Benutzer:Cethegus/Geschichte des Agathon

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Geschichte des Agathon ist ein Roman von w:Christoph Martin Wieland. Er gilt als der erste w:Bildungsroman der deutschen Literatur. Die Erstfassung ist 1766/67 erschienen, Wieland hat den Roman 1773 und 1794 umgearbeitet.

Äußerungen über Geschichte des Agathon[Bearbeiten]

"Wieland selbst gesteht, daß er sein eigenes Wesen und seine Erfahrungen in dem Helden abgebildet habe, natürlich nur versteckt und verhüllt, diesmal unter einer griechischen Maske [...] die galante Zopfzeit mit ihren Liebeleien, ihren verliebten Abenteuern, sentimentalen Schwärmereien, moralisierenden Gedanken, philosophierenden Gesprächen schaut überall deutlich durch das griechische Gewand hindurch." (Alfred Biese: Deutsche Literaturgeschichte 1. Band 1910, S.553)

"Das Werk setzt die mit w:Parzival und Simplizissimus begonnene Reihe der Entwicklungsromane fort, die dann zum w:Wilhelm Meister und zu Gottfried Kellers Grünem Heinrich" weiterführt." (Georg Ried: Wesen und Werden der deutschen Dichtung, 1955, S.91)

"Als Vorstufe des Werther ist der Agathon Bruchstück einer Konfession im Banne des Klassizismus. [...]

Wie in der Welt des Rokoko, so herrscht auch in Wielands erstem Entwurf (1762) die Frau, die Hetäre. [...]

Seine Bekenntnisse gewähren Einblick in ein individuelles Seelenleben, nicht mehr in ein Herz, das in Gott Ruhe findet. [...] Seine Leistung in der Geschichte des deutschen Romans [...] ist deshalb in Parallele zu der Lessings in der Geschichte des deutschen Dramas gesetzt worden." (Richard Newald in: Geschichte der deutschen Literatur hg. von Helmut de Boor und Richard Newald, 6. Band 1. Teil 1961, S.86)

Zum Inhalt[Bearbeiten]

„Der Autor schildert uns das Leben und Leiden des Agathon, eines (zu Beginn des Romans sehr, an dessen Ende auch immer noch recht) jungen Griechen, jüngerer Zeitgenosse des Platon. Das Werk ist ein klassischer Entwicklungsroman, den das Publikum auch rasch als solchen rezipierte, schätzte und als vorbildhaft für das Genre einstufte. Wir lernen Agathon kennen als schwärmerischen Jüngling zu Delphi, erleben mit, wie ihn sein Vater (wieder) entdeckt und er nach Athen kommt, wo er in kürzester Zeit, knapp über 20 Jahre alt, politische Karriere macht. Der wankelmütige Sinn der Athener führt dann allerdings auch zu seinem Sturz. Man konfisziert seine Güter, und verarmt macht sich Agathon auf den Weg nach Samos. Dort trifft er auf Danae, eine ehemalige Hetäre, Schülerin der Aspasia. Agathon vergisst Psyche, seine Jugendliebe, und erlebt mit Danae eine ziemlich heftige Romanze. Eine Intrige des Hippias, eines sophistischen Philosophen, macht, dass Agathon sein Vertrauen in Danae verliert. Er wandert weiter nach Syrakus, wo er beim Tyrannen Dionysius die Nachfolge Platons als philosophisch-politischer Berater einnimmt. Er scheitert ebenso wie sein berühmter Vorgänger und zieht weiter nach Smyrna, zu einem Freund, wo er zu seinem Entzücken sowohl Psyche wie Danae wiederfindet. Psyche ist unterdessen mit seinem Freund verheiratet und entpuppt sich als Agathons Schwester; Danae hat der Liebe gänzlich entsagt und bringt auch Agathon dazu, auf die Liebe (wenigstens zu ihr) zu verzichten.“

von P.H. 29.6.2013[1]

Textausschnitte[Bearbeiten]

1. Teil[Bearbeiten]

Kurzzitate aus dem ersten Teil

„"Weil nach unserm Plan der Charakter unsers Helden auf verschiedene Proben gestellt werden sollte, durch welche seine Denkensart und seine Tugend erläutert, und dasjenige, was darin übertrieben, und unecht war, nach und nach abgesondert würde;[...]"

"Nein, wahre Liebe kann so wenig eifersüchtig sein, als sich selbst fühlende Stärke zittern kann."

"Meine neue Gebieterin war von der guten Art von Geschöpfen, die gemacht sind sich selbst zu gefallen, und sich alles gefallen zu lassen. Ich wurde zu der Ehre bestimmt, den Aufputz ihres schönen Kopfes zu besorgen; und die Art, wie ich dieses Amt verwaltete, erwarb mir ihre Gunst so sehr, daß sie mich beinahe so viel liebte, als ihren Schoßhund."

