Bamberger Einführung in die Geschichte des Islams (BEGI) 08

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8. Das schiitische Jahrhundert und die Konsolidierung des Sunnitentums (930-1173)

Die meisten islamischen Länder werden von schiitischen Dynastien beherrscht. Sie fördern nicht nur schiitische Gelehrsamkeit und Gedächtniskultur, sondern auch muʿtazilitische Theologie und Philosophie. Ab 1050 kommt eine „sunnitische Restauration“ in Gang, allerdings bestehen im sunnitischen Lager noch große dogmatische Gegensätze. Der Islam verbreitet sich zunehmend nach Afrika.

8.1. Das schiitische Jahrhundert (930-1063)

8.1.1. Die schiitischen Mächte und ihre Religionspolitik

8.1.1.1. Die aus der ismailitischen Daʿwa hervorgegangenen Staaten

Heutiger Zustand des Schwarzen Steins in Mekka. 951 brachten ihn die Bahrain-Qarmaten nach Mekka zurück. Da er beschädigt war, musste er mit einer Silbereinfassung versehen werden.

Kennzeichnend für die Zeit nach 930 ist die große Bedeutung ismailitischer Lehren an den Höfen der muslimischen Herrscher. In ihrer qarmatischen Form hatte diese Lehre zum Beispiel viele Anhänger am Samaniden-Hof von Buchara. Staaten mit eindeutig qarmatischer Ausrichtung bildeten sich in Aserbaidschan und in Sindh, wo sich noch vor 958 ein qarmatischer Dāʿī der Stadt Multān bemächtigte. Die beiden mächtigsten Staaten mit ismailitischer Ausrichtung waren der Staat der Qarmaten von Bahrain sowie das Fatimidenkalifat. Die Bahrain-Qarmaten wandten sich aber im Laufe der Zeit von ihren überspannten eschatologischen Erwartungen ab und suchten den Ausgleich mit dem abbasidischen Kalifat. Den Isfahāner Mahdī ließ der Dāʿī von Bahrain schon 939 wieder beseitigen, und im Jahre 951 brachten die Qarmaten den Schwarzen Stein der Kaaba wieder nach Mekka zurück. Gleichzeitig konnten die Qarmaten ihr Herrschaftsgebiet über große Teile der arabischen Halbinsel ausweiten und Ende der 960er Jahre sogar Syrien und Palästina tributpflichtig machen.

Noch größere Bedeutung erlangte das auf den berberischen Kutāma-Stamm gestützte Fatimidenkalifat, dessen Herrschaftsgebiet sich Anfang der 930er Jahre bereits über große Gebiete Nordafrikas und Sizilien erstreckte. Als al-Mahdī 934 starb, gingen das Imamat und Kalifat auf seinen Sohn al-Qā'im bi-Amr Allāh über. Gleichzeitig wurde ein zweites Berbervolk in die Machtstrukturen eingebunden: die Sanhādscha des zentralen Algerien, deren Fürst Zīrī sich eng an die Fatimiden anschloss. Im Maghreb konkurrierten die Fatimiden zunächst noch mit den Umaiyaden, die 931 Ceuta eroberten und von da aus versuchten, mit Hilfe einheimischer Fürsten, aber auch durch direkte Interventionen den Einfluss ihres Kalifats immer weiter auszudehnen. Unter dem Kalifen al-Muʿizz (reg. 953–975) konnten die Fatimiden dann aber ihre Herrschaft über ganz Nordafrika ausdehnen. Dschauhar as-Siqillī, der General des Kalifen, drang 958 bis zum Atlantik vor und rückte 969 in Ägypten ein. An Prestige gewannen die Fatimiden zusätzlich dadurch, dass 976 auch die hasanidischen Herrscher von Mekka, die erst kurze Zeit vorher die Macht in der heiligen Stadt an sich gerissen hatten, die Oberherrschaft der fatimidischen Kalifen anerkannten. In den Jahren bis 978 verdrängten sie außerdem die Qarmaten aus Palästina und Syrien; durch Zahlung eines jährlichen Rentenbetrags wurden sie dazu gebracht, die fatimidische Oberherrschaft anzuerkennen.

Die alte Stadtmauer von Kairo mit dem Minarett der im frühen 11. Jahrhundert errichteten al-Hākim-Moschee

Zur Festigung ihrer Herrschaft über Ägypten gründeten die Fatimiden nördlich von al-Fustāt die neue Stadt al-Qāhira („die Siegreiche“), das heutige Kairo, mit der Moschee al-Azhar, benannt nach Fātima az-Zahrā' („Fātima, der Glanzvollen“), der Namenspatronin ihrer Dynastie. Als neue Dār al-hidschra wurde Kairo nun zum Zentrum dieser fatimidischen Version der ismailitischen Daʿwa. Die Fatimiden zwangen ihren muslimischen Untertanen das ismailitische Bekenntnis nicht auf, doch kam es in Folge der intensiven Werbung zu zahlreichen Konversionen. An der Spitze der inneren wie der äußeren Mission stand nun ein Ober-Dāʿī, der häufig zugleich als Ober-Qādī amtierte. Er hielt im Palast von Kairo allwöchentlich donnerstags öffentliche Lehrsitzungen ab, die sogenannten maǧālis al-ḥikma („Sitzungen der Weisheit“), in denen die Adepten nach Ablegung eines Gelübdes in die ismailitische Geheimlehre eingewiesen wurden. Außerhalb der Grenzen des Fatimidenreiches wurde die Daʿwa, die nach wie vor auf den Sturz des Bagdader Kalifen abzielte, konspirativ betrieben. Dafür unterhielt die Daʿwa-Zentrale in Kairo ein Netz von Missionszellen (ǧazāʾir von sing. ǧazīra „Insel“), in das sie Dāʿīs entsandte. Ihren größten Erfolg errang die fatimidische Daʿwas im Jemen, wo 1047 der Dāʿī ʿAlī as-Sulaihī eine neue den Fatimiden gegenüber loyale ismailitische Dynastie begründete und Sanaa sowie Aden in seine Gewalt brachte.

Unter dem Druck der öffentlichen Meinung und der gegnerischen politischen Propaganda, vor allem der Bagdader Kalifen, waren die Fatimiden gezwungen, sich durch die Offenlegung ihrer Abstammung zu legitimieren. Die fatimidische Genealogie erhielt Ende des 10. Jahrhunderts eine neue Form: Demnach war der Ahn der Dynastie und Stifter der Lehre, ʿAbdallāh der Ältere, ein Sohn des Muhammad ibn Ismāʿīl; auf ihn seien dann in ununterbrochener Vater-Sohn-Linie die „verborgenen Imame“ von Salamya gefolgt. Damit wurde das ursprüngliche Modell der sieben Imame endgültig aufgegeben. Allgemein ließen die Fatimiden keine Gelegenheit aus, um die Abstammung der Dynastie vom Propheten zu betonen. Zu diesem Zweck führten sie im 11. Jahrhundert ein neues höfisches Fest ein, den Geburtstag des Propheten. Man beging ihn am 12. Rabīʿ al-Auwal, was eigentlich der Todestag des Propheten war. Der Kalif spielte bei den Feierlichkeiten eine zentrale Rolle; es fanden öffentliche Predigten und Koranlesungen statt. Auch bildete sich am Hof der Fatimiden eine eigene ismailitische Rechtsschule heraus. Ihr Schöpfer war al-Qādī an-Nuʿmān, der bis 974 den Fatimiden als Ober-Qādī diente.

8.1.1.2. Die Buyiden und die Festigung der Zwölfer-Schia

In Baghdad machten sich in den 930er Jahren vor allem fanatische Anhänger des hanbalitischen Gelehrten al-Barbahārī bemerkbar: sie gingen 935 nicht nur gegen Schiiten vor, sondern drangen auch in Privathäuser ein, um Musikinstrumente zu zerstören, plünderten Geschäfte, in denen Wein verkauft wurde, und belästigten Passanten, denen sie unsittliches Verhalten vorwarfen. Für diese Hanbaliten bestand der Glaube (Īmān) aus Wort und Tat, das heißt dem Glaubensbekenntnis und der Erfüllung der vorgeschriebenen Pflichten. Der seit 934 herrschende Kalif ar-Rādī nahm in dieser Situation Partei für die Schiiten. Er erklärte die Anhänger al-Barbahārīs zu Ungläubigen und zog Ibn Rauh al-Qummī, den „Botschafter“ des Zwölften Imams (vgl. oben 7.4.1.), an seinen Hof.

