Aphorismen zur Lebensweisheit. Was einer vorstellt.

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Erstdruck 1851



K A P I T E L    IV.


Von Dem, was Einer vorstellt.

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Zitate[Bearbeiten]


Unsere Persönlichkeitsbild in der Meinung Anderer

Dieses, also unser Daseyn in der Meinung Anderer, wird, infolge einer besonderen Schwäche unserer Natur, durchgängig viel zu hoch angeschlagen; obgleich schon die leichteste Besinnung lehren könnte, daß es, an sich selbst, für unser Glück, unwesentlich ist. [S.335]

Klatsch und üble Nachrede

Außerdem ist ja, was in einem fremden Bewußtseyn vorgeht, als solches, für uns gleichgültig, und auch wir werden allmälig gleichgültig dagegen werden, wenn wir von der Oberflächlichkeit und Futilität der Gedanken, von der Beschränktheit der Begriffe, von der Kleinlichkeit der Gesinnung, von der Verkehrtheit der Meinungen und von der Anzahl der Irrtümer in den allermeisten Köpfen eine hinlängliche Kenntnis erlangen und dazu aus eigener Erfahrung lernen, mit welcher Geringschätzung eigentlich von jedem geredet wird, sobald man ihn nicht zu fürchten hat oder glaubt, es komme ihm nicht zu Ohren; insbesondere aber nachdem wir ein Mal angehört haben, wie vom größten Manne ein halbes Dutzend Schafsköpfe mit Wegwerfung spricht. [S.336]

Instinkt für das persönlich Gemäße zählt mehr als die Erwartungen Anderer.

Dieserwegen wird es zu unserm Glücke beitragen, wenn wir beizeiten die simple Einsicht erlangen, daß Jeder zunächst und wirklich in seiner eigenen Haut lebt, nicht aber in der Meinung anderer, und daß demnach unser realer und persönlicher Zustand, wie er durch Gesundheit, Temperament, Fähigkeiten, Einkommen, Weib, Kind, Freunde, Wohnort u. s. w. bestimmt wird, für unser Glück hundert Mal wichtiger ist, als was es Andern beliebt[,] aus uns zu machen. Der entgegengesetzte Wahn macht unglücklich. Wird mit Emphase ausgerufen, "über's Leben geht noch die Ehre", so besagt dies eigentlich: "Dasein und Wohlsein sind nichts; sondern was die andern von uns denken, das ist die Sache". [S.337]
Viel zu viel Werth auf die Meinung Anderer zu legen ist ein allgemein herrschender Irrwahn. [S.337]
Bei Allem, was wir thun und lassen, wird, fast vor allem Andern, die fremde Meinung berücksichtigt, und aus der Sorge um sie werden wir, bei genauer Untersuchung, fast die Hälfte aller Bekümmernisse und Aengste, die wir jemals empfunden haben, [daraus] hervorgegangen sehn. [S.338]
Nicht weniger entspringt unser Neid und Haß größtenteils aus besagter Wurzel.[S.340]

Zurückgezogenheit als Selbstschutz

Offenbar nun könnte zu unserm Glücke, als welches allergrößtentheils auf Gemütsruhe und Zufriedenheit beruht, kaum irgend etwas so viel beitragen, als die Einschränkung und Herabstimmung dieser Triebfeder auf ihr vernünftig zu rechtfertigendes Maaß, welches vielleicht 1/50 des Gegenwärtigen seyn wird, also das Herausziehn dieses immerfort peinigenden Stachels aus unt[s]erm Fleisch. Dies ist jedoch sehr schwer: denn wir haben es mit einer natürlichen und angeborenen Verkehrtheit zu thun. Etiam sapentibus cupido gloriae novissima exuitur sagt Tacitus (hist. IV, 6). Um jene allgemeine Thorheit los zu werden, wäre das alleinige Mittel, sie deutlich als eine solche zu erkennen und zu diesem Zwecke sich klar zu machen, wie ganz falsch, verkehrt, irrig und absurd die meisten Meinungen in den Köpfen der Menschen zu seyn pflegen, daher sie, an sich selbst, [S.340/341] keiner Beachtung werth sind; sodann wie wenig realen Einfluß auf uns die Meinung anderer, in den meisten Dingen und Fällen haben kann; ferner, wie ungünstig überhaupt sie meistenteils ist, so daß fast jeder sich krank ärgern würde, wenn er vernähme, was alles von ihm gesagt und in welchem Tone von ihm geredet wird; endlich, daß sogar die Ehre selbst doch eigentlich nur von mittelbarem und nicht von unmittelbarem Werthe ist. Wenn eine solche Bekehrung von der allgemeinen Torheit uns gelänge; so würde die Folge ein unglaublich großer Zuwachs an Gemüthsruhe und Heiterkeit und ebenfalls ein festeres und sicheres Auftreten, ein durchweg unbefangeneres und natürlicheres Betragen seyn. Der so überaus wohlthätige Einfluß, den eine zurückgezogene Lebensweise auf unsere Gemüthsruhe hat, beruht größtentheils darauf, daß eine solche uns dem fortwährenden Leben vor den Augen Anderer, folglich der steten Berücksichtigung ihrer etwaigen Meinung entzieht und dadurch uns uns selber zurückgiebt. Imgleichen würden wir sehr vielem realen Unglück entgehen, in welches nur jenes rein ideale Streben, richtiger jene heillose Torheit, uns zieht, würden auch viel mehr Sorgfalt für solide Güter übrig behalten und dann auch diese ungestörter genießen. Aber, wie gesagt: χαλεπα τα χαλα [das Schöne ist schwer]. [S.340/341]