"Die aufgehende Sonne, die von der rosenfingrichten Aurora angekündiget, das Jonische Meer mit ihren ersten Strahlen vergoldete, fand alle diejenigen, mit dem Virgil zu reden, von Wein und Schlaf begraben, welche die Nacht durch dem Bacchus und seiner Göttin Schwester geopfert hatten. Nur Agathon, der gewohnt war mit der Morgenröte zu erwachen, wurde von den ersten Strahlen geweckt, die in horizontalen Linien an seiner Stirne hinschlüpften."

"Wie begierig hätte ich vor wenigen Stunden einen Augenblick wie diesen mit meinem Leben erkauft! Indem sie dieses sagte, umarmte sie den glücklichen Agathon mit einer so rührenden Zärtlichkeit, daß die Entzückung, die ihre Herzen einander mitteilten, eine zweite sprachlose Stille hervorbrachte; und wie sollten wir beschreiben können, was sie empfanden, da der Mund der Liebe selbst nicht beredt genug war, es auszudrucken?"“

Wieland: Geschichte des Agathon, Erster Teil

Die Sophisten und Socrates

Sie wurden von aller Welt mit dem ehrenvollen Namen der Sophisten oder Weisen benennt; allein die Weisheit, von der sie Profession machten, war von der Socratischen, die durch einige Verehrer dieses Atheniensischen Bürgers so berühmt worden ist, so wohl in ihrer Beschaffenheit, als in ihren Würkungen unendlich unterschieden; oder besser zu sagen, sie war die vollkommne Antipode derselbigen. Die Sophisten lehrten die Kunst, die Leidenschaften andrer Menschen zu erregen; Socrates die Kunst, seine eigene zu dämpfen. Jene lehrten, wie man es machen müsse, um weise und tugendhaft zu scheinen; dieser lehrte, wie man es sei. Jene munterten die Jünglinge von Athen auf, sich der Regierung des Staats anzumaßen; Socrates, daß sie vorher die Hälfte ihres Lebens anwenden sollten, sich selbst regieren zu lernen. [...]

Wir würden nicht fertig werden, wenn wir diese Gegensätze so weit treiben wollten, als wir könnten. Genug, daß die Weisheit der Sophisten einen Vorzug hatte, den ihr die Socratische nicht streitig machen konnte; sie verschaffte ihren Besitzern Reichtum, Ansehen, Ruhm, und ein Leben, das von allem, was die Welt glücklich nennet, überfloß. [...]

Hippias

Er war so klug, frühzeitig zu entdecken, wie viel an der Gunst dieser reizenden Geschöpfe gelegen ist, welche in den policierten Teilen des Erdbodens die Macht würklich ausüben, die in den Märchen den Feen beigelegt wird; die mit einem einzigen Blick, oder durch eine kleine Verschiebung des Halstuchs stärker überzeugen, als w:Demosthenes und w:Lysias durch lange Reden; die mit einer einzigen Träne den Gebieter über Legionen entwaffnen, und durch den bloßen Vorteil, den sie von ihrer Gestalt und einem gewissen Bedürfnis des stärkern Geschlechts zu ziehen wissen, sich zu unumschränkten Beherrscherinnen derjenigen machen, in deren Händen das Schicksal ganzer Völker liegt. [...]

Er hatte, bevor er sich nach Smyrna begab, um die Früchte seiner Arbeit zu genießen, den schönsten Teil seines Lebens zugebracht, die edelste Jugend der griechischen Städte zu bilden; er hatte Redner gebildet, die durch eine künstliche Vermischung des Wahren und Falschen, und den klugen Gebrauch gewisser Figuren, einer schlimmen Sache den Schein und die Würkung einer guten zu geben wußten; Staats-Männer, welche die Kunst besaßen, mitten unter den Zujauchzungen eines betörten Volks die Gesetze durch die Freiheit und die Freiheit durch schlimme Sitten zu vernichten; um diejenigen, die sich der heilsamen Zucht der Gesetze nicht unterwerfen wollten, der willkürlichen Gewalt ihrer Leidenschaften zu unterwerfen; kurz, er hatte Leute gebildet, die sich Ehren-Säulen dafür aufrichten ließen, daß sie ihr Vaterland zu Grunde richteten. Allein dieses befriedigte seine Eitelkeit noch nicht: Er wollte auch jemand hinterlassen, der seine Kunst fortzusetzen geschickt wäre; eine Kunst, die in seinen Augen allzuschön war, als daß sie mit ihm sterben sollte.“

Wieland: Geschichte des Agathon, 2. Buch 1. und 2. Kapitel
Verwunderung, in welche Agathon gesetzt wird