Vorderasien um 970 mit den Reichen der Buyiden, Hamdaniden, Fatimiden und Samaniden

In den 930er Jahren eroberten die Buyiden, eine aus Dailam im Süden des Kaspischen Meeres stammende Militärfamilie, große Gebiete Westirans. 946 besetzten sie Bagdad und übernahmen die militärische und administrative Gewalt im Abbasidenreich. Die Macht der Familie erreichte im letzten Drittel des 10. Jahrhunderts ihren Höhepunkt, als der in Persien herrschende Buyide ʿAdud ad-Daula die Macht im Irak an sich riss und den altpersischen Titel eines „Königs der Könige“ (šāhān-šāh) annahm. Der byzantinische Kaiser, der mit ihm korrespondierte, erkannte ihn als „König des Islams“ (malik al-islām) an. Wie die meisten ihrer dailamitischen Landsleute waren die Buyiden zaiditische Schiiten. Aber sie nahmen auch die imamitischen Schiiten unter ihren besonderen Schutz. Antischiitische Rädelsführer wurden in dieser Zeit in die Verbannung geschickt. Außerdem wurde den imamitischen Schiiten in den 960er Jahren zum ersten Mal erlaubt, die eigenen Feste – das Fest zur Erinnerung an al-Husains Martyriums bei Karbalā' am 10. Muharram und das Fest zur Erinnerung an die Designation ʿAlīs durch den Propheten (vgl. oben 4.2.1.) am Ghadīr Chumm am 18. Dhū l-Hiddscha – öffentlich zu begehen. Desgleichen bemühten sich die Buyiden um den Schutz und die Ausstattung der Gräber der schiitischen Imame im Irak.

Die zwölf Imame der Zwölfer-Schia
1. ʿAlī ibn Abī Tālib (gest. 661)
2. al-Hasan ibn ʿAlī (gest. 670)
3. al-Husain ibn ʿAlī (gest. 680)
4. ʿAlī ibn Husain Zain al-ʿĀbidīn (gest. 713)
5. Muhammad al-Bāqir (gest. 732 od. 736)
6. Dschaʿfar as-Sādiq (gest. 765)
7. Mūsā al-Kāzim (gest. 799)
8. ʿAlī ar-Ridā (gest. 818)
9. Muhammad al-Dschawād (gest. 835)
10. ʿAlī al-Hādī (gest. 868)
11. Hasan al-ʿAskarī (gest. 874)
12. Muhammad al-Mahdī (entrückt)

Die Imamiten, die an die Verborgenenheit des zwölften Imams glaubten, gingen in dieser Zeit zu einer neuen Lehre über. Die Konzeption des „Botschafteramtes“ (sifāra) wurde aufgegeben und die Lehre von der „großen Verborgenheit“ (al-ġaiba al-kubrā) entwickelt. Demnach hat sich der Imam im Jahre 941 endgültig aus der Welt zurückgezogen. Erst am Ende der Zeiten soll er wiederkommen und den Schiiten zum Sieg über alle Widersacher verhelfen. Allgemein wurde für die Gruppierung, die diese religiösen Überzeugungen pflegte, die Bezeichnung Zwölfer-Schia (aš-Šīʿa al-Iṯnā-ʿašarīya) gebräuchlich. Diese Zwölfer-Schia verdrängte im Laufe des 10. Jahrhunderts alle anderen imamitischen Gruppierungen und wurde zum eigentlichen „Gesicht“ der Imāmīya, wie es asch-Schaich al-Mufīd, ein zeitgenössischer Autor ausdrückte. Imamitische Schia und Zwölfer-Schia sind also seit Ende des 10. Jahrhunderts gewissermaßen dasselbe.

Die Zeit der Buyiden stellt für die Zwölfer-Schia so etwas wie eine Ära der „Kirchenväter“ dar. In dieser Zeit erfolgte die wirkliche Ausarbeitung der zwölfer-schiitischen Lehre. So wie sich bei den Sunniten im 9. Jahrhundert das Bedürfnis fühlbar gemacht hatte, die zahllosen umlaufenden Dikta des Propheten Muḥammad zu sammeln, so stellten nun auch die Schiiten die Nachrichten (aḫbār) über die Imame in nach Sachgebieten gegliederten Kompendien zusammen. Die älteste dieser Sammlungen, die noch heute in Gebrauch ist, ist al-Kāfī fī ʿilm ad-dīn („Das Hinlängliche in der Religionswissenschaft“) von al-Kulainī (gest. 941). Zusammen mit drei weiteren Büchern aus dem 10. und 11. Jahrhundert gehört sie zu den vier kanonischen Traditionssammlungen der Zwölfer-Schia. Da von mehreren der Imame überliefert ist, dass sie Mutʿa-Ehen eingingen und erlaubten, wurde diese Eheform von den Zwölfer-Schiiten weiter zugelassen. Dies stellt bis heute eine der wichtigsten Besonderheiten des zwölfer-schiitischen Rechts dar.

Die Buyiden-Herrscher unterstützten nicht nur die Schiiten, sondern hatten auch große Sympathien für die Lehren der Muʿtazila. Sāhib Ibn ʿAbbād, der Wesir des Buyiden-Fürsten von Raiy, verfasste eigenhändig theologische Bücher, in denen er die muʿtazilitische Doktrin erläuterte, und berief im Jahre 970 ʿAbd al-Dschabbār ibn Ahmad, den führenden Muʿtaziliten der Zeit, zum Ober-Qādī von Raiy. Kennzeichnend für die muʿtazilitische Lehre ʿAbd al-Dschabbārs war die starke Ablehnung des Prädestinianismus sowie die Betonung der Erschaffenheit des Korans. Das muʿtazilitische Prinzip der göttlichen Gerechtigkeit implizierte für ihn, dass keine der Handlungen Gottes böse ist. Schmerz und Leiden, die der Mensch im Diesseits erlebt, sind für ihn von Nutzen, weil sie eine Belohnung im Jenseits nach sich ziehen. Die Belastung des Menschen mit Pflichten durch Gott, auf Arabisch Taklīf genannt, soll dem Menschen die Möglichkeit geben, eine Belohnung im Jenseits zu verdienen. Wie andere Muʿtaziliten negierte ʿAbd al-Dschabbār die Möglichkeit der Schau Gottes, mit der Begründung, dass sich Gott nicht auf einen Ort beschränke.

8.1.1.3. Die Hamdāniden und die Nusairīya

Eine weitere Dynastie, die sich in dieser Zeit durch die Förderung der Schia hervortat, waren die arabischen Hamdāniden (vgl. oben 7.4.1.), deren Herrschaftsgebiet sich in dieser Zeit über Nordmesopotamien und Nordsyrien erstreckte. Berühmt wurde vor allem der Hamdānide Saif ad-Daula, der zwischen 942 und 967 über Nordsyrien herrschte. Er zog nicht nur berühmte Literaten und Philosophen an seinen Hof in Aleppo, sondern auch bekannte Vertreter der extremen Schia wie den nusairischen Gelehrten al-Chasībī (gest. 957), der ihm eines seiner wichtigsten Bücher widmete. Bis ins 12. Jahrhundert blieb Aleppo eine Hochburg der Schiiten. In der Zeit nach 968 eroberten die Byzantiner Kilikien und die syrische Küste zurück. Es war dieses Gebiet, auf dem die Nachfolger von al-Chasībī wirkten. Um die lokale christliche Bevölkerung für die nusairische Lehre gewinnen zu können, integrierten sie christliche Feste in den nusairischen Festkalender und gaben christlichen Vorstellungen eine neue schiitische Deutung. Bis heute besteht die Nusairīya als religiöse Sondergemeinschaft in Westsyrien, in der Südtürkei (Hatay und Çukurova) und im Nordlibanon weiter.

8.1.2. Die Entwicklung einer islamischen Philosophie

Charakteristisch für die religiöse Kultur des 10. Jahrhunderts war, dass sich in dieser Zeit viele muslimische Gelehrte der antiken griechischen Philosophie zuwandten. Vorherrschendes System war hierbei der Neuplatonismus, eine philosophische Lehre der Spätantike, in deren Zentrum ein emanativer Schöpfungsprozess steht. Durch Harmonisierung mit Aussagen des Korans konnte diese Lehre islamisiert werden. Wichtige Vertreter dieses islamischen Neuplatonismus waren al-Fārābī (gest. 950), ein türkischer Gelehrter aus Transoxanien, den Saif ad-Daula an seinen Hof in Aleppo ziehen konnte, Abū Sulaimān as-Sidschistānī (gest. um 985), der am Hofe der Buyiden in Baghdad wirkte und im Zentrum eines Philosophenkreises stand, sowie Ibn Sīnā (gest. 1037), latinisiert Avicenna, mit dem das islamische metaphysische Denken seinen Höhepunkt erreichte. Die neuplatonische Lehre wurde sehr stark auch innerhalb der ismailitischen Daʿwa eingesetzt. Einer der wichtigsten neuplatonischen Philosophen der Ismāʿīlīya war der Perser Abū Yaʿqūb as-Sidschistānī (gest. nach 971).

