Bamberger Einführung in die Geschichte des Islams (BEGI) 10

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10. Das osmanische Supremat und der Aufstieg der Wahhabiten (1517-1813)

Die Islamisierung auf dem Balkan und in Südostasien schreitet weiter voran. Zur neuen islamischen Supermacht steigt das Osmanische Reich auf, mit klar sunnitischer Ausrichtung. Der Safawiden-Staat bildet dazu einen schiitischen Gegenspieler. Der Versuch im indischen Mogulreich, eine neue religionsübergreifende Lehre zu gründen, scheitert. In Arabien entsteht als neue rigoristische Richtung des Islams das Wahhabitentum.

10.1. Die Zeit des osmanischen Supremats (1517-1803)

10.1.1. Das Osmanische Reich: die neue islamische Supermacht

Erwerbungen des Osmanischen Reiches bis 1683

Sultan Selīm I. (1512-1520) und seinem Sohn Süleymān I (1520-1566) gelang es, den osmanischen Staat endgültig als Weltreich zu etablieren. Die Anerkennung ihrer Oberherrschaft durch die Scherifen von Mekka, eine Herrscherfamilie, die einen prophetischen Stammbaum aufzuweisen hatte, brachte den Osmanen großes Prestige ein. 1520 unterstellte auch der türkische Korsar Chair ad-Dīn Barbarossa seine Eroberungen in Algerien den Osmanen. Um die Mitte des Jahrhunderts konnten die Osmanen auch Nubien mit Dotawo unter ihre Kontrolle bringen. Ende des 16. Jahrhunderts erreichte das Osmanische Reich seinen militärischen Höhepunkt: Mit seinen Vasallenstaaten zusammen umfasste es zu dieser Zeit Anatolien, den gesamten Balkan, die Länder des Vorderen Orients, den Hedschas, Jemen, ganz Nordafrika, Teile des Kaukasus, sowie große Teile Osteuropas.

Harar, im frühen 16. Jahrhundert Hauptstadt des Sultanats von Adal, ist heute Zentrum des Islams von Äthiopien

Im Indischen Ozean unterstützten die Osmanen mit ihren Flotten die Sultanate von Gujarat (Nordwestindien), Adal (Ostafrika) und Aceh (Südostasien) bei deren Kampf gegen die christliche Kolonialmacht Portugal. Das im 15. Jahrhundert südlich des Golfs von Aden entstandene Sultanat Adal, das sich über den gesamten Ostteil des heutigen Äthiopiens sowie Eritrea, Somaliland und Dschibuti erstreckte, trieb in dieser Zeit die Islamisierung am Horn von Afrika voran. Hauptstadt des Sultanats war ab 1520 Harar, das sich in der Folgezeit zum ökonomischen, kulturellen und religiösen Zentrum des ostafrikanischen Islams entwickelte. 1527 begann Sultan Ahmad ibn Ibrāhīm al-Ghāzī, der sich selbst als Imam bezeichnete, mit osmanischer Unterstützung von Adal aus einen Dschihad gegen das christliche Kaiserrreich der Amhara, der zur kurzzeitigen islamischen Eroberung fast des gesamten Gebietes führte, das heute zu Äthiopien gehört. Eine Langzeitfolge dieser Episode islamischer Vorherrschaft war die Konversion vieler Christen in Nord- und Zentral-Äthiopien zum Islam.

Auch in anderen Gebieten trug die osmanische Politik zur Verbreitung des Islams bei. 1537 verfügte Süleymān, dass in jedem Dorf des Reiches eine Moschee errichtet werden sollte. Durch die Eroberung von Nubien wurde die Islamisierung des östlichen Sudan eingeleitet. Um 1600 gingen die Herrscher der hier bestehenden Reiche von Sennar und Darfur zum Islam über. Auch die Islamisierung auf dem Balkan setzte sich fort. In Bosnien, wo schon ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung zum Islam übergetreten war, kam es Ende des 16. Jahrhunderts zu einer Verdeckung der christlichen Herkunft der Konvertiten und ihrer stärkeren konfessionellen Absonderung von den Christen. Albanien erlebte im 17. Jahrhundert und Anfang des 18. Jahrhunderts Massenübertritte zum Islam als Folge osmanischer Maßnahmen gegen aufständische Christen, die mit dem Kriegsgegner Venedig zusammengearbeitet hatten. Seither ist der Islam die Religion der Bevölkerungsmehrheit in Albanien. Aber auch in vielen anderen Regionen des Balkans kam es in dieser Zeit zu Konversionen größeren Ausmaßes. Christen und Juden, die zum Islam konvertierten, erhielten im 17. Jahrhundert vom osmanischen Sultan sogar eine finanzielle Belohnung, den sogenannten kisve bahası.

Idealisierte Darstellung der Heiligen Moschee in Mekka aus dem 18. Jahrhundert

Zentral für das politisch-religiöse Selbstverständnis der osmanischen Sultane war ihr Titel Diener der beiden Heiligen Stätten, den sie seit 1517 führten. Dieses Selbstverständnis kam nicht nur in umfangreichen Subsidienleistungen an die Bewohner von Mekka und Medina zum Tragen, sondern auch in ambitionierten Bauprojekten wie der Verlängerung der ʿAin-ʿArafāt-Wasserleitung nach Mekka (1562–1572), der Errichtung der Madāris Sulaimānīya (1565–70) und dem Ausbau der Heiligen Moschee (1571–1577). Wie die Mamluken schickten die Osmanen jährlich von Kairo aus mit der Pilgerkarawane einen Mahmal nach Mekka. Darüber hinaus ließen sie jährlich in Ägypten eine neue Kiswa für die Kaaba anfertigen und nach Mekka schicken. 1630 wurde auch die Kaaba neu errichtet, nachdem diese bei einer Sturzflut eingestürzt war. Der heutige Bau stammt aus dieser Zeit. In gleicher Weise engagierten sich die Osmanen auch in Jerusalem. Unter Süleymān kam es zu einer Restauration des Felsendoms, bei dem die Außenwände des Baus mit Fayencen ummantelt wurden.

Ähnlich wie zuvor die Mamluken verstanden sich die Osmanen auch als Vorkämpfer des sunnitischen Islams. Hierbei propagierten sie einen Ausgleich zwischen den beiden theologischen Schulen der Aschʿarīya und Māturīdīya. In einer militärischen Frontstellung befanden sie sich nicht nur gegenüber den christlichen Mächten Europas, sondern auch gegenüber den schiitischen Safawiden, die ihr Reich immer wieder in Richtung Westen auszudehnen versuchten. Die Osmanen betrachteten die Kizilbasch, auf die sich die Safawiden stützten, noch im 16. Jahrhundert als Ungläubige und rechtfertigten den Kampf gegen sie als Dschihad. Zwar förderten sie wie die Mamluken die sunnitische Gelehrsamkeit, doch setzten sie im Unterschied zu ihnen das Vier-Madhhab-System nicht fort. Nur in den arabischen Provinzen bestand weiter Madhhab-Pluralismus, doch hatte der hanafitische Madhhab im gesamten Osmanischen Reich eine Vorrangstellung. Der Schaich al-islām von Istanbul war grundsätzlich Hanafit, und auch in den arabischen Provinzen war die Aufsicht über das Justizwesen hanafitischen Qādīs anvertraut. Im Rechtssystem kam es durch eine stärkere Einbeziehung des Gewohnheitsrechts, den häufigen Rückgriff auf das Prinzip der Notwendigkeit sowie den Bedeutungszuwachs von pragmatischen Fiqh-Maximen zu einer schleichenden Säkularisierung.

Semah-Tanz von Mevlevī-Derwischen in Pera, Kupferstich in einem Reisebericht von Frederick Calvert (1769)

Auf sufischer Ebene herrschte im Osmanischen Reich große Vielfalt. Zu den spezifisch osmanischen Orden gehörten der Chalwatī-, der Mevlevī- und der Bektāschī-Orden. Der Chalwatī-Orden, der sich in dieser Zeit in zahlreiche Zweigorden aufgliederte, war vor allem unter den städtischen, „staatstragenden“ Schichten des Osmanischen Reiches verbreitet. Eine Besonderheit des Mevlevī-Ordens, der nach dem Titel Mevlānā („unser Meister“) des türkisch-persischen sufischen Dichters Dschalāl ad-Dīn Rūmī (gest. 1273) benannt ist, ist die in ihm als Andachtsform gepflegte Tradition des mystischen Tanzes (semah von arab. samāʿ, eigtl. „Musikhören“). Im Westen sind die Mevlevis deswegen auch als „Tanzende Derwische“ bekannt geworden. Die Scheiche des Mevlevī-Ordens erhielten 1648 das Recht, bei der Inthronisation der osmanischen Sultane dem Herrscher das Schwert umzugürten. Im Bektāschī-Orden, der synkretistisch ausgerichtet war und christlichen Lehren nahestand (u.a. weist die Heiligenlegende über Hāddschi Bektāsch Ähnlichkeit mit der Jesusgeschichte auf), fanden viele Christen, die auf dem Balkan zum Islam konvertierten, eine neue religiöse Heimat.

Kalligraphisches Panel aus Bektāschī-Kreisen mit dem arabischen Schriftzug علي ولي الله ʿAlī walī Allāh, „ʿAlī, der Freund Gottes“ in spiegelbildlicher Ausführung, 18. Jahrhundert.

