Kurs:Analysis I/Kapitel I: Das System der reellen und komplexen Zahlen/Definition der reellen Zahlen (§2)

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Hilfssatz 1[Bearbeiten]

Es gibt kein mit .

Beweis (indirekt)[Bearbeiten]

Angenommen, es gibt ein mit , dann lässt sich in der Form

mit und

darstellen. Wir können o. B. d. A. voraussetzen, dass und teilerfremd sind, da wir ggf. gemeinsame Teiler kürzen. Damit folgt wegen

,

dass und damit auch eine gerade Zahl ist. Es gibt also ein mit . Wir erhalten

.

Somit ist neben auch eine gerade Zahl. Dieses steht im Widerspruch zur Voraussetzung, dass und teilerfremd sind. Die Annahme, es gäbe ein mit , ist also falsch. Damit ist Hilfssatz 1 bewiesen.

q.e.d.

Wir wollen nun eine Lösung der Gleichung definieren. Seien die Ziffern mit für alle gewählt. Dazu betrachten wir die Darstellung

als unendlichen Dezimalbruch mit usw. Wir erklären die in rationale Zahlenfolge durch

für

mit dem Grenzwert . Der Hilfssatz 1 besagt, dass dieser Grenzwert nicht in liegen kann. Wir werden die Folge mit der reellen Zahl identifizieren. Für beliebige und o. B. d. A. gilt die Ungleichung

.

Für ein gegebenes kann man ein derart wählen, dass

für alle

richtig ist – und somit die Streuung der Folge rationaler Zahlen beliebig klein wird.

Definition 1[Bearbeiten]

Eine Abbildung
vermöge
heißt rationale Zahlenfolge . Die heißen Glieder der Zahlenfolge.

Bemerkung[Bearbeiten]

Bei Folgen und Reihen betrachten wir die Indexmengen und als geordnete Mengen.

Definition 2[Bearbeiten]

Eine rationale Zahlenfolge heißt Cauchy-Folge genau dann, wenn es zu jedem eine natürliche Zahl gibt, dass für alle die Ungleichung
(1)
erfüllt ist.

Definition 3[Bearbeiten]

Eine rationale Cauchy-Folge heißt Nullfolge genau dann, wenn es zu jedem eine natürliche Zahl derart gibt, dass für alle stets gilt.

Definition 4[Bearbeiten]

Zwei Cauchy-Folgen und heißen zueinander äquivalent genau dann, wenn eine Nullfolge ist. Man schreibt:
für alle .

Definition 5[Bearbeiten]

Für eine beliebige Menge sei zwischen zwei Elementen eine Relation derart definiert, so dass für jedes geordnete Paar feststeht, ob richtig ist oder nicht. Diese Relation heißt Äquivalenzrelation genau dann, wenn die Axiome erfüllt sind.
Für alle gilt: (Reflexivität)
Für alle gilt: (Symmetrie)
Für alle gilt: (Transitivität)

Beispiel 1[Bearbeiten]

a) Die Gleichheit rationaler Zahlen ist eine Äquivalenzrelation, denn für alle gelten:



b) Die kleiner-Relation rationaler Zahlen ist wegen keine Äquivalenzrelation.
c) Für ist

eine Äquivalenzrelation, die in die elementfremden Äquivalenzklassen der geraden und ungeraden Zahlen einteilt. (vgl. Definition 6)

Beispiel 2[Bearbeiten]

Sei die Menge der rationalen Cauchy-Folgen . Dann ist die in Definition 4 erklärte Beziehung eine Äquivalenzrelation, denn für alle gelten

für alle
gemäß Definition 4.

Definition 6[Bearbeiten]

Sei eine Menge mit einer Äquivalenzrelation . Dann heißt eine Teilmenge Äquivalenzklasse, falls folgendes gilt:
1. .
2. .
3. .

Satz 1[Bearbeiten]

Sei eine Äquivalenzrelation auf der Menge , dann ist für jedes beliebige die Menge
eine Äquivalenzklasse. Wir nennen einen Repräsentanten der Äquivalenzklasse .
(2) Für und gilt: .

Beweis[Bearbeiten]

Zunächst zeigen wir, dass eine Äquivalenzklasse ist. Wegen ist und damit . Seien , so folgt und und wegen folgt . Ist und , so folgt – wegen und . Damit ist eine Äquivalenzklasse. Das Nachrechnen der Äquivalenz (2) überlassen wir zur Übung dem Leser.

q.e.d.

Bemerkung[Bearbeiten]

Eine Menge wird also durch die Erklärung einer Äquivalenzrelation in paarweise disjunkte Klassen eingeteilt und es gilt

.

Definition 7[Bearbeiten]

Für eine rationale Cauchy-Folge bezeichnen wir mit die Äquivalenzklasse aller Cauchy-Folgen , die mit der Folge äquivalent sind. Die Menge der reellen Zahlen erklären wir als die Menge aller Äquivalenzklassen rationaler Cauchy-Folgen. Die Elemente heißen reelle Zahlen. Man verwendet die Schreibweise:
.

Bemerkung[Bearbeiten]

Wir nennen rational, wenn für alle gilt – sonst heißt irrational. Damit sind die konstanten rationalen Cauchy-Folgen die Repräsentanten der rationalen Elemente von .

Hilfssatz 2[Bearbeiten]

Jede Cauchy-Folge ist beschränkt.

Beweis[Bearbeiten]

Sei . Dann ist zu zeigen, dass es eine positive Zahl gibt mit für alle . Da eine Cauchy-Folge ist, gibt es gemäß Definition 2 zu eine natürliche Zahl mit für alle . Dann folgt nach der Dreiecksungleichung

.