Manche muslimische Philosophen mischten in ihrer Lehre auch das neuplatonische mit dem aristotelischen System, wie Abū l-Hasan al-ʿĀmirī (gest. 992), der an den Höfen der Buyiden und Samaniden tätig war. Er verteidigte die Philosophie auch gegen die islamischen Traditionsgelehrten, die meinten, dass sie eine Bedrohung für die Religion darstelle. Zu diesem Zweck versuchte er, der griechischen Philosophie ein islamisches Fundament zu geben, indem er sie auf die koranischen Figuren Luqmān und Sulaimān zurückführte. Nach seiner Theorie waren alle großen griechischen Philosophen der Antike direkte oder indirekte Schüler von Luqmān oder Sulaimān gewesen, hatten ihr Wissen von ihnen empfangen und sich für islamische Prinzipien wie die Bekämpfung von Schirk eingesetzt.

8.1.3. Die Anfänge des Drusentums

Die Etablierung einer Imām-Dynastie bei den Fatimiden bedeutete den Verzicht auf die sofortige Erfüllung der apokalyptischen Erwartungen, die sich an das Erscheinen des Mahdī geknüpft hatten. Allerdings waren die apokalyptischen Erwartungen bei den Anhängern der Ismāʿīlīya nicht völlig erloschen. Als eine Bewegung, innerhalb derer diese Erwartungen neu belebt wurden, entstand Anfang des 11. Jahrhundert das Drusentum. Der Name dieser Bewegung leitet sich von einem jungen Türken aus Buchara her, der den Beinamen ad-Darzī (pers. „Schneider“) hatte und in der Regierungszeit des fatimidischen Kalifen al-Hākim (reg. 996-1021) in Kairo als Missionar dieser Bewegung tätig war. Die von ihm verbreitete Lehre wurde als ad-Darzīya, seine Anhänger als Drusen (Durūz) bezeichnet. Eigentlicher Begründer der drusischen Lehre war allerdings nicht ad-Darzī selbst, sondern Hamza ibn ʿAlī, ein persischer Dāʿī aus Ostiran. Er behauptete im Jahre 1017, die Ära des Qā'im (eschatologischer Herrscher) sei angebrochen und der regierende fatimidische Kalif al-Hākim sei Gott. Auch lehrte er die Abrogation der koranischen Offenbarung und ihrer ismailitischen Deutung; an die Stelle beider sollte das bloße Bekenntnis von Gottes Einzigkeit (Tauhīd) treten, das alle kultischen Handlungen überflüssig macht. Ismailitische Theologen wie Hamīd ad-Dīn al-Kirmānī wiesen die drusische Lehre zurück und bekräftigten, dass mit al-Hākim keinesweges das Ende des Islams und der Scharia gekommen sei, sondern nach ihm noch viele weitere Imame kommen würden.

Durch Entsendung eigener Dāʿīs versuchte Hamza, Ägypten und Syrien für seine neue Lehre zu gewinnen. Es entstand eine Daʿwa innerhalb der Daʿwa. Die Tatsache, dass der Kalif al-Hākim im Februar 1021 bei einem seiner nächtlichen Ausritte auf mysteriöse Weise verschwand, bestärkte die Drusen noch in ihrem Glauben: Der Schöpfergott hatte sich der undankbaren Menschheit erneut entzogen. Ein Nachfolger Hamzas weitete die Daʿwa auch auf ismailitische Gemeinden außerhalb des Fatimidenreiches, im Irak, Hedschas, Iran, Jemen, Bahrain und Indien aus. Innere Streitigkeiten führten allerdings dazu, dass die drusische Daʿwa schon im Jahre 1034 eingestellt wurde.

Während der Kalif al-Hākim das Treiben der drusischen Dāʿīs zumindest geduldet zu haben scheint, verbot sein Nachfolger az-Zāhir (reg. 1021-1036) die drusische Lehre und verfolgte ihre Anhänger. Aufgrund dieser Verfolgung hat sich das Drusentum in Ägypten nicht erhalten; überlebt hat es jedoch im zentralen Libanon, im südsyrischen Haurān und in Palästina. Dort werden die Schriften Hamzas bis heute jeden Donnerstag von drusischen Gelehrten, die sich einem bestimmten Initiationsverfahren unterzogen haben, studiert. Die große Menge der Drusen – weltweit gibt es heute etwa zwei bis drei Millionen – ist dagegen nicht in die Religion „eingeweiht“.

8.1.4. Die anti-schiitische Reaktion

8.1.4.1. Die Abbasiden und die neuen anti-schiitischen Dynastien

Die politische Landkarte um das Jahr 1025

Die ismailitische Propaganda der Fatimiden und die Bevormundung durch die buyidischen Herrscher unterminierten in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts immer stärker die Autorität des abbasidischen Kalifats. Nachkommen früherer Kalifen schmiedeten Pläne, vom Osten her mit einer Armee nach Bagdad zu ziehen, um ein neues abbasidisches Kalifat zu begründen. In Bagdad selbst startete der Kalif al-Qādir (reg. 991-1031) ein ambitioniertes politisches Programm zur Stärkung der abbasidischen Autorität. Er ließ keine Gelegenheit aus, um öffentlich die ismailitische Lehre als Ketzerei zu verurteilen und die Fatimiden als Feinde des Islams zu brandmarken. Das abbasidische Kalifat gewann in dieser Zeit auch dadurch neues Prestige, dass sich zwei aufstrebende türkische Dynastien im Osten, die Ghaznawiden und die Karachaniden, formal in seinen Dienst stellen.

Die Ghaznawiden-Dynastie geht auf den türkischen Militärsklaven Sebüktigin zurück, der ursprünglich im Dienst der Sāmāniden stand. Sein Sohn, Mahmūd von Ghazna, machte sich von ihnen unabhängig und bekam 999 von dem abbasidischen Kalifen den Titel „Freund des Befehlshaber der Gläubigen“ (walī amīr al-muʾminīn) verliehen. In der Zeit bis 1030 führte er zahlreiche Feldzüge nach Nordwestindien durch. Als Ausgangspunkt für seine Eroberungen diente ihm die Stadt Lahore im Punjab, die er zu einer Festung ausbaute. Mahmūd trieb nicht nur Dschihad in Indien, sondern kämpfte auch gegen Schiiten: 1010 entwand er Sindh dem dort herrschenden ismailitischen Dāʿī, ab 1017 ging er auch gegen die schiitischen Buyiden vor.

Das Minarett von Ösgön, Kirgistan, errichtet im 11. Jahrhundert unter den Karachaniden

Die Karachaniden (auch Ilek-Chāne) waren die herrschende Familie einer Konföderation türkischer Stämme auf dem Gebiet der heutigen chinesischen Provinz Xinjiang sowie im heutigen nördlichen Kirgistan. Die politisch wichtigste Stadt des von ihnen beherrschten Gebietes war Kaschgar. Die Karachaniden und die von ihnen geführten Stämme waren erst um 950 zum Islam übergetreten. Es muss sich um eine Massenkonversion gehandelt haben; zeitgenössische Quellen nennen 200.000 Zelte, die davon betroffen waren. Die von den Karachaniden geführte Stammeskonföderation griff alsbald nach Westen und nach Osten aus, wo sie Krieg gegen die buddhistischen Königreiche der Uiguren führte. Im Jahre 999 gelang es den Karachaniden, die alte samanidische Hauptstadt Buchara zu erobern. 1006 unterstellten auch sie sich dem abbasidischen Kalifen.

Auch in Nordafrika gewann das abbasidische Kalifat Unterstützung. Als 973 der fatimidische Kalif al-Muʿizz Kairo zu seiner Residenz machte, überließ er die Hegemonie über den Maghreb dem Berbervolk der Sanhādscha: als fatimidische Vizekönige zogen die Zīriden in die verlassenen Paläste der Fatimiden bei Kairouan ein. Unter ihrer Herrschaft konnte sich die mālikitische Gelehrsamkeit Nordafrikas neu organisieren. An ihre Spitze stellte sich der Gelehrte Ibn Abī Zaid al-Qairawānī (gest. 996), der mit seinen Werken erheblich zur Systematisierung der mālikitischen Lehre beitrug. Eine Zeitlang blieben die Zīriden den Fatimiden loyal verbunden, doch 1045 kündigten sie den Kalifen von Kairo den Gehorsam und ließen nach der Freitagspredigt die Segensformeln für den abbasidischen Kalifen rezitieren.

In den Jahren nach 1035 eroberte das türkische Volk der Oghusen vom Nordosten her den Iran. Angeführt wurden sie von zwei Häuptlingen der Sippe Seltschuq (eingedeutscht Seldschuken), die sich selbst als „Klienten des Befehlshabers der Gläubigen“ bezeichneten und diplomatische Beziehungen mit dem abbasidischen Kalifen unterhielten. Der Wesir des ersten seldschukischen Fürsten Toghril Beg ließ schon im Jahre 1053 in seinem Machtbereich die Schiiten öffentlich von allen Kanzeln verfluchen. 1055 drangen die Truppen Toghrils bis nach Baghdad vor und nahmen den letzten Buyiden gefangen. Der Kalif setzte den Seldschuken drei Jahre später als „König des Ostens und des Westens“ ein. Toghril selbst benutzte für sich auf Münzen die Bezeichnung Sultān („Macht, Autorität“), ein Titel, der nachfolgend auch von den Herrschern der Ghaznawiden und vieler anderer muslimischer Dynastien übernommen wurde. Der Machtantritt der Seldschuken in Baghdad war ein folgenschweres Ereignis für die religiöse Machtkonstellation in der islamischen Welt, denn die Schiiten verloren damit ihre Macht über das abbasidische Kalifat in Bagdad.