„[...] Ein Jonisches Ohr will nicht nur ergötzt, es will bezaubert sein. Die Annehmlichkeit der Stimme, die Reinigkeit und das Weiche der Aussprache, die Richtigkeit des Accents, das Muntre, das Ungezwungene, das Musicalische ist nicht hinlänglich; wir fodern eine vollkommne Nachahmung, einen Ausdruck, der jedem Teile des Stücks, jeder Periode, jedem Vers das Leben, den Affect, die Seele gibt, die sie haben sollen; kurz, die Art, wie gelesen wird, soll das Ohr an die Stelle aller Übrigen Sinne setzen. Das Gastmahl des Alcinou soll diesen Abend dein Probstück sein. Die Fähigkeiten, die ich an dir zu entdecken hoffe, werden meine Absichten mit dir bestimmen; und vielleicht wirst du in der Zukunft Ursache finden, den Tag, an dem du dem Hippias gefallen hast, unter deine Glücklichen zu zählen. Mit diesen Worten verließ er unsern Jüngling, und ersparte sich dadurch die Demütigung zu sehen, wie wenig der neue Callias durch die Hoffnungen gerührt schien, wozu ihn diese Erklärung berechtigte. In der Tat hatte die Bestimmung, die Jonischen Ohren zu bezaubern, in Agathons Augen nicht edels genug, daß er sich deswegen hätte glücklich schätzen sollen; und über dem war etwas in dem Ton dieser Anrede, welches ihm mißfiel, ohne daß er eigentlich wußte, warum? Inzwischen vermehrte sich seine Verwunderung, je mehr er sich in dem Hause des weisen Hippias umsah; und er begriff nun ganz deutlich, daß sein Herr, was auch sonst seine Grundsätze sein möchten, wenigstens von der Ertödung der Sinnlichkeit, wovon er ehmals den Plato zu Athen sehr schöne Dinge sagen gehört hatte, keine Profession mache. Allein wie er sah, was die Weisheit in diesem Hause für eine Tafel hielt, wie prächtig sie sich bedienen ließ, was für reizende Gegenstände ihre Augen, und was für wollüstige Harmonien ihre Ohren ergötzten, während daß der Schenk-Tisch mit den ausgesuchtesten Weinen und den angenehm-betäubenden Getränken der Asiaten beladen, den Sinnen zum Genuß so vieler Wollüste neue Kräfte zu geben schien; wie er die Menge von jungen Sclaven sah, die den Liebes-Göttern ähnlich schienen, die Chöre von Tänzerinnen und Lauten-Spielerinnen, die durch die Reizungen ihrer Gestalt so sehr als durch ihre Geschicklichkeit bezauberten, und die nachahmenden Tänze, in denen sie die Geschichte der Leda oder Danae durch bloße Bewegungen mit einer Lebhaftigkeit vorstellten, die einen Nestor hätte Verjüngern können; wie er die üppigen Bäder, die bezauberten Gärten, kurz, wie er alles sah, was das Haus des weisen Hippias zu einem Tempel der ausgekünsteltsten Sinnlichkeit machte, so stieg seine Verwunderung bis zum Erstaunen; und er konnte nicht begreifen, was dieser Sybarite getan haben müsse, um den Namen eines Weisen zu verdienen, oder wie er sich einer Benennung nicht schäme, die ihm, seinen Gedanken nach, eben so gut anstund, als dem Alexander von Phera, wenn man ihn den Leutseligen, oder der w:Phryne, wenn man sie die Keusche hätte nennen wollen. Alle Auflösungen, die er sich selbst hierüber machen konnte, befriedigten ihn so wenig, daß er sich vornahm, bei der ersten Gelegenheit dieses Problem dem Hippias selbst vorzulegen.“

Wieland: Geschichte des Agathon, 2. Buch 3. Kapitel, S. 410-411

Hippias wirbt für seine Weltanschauung[Bearbeiten]

Vorbereitung des Vortrags[Bearbeiten]

