʿīl, den Sohn des Imams Dschaʿfar as-Sādiq. Im Gegensatz zu den anderen Anhängern der husainidischen Imam-Linie, die diese Linie über seinen Bruder Mūsā al-Kāzim führten, erkannten sie Ismāʿīl als den rechtmäßigen Nachfolger Dschaʿfars an. Die frühen Ismailiten bzw. Qarmaten lehrten, dass das Imamat zuletzt auf Ismāʿīls Sohn Muhammad übergegangen sei und dieser nicht gestorben sei, sondern sich verborgen habe. Dieser Muhammad ibn Ismāʿīl, so glaubten sie, werde in Zukunft als Mahdī wiederkehren und alle früheren Gesetzesreligionen aufheben, um die ursprüngliche Religion Adams, die nur im Lobpreis des Herrn besteht, wiederherzustellen.
ʿAbdallāh al-Akbar ließ sich nach mehreren Ortswechseln in dem syrischen Landstädtchen Salamya, heute Salamīya geannt, an der Grenze zur syrischen Wüste nieder, das nun zum Zentrum der ismailitischen Daʿwa wurde. Auf ʿAbdallāh al-Akbar, der zu einem unbekannten Zeitpunkt in Salamya verstarb, folgte sein Sohn Ahmad, über den nicht viel bekannt ist, und dann sein Enkel Muhammad Abu sch-Schalaghlagh. Unter ihm nahm die ismailitische Mission Fahrt auf:
- Im Jahre 881 entsandte er die beiden Dāʿīs Ibn Hauschab und ʿAlī ibn al-Fadl in den Jemen, die dort eine Burgruine zur Dār al-Hidschra („Stätte der Auswanderung“) ausbauten und mit dem offenenen Aufruf zur Gefolgschaft des erwarteten Mahdī hervortraten. Von Aden aus ging im Jahr 883 ein Neffe Ibn Hauschabs zu Schiff nach Sindh, um die Daʿwa dort zu verbreiten.
- Ein Dāʿī namens Abū Saʿīd al-Dschannābī ließ sich in Ostarabien nieder, baute al-Ahsā' (heute Hofuf) zu einer Dār al-Hidschra aus und unterwarf sich die ganze Oasenregion und 899 auch die Hafenstadt al-Qatīf.
- Ibn Hauschab entsandte zu unbekanntem Zeitpunkt den irakischen Dāʿī Abū ʿAbdallāh asch-Schīʿī nach Mekka, um dort während der Pilgersaison für die Sache des künftigen Mahdi zu werben. Dieser stieß in Mekka auf Berber vom Stamm der Kutāma und folgte ihnen in ihr Land, die Kleine Kabylei. Dort bekehrte er zunächst einige Clans und gründete dann eine Dār al-Hidschra in der Nähe der heutigen Stadt Constantine. Nach und nach wurden alle Clans der Kutāma für die Daʿwa gewonnen und ähnlich wie schon vorher die anderen Gemeinden organisiert, betreut und besteuert.
In nur 25 Jahren, zwischen 875 bis 900, knüpfte somit die ismailitische Daʿwa ein Netz von Zellen und Gemeinden, das die ganze islamische Welt von Nordafrika bis Südasien, vom Kaspischen Meer bis zum Jemen überspannte.
Im Jahre 899 kam es allerdings innerhalb dieser Daʿwa-Bewegung zu Spannungen, die zu einem dauerhaften Schisma führten. Grund dafür war, dass der vierte Großmeister der Daʿwa, ein gewisser Saʿīd, den Anspruch erhob, nicht mehr nur Verkünder und Wegbereiter des erwarteten Mahdī, sondern der Mahdī selbst zu sein. Bisher galt der Großmeister der Sekte in Salamya lediglich als Stellvertreter des zu erwartenden Mahdī. Die Änderung der Doktrin stieß jedoch nicht auf ungeteilte Zustimmung: Abū Saʿīd al-Dschannābī in Ostarabien und ʿAlī ibn al-Fadl im Jemen fielen mit ihren Gemeinden von dem „Betrüger“ in Salamya ab. Ibn Hauschab und Abū ʿAbdallāh asch-Schīʿī schwenkten jedoch auf die neue Linie ein. Die Daʿwa spaltete sich somit; fortan standen den „Imamen“ in Salamya und ihrem Anhang die Abtrünnigen gegenüber, die weiterhin auf das Kommen des Mahdī warteten.