In den Rahmen der Anstrengungen der Abbasiden um Rückgewinnung ihrer Autorität gehören auch zwei staatstheoretische Abhandlungen, die damals für den Kalifen al-Qā'im abgefasst wurden und beide mit al-Aḥkām as-sulṭānīya („Die herrschaftlichen Bestimmungen“) betitelt sind. Verfasser waren die beiden in Bagdad tätigen Rechtsgelehrten al-Māwardī (gest. 1058) und Ibn al-Farrā' (gest. 1066). Sie entwarfen in diesen Schriften erstmals eine an die reale Situation angepasste Theorie vom islamischen Staat. Ein zentraler Gedanke ist dabei die Ämterdelegation. Der Kalif, der zu den Quraisch gehören muss, ist als Imam Vorsteher der islamischen Gemeinschaft, dessen Aufgaben sich in allumfassender Weise auf die Bewahrung der Religion (dīn) und die Führung (siyāsa) der weltlichen Angelegenheiten erstrecken. Er kann diese Aufgaben jedoch an verschiedene Amtsträger delegieren, nämlich an

  • den Wesir, der eine allgemeine Amtsbefugnis in allen Angelegenheiten hat,
  • die Emire, die als Statthalter in den Provinzen fungieren oder den Dschihad führen,
  • den Qādī,
  • den Stammbaumwächter,
  • den Imam, der für die Durchführung des Ritualgebets verantwortlich ist,
  • den Leiter der Wallfahrt,
  • den Steuerbeamten und
  • den Muhtasib, der von Amts wegen für das „Gebieten des Rechten und Verbieten des Unrechten“ verantwortlich ist.

Das, was in diesen Werken, die von großer Bedeutung für die Folgezeit waren, als Emire bezeichnet wird, waren in der Realität die Herrscher der Ghaznawiden und Seldschuken, die die wirkliche Macht in der Hand hatten, aber die formale Oberhoheit des Kalifats anerkannten. Bei Abū Yaʿlā findet sich auch eine wichtige Differenzierung hinsichtlich der Moscheen. Er erklärt, dass in den Moscheen der verschiedenen Stadtviertel die betreffende Bevölkerung den Imam einsetzen dürfe, der Imam einer großen Dschāmiʿ-Moschee jedoch nur vom Kalifen. Der Unterschied zwischen einfacher Moschee und Dschāmiʿ-Moschee (auch als Freitagsmoschee übersetzt) hat sich bis heute erhalten.

8.1.4.2. Die dogmatischen und rituellen Differenzen im anti-schiitischen Lager

Die oben genannten Dynastien, die eine antischiitische Ausrichtung hatten und den abbasidischen Kalifen als Oberherrn anerkannten, werden häufig als „sunnitische“ Dynastien bezeichnet, folgten aber auf dogmatischer und ritueller Ebene sehr unterschiedlichen Lehrrichtungen. Die Ghaznawiden waren in der dogmatischen Ausrichtung zunächst Karrāmiten und in der Normenlehre Hanafiten. Die Lehre der Karrāmīya, die auf den Prediger Ibn Karrām (gest. 869) zurückgeht und in Ostiran in der Bevölkerung eine große Anhängerschaft hatte, war stark auf Askese ausgerichtet und zeichnete sich durch eine körperliche Gottesauffassung aus. Die Karrāmiten schrieben Gott einen Ort zu und betrachteten den Schöpfungsprozess als Geschehen, das sich in Gott selbst abspielt und nur durch sein Schöpfungswort kun (vgl. Sure 19:35) auf die Welt übertragen wird. Außerdem beschränkten sie den Glauben auf ein einmaliges verbales Bekenntnis und hatten ein sehr laxes Verständnis von den gottesdienstlichen Pflichten. Aufgrunddessen wurden sie von vielen anderen Muslimen als Murdschi'a eingeordnet und teilweise sogar zu Ungläubigen erklärt.

In Anbetracht dieses schlechten Ansehens der Karrāmīya wandte sich im Jahre 1011 der ghaznawidische Herrscher Mahmūd von dieser Lehre ab und ging zur Aschʿarīya über. Hierbei handelt es sich um eine Kalām-Schule, die nach dem basrischen Theologen Abū l-Hasan al-Aschʿarī (gest. 936) benannt ist, allerdings erst in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts mit dem Wirken solcher Gelehrter wie al-Bāqillānī (gest. 1013) und Ibn Fūrak (gest. 1015) Konturen angenommen hat. Die aschʿaritische Lehre stellt in mehrerlei Hinsicht einen Mittelweg dar und knüpft dabei zum Teil an die Lehrauffassungen Ibn Kullābs (vgl. oben 7.2.3.) an. Wie Ibn Kullāb differenzierten die Aschʿariten zwischen dem Sinn (maʿnā) des Korans und seiner sprachlichen Realisation. Nur ersterem sprachen sie eine urewige Existenz zu. Und wie Ibn Kullāb nahmen sie an, dass göttliche Attribute existieren, allerdings nicht außerhalb von Gott, sondern vielmehr in Gottes Wesen selbst als Hypostasen. Auch hinsichtlich der Beurteilung menschlichen Handelns wählten die Aschʿariten eine Mittelposition, indem sie die synergistische Kasb-Theorie von Dirār ibn ʿAmr (vgl. oben 7.1.2.) übernahmen. Allerdings stellten sie die göttliche Allmacht über das Prinzip der Gerechtigkeit: So glaubten sie auch, dass Gott dem Menschen etwas auferlegen könne, was er nicht erfüllen kann. Dieses Dogma von der Auferlegung des Unerfüllbaren hat den Aschʿariten bei ihren Gegnern viel Kritik und Spott eingebracht, zumal in Sure 2:286 explizit ausgesagt wird, dass dies nicht möglich ist. Kennzeichnend für die Aschʿarīya war auch ihr strenger Okkasionalismus. Dazu gehören die Lehre von der Unbeständigkeit der Akzidentien, die Vorstellung, dass Gott die Welt in jedem Augenblick neu erschafft, indem er die Atome mit neuen Akzidentien versieht, und die Zurückweisung jeglicher Kausalität außerhalb Gottes.

Mahmūd von Ghazna ging übrigens gleichzeitig mit seinem Wechsel zur Aschʿarīya in der Normenlehre von der Hanafīya zur Schāfiʿīya über. Somit erhielt das Ghaznawiden-Reich eine klare aschʿaritisch-schafiitische Ausrichtung. Durch den Malikiten al-Bāqillānī wurde die aschʿaritische Lehre zu dieser Zeit auch nach Nordafrika verbreitet. Karachaniden und Seldschuken waren dagegen wie die Samaniden eifrige Hanafiten. Die Seldschuken bekämpften zeitweise auch die Lehre al-Aschʿarīs. 1053 befahl Toghril Beg die Verfluchung al-Aschʿarīs von allen Kanzeln Chorasans und ließ die Aschʿariten verfolgen. Zu den Opfern gehörten die Theologen al-Quschairī und al-Dschuwainī. Ersterer wurde für kurze Zeit inhaftiert, letzterer begab sich für mehrere Jahre ins Exil nach Mekka und Medina.

Die abbasidischen Kalifen selbst waren Hanbaliten. Einer der wichtigsten hanbalitischen Gelehrten dieser Zeit war Ibn al-Farrā', der 1055 Qādī des kalifalen Harems wurde. Er hat erheblich dazu beigetragen, dass sich die Hanbalīya nun auch zu einer eigenen Lehrrichtung im Fiqh entwickelte.

8.1.4.3. Das sunnitische Ideal als verbindendes Element

Was die meisten Gruppen, die hier genannt wurden, verband, war ihre Ausrichtung an dem Ideal des Sunnitentums. Er kommt darin zum Ausdruck, dass sie zwischen dem 9. und dem 11. Jahrhundert den Ausdruck ahl as-sunna wa-l-ǧamāʿa („Leute der Sunna und der Gemeinschaft“) als Selbstbezeichnung annahmen. Dies gilt für die Hanbaliten, die Hanafiten und die Aschʿariten. Die einzige Gruppe, die diese Entwicklung nicht mitmachte, waren die Karrāmiten. Mit dem Zusatz ǧamāʿa in dem Ausdruck ahl as-sunna wa-l-ǧamāʿa war nicht eine bestimmte Gruppe oder Gemeinschaft gemeint, sondern die gegenseitige Verbundenheit als soziales Prinzip im Sinne des Gemeinschaft-Haltens und der Eintracht. Indem man sich nach diesem Prinzip benannte, machte man klar, dass man Sektierertum (furqa) für falsch hielt und sich selbst als die große Mehrheit der Muslime betrachtete. Mit dieser Idee der ǧamāʿa war auch die Vorstellung verbunden, dass die Sunniten eine Gemeinschaft bildeten, die bei allen Fragen, die zwischen den verschiedenen muslimischen Gruppen (Schiiten, Charidschiten, Murdschiiten, Qadariten, Dschahmiten usw.) strittig waren, jeweils die Mitte hält. Das Sunnitentum war somit gewissermaßen ein antisektarisches Ideal.