„Mit einer Gemütsverfassung, die so wenig von der Gelehrigkeit hatte, welche Hippias foderte, fand sich Agathon ein, als er nach Verfluß einiger Tage an einem Morgen in das Zimmer des Sophisten gerufen wurde, welcher auf einem Ruhbette liegend seiner erwartete, und ihm befahl sich neben ihm niederzusetzen und das Frühstück mit ihm zu nehmen. Diese Höflichkeit war nach der Absicht des weisen Hippias eine Vorbereitung, und er hatte, um die Würkung derselben zu befördern, das schönste Mädchen in seinem Hause ausersehen, sie hiebei zu bedienen. In der Tat die Gestalt dieser Nymphe, und die gute Art womit sie ihr Amt versah, machten ihre Aufwartung für einen Weisen von Agathons Alter ein wenig beunruhigend. Das schlimmste war, daß die kleine Hexe, um sich wegen der Gleichgültigkeit zu rächen, womit Agathon ihre zuvorkommende Gütigkeit bisher vernachlässiget hatte, keinen von den Kunstgriffen verabsäumte, wodurch sie den Wert des von ihm verscherzten Glückes empfindlicher zu machen glaubte. Sie hatte die Bosheit gehabt, sich in einem so niedlichen, so sittsamen und doch so verführerischen Morgen konnte zu denken, die Gratien selbst könnten, wenn sie gekleidet erscheinen wollten, keinen Anzug erfinden,[429] der auf eine wohlanständigere Art das Mittel, zwischen der eigentlichen Kleidung und ihrer gewöhnlichen Art sich sehen zu lassen, hielte. Die Wahrheit zu sagen, das rosenfarbe Gewand, welches sie umfloß, war eher demjenigen ähnlich, was Petron einen gewebten Wind oder einen leinenen Nebel nennt, als einem Zeug der den Augen etwas entziehen soll; und die kleinste Bewegung entdeckte Reizungen, die desto gefährlicher waren, da sie sich gleich wieder in verräterische Schatten verbargen, und der Einbildungskraft noch mehr als den Augen nachzustellen schienen. Dem ungeachtet würde unser Held sich vielleicht ganz wohl aus der Sache gezogen haben, wenn er nicht beim ersten Anblick die Absichten des Hippias und der schönen Cyana (so hieß das junge Frauenzimmer) erraten hätte. Diese Entdeckung setzte ihn in eine Art von Verlegenheit, die desto merklicher wurde, je größere Gewalt er sich antat, sie zu verbergen; er errötete zu seinem größten Verdruß bis an die Ohren, er machte allerlei gezwungne Gebärden, und sah alle Gemälde in dem Zimmer nach einander an, um seine Verwirrung unmerklich zu machen; aber alle seine Mühe war umsonst, und die Geschäftigkeit der schalkhaften Cyane fand immer neuen Vorwand seinen zerstreuten Blick auf sich zu ziehen. Doch der Triumph, dessen sie in diesen Augenblicken genoß, währte nicht lange. So empfindlich die Augen Agathons waren, so waren sie es doch nicht mehr als sein moralischer Sinn; und ein Gegenstand, der diesen beleidigte, konnte keinen so angenehmen Eindruck auf jene machen, daß er nicht von der unangenehmen Empfindung der andern wäre überwogen worden. Die Forderungen der schönen Cyane, das Gekünstelte, das Schlaue, das Schlüpfrige, das ihm an ihrer ganzen Person anstößig war, löschte das Reizende so sehr aus, und erkaltete seine Sinnen so sehr, daß ein größerer Grad davon, gleich dem Anblick der Medusa, fähig gewesen wäre, ihn in einen Stein zu verwandeln. Die Freiheit und Gleichgültigkeit, die ihm dieses gab, blieb Cyanen nicht verborgen; und er sorgte dafür, sie durch gewisse Blicke, und ein gewisses Lächeln, dessen Bedeutung ihr ganz deutlich war, zu überzeugen, daß sie zu früh triumphiert habe. Dieses Betragen war für ihre Reizungen allzu beleidigend, als daß sie es so gleich für ungezwungen hätte halten sollen;[430] der Widerstand, den sie fand, forderte sie zu einem Wettstreit heraus, worin sie alle ihre Künste anwandte, den Sieg zu erhalten; allein die Stärke ihres Gegners ermüdete endlich ihre Hoffnung, und sie behielt kaum noch so viel Gewalt über sich selbst, den Verdruß zu verbergen, den sie über diese Demütigung ihrer Eitelkeit empfand. Hippias, der sich eine zeitlang stillschweigend mit diesem Spiel belustigte, urteilte bei sich selbst, daß es nicht leicht sein werde, den Verstand eines Menschen zu fangen, dessen Herz selbst auf der schwächsten Seite, so wohl befestiget schien. Allein diese Anmerkung bekräftigte ihn nur in seinen Gedanken von der Methode, die er bei seinem neuen Schüler gebrauchen müsse; und da er selbst von seinem System besser überzeugt war, als irgend ein Bonze von der Kraft der Amulete, die er seinen dankbaren Gläubigen austeilt, so zweifelte er nicht, daß Agathon durch einen freimütigen Vortrag besser zu gewinnen sein würde, als durch die rednerischen Kunstgriffe, deren er sich bei schwächern Seelen mit gutem Erfolg zu bedienen pflegte. Sobald also das Frühstück genommen, und die beschämte Cyane abgetreten war, fing er nach einem kleinen Vorbereitungs-Gespräch, den merkwürdigen Discurs an, durch dessen vollständige Mitteilung wir desto mehr Dank zu verdienen hoffen, da wir von Kennern versichert worden, daß der geheime Verstand desselben den buchstäblichen an Wichtigkeit noch weit übertreffe, und der wahre und unfehlbare Proceß, den Stein der Weisen zu finden, darin verborgen liege.“

Wieland: Geschichte des Agathon, 1. Teil 2. Buch 8. Kapitel
Der Vortrag des Hippias[Bearbeiten]

„Wenn wir auf das Tun und Lassen der Menschen acht geben, mein lieber Callias, so scheint zwar, daß alle ihre Sorgen und Bemühungen kein andres Ziel haben als sich glücklich zu machen; allein die Seltenheit dererjenigen die es würklich sind, oder es doch zu sein glauben, beweiset zugleich, daß die meisten nicht wissen, durch was für Mittel sie sich glücklich machen sollen, wenn sie es nicht sind; oder wie sie sich ihres guten Glückes bedienen sollen, um in denjenigen Zustand zu kommen den man Glückseligkeit nennt. Es gibt eben so viele die im Schoße des. Ansehens, des Glücks und der Wollust, als solche die in einem Zustande von Mangel, Dienstbarkeit und Unterdrückung elend sind. Einige haben sich aus diesem letztem Zustand emporgearbeitet, in der Meinung, daß sie nur darum unglückselig seien, weil es ihnen am Besitz der Güter des Glücks fehle. Allein die Erfahrung hat sie gelehrt, daß wenn es eine Kunst gibt, die Mittel zur Glückseligkeit zu erwerben, es vielleicht eine noch schwerere, zum wenigsten eine seltnere Kunst sei, diese Mittel recht zu gebrauchen.