Der Bektāschī-Orden war außerdem für die Integration der schiitischen Kizilbasch, die eine der wichtigsten religiös-politischen Oppositionsgruppen im Osmanischen Reich bildeten und nach verschiedenen Aufständen (vgl. oben 9.2.7.) von den Osmanen grausam verfolgt wurden, von großer Bedeutung. Indem sich die Kizilbasch strukturell an den Bektāschī-Orden anlehnten, fanden sie ihren Platz im religiösen System des Osmanischen Reiches und konnten sich mit diesem Staat arrangieren. Vom Bektāschī-Orden übernahmen die Kizilbasch auch verschiedene Riten, so vor allem die Cem-Zeremonie (von arab. ǧamʿ = Versammlung), einen Festgottesdienst mit zwölf Ämtern, an dem Männer und Frauen teilnehmen, bei dem Musik und Tanz in Form des Semah eine wichtige Rolle spielen und teilweise auch Alkohol getrunken wird. Umgekehrt erlebte der Bektāschī-Orden durch die Verbindung mit den Kizilbāsch eine Schiitisierung: ʿAlī ibn Abī Tālib stieg zu einer zentralen Bezugsgestalt des Ordens auf und schiitische Feste wie der ʿĀschūrā-Tag erhielten in ihm ebenfalls eine wichtige Bedeutung. Für diejenigen Gruppierungen im Osmanischen Reich, die in ihrer Religiosität auf ʿAlī ibn Abī Tālib ausgerichtet waren, wurde ab dem 16. Jahrhundert die Bezeichnung „alevitisch“ (ʿalevī) geläufig.

Muslime aus Anatolien und vom Balkan trugen die drei genannten sufischen Orden in dieser Zeit auch in die unter osmanischer Herrschaft stehenden arabischen Länder des Vorderen Orients. Besondere Protektion im Osmanischen Reich genossen außerdem die Lehren Ibn ʿArabīs. Als Selīm 1517/18 von seinem Ägyptenfeldzug nach Syrien zurückkehrte, befahl er die Wiedererrichtung des Mausoleums von Ibn ʿArabī in Damaskus. Bei derselben Gelegenheit gab Ibn Kamāl Pascha, der spätere Schaich al-Islām des Reiches, ein Rechtsgutachten ab, das die Kritik an den Lehren Ibn ʿArabīs unter Strafe stellte. Der mekkanische Gelehrte Ibn Hadschar al-Haitamī (gest. 1567) erklärte in einer Fatwa, dass Ibn Taimīya wegen seiner Angriffe auf Ibn ʿArabī und andere Sufis als Ketzer (mubtadiʿ) anzusehen sei. Ibn ʿArabī selbst wurde eine Art osmanischer Nationalheiliger. Der indische Gelehrte Qutb ad-Dīn an-Nahrawālī (gest. 1582) verbreitete in Mekka die Auffassung, dass es der Geist Ibn ʿArabīs gewesen sei, der den Osmanen zur Herrschaft über die Araber verholfen habe.

10.1.2. Der Safawiden-Staat als schiitischer Gegenspieler

Karte mit den Dekkan-Sultanaten Ahmadnagar, Bijapur und Golkonda, die im 16. Jahrhundert zusammen mit dem Safawiden-Staat zur Zwölfer-Schia übergingen.

Das zweite islamische Großreich der Zeit war dasjenige der Safawiden (vgl. oben 9.2.7.). Durch ihre betont schiitische Ausrichtung erlebte die islamische Welt in dieser Zeit eine neue Phase der Konfessionalisierung. In Süd- und Südostasien führten im 16. Jahrhundert noch zwei Herrscherhäuser ebenfalls die Zwölfer-Schia als offizielle Richtung ein, die Nizām-Schāhīs von Ahmadnagar (1522) und die Sultane von Pajang in Zentral-Java (1548). Bei dem Übergang dieser Herrscherhäuser zur Schia spielten aus dem Safawidenreich eingewanderte Gelehrte eine wichtige Rolle. Die Osmanen und Usbeken schärften umgekehrt im Angesicht der Bedrohung durch die schiitischen Safawiden ihr Profil als sunnitische Mächte. Chorasan und der Irak mit den heiligen Stätten der Schiiten wurden zu den wichtigsten Schlachtfeldern innerhalb dieses konfessionellen Konflikts, der Ähnlichkeiten mit den Konflikten Europas im Zeitalter des Konfessionalismus aufweist.

Das Reich der Safawiden

Die Durchsetzung der Schia als Staatsreligion war in Iran allerdings zunächst problematisch: man hatte gar nicht genügend Personal dafür und musste deswegen schiitische Gelehrte aus dem Ausland importieren. Einer der wichtigsten dieser importierten schiitischen Gelehrten war al-Karakī (1466-1534) aus der libanesischen Bekaa-Ebene. Er erhielt unter Schah Tahmāsp (reg. 1524-1576) die Vollmacht, überall in Iran schiitische Vorbeter für das Freitagsgebet einzusetzen. Infolge der Förderung durch die Safawiden formierte sich in Iran ein Stand von zwölfer-schiitischen ʿUlamā', und gleichzeitig begann sich der Charakter der safawidischen Herrschaft unter dem Einfluss ebendieser Gelehrten zu wandeln: die extremen Vorstellungen der Kizilbasch wurden gebändigt, der „Übergang von der Volksschia zur Hochschia“ (E. Glassen) zeichnete sich ab. Die wichtigste juristisch-theoretische Literatur der Zwölfer-Schia, die – da in Arabisch abgefasst – der Mehrheit der iranischen Bevölkerung nicht zugänglich war, wurde auf Geheiß von Tahmāsp ins Persische übersetzt; auf diese Weise wurde die Schiitisierung der Bevölkerung Irans beschleunigt.

Al-Karakī war ein Vertreter der rationalistischen Schule, die auf die Gelehrten von al-Hilla zurückgeht (vgl. oben 9.2.7.) und auch als Usūlīya bezeichnet wird. Die Anhänger der Usūlīya waren Befürworter des Idschtihād, allerdings erkannten sie das Recht zu seiner Ausübung nicht jedem zu, sondern nur denjenigen, die sich durch eine Ausbildung mit den Usūl al-fiqh, den allgemein anerkannten Normenfindungsprinzipien, vertraut gemacht hatten. Der Mudschtahid, derjenige, der über diese Kenntnisse verfügt, ist nach der Lehre der Usūlīya an keine Lehrmeinungen früherer Autoritäten gebunden. Während der Zeit der Verborgenheit des zwölften Imams gilt er als dessen Bevollmächtigter, und die einfachen Gläubigen sind ihm gegenüber zum Taqlīd und zur Abgabe des Fünften (ḫums) verpflichtet, eine Art schiitischer Einkommenssteuer, die auf den Koran (Q 8:41) zurückgeführt wird. Durch das Wirken al-Karakīs wurden die Prinzipien der Usūlīya in Iran heimisch.

In der Regierungszeit von Schah ʿAbbās I. (reg. 1587-1629), der Isfahān zu seiner Residenz machte und das Safawidenzeit zu seiner größten Blüte führte, begannen die Gelehrten der Usūlīya das Feld zu behaupten. Die safawidischen Herrscher im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts setzten dagegen auf die Achbārīya. Hierbei handelt es sich um eine traditionalistische Schule, die ihren Namen von den aḫbār, den Nachrichten über die Imame (vgl. 8.1.1.2.) hat, und gewissermaßen eine Gegenströmung zur Usūlīya darstellt. Die Vertreter der Achbārīya, verwarfen den Idschtihād und wollten nur dem überlieferten Wort des Koran, des Propheten und der Imame Autorität zuerkennen. 1687 wurde der Achbārī-Gelehrte Muhammad Bāqir al-Madschlisī zum Schaich al-Islām von Isfahan berufen und erhielt weitreichende Vollmachten zur Durchsetzung von Maßnahmen gegen religiöse Abweichler. Al-Madschlisī betrieb als eine Art Großinquisitor die Säuberung Irans von Sufik, Philosophie und Gnosis. Bekannt geworden ist er vor allem durch seine monumentale Enzyklopädie Bihār al-anwār, die in ihrer gedruckten Ausgabe 110 Bände umfasst und in der er das gesamte Korpus schiitischer Traditionen (Hadithe und aḫbār) neu arrangiert hat.

Auf der Ebene der religiösen Volkskultur kam während der Safawidenzeit als neues zwölfer-schiitisches Ritual das rauża-ḫānī, die „Rauża-Rezitation“, auf. Bei diesem öffentlichen Trauerritual, das während des ganzen Jahres stattfinden kann, werden Gedichte zum Gedenken an das Leiden Husains und anderer schiitischer Märtyrer vorgetragen. Abgeleitet ist der Begriff von dem 1502 abgefassten poetischen Werk Raużat aš-šuhadāʾ („Garten der Märtyrer“), dem Prototyp dieser Gattung von schiitischen Trauergedichten. Verfasser war Wā'iz Kāschifī, ein Dichter, der am Hof des Timuriden Husain Bāyqarā in Herat tätig war, der mit der Schia sympathisierte (vgl. oben 9.2.7.).