Nachdem der vierte Großmeister von Salamya im Jahre 899 mit seinem Anspruch hervorgetreten war, selbst der erwartete Imam zu sein, wuchs unter den Ismailitengemeinden, die ihn anerkannten, die Hoffnung auf einen baldigen politischen Umsturz und eine grundlegende Erneuerung des Islams. In Syrien führten die beiden Dāʿī-Brüder Yahyā ibn Zakarōye und al-Husain ibn Zakarōye eigenständig im Namen des Mahdi Aufstände durch. Letzterer errichtete im Sommer 903 in den zentralsyrischen Städten einen kurzlebigen Mahdī-Staat, wobei er im Namen des Mahdī Münzen prägen ließ und das Kanzelgebet halten ließ. Der Mahdī selbst hatte zu dieser Zeit aber schon Salamya heimlich verlassen, weil ihm die Sache zu brenzlig geworden war. Im November 903 wurden die Scharen al-Husains von irakischen Regierungstruppen zersprengt; er selber wurde nach Bagdad gebracht, wo er auf der Folter die Identität des Mahdī preisgab; nach diesem wurde daraufhin im ganzen Reich steckbrieflich gefahndet. Der Mahdī hatte sich in der Zwischenzeit über Palästina nach Ägypten begeben und dort, als Kaufmann getarnt, einer Karawane nach dem Maghreb angeschlossen. Dort ließ er sich für vier Jahre (905-909) in Sidschilmāsa, der Hauptstadt der Midrariden, nieder. Dass der Mahdī nach Nordafrika zog, hatte sicher auch mit dem Erfolg seines Missionars Abū ʿAbdallāh asch-Schīʿī zu tun. Er hatte im Jahre 902 mit seinen Kutāma-Berbern von der Kabylei aus eine Reihe von sehr erfolgreichen militärischen Expeditionen begonnen, die auch den Staat der Aghlabiden in die Knie zwangen.
Die von ʿAbdallāh al-Akbar begründete Daʿwa war keine rein politische Bewegung, sondern wurde von Anfang auch als eine religiöse Bewegung verstanden. Aus der Zeit der konspirativen Werbung haben sich mehrere Traktate erhalten, die Einblick in die älteste Lehre der Ismāʿīlīya geben, die ein System von nacheinander ablaufenden Prophetenzyklen annimmt. Dieses System war verbunden mit einer stark gnostisch gefärbten Kosmologie und Soteriologie. Die ismailitische Lehre trat mit dem Anspruch auf, dass der von Ismāʿīl abstammende Imam und Mahdī der eigentliche verborgene Sinn (bāṭin) der koranischen Offenbarung ist: Alle Einzelheiten der Geheimlehre finden sich chiffriert im Koran. Wie Abū Mansūr al-ʿIdschlī meinten die Ismailiten, dass man den verborgenen Sinn durch allegorische Deutung (taʾwīl) entschlüsseln müsse, die dafür notwendige Kenntnis allerdings nur der Imam besitze. Aufgrund dieser Auffassungen wurde die ismailitische Lehre von ihren Gegnern auch als Batinīya bzw. Ta'wīlīya bezeichnet.
7.4. Die Schiitisierung der islamischen Staatenwelt (904-930)
7.4.1. Der Abbasidenhof zwischen Schiiten und Hanbaliten
In der zweiten Hälfte des neunten Jahrhunderts war es zu einem Verfall der abbasidischen Staatsgewalt gekommen; die Kalifen waren zu Marionetten in der Hand ihrer türkischen Leibgarde; die verschiedenen Provinzen lösten sich nach und nach vom Kalifat. In Sīstān hatten sich 861 die Saffariden selbständig gemacht und von dort aus große Teile Irans erobert. Ägypten hatte sich unter den Tuluniden (868-905) vom Kalifat gelöst. Im Irak und in Iran fanden alidische Aufstände statt.