Es ist daher allezeit die Beschäftigung der Verständigsten unter den Menschen gewesen, durch Verbindung dieser beiden Künste diejenige heraus zu bringen, die man die Kunst glücklich zu leben nennen kann, und in deren würklichen Ausübung, nach meinem Begriffe, die Weisheit besteht, die so selten ein Anteil der Sterblichen ist. Ich nenne sie eine Kunst, weil sie von der fertigen Anwendung gewisser Regeln abhängt, die nur durch die Übung erlangt werden kann: Allein sie setzt wie alle Künste einen gewissen Grad von Fähigkeit voraus, den nur die Natur gibt, und den sie nicht allen zu geben pflegt. Einige Menschen scheinen kaum einer größern Glückseligkeit fähig zu sein als die Austern, und wenn sie ja eine Seele haben, so ist es nur so viel als sie brauchen, um ihren Leib eine Zeitlang vor der Fäulnis zu bewahren. Ein [432] größerer und vielleicht der größte Teil der Menschen befindet sich nicht in diesem Fall; aber weil es ihnen an genügsamer Stärke des Gemüts, und an einer gewissen Zärtlichkeit der Empfindung mangelt, so ist ihr Leben gleich dem Leben der übrigen Tiere des Erdbodens, zwischen Vergnügen, die sie weder zu wählen noch zu genießen, und Schmerzen, denen sie weder zu widerstehen noch zu entfliehen wissen, geteilt. Wahn und Leidenschaften sind die Triebfedern dieser menschlichen Maschinen; beide setzen sie einer unendlichen Menge von Übeln aus, die es nur in einer betrognen Einbildung, aber eben darum wo nicht schmerzlicher doch anhaltender und unheilbarer sind, als diejenigen die uns die Natur auferlegt. Diese Art von Menschen ist keines gesetzten und anhaltenden Vergnügens, keines Zustandes von Glückseligkeit fähig; ihre Freuden sind Augenblicke, und ihre übrige Dauer ist entweder ein wirkliches Leiden, oder ein unaufhörliches Gefühl verworrener Wünsche, eine immerwährende Ebbe und Flut von Furcht und Hoffnung, von Phantasien und Gelüsten; kurz eine unruhige Bewegung die weder ein gewisses Maß noch ein festes Ziel hat, und also weder ein Mittel zur Erhaltung dessen was gut ist sein kann, noch dasjenige genießen läßt, was man würklich besitzt.

Es scheint also unmöglich zu sein, ohne eine gewisse Zärtlichkeit der Empfindung, die uns in einer weitern Sphäre, mit feinem Sinnen und auf eine angenehmere Art genießen läßt, und ohne diejenige Stärke der Seele, die uns fähig macht das Joch der Phantasie und des Wahns abzuschütteln, und die Leidenschaften in unsrer Gewalt zu haben, zu demjenigen ruhigen Zustande von Genuß und Zufriedenheit zu kommen, der die Glückseligkeit ausmacht. Nur derjenige ist in der Tat glücklich, der sich von den Übeln die nur in der Einbildung bestehen, gänzlich frei zu machen; diejenigen aber, denen die Natur den Menschen unterworfen hat, entweder zu vermeiden, oder doch zu vermindern – und das Gefühl derselben einzuschläfern, hingegen sich in den Besitz alles des Guten, dessen uns die Natur fähig gemacht hat, zu setzen, und was er besitzt, auf die angenehmste Art zu genießen weiß; und dieser Glückselige allein ist der Weise.“

Wieland: Geschichte des Agathon, 3. Buch 1. Kapitel, S.431/32

Danaes Plan[Bearbeiten]