In Wirklichkeit bildete das Sunnitentum allerdings keine große Gemeinschaft, sondern war selbst sehr stark fragmentiert, denn die verschiedenen Gruppen, die sich als ahl as-sunna wa-l-ǧamāʿa bezeichneten, erkannten sich diesen Titel gar nicht gegenseitig zu. Hanafitische Autoren beispielsweise betrachteten die Hanbaliten nicht als Sunniten, weil sie ihrer Auffassung nach ein zu körperhaftes Gottesbild vertraten. Hanbalitische Autoren meinten umgekehrt, dass Aschʿariten und Hanafiten mit ihren Lehren eigentlich Murdschiiten seien. Die starke Fragmentierung des Sunnitentums zeigt sich auch darin, dass man sich auf kein gemeinsames Glaubensbekenntnis einigen konnte. Selbst das Glaubensbekenntnis, das 1018 von dem abbasidischen Kalifen al-Qādir proklamiert wurde, hat keine allgemeine Anerkennung gefunden. Es wurde lediglich in hanbalitischen Kreisen überliefert und diente ihnen, wie Erika Glassen es ausdrückt, als „Manifest der traditionalistischen Bewegung.“

Dennoch gab es natürlich einige Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen sunnitischen Gruppen. Dazu gehörte insbesondere insbesondere die Verehrung der vier ersten Nachfolger des Propheten als rechtgeleitete Kalifen (ḫulafāʾ rāšidūn) und die Liebe zu den Prophetengefährten. Vergleicht man die verschiedenen sunnitischen Glaubensbekenntnisse, die zwischen dem 9. und 11. Jahrhundert entstanden sind, entdeckt man noch verschiedene andere Gemeinsamkeiten, so zum Beispiel dass fast alle die sechs Glaubenspunkte aus dem Gabriel-Hadith enthalten. Dazu gehört der Glaube an 1. Gott, 2. seine Engel, 3. seine Bücher, 4. seine Gesandten, 5. den jüngsten Tag und 6. die Vorherbestimmung des Guten und Schlechten. Daneben bildete sich im Sunnitentum in dieser Zeit ein Kanon von Hadith-Sammlungen heraus, denen man eine besonders autoritative Bedeutung zumaß. Die wichtigsten davon sind die beiden Ṣaḥīḥ genannten Werke von al-Buchārī (gest. 870) und Muslim ibn al-Haddschādsch (gest. 875). Schließlich ist für das Sunnitentum die Beschränkung der Koranrezitation auf eine bestimmte Anzahl anerkannter Lesarten des Korans charakteristisch.

8.2. Kampf der Kalifate und der Niedergang der Ismāʿīlīya (1063-1173)

8.2.1. Die abbasidisch-seldschukische Allianz und die Fidā'īyūn

8.2.1.1. Denominationeller Inklusivismus im Seldschukenstaat

Die politische Landkarte der Alten Welt um das Jahr 1100

Unter den Sultanen Alp Arslan (reg. 1063-72) und Malikschāh (reg. 1072-92) entwickelte sich der Seldschukenstaat zu einer islamischen Großmacht. In den 1060er Jahren unternahm Alp Arslan Eroberungszüge in Armenien und Georgien, 1071 vernichtete er in der Schlacht bei Manzikert die byzantinische Armee und bereitete damit die Islamisierung Kleinasiens vor. Außerdem gelang es den Seldschuken, den Fatimiden die Herrschaft über Syrien zu entreißen und sich in Damaskus festzusetzen. Zeitweise konnten die Seldschuken auch die heiligen Stätten im Hidschas unter ihre Oberherrschaft bringen. Ein Abkömmling der Seldschuken nahm wenige Jahre später die Stadt Nizäa in Westanatolien ein und begründete dort den Staat der Rum-Seldschuken.

Was die denominationelle Ausrichtung des Seldschukenstaates anlangt, so entwickelte sich ein pluralistisch-inklusivistisches Modell. Die militärische türkische Führungsschicht des Reiches blieb hanafitisch und förderte Gelehrte dieser Richtung. Scharaf al-Mulk, Finanzminister (mustaufī) Alp Arslans und glühender Hanafit, errichtete 1066 über dem Grab Abū Hanīfas in Bagdad ein prächtiges Mausoleum von gewaltigen Ausmaßen zusammen mit einer religiösen Schule, einer Madrasa. Damit versuchte er, diesem Madhhab („Lehrrichtung“) einen kulturellen Mittelpunkt und eine zentrale Lehrstätte zu verschaffen. Bemerkenswert ist aber, dass nun auch die Gelehrten anderer Richtungen Förderung erhielten. Gleichzeitig errichtete nämlich Nizām al-Mulk, der mächtige persische Wesir, der hinter den beiden Seldschuken-Sultanen stand, in Bagdad eine Schule für die Schafiiten. Offenbar versuchte Nizām al-Mulk, seine Schule analog zu der hanafitischen Schule mit den sterblichen Überresten asch-Schāfiʿīs auszustatten, aber der Plan misslang. Auch in anderen Städten gründete Nizām al-Mulk Madrasas, so dass bald ein ganzes Netz von solchen Nizāmīya-Schulen entstand. Alle diejenigen, die an ihnen Lehrstühle erhielten, waren Schafiiten im Recht, die meisten von ihnen gleichzeitig Aschʿariten in der Theologie. Der abbasidische Kalif schließlich wurde zum Patron der Hanbaliten. Zu den hanbalitischen Gelehrten, die er unter seinen Schutz nahm, gehörte der Herater Sufi ʿAbdallāh al-Ansārī, der ein erbitterter Gegner des Kalām und der Aschʿariten war.

Selbst die Zwölfer-Schiiten wurden jetzt in den Staat integriert. Schiitische Beamte und Höflinge traten von nun an als Gönner und Mäzene der schiitischen Minderheit auf. Sie förderten nicht nur imamitische Gelehrte, sondern bedachten auch die Schreine der Imame mit reichen Stiftungen. Einer von ihnen ließ zu dieser Zeit auf dem Baqīʿ-Friedhof in Medina eine Kuppel über den dort befindlichen Gräbern der vier Imame al-Hasan, ʿAlī Zain al-ʿĀbidīn, Muhammad al-Bāqir und Dschaʿfar as-Sādiq errichten.

8.2.1.2. Die ismailitischen Fidā'īyūn und der Zerfall des Seldschukenstaates

Reste der Burg Alamut im Elburz-Gebirge
Der Ismailitenstaat von Alamūt in Nordpersien

Trotz ihrer Bemühungen um die Stärkung des sunnitischen Islams schafften es die Seldschuken nicht, die Ismāʿīlīya im eigenen Lande auszuschalten. Im Gegenteil, im Jahre 1090 gelang es Hasan-i Sabbāh, einem Dāʿī der Fatimiden, sich der Burg Alamūt im östlichen Elburz-Gebirge zu bemächtigen, die nachfolgend zum Zentrum eines kleinen Dāʿī-Fürstentums wurde. Ein Jahr später entsandte Hasan-i Sabbāh einen Dāʿī in die kleinen Oasenstädte im Osten der Zentraliranischen Salzwüste und schürte die offene Rebellion gegen die Bagdader Kalifen und den Seldschukensultan. 1092 gelang es Sendboten Hasan-i Sabbāhs, kurz nacheinander Malik-Schāh und seinen Wesir Nizām al-Mulk zu ermorden. Der Anschlag war der erste einer ganzen Serie von Attentaten, durch die führende Politiker und religiöse Würdenträger aus dem Weg geräumt wurden; circa 50 Terrorakte gehen auf Hasan-i Sabbāhs Konto. Die Attentäter, die auch in Gruppen auftraten, nannte man „Opferbereite“ (arab. fidāʾīyūn, Sg. fidāʾī), da sie bei ihren Aktionen meist selbst den Tod fanden.