10.1.3. Das Mogulreich und das Projekt des Dīn-i ilāhī

Einen sehr eigenen Weg in der Religionspolitik schlugen die Herrscher der indischen Dynastie der Moguln ein, die auf den Timuriden Bābur zurückgeht. Er eroberte Anfang des 16. Jahrhunderts das Gebiet des heutigen Afghanistans, unternahm von dort aus in den Folgejahren mehrere Expeditionen nach Indien und schlug 1526 in der Schlacht bei Panipat den letzten Lodi-Sultan, womit das Sultanat von Delhi endgültig unterging. Bāburs Enkel Akbar (reg. 1556-1605) eroberte in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ganz Nordindien einschließlich Bengalen, Kaschmir, Gujarat, Sindh und Belutschistan und schuf ein neues Großreich multireligiösen Charakters. Als Hauptstädte dienten ihm Agra, die in dessen Nähe neu errichtete Residenzstadt Fathpur Sikri und Lahore.

Der Mogulherrscher Akbar in seinem ʿIbādat-Chāna bei der Durchführung religiöser Diskussionen, an denen auch Jesuiten (in Schwarz) teilnahmen, Illustration des Akbar-nāma von ca. 1600

Akbars persönliche religiöse Neugier, die Ablehnung seiner Dynastie durch das muslimische Establishment von Delhi und sein Wunsch, die dauerhafte Unterstützung eines möglichst großen Anteils der politischen und militärischen Eliten Südasiens zu gewinnen, brachten ihn dazu, eine neuartige, über den Islam hinaus weisende Religionspolitik zu entwickeln. Ab 1575 ließ er in seinem ʿIbādat-Chāna („Haus der Anbetung“) in Fathpur Sikri Diskussionen unter muslimischen Gelehrten durchführen, zu denen im Laufe der Zeit immer mehr Angehörige anderer Religionen zugelassen wurden. 1579 hob Akbar die Dschizya-Steuer auf, womit er Muslime und Nicht-Muslime in seinem Reich faktisch gleichstellte. In einem im gleichen Jahr verkündeten offiziellen Protokoll (maḥḍar), das alle muslimischen Teilnehmer seiner Diskussionrunden im ʿIbādat-Chāna unterschreiben mussten, wurde er zum obersten Mudschtahid und damit zur höchsten Autorität bei allen religiösen Streitfragen erhoben. An die Stelle des Islams als Religion des Staates trat spätestens ab 1581 die pluralistische Doktrin des Sulh-i kull („Frieden mit allen“), die Toleranz gegenüber allen im Reich vertretenen religiösen Gruppen vorsah. Mit Rücksicht auf die hinduistische Bevölkerung schränkte Akbar ab 1582 außerdem den Verkauf von Rindfleisch ein. In demselben Jahr proklamierte er den Dīn-i ilāhī („göttliche Religion“), eine neue auf ihn selbst orientierte Religion, die Glaubenselemente aus verschiedenen im Reich vertretenen religiösen Traditionen (schiitischer und sunnitischer Islam, Hinduismus, Parsismus) integrierte. Von seiner Organisationsform glich der Dīn-i ilāhī einem sufischen Orden: der Herrscher stand als spiritueller Meister (Pīr) an der Spitze, die Mitglieder wurden als Murīden bezeichnet, in einem Ritual initiiert und hatten im Laufe der Zeit vier Stufen der „Loyalität“ (iḫlāṣ) zu durchschreiten, über die sie ihr Leben ganz in den Dienst ihres Herrn stellten. Als Beweis ihrer Mitgliedschaft erhielten sie eine Medaille mit dem Abbild des Herrschers, die dann am Turban oder an einer Halskette getragen wurde. Als Gruß unter den Anhängern der Dīn-i ilāhī diente der Takbīr, also die Formel Allāhu akbar, die eigentlich „Gott ist größer“ bedeutet, aber nun auch als „Gott ist Akbar“ verstanden werden konnte. Die bevorstehende islamische Jahrtausendwende – das Jahr 1000 der Hidschra begann am 18. Oktober 1591 – brachte mit sich, dass sich auch chiliastische Vorstellungen an Akbar hefteten. Im Jahre 1584 wurde die Islamische Zeitrechnung im Mogulreich abgeschafft und eine neue Ilāhī-Zeitrechnung eingeführt, die sich nach dem Sonnenkalender richtete und Akbars Thronbesteigung im Jahre 1556 zum Ausgangspunkt nahm.

Nicht wenigen muslimischen Gelehrten in Indien war diese Religionspolitik Akbars, die unter seinem Sohn und Nachfolger Dschahāngīr (reg. 1605-1627) im Prinzip unverändert fortgesetzt wurde, ein Dorn im Auge. An ihre Spitze stellte sich Anfang des 17. Jahrhunderts der Naqschbandī-Gelehrte Ahmad Sirhindī (gest. 1624). Der Naqschbandī-Orden hatte erst wenige Jahre früher in Indien Fuß gefasst und eine sehr nüchterne Ausrichtung erhalten. Die Begeisterung für die Wahdat-al-wudschūd-Lehre war einer Orientierung hin zur Wahdat asch-schuhūd-Lehre gewichen. Sirhindī kritisierte in seinen Schriften heftig die Religionspolitik Akbars und Dschahāngīrs und forderte darin eine stärkere Ausrichtung der Politik an der Scharia. Aufgrund dieser Oppositionshaltung gegen die Abweichung von islamischen Herrschaftsprinzipien wird Sirhindī von vielen Muslimen bis heute als der Erneuerer (Mudschaddid) des zweiten islamischen Jahrtausends betrachtet.

Das Mogulreich um 1700

Unter dem Eindruck der Kritik von Anhängern Sirhindīs, die im Laufe des 17. Jahrhunderts größeren Einfluss am Mogulhof erhielten, wandten sich die nachfolgenden Herrscher der Dynastie, Schāh-Dschahān (reg. 1628-1658) und Aurangzeb (reg. 1658-1707), von dem Projekt des Dīn-i ilāhī ab und gaben sich wieder als betont islamische Herrscher. Unter Aurangzeb, der auch den Dschihad wiederaufnahm, erreichte das Mogulreich seine größte Ausdehnung und umfasste fast den gesamten indischen Subkontinent. Ein Onkel des Herrschers eroberte 1666 die zu dem buddhistischen Königreich Arakan gehörende Stadt Chittagong. Umbenannt in Islāmābād und ausgestattet mit einer Freitagsmoschee, wurde sie zum Ausgangspunkt der Islamisierung der südlichen Gebiete des heutigen Staates Bangladesch. Im Inneren seines Reiches führte Aurangzeb eine ganze Anzahl von Maßnahmen durch, die ein weiteres Verschmelzen hinduistischer und islamischer Praktiken verhindern sollten. So ließ er zum Beispiel alle wichtigen Provinzen und Städte des Reiches mit Muhtasibs ausstatten. Sie hatten vor allem die Aufgabe, das islamische Alkoholverbot durchzusetzen und sufische Musikdarbietungen zu unterbinden. In einigen Gebieten erhielten sie auch den Auftrag, Hindu-Tempel zu zerstören und an ihrer Stelle Moscheen zu errichten.

Der große Imambara von Lucknow, der für die schiitischen Trauerfeierlichkeiten im Muharram errichtet wurde.

Nach dem Niedergang des Moghulreichs im frühen 18. Jahrhunderts entstanden in Indien mehrere Vizekönigreiche, die die Fiktion der Ernennung durch den Moghulkaiser bewahrten, obwohl sie ihre Nachfolge unabhängig von ihm regelten: der Staat der Nizāms von Hyderabad, die Vizekönigreiche Awadh und Bengalen. Unter den Nawābs (wörtl. „Gouverneure“) von Awadh, die selbst aus Iran stammten und Zwölferschiiten waren, entwickelte sich die Hauptstadt Lucknow zu einem wichtigen Kulturzentrum des schiitischen Islams. Hier wurde auch eine ganz eigene Art religiöser Bauwerke erfunden, die für die Zwölfer-Schiiten Indiens typisch geworden ist: der Imambara. Es handelt sich um ein Gebäude, das allein für die Trauerzeremonien zum Gedenken an den Tod Husains im Monat Muharram (vgl. oben 5.3.1.) benutzt wird. Der erste Imambara wurde 1784 in Lucknow errichtet, heute finden sich derartige Gebäude jedoch noch an sehr vielen anderen Orten Indiens und Pakistans.