„Die schlaue Danae hatte sich aus der Beschreibung des Hippias eine solche Vorstellung von dem Agathon gemacht, daß sie alles gewonnen zu haben glaubte, wenn sie nur seine Einbildungskraft auf ihre Seite gebracht haben würde. Hippias, dachte sie, hatte nur darin gefehlt, daß er ihn durch die Sinnen verführen wollte. Auf diese Voraussetzung machte sie einen Plan, über den sie nicht wenig vergnügt war; und dachte so wenig daran, daß die Ausführung sie ihr eignes Herz kosten könnte, als Agathon sich von der Gefahr träumen ließ, die dem seinigen zubereitet wurde. [...] Die Gesellschaft, die er versammelt fand, war aus lauter solchen Personen zusammengesetzt, welche die Vorrechte des vertrautesten Umgangs in diesem Hause genossen, und die attische Urbanität, die von der spröden, regelmäßigen und manierenreichen Politesse der heutigen Europäer so sehr verschieden war, in einem so hohen Grad als Danae selbst, besaßen. In einer Gesellschaft nach der heutigen Art würde Agathon, in den ersten Augenblicken, da er sich darstellte, zu einer unendlichen Menge von boshaften und spöttischen Anmerkungen Stoff gegeben haben; allein in dieser war ein flüchtiger Blick alles, was er auszuhalten hatte. Die Unterredung wurde fortgesetzt, niemand zischelte dem andern ins Ohr, oder schien das Erstaunen zu bemerken, mit der seine Augen die schöne Danae zu verschlingen schienen; kurz, man ließ ihm alle Zeit die er brauchte um wieder zu sich selbst zu kommen, wofern sich anders dieser Ausdruck für die Verfassung schickt, in der er sich diesen ganzen Abend durch befand. [...] Armer Agathon! Allzureizende Danae! Wer hätte es glauben sollen? Ihr ganzes Spiel drückte die eigenste Idee des Agathon aus, aber mit einer Anmut, mit einer Zauberei, wovon ihm seine Phantasie keine Idee gegeben hatte. Die Empfindungen, von denen seine Seele in diesen Augenblicken überfallen wurde, waren so lebhaft, daß er sich bemühte, seine Augen von diesem zu sehr bezaubernden Gegenstand abzuziehen; aber vergeblich! Eine unwiderstehliche Gewalt zog sie zurück. Wie edel, wie schön waren ihre Bewegungen! Mit welch einer rührenden Einfalt drückte sie den Charakter der Unschuld aus! [...] Agathon selbst, der sich von seiner ersten Jugend an eine Beschäftigung daraus gemacht hatte, den geheimen Triebfedern seiner innerlichen Bewegungen nachzuspüren, merkte dennoch nicht eher, was bei diesem Anlaß in seiner Phantasie vorging, bis der Name Psyche, dieser Name, dessen bloßer Ton sonst Musik in seinen Ohren gewesen war, ihn erschütterte, und in eine Verwirrung von Empfindungen setzte, die er selbst zu beschreiben Mühe gehabt hat; wenn wir anders hievon nach der besondern Dunkelheit, die in unsrer Urkunde über diese Stelle liegt, urteilen dürfen. [...] Und wie hätte ihn auch das Bild seiner abwesenden Geliebten noch länger beschäftigen können, da alle Anschauungskräfte seiner Seele, auf diesen einzigen bezaubernden Gegenstand geheftet, ihm kaum zureichend schienen, dessen ganze Vollkommenheit zu empfinden; da er diese sittliche Venus mit allen ihren geistigen Grazien würklich vor sich sah, zu deren bloßen Schattenbild ihn Psyche zu erheben vermocht hatte? [...] Kurz, so widersinnisch es jenen aus gröberm Stoff gebildeten Erdensöhnen, welche in dem vollkommensten Weibe nur ein Weib sehen, scheinen mag, so gewiß war es, daß Danae mit einer Gestalt und in einem Aufzug, welcher (mit dem weisen Hippias zu reden) einen Geist hätte verkörpern mögen, diesen seltsamen Jüngling in einen so völligen Geist verwandelte, als man jemals diesseits und vielleicht auch jenseits des Mondes gesehen hat. [...] Wir haben schon so viel von der gegenwärtigen Gemütsverfassung unsers Helden gesagt, daß man sich nicht verwundern wird, wenn wir hinzusetzen, daß er den übrigen Teil der Nacht in ununterbrochenem Anschauen dieser idealen Vollkommenheit zubrachte, die seine Einbildungskraft mit einer ihr gewöhnlichen Kunst, und ohne daß er den Betrug merkte, an die Stelle der schönen Danae geschoben hatte. [...] Es gibt so verschiedne Gattungen von Liebe, daß es, wie uns ein Kenner derselben versichert hat, nicht unmöglich wäre, drei oder vier Personen zu gleicher Zeit zu lieben, ohne daß sich eine derselben über Untreue zu beklagen hätte. [...] Wir sehen voraus, daß unsre meisten Leser bei dieser Stelle die Nase rümpfen, und zweifeln werden, ob wir uns selbst verstehen; allein wir lassen uns dieses gar nicht anfechten. [...] Was ist natürlicher, als das Verlangen, das vollkommenste und liebenswürdigste unter allen Wesen, nachdem man es einmal gesehen hat, immer zu sehen? Solche Schlüsse macht die Leidenschaft. Aber was sagte denn die Vernunft dazu? die Vernunft? O, die sagte gar nichts. [...] "Du hast dir das Recht erkauft, mit mir zu machen was du willt", erwiderte Agathon. [...] Die Freude, welcher er sich überließ, so bald er sich allein sah, läßt uns keinen Zweifel übrig, daß er damals noch nicht das geringste Mißtrauen in sein Herz gesetzt habe. Diese Freude war über allen Ausdruck. Liebhaber von einer gewissen Art können sich eine Vorstellung davon machen, welche der allerbesten Beschreibung wert ist; und den übrigen würde diese Beschreibung ohngefähr so viel helfen, als eine Seekarte einem Fußgänger. [...]“