Das seldschukische Regime und das abbasidische Kalifat wurden durch die Aktivitäten der Fidā'īyūn tatsächlich erheblich geschwächt. Wie sehr man in dieser Zeit der Selbstvergewisserung bedurfte, zeigt der Traktat Faḍāʾiḥ al-Bāṭinīya („Die Schandtaten der Bātiniten“), den 1095 al-Ghazālī auf Wunsch des jungen abbasidischen Kalifen al-Mustazhir (reg. 1094-1118) verfasste. Darin bemühte er sich um eine Widerlegung der ismailitischen Imamatslehre, bekräftigte den Anspruch der Abbasiden auf das Kalifat und rechtfertigte auch das seldschukische Sultanat. Da die ismailitische Daʿwa auf die Lehren des Neuplatonismus zurückgriff, ging es auch darum, dieses System zu widerlegen. In seinem Buch Tahāfut al-falāsifa („Der Zusammenbruch der Philosophen“; 1095) versuchte al-Ghazālī, aufzuzeigen, dass die Lehren von al-Fārābī und Avicenna unvereinbar mit dem Koran seien. Er urteilte, dass die Philosophen Apostaten seien, die getötet werden müssten.

Das Seldschukenreich geriet Ende des 11. Jahrhunderts in eine schwere Krise, aus der es nicht mehr herauskam. Anfang des 12. Jahrhunderts entglitt den Seldschuken auch wieder die Oberherrschaft über die Heiligen Stätten in Mekka und Medina, und ihr Reich zerfiel in verschiedene Regionaldynastien. Die ismailitische Daʿwa dagegen errang unter Hasan-i Sabbāh, der ab 1094 unabhängig von Kairo operierte, weitere Erfolge: in mehreren Regionen Irans besetzten die Ismailiten Burgen und bauten sie zu Stützpunkten aus. Seit etwa 1100 trugen persische Dāʿīs aus Alamūt die neue Daʿwa auch nach Syrien und nahmen dort verschiedene Bergfestungen in Besitz. Als Hasan-i Sabbāh 1124 starb, folgte ihm als Chef der Daʿwa der von ihm designierte Herr der benachbarten Burg Lamasar, der wiederum vor seinem Tode seinen Sohn zum Nachfolger bestimmte und damit eine Dāʿī-Dynastie gründete, die nun für mehr als ein Jahrhundert den kleinen Ismailitenstaat von Alamūt und die von ihm abhängigen Burgen in Iran und Syrien regierte.

Ein bleibendes Vermächtnis der Seldschuken ist die Islamisierung Kleinasiens. Der byzantinische Versuch, diese Region zurückzugewinnen, misslang; ab 1143 zogen sich die Byzantiner endgültig daraus zurück. Zum Zentrum des islamischen Anatoliens wurde um die Mitte des 12. Jahrhundert Konya, das antike Iconium, nun Hauptstadt der Rūm-Seldschuken.

8.2.2. Abwehr des „fränkischen Dschihad“

Die Kreuzfahrerstaaten um 1135.

Im späten 11. Jahrhundert setzten die christlichen westeuropäischen Mächte im Mittelmeerraum eine umfangreiche militärische Expansionsbewegung gegen die muslimischen Mächte in Gang, die auf deren Seite zu herben Gebietsverlusten führte: In den einzelnen Gebieten ergaben sich folgende Entwicklungen: (1) Sizilien wurde 1061-91 von Normannen erobert; (2) auf der iberischen Halbinsel begann Ende des 11. Jahrhunderts die Reconquista, die „Rückeroberung“ islamischer Gebiete durch christliche Streitkräfte; die Städte Toledo (1085) und Saragossa (1113) fielen in diesem Zuge an die christlichen Königreiche von Kastilien und Aragon; (3) im östlichen Mittelmeerraum nahmen die Kreuzritter 1098 Antiochia und Edessa und ein Jahr später Jerusalem ein und gründeten mehrere Kreuzfahrerstaaten.

Zeitgenössische muslimische Autoren nahmen diese Expansionsbewegung als einen christlichen Dschihad wahr und forderten die Muslime zu einem Gegen-Dschihad auf. Es war ʿImād ad-Dīn Zengi, Statthalter der Seldschuken in Mossul, der in den 1140er tatsächlich eine Gegenoffensive gegen die Kreuzfahrerstaaten eröffnete. 1144 erobert er Edessa von den Kreuzrittern zurück. Sein Sohn Nūr ad-Din Zengi (reg. 1146-1174), der das ganze islamische Syrien unter seinen Oberbefehl bringen konnte, weitete den Kampf gegen die Kreuzritter aus und drängte sie bis 1174 auf das Bergland westlich des Orontes und des Jordan zurück.

Nūr ad-Dīn war auch für die islamisch-religiösen Wissenschaften von Bedeutung. In seiner neuen Hauptstadt Damaskus baute er eine neue Schule zur Vermittlung der prophetischen Tradition, Dār al-Hadīth genannt, an der ein eifriger Vertreter der Aschʿariten, ʿAlī Ibn ʿAsākir, tätig wurde. Im Jahre 1162 hieß Nūr ad-Dīn außerdem den Sufi Abū n-Nadschīb as-Suhrawardī in Damaskus willkommen, der hier eine Zeitlang predigte. Mit der Sufik werden wir uns in der folgenden Sitzung noch weiter befassen.

8.2.3. Die Ausbreitung des Islams in Afrika durch Handel und Ribāt

Reste der Großen Moschee von Kilwa im heutigen Tansania

Schon um 960 hatten persische Händler aus Schiras eine Handelskolonie auf der Insel Kilwa vor der Küste des heutigen Tansania gegründet. Von dort aus erfolgte im 11. und 12. Jahrhundert sukzessive die Islamisierung der der ostafrikanischen Küste vorgelagerten Inseln (Mafia, Komoren usw.). Durch muslimische Kaufleute aus dem Maghreb, die im Transsaharahandel tätig waren, verbreitete sich der Islam in dieser Zeit auch in West- und Zentralafrika. Einige dieser Kaufleute ließen sich in Orten südlich der Sahara nieder, die sich zu muslimischen Städten entwickelten wie Walāta und Timbuktu. Andere wurden an den Höfen heidnischer afrikanischer Herrscher tätig und machten diese mit dem Islam bekannt. Der um 1067 schreibende arabische Geograph al-Bakrī berichtet davon, dass zu seiner Zeit bereits die Herrscher von Qānim östlich des Tschadsees, von Gao am Nigerbogen und von Takrūr im unteren Senegalgebiet zum Islam übergegangen waren. Zu den Insignien der Herrscher von Gao gehörte sogar ein vom Kalifen in Bagdad übermitteltes Koranexemplar.

Die Expansion des Almoravidenstaates

Zu einer weiteren Verbreitung des Islams in Westafrika trug die Dynastie der Almoraviden (1056-1147) bei. Der Gründer dieser Dynastie, Ibn Yāsīn, war ein Berber aus dem Sūs-Tal, der die Wallfahrt nach Mekka unternommen hatte und als Missionar und Sittenprediger bei den nur oberflächlich islamisierten nomadisierenden Berberstämmen der Westsahara tätig wurde. Ibn Yāsīn predigte bei ihnen einen strengen, puritanischen Islam, der auf die mālikitische Rechtsschule gestützt war, und formte aus den Kämpfern der Berberstämme den Kampfverband der Murābitūn. Der Name ist abgeleitet von dem arabischen Begriff Ribāt, einer Kurzform des im Koran (Q 8:60) verwendeten Ausdrucks ribāṭ al-ḫail, der das „Zusammenziehen der Pferde“ für den Kampf gegen die Ungläubigen bezeichnet. Spätestens seit der frühen Abbasidenzeit bezeichnete man damit den militärischen Einsatz an den Grenzen zum Dār al-harb. Diejenigen Personen, die sich dem Ribāt hingaben und dies meist mit gottesdienstlichen Übungen verbanden, wurden auf Arabisch als murābiṭūn bezeichnet.

Ziel der militärischen Islamisierungskampagnen der Almoraviden, deren europäischer Dynastiename von murābiṭūn herrührt, waren nicht nur die nichtislamischen, sondern auch die nur oberflächlich islamisierten bzw. heterodoxen Berber der Bargawata in der marokkanischen Küstenebene südlich von Rabat; im Kampf gegen sie fand Ibn Yāsīn 1059 auch den Tod. Ein Nachfolger konnte den Staat der Almoraviden rasch nach Norden ausdehnen und 1070 die Stadt Marrakesch (daher der Name Marokko) zum neuen städtischen Zentrum des westlichen Maghreb machen. Unter Yūsuf ibn Tāschfīn (reg. 1072-1106), der neben Nordwestafrika auch fast ganz Andalusien unter seiner Herrschaft vereinigen konnte, erhielt der Almoravidenstaat imperiale Dimension. Kennzeichnend für die Almoraviden auf religiöser Ebene war die Orientierung an der mālikitischen Normenlehre.

8.2.4. Ibn Tūmart, ein neuer Mahdī im Westen

Der Mihrab der Moschee von Tinmal, die im 12. Jahrhundert in Erinnerung an Ibn Tūmarts dortiges zehnjähriges Exil errichtet wurde.