Setzen wir , so ergibt sich mit für alle die Behauptung.

Hilfssatz 3[Bearbeiten]

Seien rationale Cauchy-Folgen, wobei und erfüllt ist. Dann sind auch rationale Cauchy-Folgen und es gelten die Relationen
(3)
sowie
(4) .

Beweis[Bearbeiten]

Es ist jeweils die Differenzfolge als Nullfolge zu erkennen (vgl. Definition 4). Zuerst zeigen wir (3) unter Anwendung der Dreiecksungleichung:

(3)
für alle .

Analog ergibt sich nach Hilfssatz 2 und (12) und (13) in Satz 2 aus §1:

(4)
für alle .

Dabei wurde geeignet gewählt.

q.e.d.

Definition 8[Bearbeiten]

Im beliebigen Körper sei die Folge gegeben. Weiter sei eine beliebige Folge natürlicher Zahlen gewählt. Dann nennen wir
eine Teilfolge der Folge .

Hilfssatz 4[Bearbeiten]

Sei eine rationale Cauchy-Folge. Dann tritt genau einer der folgenden Fälle ein:
ist eine Nullfolge.
Typ : Es gibt eine positive Zahl und ein mit für alle .
Typ : Es gibt eine negative Zahl und ein mit für alle .

Beweis[Bearbeiten]

Sei . Wenn Fall nicht eintritt, also keine Nullfolge darstellt, so gibt es ein und eine Teilfolge

mit für alle .

Wegen gibt es andererseits eine natürliche Zahl derart, dass folgendes gilt:

für alle .

Nach Voraussetzung gilt entweder oder . Im ersten Fall gilt

für alle , also tritt Fall ein; dabei wird und gesetzt. Im zweiten Fall hat man für alle die Abschätzung

,

aus der folgt.

q.e.d.

Hilfssatz 5[Bearbeiten]

Seien und zueinander äquivalente rationale Cauchy-Folgen, die keine Nullfolgen sind. Weiter gelte und für alle . Dann sind und Cauchy-Folgen und es gilt
(5) .

Beweis[Bearbeiten]

Wegen Hilfssatz 4 gibt es eine positive Zahl und ein derart, dass die Ungleichungen und für alle erfüllt sind. Da für alle die Abschätzungen

richtig sind, bildet eine Cauchy-Folge. Somit liefert auch eine Cauchy-Folge. Weiter folgt wegen Formel (18) aus §1 und Definition 4 für alle und :

.

q.e.d.

Bemerkungen[Bearbeiten]

Wenn und eine Teilfolge von darstellt, dann sehen wir

.

Offenbar kann man durch Addition der Terme eine Folge so verändern, dass eine Folge entsteht, die den Bedingungen für und genügt.

Aufgrund der vorangegangenen Überlegungen lassen sich die Rechenoperationen und der Begriff der Positivität für Elemente durch Repräsentanten der zugehörigen Äquivalenzklassen definieren.

Definition 9 (Eigenschaft der Positivität)[Bearbeiten]

ist eine Nullfolge.
gehört zum Typ .
gehört zum Typ .

Definition 10 (Rechenoperationen in )[Bearbeiten]

Seien und . Dann definiert man:
(6) Summe von und
(7) Produkt von und
(8) Negatives von
(9) und Inverses von

Definition 11 (Einbettung der rationalen Zahlen in )[Bearbeiten]

Sei mit für alle . Dann setzen wir .

Definition 12 (Intervalle reeller Zahlen)[Bearbeiten]

Seien und gegeben, so erklären wir
als offenes Intervall,
als abgeschlossenes Intervall,
als halboffenes Intervall,
als offenes Intervall.

Bemerkung[Bearbeiten]

Es kann auch und gewählt werden.

Satz 2[Bearbeiten]

Die Menge ist bezüglich Definition 9 und der in Definition 10 erklärten Operationen (6) bis (9) ein angeordneter Körper, der den Körper als echten Unterkörper enthält.

Bemerkung[Bearbeiten]

Der Beweis ist bezüglich Definition 1 und 2 aus §1 leicht zu führen. Die Erweiterung ist sinnvoll, da wir nun die Gleichung in lösen können.

Satz 3[Bearbeiten]

Es seien mit und . Dann gibt es genau ein mit derart, dass gilt.

Beweis[Bearbeiten]

1. (Eindeutigkeit) Angenommen, es gäbe zwei positive Zahlen mit und sowie . Dann sei o. B. d. A. und mittels vollständiger Induktion über zeigt man . Dies steht im Widerspruch zu der Annahme, dass gilt. Somit besitzt die Gleichung höchstens eine Lösung.

2. (Konstruktion der Lösung) Angenommen es gibt ein mit . Dann ist nichts mehr zu beweisen. Nehmen wir also an, es gäbe kein mit . Für zerlegt die Zahlenfolge

die Menge der nicht negativen reellen Zahlen . Beim Übergang von der -ten zur -ten Zerlegung wird jedes Intervall in zehn Teilintervalle zerlegt. Nach Voraussetzung folgt für alle die Ungleichung

,

denn die Lösung soll nicht in liegen. Somit fällt bei jeder Zerlegung ins Innere genau eines solchen Intervalls. Deshalb gibt es eine Folge erklärt durch

mit sowie für . Wir beachten

(10) .

Für hat man die Ungleichung

.

Also ist und wir setzen . Für alle gelten

(11) und .

Aus (10), (11) und Satz 5 aus §1 folgt

.

Für strebt die rechte Seite in obiger Ungleichung gegen Null. Also gilt für die Abschätzung

bzw. .

q.e.d.