10.1.4. Die fortschreitende Islamisierung im Malaiischen Archipel

Das Sultanat von Aceh im frühen 17. Jahrhundert
Ein Surau in Westsumatra

Nachdem 1511 Malakka von den Portugiesen erobert worden war, beanspruchte das im Süden der Malaiischen Halbinsel gelegene Sultanat von Johore, wohin sich der letzte Sultan von Malakka hatte retten können, das Erbe Malakkas zu verwalten. In dem im Jahre 1511 gegründeten Sultanat von Aceh an der Nordspitze Sumatras erwuchs ihm jedoch ein starker Konkurrent. Aceh entwickelte sich im Laufe des 16. Jahrhunderts zur wichtigsten muslimischen Handelsmacht im Malaiischen Archipel sowie auch zu einem bedeutenden Zentrum islamischer Gelehrsamkeit. Eine historische Besonderheit von Aceh ist, dass hier zwischen 1641 und 1699 nacheinander vier Frauen als Sultaninnen herrschten. Durch intensive Wallfahrtstätigkeit seiner Gelehrten stand dieser Ort in besonders enger Verbindung zu den Heiligen Stätten in Mekka und Medina. Bei der Verbreitung des Islams in Sumatra spielte der Schattārīya-Orden eine sehr wichtige Rolle. Er geht auf den aus Gujarat stammenden Scheich Sibghatallāh (gest. 1606) zurück, der den Orden Ende des 16. Jahrhunderts in Indien gründete. In den 1660er Jahren wurde der diesem Orden angehörende Scheich ʿAbd ar-Ra'ūf as-Singkilī zum Ober-Qādī und Mufti am Hof von Aceh berufen. Burhān ad-Dīn, ein Schüler von ihm, trug den Islam zu den matrilinear organisierten Minangkabau auf Westsumatra. Zu den zentralen Institutionen des sozio-religiösen Systems der Minangkabau in vorislamischer Zeit gehörten die Suraus, Häuser, die der Ahnenverehrung dienten und in denen Männer zusammen lebten und lernten. Ende des 17. Jahrhunderts gründete Burhān ad-Dīn in der Küstenstadt Ulakan den ersten islamischen Surau. Er entwickelte sich zu einer der wichtigsten islamischen Bildungseinrichtungen bei den Minangkabau und wurde zum Modell für viele andere Einrichtungen dieser Art.

Das Sultanat von Banten im 17. Jahrhundert

Für die Geschichte Javas war von sehr großer Bedeutung, dass 1527 der Sultan von Demak (vgl. oben 9.2.4.) Majapahit, das letzte größere hindu-buddhistische Königreich Javas, vernichtete. Bis 1550 brachte Demak die wichtigsten nordjavanischen Städte von Malang im Osten bis Cirebon im Westen unter seine Kontrolle. Im Auftrag des Sultans von Demak brach 1524 der muslimische Kämpfer Sunan Gunungjati mit Streitkräften über See zu der westjavanischen Hafenstadt Banten auf und brachte sie in seine Gewalt. Seine Nachkommen, die Sultane von Banten, konnten 1579 den letzten Rest des hinduistischen Pajajaran-Reiches erobern, ihre Herrschaft bald auch auf Süd-Sumatra und Teile Borneos ausdehnen und ein ausgedehntes Handelsnetzwerk aufbauen, das bis an die Küsten Südostafrikas reichte. Die muslimischen Herrscher, die im frühen 16. Jahrhundert den Islam durch Predigt und Kampf über die nördlichen Küstengebiete Javas hinaus im Inland verbreiteten, werden bis heute in Java als die „Neun Gottesfreunde“ (Wali Songo) verehrt.

Das Sultanat von Mataram im 17. Jahrhundert

Ende des 16. Jahrhunderts entstand in Zentral-Java als ein weiterer muslimischer Staat das Reich von Mataram. Seine Herrscher legten einerseits auf eine islamische Legitimation Wert, sahen sich aber auch in der Nachfolge des altjavanischen Reichs von Mataram. Unter Sultan Agung (reg. 1613–1646) erreichte dieses neue Mataram-Reich den Höhepunkt seiner Macht: es umfasste nicht nur fast das gesamte Mittel- und Ost-Java, sondern nahm auch Teile Borneos, Süd-Sumatras und Ost-Indonesiens ein. Wie brüchig das Verhältnis zwischen dem Hof und den Vertretern des Islams allerdings tatsächlich war, zeigt die Ermordung von – wie die Berichte sagen – 6.000 islamischen Lehrern (kyai) durch Agungs Sohn und Nachfolger Amengku Rat I (reg. 1646–1677). Für die weitere Verbreitung des Islams auf Java waren ab dem 18. Jahrhundert die sogenannten Pesantren-Schulen von großer Bedeutung. Hierbei handelte es sich um von Kyais in Dörfern errichtete Internatsschulen, in denen die Schüler für längere Zeit mit ihren Lehrern lebten, um eine religiöse Ausbildung zu erhalten, wobei sie als Gegenleistung ihren Lehrer beim Erwerb seines Lebensunterhaltes unterstützten.

Wetu-Telu-Moschee in Bayan, Lombok

Um 1605 ging auch das Doppelreich von Gowa und Tallo im Süden der Insel Sulawesi zum Islam über. Der Sultan von Gowa führte bis 1611 gegen die benachbarten buginesischen Königreiche eine Reihe von Kriegen, eroberte sie und zwang ihre Herrscher, ebenfalls zum Islam überzutreten. Von Sumatra und Java aus gelangten auf friedlichem und militärischem Weg außerdem Ost- und Südostborneo sowie die Kleinen Sundainseln unter islamischen Einfluss. Auf Lombok bildete sich die islamisch-animistische Mischreligion Wetu Telu heraus. Allein Bali blieb hindu-buddhistisch.

Wie in vielen anderen Gebieten der islamischen Welt gab es bei den Muslimen des malaiischen Archipels Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern der Wahdat-al-wudschūd-Lehre (Wudschūdīya genannt) und denjenigen, die die abgeschwächte Wahdat asch-schuhūd-Lehre befürworteten (Schuhūdīya; vgl. oben 9.2.6.). In Aceh waren diese Auseinandersetzungen besonders heftig und bestimmten auch das Geschehen am Herrscherhof. Während Sultan Iskandar Muda (reg. 1607-1636), unter dessen Herrschaft das Aceh-Sultanat seine größte Ausdehnung erreichte, die Anhänger der Wudschūdīya an seinen Hof zog, kam unter seinem Nachfolger der aus Gujarāt in Indien stammende Wudschūdīya-Gegner Nūr ad-Dīn ar-Ranīrī zum Zuge, der die Bücher der Wudschūdīya öffentlich verbrennen und ihre Schüler hinrichten ließ. Ar-Rānīrī hielt vor allem die wudschūditische Lehre von den Aʿyān thābita (siehe oben 9.2.6.) für Ketzerei. Ar-Rānīrī meinte, dass die Wudschūdīs, indem sie diesen eine eigene Existenz zuschrieben, das islamische Dogma des Tauhīd verletzten. 1643, nachdem eine Frau die Herrschaft im Sultanat übernommen hatte, erhielt wieder die andere Partei politisch Oberwasser, und ar-Rānirī musste nach Gujarāt fliehen. Um den Streit zwischen den Wudschūdīs und den Schuhūdīs zu schlichten, wurde schließlich in den 1660er Jahren der eben erwähnte Scheich ʿAbd ar-Ra'ūf as-Singkilī zum Oberqādī und Mufti von Aceh berufen. Er setzte sich in dem Streit zwischen den beiden Lagern für einen mittleren Weg ein, der auf die religiösen Besonderheiten der Region Rücksicht nahm.

10.1.5. Das scherifische Legitimationsmodell

Anders als die Mamluken setzten die Osmanen im 16. Jahrhundert nicht mehr auf eine Legitimation durch die abbasidischen Kalifen. Der letzte Kalif wurde nach der osmanischen Eroberung Kairos nach Istanbul verschleppt und dort inhaftiert. Zwar trat in den 1530er Jahren der osmanische Großwesir Lutfī Pascha mit der Behauptung auf, der letzte Abbaside habe den Kalifentitel nach der Eroberung Ägyptens auf den osmanischen Sultan Selīm übertragen, doch haben die Osmanen diesen Anspruch auf das Kalifat nicht weiterverfolgt, weil von islamischen Gelehrten der Einwand kam, dass sie aufgrund ihrer Nicht-Zugehörigkeit zu den Quraisch eine der Voraussetzungen für die Übernahme des Kalifats nicht erfüllten. Das Erbe der abbasidischen Kalifen als Legitimationsfiguren traten gewissermaßen die Scherifen von Mekka an. Den wichtigsten Vertretern dieser Herrscherfamilie machten die Osmanen bei der jährlichen Pilgerfahrt große Geschenke und statteten sie mit Ehrengewändern aus. Auch auf internationaler Ebene erfüllten die Scherifen von Mekka teilweise die Rolle der abbasidischen Schattenkalifen. So ließen sich zum Beispiel im 16. und 17. Jahrhundert die Herrscher von Banten, Mataram und Gowa ihren Sultanstitel vom herrschenden Scherifen verleihen. Und als 1770 der ägyptische Mamluke Ali Bey al-Kabir gegen die osmanische Oberherrschaft rebellierte, setzte er einen eigenen Kandidaten als Scherifen von Mekka ein, der ihn anschließend als „Sultan von Ägypten“ bestätigte.