Im frühen 12. Jahrhundert trat im Maghreb ein neuer Mahdī auf, Ibn Tūmart, ein junger berberischer Gelehrter, der nach Studien in Cordoba, Mekka und dem Irak als Bußprediger den ganzen Maghreb durchzogen hatte. 1120 erschien er in der Großen Moschee von Marrakesch und verurteilte in Anwesenheit des almoravidischen Herrschers die ungebildete Masse der Gläubigen wie auch alle Gelehrten, die von seiner Position abwichen, als Ungläubige. Vor dem Zorn des Herrschers zog er sich 1121 in seine Heimat, den kleinen Ort Tinmal im Antiatlas, zurück, wo er sich von seinen Anhängern als der Mahdī und unfehlbare Imam proklamieren ließ. Im Zentrum der Lehre Ibn Tūmarts stand das Dogma von der absoluten Einzigkeit Gottes (Tauhīd). Seine Anhänger nannten sich wie die Drusen „Einzigkeitsbekenner“ (al-muwaḥḥidūn; daher ihr europäischer Name „Almohaden“) und setzten sich von der sunnitischen Lehre ab. Der Kampfverband war streng hierarchisch organisiert: An seiner Spitze stand der Mahdī mit seiner Familie; ihn umgaben ein „Rat der Zehn“, den seine engsten Jünger bildeten, und ein „Rat der Fünfzig“, in dem die Vertreter der geeinten Stämme und Clans saßen. Der Zweck des Kampfverbandes war der Dschihad gegen die Almoraviden, der 1129 aufgenommen wurde.

Zwar scheiterte 1130 ein Angriff der Bewegung auf Marrakesch, bei dem Ibn Tūmart auch starb, doch gelang es seinem Nachfolger ʿAbd al-Mu'min (1130-1163), die Almoraviden zu stürzen und in nur kurzer Zeit ganz Andalusien und große Teile Nordwestafrikas unter seine Herrschaft zu bringen. Er und seine Nachkommen, die Mu'miniden, beanspruchten nun auch den kalifalen Titel des amīr al-mu'minīn für sich. Der dritte Herrscher der Dynastie, Abū Yaʿqūb Yūsuf (1163-84), war erheblich liberaler als seine Vorgänger. Er zog die beiden brillanten Philosophen Ibn Tufail und Averroes an seinen Hof, die in ihren Schriften die Philosophie gegen die Kritik al-Ghazālīs verteidigten.

8.2.5. Die Aufspaltung der Ismāʿīlīya und das Ende des fatimidischen Kalifats

Das fatimidische Kalifat wurde in dieser Zeit durch innere Schismen weiter geschwächt. Als im Jahre 1094 der Fatimidenkalif al-Mustansir starb, spaltete die Frage seiner Nachfolge die ismailitischen Gemeinden. Der Kalif hatte seinen Sohn Nizār als künftigen Imam designiert, doch sein Wesir und Armeechef al-Afdal al-Dschamālī, der eigentliche Machthaber in Ägypten, hob einen anderen Prinzen, seinen Schwiegersohn al-Mustaʿlī, auf den Thron. Nizār floh nach Alexandria und stellte sich an die Spitze eines Aufstands; die Rebellion scheiterte jedoch, er selbst wurde gefangengenommen und beseitigt.

Hasan-i Sabbāh (vgl. oben 8.2.1.2.) verweigerte daraufhin dem in Ägypten als Nachfolger auf den Thron gehobenen fatimidischen Prinzen al-Mustaʿlī die Anerkennung als Imam und machte sich von Kairo unabhängig. Die persische Daʿwa hielt an dem Imamat von Nizār fest, den al-Mustansir als Imam designiert hatte. Sie wird deswegen auch als nizāritisch bezeichnet, im Gegensatz zu den Ismailiten in Ägypten, Syrien, Jemen und Indien, die den Fatimidenkalifen al-Mustaʿlī und seinen Sohn und Nachfolger al-Āmir als Imame anerkannten und Mustaʿlīten genannt werden. Die Nizāriten sandten im 12. und 13. Jahrhundert weiter Fidā'īs gegen ihre politischen Gegner aus, darunter auch gegen verschiedene Kreuzfahrerfürsten. Auf diese Weise wurde diese Gruppe auch schon im Mittelalter im christlichen Europa bekannt, allerdings nicht unter dem Namen Nizāriten oder Fidā'īs, sondern unter dem polemischen Begriff Assassinen.

Dschibla, die Hauptstadt der sulaihidischen Königin ʿArwa im Jemen

Als 1130 al-Āmir einem Mordanschlag durch nizāritische Fidā'īs zum Opfer fiel und Thronwirren ausbrachen, kam es zu einem weiteren Schisma innerhalb der ismailitischen Daʿwa. Im Jemen nutzte die sulaihidische Königin ʿArwa (reg. 1086–1138) die Gelegenheit, die fatimidische Oberhoheit abzuschütteln. Sie erkannte den zum Nachfolger erhobenen Vetter des Ermorderten nicht an und unterstützte einen Dāʿī, der die Lehre vertrat, dass al-Āmirs Sohn Abū l-Qāsim at-Taiyib, dessen Rechte in den Thronwirren übergangen worden waren, der wahre Imam sei. Er sei allerdings noch als Kind entrückt worden. Während der Verborgenheit des Imams sollte der absolute Dāʿī (dāʿī muṭlaq) als sein Stellvertreter die Leitung der Gemeinde übernehmen. Die Ismailiten, die dieser Lehre folgten, werden als Taiyibiten bezeichnet.

Auch die Nizāriten griffen in ihrer Lehre zunächst wieder auf das Modell der Ghaiba zurück und warben für einen verborgenen, anonymen Imam. Anders als die Taiyibiten wandten sie sich aber später von diesem Modell wieder ab und kehrten zum Konzept eines „anwesenden“ Imams zurück, denn Ende des 12. Jahrhunderts trat ein Vertreter der persischen Dāʿī-Dynastie, Muhammad II. (1166-1210), mit der Behauptung hervor, sein Vater und er selbst seien leibliche Nachkommen des Fatimiden Nizār und hätten somit auch Anspruch auf den Imam-Titel. Damit begründete er eine neue ismailitische Imam-Dynastie, die bis heute weiter existiert.

Der 53. Dāʿī Mutlaq der Dawudi-Bohras, Mufaddal Saifuddin

Die von 1130 an regierenden fatimidischen Kalifen wurden außerhalb des Reiches fast nirgendwo mehr anerkannt. Das einst so gewaltige Fatimidenreich schrumpfte in den folgenden Jahrzehnten endgültig auf Ägypten zusammen. Sein Ende kam, als der noch junge Saladin, ursprünglich ein Offizier im Dienste Nūr ad-Dīns (vgl. oben 8.2.2.), der im Rahmen einer militärischen Expedition nach Ägypten gekommen war, zum Wesir des fatimidischen Kalifen al-ʿĀdid berufen wurde. Er entmachtete seinen Herrn und führte 1171 Ägypten in die staatsrechtliche Sphäre des abbasidischen Kalifats zurück. Er kann somit gewissermaßen als Vollender der abbasidischen Restauration angesehen werden.

Zwar hat die Ismāʿīlīya als religiöse Gruppierung den Untergang des Fatimidenreichs überlebt, doch ist die vorher eingetretene Spaltung nie überwunden worden. Beide Richtungen, die Nizārīya und die Taiyibīya, bestehen indessen bis heute fort und haben eine zahlenstarke Anhängerschaft. Die Nizārīya blieb die vorherrschende Form der Ismāʿīlīya in Iran, Syrien sowie im Hindukusch (Nordpakistan, Afghanistan und Tadschikistan), während die Taiyibīya die vorherrschende Form der Ismāʿīlīya im Jemen blieb. Beide Gruppierungen missionierten ab dem 14. Jahrhundert in Nordwestindien, wo sie verschiedene hinduistische Händlerkasten (die Khojas bzw. Bohras) für ihre Form des Islams gewinnen konnten. Die Bohras spalteten sich allerdings Ende des 16. Jahrhundert noch einmal in verschiedene Gruppen auf, von denen die Dawudi Bohras heute mit ca. 5 Millionen Anhängern vor allem in Indien und Pakistan die zahlenmäßig bedeutendste bilden.

8.3. Der Einfluss der Schia auf den sunnitischen Islam

Ein Festumzug zum Prophetengeburtstag in Malaysia 2013

Zwar hat sich der Sunnismus in dem Zeitraum zwischen 930 und 1171 eigentlich als eine Abwehrbewegung gegen die schiitische Bedrohung herausgebildet, doch hat die Schia auch großen Einfluss auf den sunnitischen Islam ausgeübt. Er zeigt sich vor allem im Bereich des religiösen Alltagslebens. So ist zum Beispiel das im 11. Jahrhundert am Hof der Fatimiden eingeführte Geburtstagsfest des Propheten am 12. Rabīʿ al-auwal im 12. Jahrhundert auch von sunnitischen Herrschern übernommen worden. Der erste sunnitische Herrscher, der das Fest offiziell beging, war Nūr ad-Dīn Zengi, der bereits als Kämpfer gegen die Kreuzfahrer erwähnt wurde (vgl. oben 8.2.2.). In wenigen Jahrzehnten verbreitete sich der Brauch, den Geburtstag des Propheten zu feiern, über weite Teile der sunnitisch-islamischen Welt. Noch heute ist es eines der wichtigsten Feste im Bereich des sunnitischen Islams.