Ehrgeiz, Eitelkeit und Stolz

Die hier geschilderte Torheit unserer Natur treibt hauptsächlich drei Sprößlinge: Ehrgeiz, Eitelkeit und Stolz. Zwischen diesen zwei letzteren beruht der Unterschied darauf, daß der Stolz die bereits feststehende Überzeugung vom eigenen überwiegenden Werte, in irgendeiner Hinsicht ist; Eitelkeit hingegen der Wunsch, in Andern eine solche Ueberzeugung zu erwecken, meistens begleitet von der stillen Hoffnung, sie, in Folge davon, auch selbst zu der seinigen machen zu können. Demnach ist Stolz die von innen ausgehende, folglich direkte Hochschätzung seiner selbst; hingegen Eitelkeit das Streben, solche von außen her, also indirekt zu erlangen. Dementsprechend macht die Eitelkeit gesprächig, der Stolz schweigsam. Aber der Eitle sollte wissen, daß die hohe Meinung anderer, nach der er trachtet, sehr viel leichter und sicherer durch anhaltendes Schweigen zu erlangen ist, als durch Sprechen, auch wenn einer die schönsten Dinge zu sagen hätte. – Stolz ist nicht wer will, sondern höchstens kann [ - ] wer will [ - ] Stolz affektieren, wird aber aus dieser, wie aus jeder angenommenen Rolle[,] bald herausfallen. Denn nur die feste, innere, unerschütterliche Überzeugung von überwiegenden Vorzügen und besonderem Werthe macht wirklich stolz. Diese Ueberzeugung mag nun irrig seyn, oder auch [S.341/342] auf bloß äußerlichen und konventionellen Vorzügen beruhen; – das schadet dem Stolze nicht, wenn sie nur wirklich und ernstlich vorhanden ist. Weil also der Stolz seine Wurzel in der Ueberzeugung hat, steht er, wie alle Erkenntnis, nicht in unserer Willkür. Sein schlimmster Feind, ich meyne sein größtes Hinderniß, ist die Eitelkeit, als welche um den Beifall Anderer buhlt, um die eigene hohe Meinung von sich erst darauf zu gründen, in welcher bereits ganz fest zu seyn die Voraussetzung des Stolzes ist.[S.341/342]

Man kann sich nicht kleiner machen als man ist.