Das Saadier-Reich nach den Eroberungen von Ahmad al-Mansūr (um 1591)

Auf das scherifische Legitimationsmodell griff man in der Frühen Neuzeit auch auf dem Gebiet des westlichen Maghreb zurück. Allerdings gab es hier eigene scherifische Familien, die für sich prophetische Abstammung in Anspruch nahmen. Eine dieser Familien aus dem Gebiet südöstlich des Hohen Atlas, die Saadier, tat sich Anfang des 16. Jahrhunderts im Abwehrkampf gegen die Portugiesen hervor und konnte eine eigene Dynastie gründen, die Marokko bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts beherrschte. Zwar musste sich 1582 der Saadier-Sultan Ahmad al-Mansūr unter den Schutz des osmanischen Sultans stellen und diesem fortan einen jährlichen Tribut entrichten, doch konnte er als erster Herrscher in der islamischen Geschichte ein transsaharisches Reich begründen. 1591, also zur islamischen Jahrtausendwende, eroberte ein von ihm ausgesandtes Expeditionsheer weite Teile Westafrikas mit dem Songhaireich und der Kulturmetropole Timbuktu. Die muslimischen Gelehrten von Timbuktu wurden nach der Eroberung nach Marrakesch verschleppt. Nach dem Tod Ahmad al-Mansūrs brach das Saʿdier-Reich sehr schnell zusammen, doch gelang es einer zweiten scherifischen Familie, den seit 1631 regierenden ʿAlawiden, Marokko unter ihrer Herrschaft neu zu vereinigen und von dem osmanischen Tributverhältnis zu befreien. Die Dynastie der ʿAlawiden herrscht bis heute weiter über Marokko. Durch ihre Abkunft vom Propheten verfügt sie über eine besondere religiös-politische Legitimät, die sie von den meisten anderen Dynastien der islamischen Welt unterscheidet.

Das Mausoleum von Idrīs in Moulay Idris, das im 17. Jahrhundert von den ʿAlawiden ausgebaut wurde.

Seit dem Aufstieg des scherifischen Herrschaftsmodells im westlichen Maghreb gibt es dort auch ein besonderes Interesse an der Figur des Prophetennachkommen Idrīs, der im späten 8. Jahrhundert einen Staat auf dem Gebiet Marokkos gründete und damit nicht nur Begründer marokkanischer Eigenstaatlichkeit, sondern auch der Prototyp scherifischer Herrschaft ist. Das Grab dieses Mūlāy (arab. „Herr“) Idrīs in der Nähe der Ruinen der römischen Stadt Volubilis wurde unter den ʿAlawiden ausgebaut und stellt heute ein nationales Heiligtum Marokkos dar.

10.1.6. Nādir Schāh: versuchter Ausgleich zwischen Sunniten und Schiiten

Das Afscharidenreich unter Nādir Schāh (1736-1747)

Im frühen 18. Jahrhundert gab es mit den Safawiden noch eine weitere Dynastie, die prophetische Abkunft für sich beanspruchte. Allerding fiel ihr Reich, das im Inneren durch Revolten geschwächt war, 1722 einer Invasion der sunnitischen Afghanen zum Opfer, die Isfahān einnahmen und sich dort bis 1729 behaupteten. Die Wiederherstellung der Unabhängigkeit Irans war das Werk Nādir Chāns, eines Offiziers aus dem Turkmenenstramm der Afschār. Gestützt auf die Krieger dieses ehemaligen Kizilbasch-Stammes, vertrieb Nādir die Afghanen und dehnte seine eigenen Eroberungszüge auf das Gebiet des heutigen Afghanistans, nach dem Kaukasus und dem Irak, später auch nach Nordwestindien aus. Nādir, der zunächst als Sachwalter der Safawidendynastie auftrat, ließ sich 1736 selbst zum Schah krönen.

Darstellung der Heiligen Moschee in Mekka in einer deutschen Koranübersetzung von 1746. Gebetsplätze als Pavillons waren nur für die vier sunnitischen Lehrrichtungen vorgesehen.

Schon in den Verhandlungen mit dem Feudaladel der Turkmenenstämme, die ihn unterstützten, tat Nādir Schāh seine Absicht kund, die Vorherrschaft der Schia in Iran zu brechen. Er verbot den sabb, die öffentliche Verfluchung der ersten drei Kalifen. Nach seinen Vorstellungen sollte die Schia als gleichberechtigte fünfte Lehrrichtung neben die vier sunnitischen Lehrrichtungen treten, als dschaʿfaritische Schule, benannt nach dem sechsten Imam Dschaʿfar as-Sādiq (siehe oben 7.1.2.), der auf diese Weise den Gründern der sunnitischen Rechtsschulen gleichgestellt wurde. Nach außen forderte Nādir von der osmanischen Regierung als dem Repräsentanten des sunnitischen Islams, die Schia in ihrer neuen Form als dschaʿfaritische Rechtsschule anzuerkennen und dies durch den Bau eines fünften Gebetsplatzes an der Kaaba deutlich zu machen. Das Projekt verlief allerdings im Sande, weil die osmanischen Sultane ihre Zustimmung verweigerten. Auf innenpolitischer Ebene versuchte Nādir, den Einfluss der schiitischen Geistlichen zurückzudrängen, einige von ihnen ließ er sogar hinrichten. Dem schiitischen Klerus erschien die Herrschaft Nādir Schāhs als religiöse Verfolgung; nicht wenige ʿUlamā' gingen ins Exil in den seit 1683 osmanischen Irak, wo sie sich bei den heiligen „Schwellen“ (ʿatabāt), den schiitischen Schreinen, niederließen.

Die zentralistisch-absolutistischen Bestrebungen Nādir Schāhs brachten nicht nur den schiitischen Klerus gegen ihn auf, sondern auch die aus der einstigen Kizilbasch-Militär-Aristokratie hervorgegangenen turkmenischen Feudalherren des iranischen Nordens. Seine Ermordung 1747 eröffnete in Iran eine Zeit der Wirren und der Rivalität zwischen seinen eigenen Nachkommen, den turkmenischen Stämmen, den Safawidenprinzen und den Afghanen. Im Osten konnte der Afghane Ahmad Chān (reg. 1747–72) ein selbstständiges Königreich gründen, das als Durrānī-Reich bekannt wurde und als Vorgänger des modernen Staates Afghanistan betrachtet werden kann. Weiter westlich ging Ende des 18. Jahrhundert ein Stammesfürst der Turkmenen namens Āgha Mohammed Chān siegreich aus den Wirren hervor. Er wurde zum ersten Herrscher der Qādschāren-Dynastie, die etwa 130 Jahre in Iran bestehen sollte (1779-1924). Āgha Mohammed Chān, der ab 1787 große Teile Irans unter seine Kontrolle brachte, wählte Teheran zu seiner Hauptstadt und ließ sich dort 1795 zum Schah krönen.

Von Anfang an verstand sich die Qādschāren-Dynastie als Verteidigerin der Schia. Das zeigte Āgha Mohammad Chān, der Begründer dieser Dynastie, schon bei seiner Krönung, als er ein am Safawidenschrein von Ardabil geweihtes Schwert umgürtete. Er ließ die Gebeine seiner Ahnen aus Astarābād (sö. des Kaspischen Meeres) nach Nadschaf überführen und die Kuppel über dem Schrein von Karbalā' vergolden. Sein Nachfolger Fath ʿAlī Schāh, der 1797 den Thron bestieg, eiferte ihm darin nach; er wallfahrtete alljährlich nach der schiitischen Stadt Qom, dessen Einwohner er von allen Steuern befreite. Bei allem frommen Eifer, den die Qādschāren-Herrscher an den Tag legten, konnten sie jedoch nicht die Rolle spielen, die die Safawiden zuvor erfolgreich gespielt hatten, denn anders als diese verfügten sie nicht über einen prophetischen Stammbaum. Sie konnten insofern auch keinen religiösen Führungsanspruch behaupten. Die Rolle der Vertretung des Verborgenen Imams fiel somit noch mehr als zuvor dem Stand der Mudschtahids zu.

10.1.7. Das Vordringen der europäischen Mächte in die islamische Welt

Die im 16. Jahrhundert errichtete Hauptmoschee des Chanats von Kasimov in Kassimov in der Nähe von Moskau.

Eine der wichtigsten Entwicklungen während dieses Zeitraums war die Expansion der europäischen Mächte in den islamischen Raum. Schon im 16. Jahrhundert wurden die Chanate von Kasan, Astrachan und Sibir von Zar Iwan IV. erobert und dem expandierenden Russischen Staat einverleibt. Als einziger muslimischer Staat in Innerrussland blieb das Chanat von Kassimov noch längere Zeit (bis 1682) bestehen. Spätestens ab den 1560er Jahren war es ein Vasall Moskaus. Anders als auf der iberischen Halbinsel gab es in Russland keine Zwangskonvertierungen zum Christentum. Allerdings wurden bei der Eroberung von Kasan die Moscheen zerstört und die Tataren aus der Stadt verbannt, und den Muslimen war es strengstens verboten, Nicht-Muslime zu ihrer Religion zu bekehren. Der einzige Staat mit islamischer Ausrichtung in Osteuropa, der das 17. Jahrhundert überdauerte, war das Chanat der Krim. Es wurde erst 1783 nach einem militärischen Sieg der Russen über das Osmanische Reich in das Russische Reich eingegliedert. Allerdings wandte sich nun der russische Staat von seiner aggressiven Politik gegenüber der muslimischen Minderheit ab und ging zu einer von der Aufklärung beeinflussten und auf die Staatsräson sowie die Eliminierung von Konflikten ausgerichteten pragmatischeren Haltung über. Den Muslimen wurde erlaubt, zerstörte Moscheen wiederaufzubauen, und ihnen gleichzeitig aufgetragen, eigene Geistliche zu wählen. Zentrale Instrumente der neuen Islampolitik wurden der 1782 eingesetzte Mufti, der nun als geistliches Oberhaupt der Muslime des europäischen Russlands und Sibiriens fungierte, sowie die 1788 geschaffene „Orenburger Mohammedanische Geistliche Versammlung“ mit Sitz in Ufa, die unter die Aufsicht der Regionalbehörden gestellt wurde. Das Vordringen Russlands in die muslimischen Gebiete nördlich des Kaukasus setzte sich bis zum frühen 19. Jahrhundert noch weiter fort. 1801 stellten sich die Nuzal-Chane von Awarien unter russisches Protektorat.