Die abbasidischen Kalifen wurden zwar noch von verschiedenen Statthalterdynastien als nominelle Oberherren anerkannt, doch beschränkte sich ihre reale Macht seit dem Beginn des 10. Jahrhunderts nur noch auf einzelne Teile des Irak und Irans. Nachdem 904 al-ʿAbbās ibn al-Hasan al-Dschardscharā'ī zum Wesir des Kalifen al-Muktafī (reg. 902-908) geworden war, stieg der Einfluss der Schiiten am abbasidischen Hof. Die schiitischen Banū l-Furāt, die stark der nusairischen Lehre zuneigten, setzten durch, dass ein unerfahrener Abbasidenprinz zum Kalifen gewählt wurde, al-Muqtadir (reg. 908-932). Er blieb lange Zeit unter dem Einfluss der Banū l-Furāt. Auch der Gouverneur von Mosul, Abū l-Haidschaʿ aus der arabischen Familie der sogenannten Hamdaniden, neigte der Schia zu. Er baute in dieser Zeit das wiederaufgefundene Grab ʿAlīs in an-Nadschaf in der Nähe von Kufa zu einem Mausoleum aus und schuf damit ein neues schiitisches Heiligtum. Seit dieser Zeit wurde es unter vornehmen Schiiten üblich, sich in der Nähe von ʿAlīs Schrein bestatten zu lassen.
Am Abbasidenhof wurden die Banū al-Furāt bald von einer anderen persisch-schiitischen Familie, den Naubachtīs, verdrängt, die imamitisch ausgerichtet war. In ihren Kreisen entwickelte sich Anfang des 10. Jahrhunderts eine neue schiitische Lehre. Sie geht davon aus, dass der elfte Imam al-Hasan al-ʿAskarī doch einen Sohn hinterlassen habe, nämlich ein fünfjähriges Kind namens Muhammad, das der Vater jedoch aus Vorsicht (Taqīya) vor dem Zugriff des Kalifen verborgen habe, so dass es außer einigen Vertrauten niemand zu Gesicht bekommen habe. Seit dem Tode seines Vaters soll dieser zwölfte Imam „abwesend“ sein und sich irgendwo verborgen halten. Ein Angehöriger der Naubachtī-Familie, Ibn Rauh al-Qummī, trat in dieser Zeit mit dem Anspruch hervor, der „Botschafter“ (safīr) des Imams zu sein und als dieser die Verbindung zwischen ihm und der Gemeinde seiner Anhänger herstellen zu können. Damit trat er in ein direktes Konkurrenzverhältnis zu den nusairischen Bābs, die ja mit dem Anspruch auftraten, als Kuriere mit dem elften Imam al-Hasan al-ʿAskarī in Verbindung zu stehen. Die Vertreter der neuen Zwölfer-Lehre begannen in dieser Zeit, die Anhänger der Nusairīya als Ghulāt, „Übertreiber“, zu beschimpfen, weil sie den Imamen eine göttliche Natur zuschrieben. Die Nusairier bezeichneten die Imamiten umgekehrt als Muqaṣṣira („Verkürzer“), weil sie ihrer Auffassung nach nicht die wahre Natur der Imame erkannten.
Neben den Schiiten gab es in dieser Zeit in Bagdad noch einige andere religiöse Gruppierungen. Die bedeutendste von ihnen waren die Hanbaliten, die Anhänger Ahmad ibn Hanbals. Sie wandten sich gegen die schiitische Unterwanderung des Abbasiden-Staates und drängten 925 den Kalifen al-Muqtadir dazu, die schiitische Moschee von Barāthā zu zerstören. Neben ihrer Gegnerschaft zur Schia zeichneten sich die Hanbaliten vor allem durch die große Bedeutung, die sie dem wörtlichen Sinn des Koran zumaßen, aus. Sie wandten sich gegen die metaphorische Interpretation des koranischen Textes, wie sei bei den Dschahmiten üblich war. Darüber hinaus bemühten sie sich um Sammlung und Überlieferung von Hadithen. Das große Interesse der Hanbaliten an ihnen lässt sich daran erkennen, dass ʿAbdallāh, der Sohn Ahmad ibn Hanbals, in dieser Zeit einen Musnad, also eine Sammlung mit nach Isnāden geordneten Hadithen seines Vaters zusammenstellte. Dieser Musnad Aḥmad ibn Ḥanbal, der fast 30.000 Hadithe umfasst, ist bis heute eine der anerkanntesten Hadith-Sammlungen.