Wieland: Geschichte des Agathon Erster Teil

Agathon und Danae[Bearbeiten]

„In der Tat können wir länger nicht verbergen, daß diese unbeschreibliche Empfindung (wie er dasjenige nannte was ihm die schöne Danae eingeflößt hatte) dieses ich weiß nicht was, welches wir, so wenig er es auch gestanden hätte, ganz ungescheut Liebe nennen wollen, in dem Lauf von wenigen Tagen so sehr zugenommen hatte [...] Wir glauben also, wenn wir diesem zukünftigen Agathon zu Gefallen uns die Mühe nehmen, der Leidenschaft unsers Helden von der Quelle an in ihrem wiewohl noch geheimen Lauf nachzugehen, desto eher entschuldiget zu sein, da es allen übrigen, die mit diesen Anekdoten nichts zu machen wissen, frei steht, das folgende Kapitel zu überschlagen. [...]

"Die Quelle der Liebe", sagt Zoroaster, oder hätte es doch sagen können, "ist das Anschauen eines Gegenstandes, der unsre Einbildungskraft bezaubert." [...] Sein ernsthaftes Wesen machte nach und nach einer gewissen Munterkeit Platz, die ihm vieles, das er ehmals mißbilligst hatte, in einem günstigern Lichte zeigte; seine Sittenlehre wurde unvermerkt freier und gefälliger, und seine ehmaligen guten Freunde, die ätherischen Geister, wenn sie ja noch einigen Zutritt bei ihm hatten, mußten sich gefallen lassen, die Gestalt der schönen Danae anzunehmen, um vorgelassen zu werden. Vor Begierde der Beherrscherin seines Herzens zu gefallen, vergaß er, sich um den Beifall unsichtbarer Zuschauer seines Lebens zu bekümmern; und der Zustand der entkörperten Seelen deuchte ihn nicht mehr so beneidenswürdig, seitdem er im Anschauen dieser irdischen Göttin ein Vergnügen genoß, welches alle seine Einbildungen überstieg. [...] Agathon, welcher sich angewöhnt hatte, den Leib und die Seele als zwei verschiedene Wesen zu betrachten, und in dessen Augen Danae eine geraume Zeit nichts anders, als (nach dem Ausdruck des Guidi) eine himmlische Schönheit in einem irdischen Schleier gewesen war, vermengte diese beiden Wesen je länger je mehr in seiner Phantasie mit einander, und er konnte es desto leichter, da in der Tat alle körperlichen Schönheiten seiner Göttin so beseelt waren, und alle Schönheiten ihrer Seele so lebhaft aus diesem reizenden Schleier hervorschimmerten, daß es beinahe unmöglich war, sich eine ohne die andre vorzustellen. Dieser Umstand brachte zwar keine wesentliche Veränderung in seiner Art zu lieben hervor; doch ist gewiß, daß er nicht wenig dazu beitrug, ihn unvermerkt in eine Verfassung zu setzen, welche die Absichten der schlauen Danae mehr zu begünstigen als abzuschrecken schien. "O du, für den wir aus großmütiger Freundschaft uns die Mühe gegeben haben, dieses dir allein gewidmete Kapitel zu schreiben, halte hier ein und frage dein Herz. Wenn du eine Danae gefunden hast (armer Jüngling! welche Molly Seagrim kann es nicht in deinen bezauberten Augen sein?) und du verstehest den Schluß dieses Kapitels, so kömmt unsre Warnung schon zu spät, und du bist verloren, fliehe, von dem Augenblick an, da du sie gesehen; fliehe, und ersticke den Wunsch sie wieder zu sehen! Wenn du das nicht kannst; wenn du, nachdem du diese Warnung gelesen, nicht willst: so bist du kein Agathon mehr, so bist du was wir andern alle sind; tue was du willst, es ist nichts mehr an dir zu verderben." [...]

Die große Kunst war, unter der Masque der Freundschaft seine Begierden zu eben der Zeit zu reizen, da sie selbige durch eine unaffektierte Zurückhaltung abzuschrecken schien. Allein auch dieses war nicht genug; er mußte vorher die Macht zu widerstehen verlieren; wenn der Augenblick einmal gekommen sein würde, da sie die ganze Gewalt ihrer Reizungen an ihm zu prüfen entschlossen war. Eine zärtliche Weichlichkeit mußte sich vorher seiner ganzen Seele bemeistern, und seine in Vergnügen schwimmende Sinnen mußten von einer süßen Unruhe und wollüstigen Sehnsucht eingenommen werden, ehe sie es wagen wollte, einen Versuch zu machen, der, wenn er zu früh gemacht worden wäre, gar leicht ihren ganzen Plan hätte vereiteln können. Zum Unglück für unsern Helden ersparte ihr seine magische Einbildungskraft die Hälfte der Mühe, welche sie aus einem übermaß von Freundschaft anwenden wollte, ihm die Verwandlung, die mit ihm vorgehen sollte, zu verbergen. [...]