Die beiden Nachfolgestaaten des Mataram-Sultanats

In Südostasien errichtete im 17. Jahrhundert die niederländische Vereenigde Ostindische Compagnie (VOC) Handelsstützpunkte in zahlreichen Häfen des Archipels; im 18. Jahrhundert konnte sie von dort aus eine indirekte Herrschaft über verschiedene Sultanate errichten. Die Feindschaft der islamischen Lehrer und damit auch praktisch der Küstenregion zwang den Sultan von Mataram, die Unterstützung der Niederländer zu suchen. Die Abhängigkeit des Hofes von dieser ausländischen Macht führte zum Niedergang der Dynastie von Mataram, deren Staat 1755 schließlich aufgeteilt wurde. Die beiden wichtigsten Teilstaaten wurden Surakarta (Solo) im Osten und Yogyakarta im Westen. Während Solo im Allgemeinen den kejawen, d.h. die vorislamischen weltanschaulichen Traditionen Javas, pflegte, bemühte sich der Hof (Kraton) in Yogyakarta stärker um eine Synthese javanischer und islamischer Vorstellungen. Muslimische Anführer, die gegen die Kolonialisierung Widerstand leisteten, verbannte die VOC in ihre Kapkolonie. Einer von ihnen, der Chalwatīya-Sufi Yūsuf al-Mākassarī, der aus dem Königshaus von Gowa stammte, gründete Ende des 17. Jahrhunderts in Macassar bei Kapstadt die erste muslimische Gemeinde auf dem Gebiet des heutigen Südafrika.

Der indische Subkontinent 1765 und 1805. Das unter muslimischer Herrschaft stehende Territorium (in Grün) schrumpfte in diesem Zeitraum beträchtlich.

In Indien konnten im frühen 18. Jahrhundert die britische East India Company (EIC) und die französische Compagnie des Indes Orientales ihre Einflusssphären ausbauen. Nach den Karnatischen Kriegen (1740–1763) wurden die Briten die dominierende europäische Macht in Nordindien. Der Sieg über den Mogulherrscher bei Baksar 1764 brachte der EIC die Steuerhoheit über Bengalen, Bihar und Orissa ein. In den folgenden dreißig Jahren stiegen die Briten zur Hegemonialmacht auch in Südindien auf. 1803 trat der Nawab von Awadh die Region von Agra und Allāhābād an die Briten ab; die britischen Besitztümer reichten damit bis kurz vor Delhi, die Hauptstadt des formal noch weiterbestehenden Mogulreiches. Der islamische Herrschaftsbereich auf dem indischen Subkontinent war schon vorher zusätzlich dadurch eingeschränkt worden, dass weite Gebiete unter die Kontrolle der hinduistischen Marathen gelangt waren und außerdem nach 1762 im Punjab eine Anzahl von Sikh-Staaten entstanden war.

Ein völlig überraschender Akt war 1798 die Besetzung Ägyptens durch die Armeen Napoleon Bonapartes. Napoleon versuchte bei den Muslimen den Eindruck zu erwecken, als sei er von ihrer Religion zutiefst überzeugt. In einer Erklärung, die in ihrer Einleitung das Zitat enthielt, dass kein Gott außer Allāh existiert, sollte der Eindruck vermittelt werden, er sei ein rechtgläubiger Muslim. Den Ägyptern wurde aber schnell klar, dass es sich hier um keine Muslime handelte, sondern um Vertreter einer „freidenkerischen, naturverbundenen Philosophie“. Napoleons Versuch, anschließend Palästina einzunehmen, wurde von den Briten vereitelt. Die ägyptische Expedition war insgesamt ein ephemeres Unternehmen. 1801 zogen die Franzosen schon wieder aus Ägypten ab.

10.1.8. Muhammad ibn ʿAbd al-Wahhāb und der erste saudische Staat

Von erheblich größerer Bedeutung für die islamische Religionsgeschichte waren die Entwicklungen in Arabien. In der zentralarabischen Nadschd-Region war in den 1740er Jahren der hanbalitische Gelehrte Muhammad ibn ʿAbd al-Wahhāb (1703-1792) mit einer eigenen religiösen Lehre aufgetreten. Sie knüpfte weitgehend an den hanbalitischen Rigorismus von al-Barbarāhī (vgl. oben 8.1.1.2.) und das salafitische Denken Ibn Taimīyas (vgl. oben 9.2.1.) an, wies jedoch auch mehrere neue Elemente auf.

Grundlegend für Ibn ʿAbd al-Wahhābs Lehre war sein spezielles Verständnis des Tauhīd, des Bekenntnises zur Einheit Gottes. Wie alle sunnitischen Dogmatiker vor ihm betrachtete er den Tauhīd als bedeutendste Pflicht des Menschen sowie als Voraussetzung dafür, dass er zum Muslim wird. Anders als die sunnitischen Gelehrten seiner Zeit meinte er jedoch, dass das Aussprechen der Schahāda allein nicht ausreiche, um diese Pflicht zum Tauhīd zu erfüllen. Dies rechtfertigte er mit einer Unterscheidung zwischen zwei Arten von Tauhīd: tauḥīd ar-rubūbīya („Bekenntnis zur Einheit des Herrn“) und tauḥīd al-ulūhīya („Bekenntnis zur Einheit Gottes“). Der tauḥīd ar-rubūbīya ist nach seiner Definition ein ausschließlich passives Bekenntnis zur Einheit Gottes, nämlich das Bekenntnis, dass Gott allein der allmächtige Schöpfer und Lenker, der Herr der Welt ist. Der tauḥīd al-ulūhīya dagegen ist ein aktives Bekenntnis, das der Gläubige allein durch sein eigenes Handeln, durch den Dienst an Gott allein, in die Tat umsetzt. Erst die Erfüllung des tauḥīd al-ulūhīya macht nach Ibn ʿAbd al-Wahhābs Lehre den Menschen zum Muslim und unterscheidet ihn vom Ungläubigen. Zerstört wird der tauḥīd al-ulūhīya durch jegliche Form von Schirk, Beigesellung. Hierbei war es allerdings von großer Bedeutung, dass er den Schirk erheblich weiter definierte als die sunnitischen Gelehrten seiner Zeit. Zum Schirk gehörten für ihn nicht nur die Verehrung von Steinen und Bäumen, sondern auch alle Praktiken aus dem Bereich der Heiligen- und Gräberverehrung, die zu seiner Zeit im sunnitischen und schiitischen Islam gepflegt wurden. Da Gräberkult einhergeht mit Bittgebeten, in denen der Gläubige den Heiligen in seinem Grab um Hilfe anruft, mit der Bitte um Vermittlung zwischen Gott und sich selbst (tawassul), mit der Darbringung von Weihegaben (naḏr) für den Heiligen, außerdem mit Gefühlen wie Furcht, Hoffnung, Hinwendung und Vertrauen, stellte er nach Muhammad ibn ʿAbd al-Wahhāb eindeutig den Tatbestand des Schirk dar und zerstörte damit eben auch den tauḥīd al-ulūhīya.

Die Konsequenz aus dieser Lehre war, dass Ibn ʿAbd al-Wahhāb und diejenigen, die ihm folgten, den Großteil der Muslime für Ungläubige hielten. Das Wissen um den richtigen Tauhīd erforderte aus seiner Sicht außerdem das Eintreten dafür in Wort und Tat und damit zwingend verbunden auch die Distanzierung von denjenigen, die Schirk betrieben. Jeder gesellschaftliche Kontakt mit diesen Personen, verbal oder schriftlich geäußerte Anerkennung für sie, ließen eine Person, auch wenn in ihrem Verhalten selbst keinerlei Schirk zutage trat, zum Kāfir werden. Um den richtigen Tauhīd zu erfüllen und weiter Muslim zu bleiben, sollten Personen, die in einem Gebiet leben, das von Muschrikūn dominiert wird, dieses verlassen, sich auf das von richtigen Muslimen beherrschte Territorium begeben und den Kampf gegen die Manifestationen des Schirk aufnehmen.