7.4.2. Das neue Kalifat der Fatimiden
Unterdessen setzte sich der Siegeszug des ismailitischen Dāʿī Abū ʿAbdallāh asch-Schīʿī in Nordafrika fort: In wenigen Jahren konnte er fast das gesamte Gebiet des heutigen Nordostalgerien und Tunesien erobern. Im Frühjahr 909 hielt er seinen Einzug in Kairouan und begann Münzen mit dem Titel des noch anonymen Mahdī zu prägen; dessen baldiges Hervortreten wurde in Aussicht gestellt. Die schiitische Ausrichtung des neuen Staates wurde den Untertanen durch die Einführung einer typisch schiitischen Formel in den Gebetsruf angezeigt. Nach Takbīr, Schahāda und dem Satz: „Auf zum Gebet“ (ḥaiya ʿalā ṣ-ṣalāt) hieß es nun nicht mehr „Auf zum Heil“ (ḥaiya ʿalā l-falāḥ), sondern „Auf zum besten Tun!“ (ḥaiya ʿalā ḫair al-ʿamal).
Nachdem Abū ʿAbdallāh asch-Schīʿī Kairouan erobert hatte, nahm er Kontakt zu dem Mahdī in Sidschilmāsa auf und holte ihn nach Kairouan. Der Mahdī hielt dort im Januar 910 Einzug und nahm den Kalifentitel an. Es dauerte allerdings nicht lange, bis er sich des Mannes, der ihn an die Macht gebracht hatte, entledigte: im Februar 911 ließ er Abū ʿAbdallāh asch-Schīʿī umbringen. Danach machte er sich, gestützt auf den Berberstamm der Kutāma, zum Alleinherrscher im westlichen Libyen, Tunesien, Ostalgerien und Sizilien. Westwärts stießen seine Krieger weit nach Marokko vor. In den Jahren 912-917 baute er sich an der tunesischen Küste die neue Palaststadt al-Mahdīya. Die durch al-Mahdī begründete Dynastie, ist unter dem Namen „Fatimiden“ bekannt geworden, offensichtlich wegen ihrer behaupteten Abkunft von Fātima und ʿAlī, doch ist ungeklärt, ob sie selbst diesen Namen jemals geführt haben; in ihren Dokumenten bezeichnen sich die Fatimiden meist als Daulat al-Ḥaqq („Staat der Wahrheit“).
Eine wichtige Folge der fatimidischen Machtergreifung in Nordafrika war der Untergang des ibaditischen Staates der Rustamiden. Zwar kam es in den 940er Jahren unter Abū Yazīd noch einmal zu einem ibaditischen Aufstand, durch den das Kalifat der Fatimiden in seiner Existenz bedroht wurde, doch brach dieser ziemlich schnell in sich zusammen, so dass die Ibādīya in Nordafrika ihre politische Rolle als staatstragende religiöse Lehre endgültig verlor. Gewissermaßen als Überbleibsel dieses Staates haben sich aber bis heute ibaditische Gemeinden im algerischen M'zab, auf der tunesischen Insel Dscherba und im libyschen Nafūsa-Bergland erhalten.
Eine weitere indirekte Folge der Errichtung des fatimidischen Gegenkalifats war es, dass im Jahre 929 auch der umaiyadische Emir von Cordoba ʿAbd ar-Rahmān III. den Kalifentitel annahm. Er hatte bereits 902 sein Territorium durch die Eroberung der Balearen vergrößert. Damit gab es nun in den Ländern des Islams drei rivalisierende Kalifate.