So sehr nun auch durchgängig der Stolz getadelt und verschrien wird; so vermuthe ich doch, daß dies hauptsächlich von Solchen ausgegangen ist, die nichts haben, darauf sie stolz seyn könnten. Der Unverschämtheit und Dummdreistigkeit der meisten Menschen gegenüber, thut Jeder, der irgend welche Vorzüge hat, ganz wohl, sie selbst im Auge zu behalten, um nicht sie gänzlich in Vergessenheit gerathen zu lassen: denn wer, solche gutmüthig ignorirend, mit jenen sich gerirt, als wäre er ganz ihres Gleichen, den werden sie treuherzig sofort dafür halten. Am meisten aber möchte ich solches Denen anempfehlen, deren Vorzüge von der höchsten Art, d. h. reale, und also rein persönliche sind, da diese nicht, wie Orden und Titel, jeden Augenblick durch sinnliche Einwirkung in Erinnerung gebracht werden: denn sonst werden sie oft genug das sus Minervam [Minerva als Schwein] exemplifizcirt sehen. "Scherze mit dem Sklaven, bald wird er dir den Hintern zeigen" – ist ein vortreffliches arabisches Sprichwort, und das Horazische sume superbiam, quaesitam meritis [Maße dir den Stolz an, zu dem du durch deine Verdienste berechtigt bist] ist nicht zu verwerfen. Wohl aber ist [d]ie Tugend der Bescheidenheit eine erkleckliche Erfindung für die Lumpe, da ihr gemäß jeder von sich zu reden hat, als wäre auch er ein solcher, welches herrlich nivelliert, indem es dann so herauskommt, als gäbe es überhaupt nichts als Lumpe.[S.342]

Nationalstolz

Die wohlfeilste Art des Stolzes hingegen ist der Nationalstolz. Denn er verräth in dem damit Behafteten den Mangel an individuellen Eigenschaften, auf die er stolz seyn könnte, indem er sonst nicht zu Dem greifen würde, was er mit so vielen Millionen teilt. Wer bedeutende persönliche Vorzüge besitzt, wird vielmehr die Fehler seiner eigenen Nation, da er sie beständig vor Augen hat, am deutlichsten erkennen. Aber jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf er stolz [S.342/343] seyn könnte, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation, der er gerade angehört, stolz zu seyn: hieran erholt er sich und ist nun dankbarlich bereit alle Fehler und Thorheiten, die ihr eigen sind, πεξ χαι λαζ zu vertheidigen.(S.342/343]

Der Menge sei eherlicherweise wenig Gutes nachzurühmen.

Dem Nationalcharakter wird, da er von der Menge redet, nie viel gutes ehrlicherweise nachzurühmen seyn. [S.343]

Nationales Selbstverständnis im 19.Jahrhundert

Jede Nation spottet über die andere, und alle haben Recht. [S.343]

Sehen und Hören, ohne zu verstehen und zu erkennen.

Der große Haufe nämlich hat Augen und Ohren, aber nicht viel mehr, zumal blutwenig Urtheilskraft und selbst wenig Gedächtnis. [S.344]

Ehre ist die Besorgtheit um den guten Ruf

Die Ehre ist, objektiv, die Meinung Anderer von unserm Werth, und subjektiv, unsere Furcht vor dieser Meinung. [S.444]

Beschimpfungen

Freilich legt Der, welcher schimpft, dadurch an den Tag, daß er nichts Wirkliches und Wahres gegen den Andern vorzubringen hat; da er sonst Dieses als die Prämissen geben und die Konklusion getrost den Hörern überlassen würde. [S.346]

Ehre ist passiver, Ruhm dagegen aktiver Natur.

Ruhm muß daher erst erworben werden: die Ehre hingegen braucht bloß nicht verloren zu gehn. [S.346]

Die so genannte ritterliche Ehre im Bürgertum des 19. Jahrhundert als Totschlag-Lizenz bei persönlichem Hass gegenüber Zeitgenossen

Diesem zufolge mag das Thun und Lassen eines Mannes das rechtschaffenste und edelste, sein Gemüth das reinste und sein Kopf der eminenteste sein; so kann dennoch seine Ehre jeden Augenblick verloren gehen, sobald es nämlich irgend Einem,– der nur noch nicht diese Ehrengesetze verletzt hat, übrigens aber der nichtswürdigste Lump, das stupideste Vieh, ein Tagedieb, Spieler, Schuldenmacher, kurz, ein Mensch, der nicht werth ist, daß Jener ihn ansieht, seyn kann,– beliebt, ihn zu schimpfen. Sogar wird es meistentheils gerade ein Subjekt solcher Art seyn, dem Dies beliebt; weil eben, wie Seneka richtig bemerkt, ut quisque contemtissimus et ludribire est, ita solutissimae linguae est (de constantia, 11.): auch wird ein Solcher gerade gegen einen, wie der zuerst Geschilderte, am leichtesten aufgereizt werden; weil die Gegensätze sich hassen und weil der Anblick überwiegender Vorzüge die stille Wuth der Nichtswürdigkeit zu erzeugen pflegt. [S.353]



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