Der erste saudische Staat

Viele der Ideen Ibn ʿAbd al-Wahhābs gehen, wie gesagt, auf den syrischen Gelehrten Ibn Taimīya zurück. Er und sein Schüler Ibn Qaiyim al-Dschauzīya hatten schon im 14. Jahrhundert den Besuch der Heiligengräber und die damit verbundenen Riten, insbesondere die Bitte der Heiligen um Fürsprache bei Gott, als Schirk gegeißelt. Allerdings waren sie damals wegen der Verbreitung dieser Lehren eingekerkert worden. Ganz anders Ibn ʿAbd al-Wahhāb. Er konnte 1740 den Herrscher seiner Heimatstadt al-ʿUyaina für seine Glaubenslehre gewinnen. Der Emir, der auf seinem Territorium heilige Bäume fällen und Heiligengräber zerstören ließ, musste Ibn ʿAbd al-Wahhāb aber auf Druck anderer Stammesführer fallen lassen. 1744 ging Ibn ʿAbd al-Wahhāb eine neue Allianz mit der zentralarabischen Herrscherfamilie der Āl Saʿūd ein. Gemeinsam setzte man einen Dschihad in Gang, dessen militärischen Teil die Āl Saʿūd, und dessen religiösen Teil Ibn ʿAbd al-Wahhāb organisierte. Bis 1792 expandierte dieser erste saudische Staat mit der Hauptstadt ad-Dirʿīya über weite Gebiete der arabischen Halbinsel. Die antischiitische Haltung der Wahhabiten zeigte sich zum ersten Mal 1792 in der schlechten Behandlung der schiitischen Bevölkerung von al-Qatīf in Ostarabien. Als die Wahhabiten, die Ahänger Ibn ʿAbd al-Wahhābs, 1802 Karbalā' eroberten, zerstörten sie dort auch die Imam-Husain-Schrein und verübten Massaker an der schiitischen Bevölkerung.

Ein Punkt der Lehre Ibn ʿAbd al-Wahhāb muss hier noch hervorgehoben werden, nämlich seine Ablehnung der sunnitischen Madhāhib. Grund hierfür war, dass er sich mit seinem speziellen Tauhīd-Verständnis in Widerspruch zu ihnen begeben hatte, denn diese sahen den Tauhīd bereits mit der Schahāda als erfüllt an. Mit dem Argument, dass die diesbezüglichen Lehren der Madhāhib Koran und der Sunna widersprechen, forderte Ibn ʿAbd al-Wahhāb eine Loslösung von Madhhab-Traditionen. Der Gläubige sollte sich nicht ihrer Autorität beugen, sondern sein Handeln allein nach den Vorschriften von Koran und Sunna ausrichten. Seine Weigerung, sich der Autorität früherer Gelehrter zu unterwerfen, brachten Ibn ʿAbd al-Wahhāb den Vorwurf ein, selbst Idschtihād betrieben zu wollen, ohne dazu berechtigt zu sein. Er hielt dem entgegen, dass Konzepte wie Fiqh, Taqlīd und Idschtihād erst spätere Erfindungen seien und verwies darauf, dass frühere Gelehrte wie asch-Schāfiʿī die Gläubigen dazu aufgerufen hatten, keinen Taqlīd zu betreiben, sondern die Lehren früherer Gelehrter stets anhand von Koran und Sunna zu überprüfen (vgl. oben 7.1.3.). Eine ähnlich kritische Haltung gegenüber den islamischen Rechtsschulen nahm Ende des 18. Jahrhunderts übrigens auch der jemenitische Gelehrte asch-Schaukānī (gest. 1834) ein. Er äußerte um 1790, dass die Befolgung von Madhhab-Traditionen generell abzulehnen sei. Im Gegensatz zu Ibn ʿAbd al-Wahhāb stand er aber dem Prinzip des Idschtihād positiv gegenüber. Er nahm sogar für sich in Anspruch, ein „ungebundener Mudschtahid“ (muǧtahid muṭlaq) zu sein, also Idschtihād betreiben zu können, ohne durch irgendwelche Madhhab-Traditionen gebunden zu sein.

10.2. Die Zeit des Umbruchs (1803-1813)

10.2.1. Die Herrschaft der Wahhabiten in Mekka und ihre internationale Ausstrahlung

Die Verwendung von Gebetsketten, wie sie in verschiedenen sufischen Orden üblich ist, sehen die Wahhabiten als Bidʿa an.

Zwischen 1804 und 1806 eroberten die Wahhabiten die beiden heiligen Städte des Islams, Mekka und Medina. Dort zerstörten sie die Grabmäler vieler großer Persönlichkeiten des frühen Islams. Besonders wild wüteten sie auf dem Baqīʿ-Friedhof in Medina, wo sie das in der Seldschukenzeit errichtete Mausoleum der schiitischen Imame al-Hasan ibn ʿAlī, ʿAlī Zain al-ʿĀbidīn, Muhammad al-Bāqir und Dschaʿfar as-Sādiq (vgl. oben 8.2.1.1.) dem Erdboden gleichmachten. Allein das Grab des Propheten in der Moschee von Medina wurde geschont. Rauchen wurde verboten, die Bevölkerung in der wahhabitischen Lehre zwangsunterrichtet, Beter, die das Gebet nicht entsprechend dem hanbalitischen Ritus verrichteten, zurechtgewiesen. Bücher mit sufischen oder philosophischen Inhalten wurden vernichtet, die Verwendung von Gebetsketten wurde verboten, Feiern zum Prophetengeburtstag ebenfalls. Nach der saudischen Eroberung von Mekka im Jahre 1806 wurde die Kaaba mit einer roten Kiswa bekleidet, um den Bruch mit der Vergangenheit zu symbolisieren. Durch diese spektakulären Maßnahmen rückte die wahhabitische Bewegung in das Zentrum des Interesses der islamischen Welt. Der Scherif Ghālib wurde zwar in seinem Amt belassen, musste jedoch die Oberherrschaft des Emirs von Dirʿīya akzeptieren und den Wahhabismus als einzig geltende islamische Lehre anerkennen.

Im Jahre 1808 folgte ein zweiter wahhabitischer Überfall auf die schiitischen Städte des Irak, bei dem zahlreiche Gräber zerstört wurden. Die wiederholten wahhabitischen Angriffe auf Nadschaf und Karbalā' setzten im Irak allerdings eine Abwehrreaktion in Gang. Sie schärften das konfessionelle Profil der schiitischen Gelehrten im Irak und motivierten sie dazu, die im südlichen und mittleren Irak neu angesiedelten arabischen Stämme zur Schia zu bekehren. Erst in Folge dieses Bekehrungsprozesses sind die Schiiten im Irak zur Bevölkerungsmehrheit geworden.

Im frühen 19. Jahrhundert begannen die Wahhabiten mit Daʿwa-Aktivitäten auch außerhalb der arabischen Halbinsel. Ein großer Sympathisant der Wahhabiten wurde der marokkanische Sulaimān (reg. 1792-1822), der in der Freitagspredigt aller Moscheen seines Herrschaftsgebietes die sufischen Orden und ihre Riten als Bidʿa brandmarken ließ. Hierauf kam es zu einem Berber-Aufstand, an dem sich maßgeblich die mystisch orientierte Darqāwā-Bruderschaft beteiligte. Umgekehrt gab Sulaimān dem algerischen Gelehrten Ahmad at-Tidschānī (gest. 1815), der 1781 einen eigenen Orden gegründet hatte, Unterstützung. Kennzeichen der Tidschānīya, die bis heute weiter existiert, ist ein spezieller wird, eine Reihe genau definierter Gebetsformeln, die der Novize aussprechen muss, wenn er dem Orden beitritt. Diese Formeln sollen at-Tidschānī unmittelbar von dem Propheten eingegeben worden sein.

In verschiedenen Gebieten der islamischen Welt bildeten sich Bewegungen, die den Idealen der Wahhābīya nachstrebten. Die früheste von ihnen war die Padri-Bewegung bei den Minangkabau auf Westsumatra. Einige ihrer Anführer waren während ihrer Pilgerfahrt nach Mekka mit wahhabitischen Ideen in Kontakt gekommen. Die Padris wandten sich insbesondere gegen das System von lokalen Bräuchen und Rechten, das als Adat (von arab. ʿāda „Gewohnheit“) bekannt ist und in dem die Matrilinearität eine wichtige Rolles spielt. Der Puritanismus der Bewegung fand aber auch in Aktionen gegen Tabakgenuss und Hahnenkämpfe seinen Ausdruck. Als Mittel zur Durchsetzung wurde der Dschihad mit dem Schwert gewählt. Die gewaltsamen Angriffe auf Dorfgemeinschaften, die sich dem Islam der Padris verweigerten, wurden zu einem Charakteristikum der Bewegung.

10.2.2. Die Errichtung von Dschihad-Staaten in Westafrika

Das Kalifat von Sokoto, das Massina-Reich und zwei weitere Dschihad-Staaten der Fulbe um 1830

Zeitgleich mit der Wahhabitenherrschaft in Mekka kam es auch in Westafrika zu einem bedeutenden Umbruch. Der dem Qādirīya-Orden angehörende Sufi Uthman dan Fodio aus dem Volk der Fulbe auf dem Gebiet des heutigen Nord-Nigeria wandte sich gegen den in den Hausa-Staaten gepflegten Synkretismus und forderte die Errichtung eines Staates auf der Grundlage der Scharia. Er behauptete, bei einer Vision von ʿAbd al-Qādir al-Dschīlānī, dem Heiligen, auf den der Orden zurückgeführt wird, das „Schwert der Wahrheit“ (saif al-ḥaqq) erhalten zu haben. In den Jahren 1804 bis 1809 führte er einen Dschihad gegen die Herrscher der Hausa-Staaten, der zur Errichtung eines gewaltigen Reiches führte, für das sein Bruder und Wesir Abdullahi dan Fodio die ideologischen Grundlagen legte. Mit seinen ca. 15 Emiraten und Neueroberungen erstreckte sich dieses Reich über Nordnigeria, Nord-Kamerun, Tschad, Niger und Burkina Faso. Damit war es der größte autonome Staat im subsaharanischen Afrika des 19. Jahrhunderts. Nach seiner 1808 neu gegründeten Hauptstadt Sokoto wird dieses Reich als Kalifat von Sokoto bezeichnet. Ein direkter Einfluss der Wahhabiten auf Uthman dan Fodio, der Westafrika nie verlassen hat, lässt sich nicht nachweisen. Allerdings hatte sein Lehrer Dschibrīl ibn ʿUmar, der ähnlich rigorose Ideen vertreten und die muslimischen Herrscher der Sahelzone zu Ungläubigen erklärt hatte, in den 1760er und 1780er Jahren einige Zeit in Mekka verbracht. Wahrscheinlich hatte er dort die Ideen Ibn ʿAbd al-Wahhābs kennengelernt.