7.4.3. Der Qarmaten-Staat von Bahrain und der Überfall auf Mekka
Verfolgen wir jedoch noch die Geschichte derjenigen Ismailiten weiter, die den Anspruch des Großmeisters von Salamya, selbst der Mahdī zu sein, nicht anerkannten und an der alten Lehre festhielten. Sie werden in den meisten Quellen als Qarmaten bezeichnet, ensprechend der älteren Bezeichnung für die Ismailiten im Irak und an den Küsten des Persischen Golfes. Einer der wichtigsten Dāʿīs dieser altgläubigen Fraktion war Abū Saʿīd al-Dschannābī im ostarabischen Gebiet von Bahrain, das ungefähr dem heutigen Gebiet von al-Ahsā' entspricht. Seine Dār al-Hidschra entwickelte sich im frühen 10. Jahrhundert zu einem lokalen Fürstentum, dessen Macht sich auf die Beduinenstämme der nördlichen Arabischen Halbinsel stützte. Unter Abū Saʿīds Sohn Abū Tāhir al-Dschannābī, der 923 die Herrschaft übernahm, unternahmen die Qarmaten von Bahrain mehrfach Kriegszüge in den südlichen Irak, wo sie die Städte Kufa und Basra besetzten, und überfielen regelmäßig die vom Irak nach Mekka und Medina ziehenden Pilgerkarawanen.
Bis 925 hielten die Bahrain-Qarmaten an der Mahdī-Figur des Muhammad ibn Ismāʿīl fest. Dies weiß man deswegen, weil in diesem Jahre die Bagdader Polizei bei verhafteten Qarmaten weiße Tonsiegel mit der Losung: „Muhammad ibn Ismāʿīl, der Imām, der Mahdī, Gottesfreund“ fand. Die als apokalyptisches Vorzeichen gedeutete Konjunktion von Saturn und Jupiter im Jahre 928 löste dann aber bei ihnen einen Schub chiliastischer Euphorie aus. Bis 930 eroberten sie die gesamte ostarabische Küste hinunter bis Oman, und während der Wallfahrtszeremonien des gleichen Jahres fielen sie in Mekka ein, richteten ein Massaker unter den Pilgern an, brachen den Schwarzen Stein aus der Kaaba und entführten ihn nach al-Ahsā'. Im Herbst 931 präsentierte der Dāʿī der Bahrain-Qarmaten seiner Gemeinde einen eigenen Mahdī, nämlich einen jungen kriegsgefangenen Perser aus Isfahān, dem er zeitweilig sogar die Herrschaft übergab. Gleichzeitig erklärte er alle bisherigen Religionen für nichtig, mit der Begründung, dass die wahre Religion, „die Religion unseres Vaters Adam“, die „ursprüngliche Religion Adams“ – d.h. die paradiesische gesetzlose Urreligion – nunmehr offenbar geworden sei, und „das Gerede von Mose, Jesus und Muhammad“ sich als Lug und Trug erwiesen habe. Offenbar meinten es die Qarmaten von Bahrain mit der Aufhebung des Islams Ernst.
7.5. Die Verbreitung des Islams durch den Handel
Ein besonderes Kennzeichen der Zeit zwischen 750 und 930 ist die Stagnation der militärischen Expansionsbewegung des Islams. Die auf militärischem Wege erreichten territorialen Zugewinne waren, verglichen mit der Expansion der Umaiyadenzeit, eher gering: zwischen 827 und 878 erfolgte die Eroberung Siziliens durch die Aghlabiden, 870 die Einnahme der Kabul-Region auf dem Gebiet des heutigen Afghanistan durch die Saffariden von Sīstān, 902 die Eroberung der Balearen durch das Emirat von Cordoba. Das Zurücktreten des Interesses am Dschihad spiegelt sich auch in der Normenlehre wider. Asch-Schāfiʿī lehrte, dass der Dschihad eine Pflicht sei, die zwar der gesamten Umma obliege, dem Einzelperson jedoch nicht, wenn die Anzahl der anderen Personen, die dieser Aktivität nachgehen, Genüge (kifāya) tut, um die Ziele des Dschihad, nämlich die Abwehr des Feindes und Ausbreitung des Islams, zu erreichen. Viele spätere Rechtsgelehrte haben diese Lehre vom Dschihad als Kollektivpflicht (farḍ kifāya) der islamischen Gemeinschaft übernommen.