Ein weiterer Bereich, in dem die schiitische religiöse Praxis auf die Sunniten eingewirkt hat, ist die Verehrung der Gräber von als heilig erachteten Personen. Im schiitischen Islam ist die Praxis des Besuchs von Gräbern (Ziyārat al-qubūr) der Angehörigen der Prophetenfamilie schon seit dem siebten Jahrhundert belegt. Im 10. Jahrhundert entstand eine eigene Literatur von schiitischen Wallfahrtsbüchern, in denen die verschiedenen Gräber und die an ihnen auszuführenden Riten beschrieben wurden. Die bekanntesten schiitischen Wallfahrtsorte waren die Gräber von ʿAlī und Husain in Nadschaf und Karbalā' sowie später von Saiyida Nafīsa südlich von Kairo, über denen die Buyiden bzw. Fatimiden Mausoleen errichteten. Im 11. und 12. Jahrhundert verbreitete sich der Brauch des Gräberbesuchs zunehmend auch im Bereich des sunnitischen Islams, es wurde zum Beispiel üblich, den Haddsch nach Mekka mit einem Besuch (ziyāra) des Prophetengrabes in Medina zu verbinden. Und sunnitische Herrscher gingen dazu über, die Gräber von Persönlichkeiten des sunnitischen Islams auszubauen. Auch fingen Gelehrte jetzt an, Wallfahrtsführer speziell für sunnitische Gläubige, die Gräber besuchen wollten, abzufassen.

Schließlich kann man den Bereich der Heilpraktiken nennen. Seit der frühen Abbasidenzeit genoss die antike griechische Medizin, die überwiegend von christlichen Ärzten ausgeübt wurde, in den islamischen Ländern großes Ansehen. Gegen diese „heidnische“ Medizin machte sich ab dem 10. Jahrhundert Zeit eine islamische Abwehrreaktion bemerkbar. Zwei schiitische Gelehrte stellten in dieser Zeit eine Sammlung von Aussprüchen der Imame über Krankheit und Heilung zusammen, die als religiöse Alternative zu der griechischen Medizin dienen sollte. Dieses Konzept einer islamisch-religiösen Medizin wurde ein Jahrhundert später auch im sunnitischen Islam übernommen, allerdings bezog man sich hier allein auf den Propheten als therapeutisches Vorbild. Einer der ersten sunnitischen Gelehrten, der eine Spezialsammlung mit Traditionen zur prophetischen Medizin (ṭibb nabawī) zusammengestellt hat, war Abū Nuʿaim al-Isfahānī (gest. 1038). Hier wurden nacheinander die verschiedenen körperlichen und seelischen Krankheiten abgehandelt und jeweils angegeben, welche Arzneien und Gebete Heilung versprechen. Die „prophetische Medizin“ knüpfte an das an, was der Prophet über Krankheit und Heilung gelehrt hatte, stützte sich aber auch auf viele gefälschte Hadithe.

8.4. Die Entfaltung der islamischen Rechtstheorie

Der religiöse Wissenschaftszeig, der jetzt besonders aufzublühen begann und in dem sich die Gelehrten aller dieser Richtungen betätigten, war die Lehre von den „Grundlagen des Verstehens“ (Usūl al-fiqh), die sich mit den Quellen und methodischen Prinzipien der Normenfindung befasst. Zu den Gelehrten, die zu jener Zeit eigenständige Werke zu dieser Disziplin verfassten, gehörten die beiden Schafiiten al-Dschuwainī (gest. 1085) und al-Ghazālī (gest. 1111), die an Nizāmīya-Schulen tätig waren, und der Hanbalit Ibn ʿAqīl, der von 1066 bis 1072 den Lehrzirkel an der Hauptmoschee von Bagdad leitete. Innerhalb der Usūl al-fiqh wurden jetzt auch Verfahrensweisen für besonders knifflige Probleme entwickelt, so zum Beispiel für den Fall, dass zu einer Rechtsfrage zwei gleichartige, aber einander widersprechende Beweise vorlagen. In diesem Fall sollte Tardschīh betrieben werden, d.h. die beiden Beweise sollten anhand bestimmter Kriterien gegeneinander abgewogen werden, um denjenigen zu bestimmen, der das größere Gewicht hat.

Allgemein wurde es in dieser Zeit unter den sunnitischen Gelehrten üblich, die menschlichen Handlungen nach ihrem Verpflichtungsgrad in fünf Kategorien einzuteilen: 1. obligatorisch (wāǧib), 2. verboten (Harām), 3. empfohlen (Mandūb, auch Sunna), 4. verpönt (Makrūh) und 5. erlaubt (mubāḥ). Anders als bei den Muʿtaziliten und Imamiten setzte sich bei den Sunniten die Auffassung durch, dass eine wirkliche Verpflichtung des Menschen nicht durch Vernunft, sondern nur durch Koran und Sunna begründet wird.

8.5. Weiterführende Literatur

  • Paul E. Chevedden: “The Islamic Interpretation of the Crusade: A New (Old) Paradigm for Understanding the Crusades” in Der Islam 83 (2006) 90-136.
  • Mouhamed El-Hage: Die Medizin der Imame: ein Werk religiöser Medizin aus dem 10. Jahrhundert der Gebrüder Abū ʿItāb ʿAbdallāh und al-Husain bin Bistām bin Sābūr az-Zaiyāt. Berlin, HU, Dissertation 1998.
  • Erika Glassen: Der mittlere Weg. Studien zur Religionspolitik und Religiosität der späteren Abbasidenzeit. Wiesbaden 1981.
  • Frank Griffel: Apostasie und Toleranz im Islam: die Entwicklung zu al-Ġazālīs Urteil gegen die Philosophie und die Reaktion der Philosophen. Leiden 2000.
  • Heinz Halm: Kosmologie und Heilslehre der frühen Ismāʿīliyya. Eine Studie zur islamischen Gnosis. Wiesbaden 1978.
  • Carole Hillenbrand: The Crusades: Islamic Perspectives. Edinburgh 1999.
  • Nico Kaptein: Muḥammad’s birthday festival: early history in the central Muslim lands and development in the Muslim west until the 10th/16th century. Leiden 1993.
  • Joel L Kraemer: Humanism in the Renaissance of Islam. The Cultural Revival during the Buyid Age. Leiden 1986.
  • Joel L. Kraemer: Philosophy in the Renaissance of Islam. Abū Sulaimān as-Sijistānī and his circle. Leiden 1986.
  • George Makdisi: Ibn ʿAqīl: religion and culture in classical Islam. Edinburgh 1997.
  • Alex Metcalfe: Muslims and Christians in Norman Sicily: Arabic Speakers and the end of Islam. London 2003.
  • Tilman Nagel: Die Festung des Glaubens. Triumph und Scheitern des islamischen Rationalismus im 11. Jahrhundert. München 1988.
  • Irmeli Perho: The prophet’s medicine: A creation of the Muslim traditionalist scholars. Helsinki 1995.
  • Devin Stewart: Islamic Legal Orthodoxy. Twelver Shiite Responses to the Sunni Legal System. Salt Lake City 1998.
  • Speros Vryonis: The Decline of Medieval Hellenism in Asia Minor and the Process of Islamization from the Eleventh through the Fifteenth Century. Berkeley 1971.

8.6. Aufgaben/Fragen

1. Nennen Sie zwei spezifisch schiitische Feste und erklären Sie, auf welche historischen Ereignisse bei ihnen Bezug genommen wird.

2. Bis heute befinden sich in Oman und in verschiedenen Ländern Nordafrikas ibāditische Gemeinden. Erklären Sie, um was für eine Gruppierung es sich bei den Ibāditen handelt und wie sie in diese Gebiete gekommen sind.

3. Geben Sie einen kurzen Überblick über die Geschichte des Islams in Iran bis zum 12. Jahrhundert.

4. Nennen Sie wichtige Grundlehren, auf die sich sunnitische Identität stützt.

5. Welche Rolle spielte die Philosophie in der Geschichte des Islams bis zum 12. Jahrhundert und wie wurde sie von den muslimischen Gelehrten beurteilt?

6. Erklären Sie, wie das Drusentum entstanden ist.

7. Nennen Sie die drei wichtigsten islamischen Feste und geben Sie Hintergrundinformationen zu ihrer Entstehung.

8. Geben Sie einen kurzen Überblick über die Geschichte der Ismāʿīlīya und ihre Lehren.