Ein zweiter auf das Volk der Fulbe gestützter Dschihad-Staat entstand ab 1810 in Massina, dem Binnendelta des Niger auf dem Gebiet des heutigen Staates Mali. Angeführt wurde er von Seku Ahmadu, einem Qādirīya-Sufi, der zeitweise zu den Gefolgsleuten von Uthman dan Fodio gehört hatte. Er nahm den kalifalen Titel eines amīr al-muʾminīn an, brachte die Handelszentren Timbuktu und Jenne unter seine Kontrolle und begründete das Reich von Massina, das bis 1862 bestand. Auf den Gebieten unter seiner Kontrolle setzte Seku Ahmadu eine strenge islamische Ordnung durch, die auf Fulfulde diina (von arab. dīn „Religion“) genannt wurde, verbot Tabakkonsum und Musikaufführungen und schaffte auch unislamische Übergangsriten ab, die bis dahin bei den Fulbe-Nomaden üblich gewesen waren.

10.2.3. Ägypten: Aufstieg Muhammad ʿAlīs und Zentralisierung der Sufi-Orden

In Ägypten ergriff nach dem Abzug der Franzosen 1805 der Albaner Muhammad ʿAlī die Macht. Ihm gelang es, nicht nur die in Ägypten immer noch mächtigen Mamluken auszuschalten, sondern auch die ʿUlamā', die durch Waqf-Stiftungen über ausgedehnte Ländereien verfügten, botmäßig zu machen. 1809 wurde der Waqf-Besitz zum ersten Mal besteuert, die daraufhin ausbrechende Protestbewegung erstickt.

Auch die Sufis konnte Muhammad ʿAlī unter Kontrolle bringen. Zu seiner Zeit bestanden in Ägypten vier sufische Gemeinschaften, die sich in ihrer Silsila auf die rechtgeleiteten Kalifen bzw. die Prophetengefährten zurückführten: die Bakrīya, die sich auf Abū Bakr zurückführt, die ʿInānīya, die sich auf ʿUmar ibn al-Chattāb zurückführte, die Chudairīya mit az-Zubair ibn al-ʿAwāmm als Ahnvater und die Wafā'īya, die sich auf ʿAlī ibn Abī Tālib zurückführte. Die Anführer dieser Gruppen wurden als „Meister der Gebetsteppiche“ (arbāb as-saǧāǧīd) bezeichnet. Der Gebetsteppich (saǧǧāda) war zu dieser Zeit zum Symbol der Übermittlung der sufischen Tradition geworden. Mit dem Ziel, das religiöse Establishment unter staatliche Kontrolle zu bekommen, stattete Muhammad ʿAlī den Scheich der Bakrīya 1812 mit der Oberaufsicht über alle sufischen Gemeinschaften sowie auch der sufischen Heiligtümer und Konvente in Ägypten aus.

Muhammad ʿAlī war zweifellos der neue starke Mann in Ägypten, das sah auch die osmanische Pforte ein und ernannte ihn schließlich formal zum Statthalter (Wālī) von Ägypten. Als 1807 die Wahhabiten die Pilgerkarawanen aus Syrien und Ägypten wegen des als ketzerische Neuerung betrachteten Mahmal (vgl. oben 9.2.1.) zurückwiesen, wurde er beauftragt, die Heiligen Stätten von ihnen zu befreien. Muhammad ʿAlī verhielt sich zunächst abwartend, begann dann aber 1809 mit den Vorbereitungen für den Feldzug. Eine erste Expedition 1812 unter dem Befehl Tūsūns, des Sohnes von Muhammad ʿAlī, verlief unglücklich, 1813 konnte dann aber ein anderer Sohn Medina und Mekka einnehmen. Damit war die politische Herrschaft der Wahhabiten über die Heiligen Stätten erst einmal beendet, ihr Einfluss auf das religiöse Denken der Muslime allerdings noch lange nicht (vgl. unten 11.1.).

10.2.4. Die russische Eroberung des Kaukasus

Der Kaukaus mit den im Russisch-Persischen Krieg (1804-1813) eroberten Chanaten

Auch im Kaukasus, wo Mitte des 18. Jahrhunderts nach dem Zerfall des von Nādir Schāh begründeten Staates eine ganze Anzahl von Chanaten entstanden war, stellten die ersten Jahre des 19. Jahrhunderts eine Umbruchszeit dar. Während des Russisch-Persischen Kriegs (1804-1813) brachte Russland fast alle dieser Chanate – Baku, Quba, Derbent, Schirwan, Karabach, Ganja, Scheki, Talish – unter seine Kontrolle. Im Vertrag von Golestan, der 1813 den Krieg beendete, wurde die russische Herrschaft über diese Gebiete anerkannt. Damit rückte Russland ganz nah an Iran heran. Iran selbst musste sich verpflichten, den künftigen iranischen Thronerben von Russland bestätigen zu lassen. Fast zeitgleich mit dem Russisch-Persischen Krieg fand ein Russisch-Osmanischer Krieg (1806-1812) statt. Er endete mit dem Sieg Russlands und dem osmanischen Verzicht auf das Gebiet von Bessarabien. Infolge dieser Gebietsgewinne nahm der Anteil der Muslime an der Bevölkerung Russlands stark zu, aber auch die militärische Überlegenheit der europäischen Mächte wurde dadurch in der islamischen Welt immer stärker sichtbar.

10.3. Weiterführende Literatur

  • Azyumardi Azra: The Origins of Islamic Reformism in Southeast-Asia. Networks of Malai-Indonesian and Middle-Eastern ʿUlamāʾ in the seventeenth and eighteenth centuries. Crows Nest 2004.
  • Edward Badeen: Sunnitische Theologie in osmanischer Zeit. Ergon, Würzburg, 2008. Digitalisat
  • Fred De Jong: Ṭuruq and ṭuruq-linked institutions in nineteenth century Egypt: a historical study in organizational dimensions of Islamic mysticism. Leiden 1978.
  • Elke Eberhard: Osmanische Polemik gegen die Safawiden im 16. Jahrhundert nach arabischen Handschriften. Freiburg i.Br. 1970.
  • Khaled El-Rouayheb: Islamic Intellectual History in the Seventeenth Century: Scholarly Currents in the Ottoman Empire and the Maghreb. Cambridge University Press, Cambridge 2015.
  • Heike Franke: Akbar und Ǧahāngīr. Untersuchungen zur politischen und religiösen Legitimation in Text und Bild. Schenefeld 2005.
  • Hamilton A.R. Gibb: „Luṭfī-Paşa on the Ottoman Caliphate“ in Oriens 15 (1962) 287-95.
  • Amirul Hadi: Islam and State in Sumatra. A Study of Seventeenth Century Aceh. Leiden 2004.
  • Bernard Haikel: Revival and Reform in Islam: the Legacy of Muhammad al-Shaukani. Cambridge 2003.
  • Murray Last: The Sokoto Caliphate. London: Longman 1967.
  • Anton Minkov: Conversion to Islam in the Balkans: Kisve bahası petitions and Ottoman social life, 1670-1730. Leiden 2004.
  • Esther Peskes: Muḥammad b. ʿAbdalwahhāb (1703-92) im Widerstreit. Untersuchungen zur Rekonstruktion der Frühgeschichte der Wahhābiyya. Beirut 1993.
  • Francis Robinson: The ʿUlama of Farangi Mahall and Islamic Culture in South Asia. Delhi 2001.
  • Bintu Sanankoua: Un empire peul au xixe siècle. La Diina du Maasina. Paris 1990.
  • Colin Turner: Islam without Allah? The rise of religious externalism in Safavid Iran. Richmond 2000.

10.4. Aufgaben/Fragen

1. Beschreiben Sie die islamisch-religiöse Kultur des Osmanischen Reichs.

2. Wie hat sich die Rolle des Islams und der Scharia im Mogulreich im Laufe der Zeit verändert?

3. Erklären Sie, was ein Haram ist und was der Titel Chādim al-haramain bedeutet.

4. Erklären Sie die Grundzüge der Lehren Muhammad ibn ʿAbd al-Wahhābs.

5. Erklären Sie, was Scherifen sind und welche politische Rolle sie seit der frühen Neuzeit in der islamischen Welt spielen.

6. Zeichnen Sie den geschichtlichen Prozess nach, der zur Verbreitung des Islams in Südostasien führte.

7. Inwieweit hat die wahhabitische Lehre schon bis zum 19. Jahrhundert außerhalb der arabischen Halbinsel Nachahmer gefunden?