Dafür erfolgte in dieser Zeit die Verbreitung des Islams verstärkt durch den Handel. An den Küsten des Indischen Ozeans heirateten arabische Händler in lokale Familien ein, die selbst dann im Laufe der Zeit zum Islam übertraten. Auf diese Weise entstanden in Südindien und auf Ceylon zahlenstarke muslimische Gemeinschaften. Die heutigen muslimischen Gemeinschaften der Malayalam-sprachigen Mappila in Kerala und der tamil-sprachigen Moors in Tamil Nadu und Sri Lanka führen sich auf diese Zeit zurück. Ende des 9. Jahrhunderts gründeten Händler aus dem mekkanischen Clan der Machzūm außerdem einen eigenen muslimischen Staat in Zentral-Äthiopien (Shewa). Auch in der osteuropäischen Ebene hat sich der Islam in dieser Zeit durch Händler verbreitet. Als in den 920er Jahren Ibn Fadlān als Gesandter des abbasidischen Kalifen den Staat der Wolgabulgaren an der Mündung der Kama in die Wolga besuchte, war der dortige Herrscher bereits zum Islam konvertiert, hatte mehrere Moscheen errichten lassen und folgte der Lehrrichtung Abū Hanīfas.
7.6. Weiterführende Literatur
- Josef van Ess: Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. Eine Geschichte des religiösen Denkens im frühen Islam. Bd. III. Berlin 1992.
- Yaron Friedman: The Nuṣairī-ʿAlawīs. An Introduction to the Religion, History and Identity of the Leading Minority in Syria. Leiden 2010.
- Heinz Halm: Die islamische Gnosis. Die extreme Schia und die ʿAlawiten. Zürich-München 1982.
- Heinz Halm: Das Reich des Mahdi: Der Aufstieg der Fatimiden (875-973). München 1991.
- Milka Levy-Rubin: Non-Muslims in the Early Islamic Empire. From Surrender to Coexistence. Cambridge 2011.
- Joseph Lowry: Early Islamic Legal Theory. The Risāla of Muḥammad ibn Idrīs al-Shāfiʿī. Leiden 2007.
- Wilferd Madelung und Paul E. Walker: The advent of the Fatimids. A contemporary Shiʿi witness. London 2000.
- Christoph Pitschke: Skrupulöse Frömmigkeit im frühen Islam: das „Buch der „Gewissensfrömmigkeit“ (Kitāb al-Waraʿ) von Aḥmad ibn Ḥanbal: annotierte Übersetzung und thematische Analyse. Wiesbaden 2010.
- Hans Putman: L’église et l’islam sous Thimothée I (780-823). Beirut 1975.
- Bernd Radtke: Al-Ḥakīm at-Tirmiḏī. Ein islamischer Philosoph des 3./9. Jahrhundert. Freiburg/Br. 1980.
7.7. Fragen/Aufgaben
1. Erklären Sie, wer die Abbasiden waren.
2. Geben Sie einen kurzen Überblick über die verschiedenen Lehrrichtungen des Fiqh bis zum 9. Jahrhundert.
3. Erklären Sie die Bedeutung asch-Schāfiʿīs für die Entwicklung der islamischen Rechtstheorie.
4. Was war die Mihna?
5. Welche Lehren vertraten die Muʿtaziliten?
6. Im Jahre 899 spaltete sich die ismailitische Daʿwa-Bewegung in zwei Gruppen. Was war der Grund, und wie wirkte sich die Spaltung aus?
7. Erklären Sie, wer die Hanbaliten sind und durch welche Lehren sie sich auszeichnen.