Eine mit Lorbeerbäumen beschattete Anhöhe erhob sich aus einem spiegelhellen See, der mit Marmor gepflastert, und ringsum mit Myrten und Rosenhecken eingefaßt war. Kleine Quellen schlängelten den Lorbeerhain herab, und rieselten mit sanftem Murmeln oder lächelndem Klatschen in den See, an dessen Ufer hier und da kleine Grotten, mit Korallenmuscheln und andern Seegewächsen ausgeschmückt hervorragten, und die Wohnung der Nymphen dieses Wassers zu sein schienen. [...]

Eine Stimme, welche fähig schien, die Seelen ihren Leibern zu entführen, und Tote wieder zu beseelen (wenn wir einen Ausdruck des Liebhabers der schönen Laura entlehnen dürfen) eine so bezaubernde Stimme beseelte diese reizende Anrede. [...]

So wisset dann, schöne Leserinnen, (und hütet euch, stolz auf diesen Sieg eurer Zaubermacht zu sein,) daß Agathon, nachdem er eine ziemliche Weile in einem Gemütszustand, dessen Abschilderung den Pinsel eines Thomsons oder Geßners erfoderte, allein zurückgeblieben war, wir wissen nicht ob aus eigner Bewegung oder durch den geheimen Antrieb irgend eines antiplatonischen Genius den Weg gegen einen Pavillion genommen, der auf der Morgenseite des Gartens in einem kleinen Hain von Zitronen-, Granaten- und Myrtenbäumen auf jonischen Säulen von Jaspis ruhte; daß er, weil er ihn erleuchtet gefunden, hineingegangen, und nachdem er [...] in einem Cabinet, welches für die Ruhe der Liebesgöttin bestimmt schien, die schöne Danae auf einem Sofa von nelkenfarbem Atlas schlafend angetroffen; daß er, nachdem er sie eine lange Zeit in unbeweglicher Entzückung und mit einer Zärtlichkeit, deren innerliches Gefühl alle körperliche Wollust an Süßigkeit übertrifft, betrachtet hatte, endlich — von der Gewalt der allmächtigen Liebe bezwungen, sich nicht länger zu enthalten vermocht, zu ihren Füßen kniend, eine von ihren nachlässig ausgestreckten schönen Händen mit einer Inbrunst, wovon wenige Liebhaber sich eine Vorstellung zu machen jemals verliebt genug gewesen sind, zu küssen, ohne daß sie daran erwacht wäre; daß er hierauf noch weniger als zuvor sich entschließen können, so unbemerkt als er gekommen, sich wieder hinwegzuschleichen; und kurz, daß die kleine Psyche, die Tänzerin, welche seit der Pantomime, man weiß nicht warum, gar nicht seine Freundin war, mit ihren Augen gesehen haben wollte, daß er eine ziemliche Weile nach Anbruch des Tages, allein, und mit einer Miene, aus welcher sich sehr vieles habe schließen lassen, aus dem Pavillion hinter die Myrtenhecken sich weggestohlen habe. [...]“

Wieland: Geschichte des Agathon Erster Teil

Vermischung der Seelen[Bearbeiten]

„Petronius [...] bedient sich irgendwo eines Ausdrucks, welcher ganz deutlich zu erkennen gibt, daß er eine verliebte Vermischung der Seelen nicht nur für möglich, sondern für einen solchen Umstand gehalten habe, der die Geheimnisse der Liebesgöttin natürlicher Weise zu begleiten pflege. Jam alligata mutuo ambitu corpora animarum quoque mixturam fecerant, sagt dieser Oberaufseher der Ergötzlichkeiten des Kaisers Nero; um vermutlich eben dasselbe zu bezeichnen, was er an einem andern Ort ungleich schöner also ausdrückt: Et transfudimus hinc & hinc labellis Errantes animas-

Ob er selbst die ganze Stärke dieses Ausdrucks eingesehen, oder ihm so viel Bedeutung beigelegt habe, als wir; ist eine Frage, die uns (nach Gewohnheit der meisten Ausleger) sehr wenig bekümmert. Genug, daß wir diese Stellen einer Hypothese günstig finden, ohne welche sich, unsrer Meinung nach, verschiedene Phänomena der Liebe nicht wohl erklären lassen, und vermöge welcher wir annehmen, daß bei wahren Liebenden, in gewissen Umständen, nicht (wie einer unsrer tugendhaftesten Dichter meint) ein Tausch, sondern eine wirkliche Mischung der Seelen vorgehe.

Wie dieses möglich sei zu untersuchen, überlassen wir billig den weisen und tiefsinnigen Leuten, welche sich, in stolzer Muße und seliger Abgeschiedenheit von dem Getümmel dieser sublunarischen Welt, mit der nützlichen Spekulation beschäftigen, die Art und Weise ausfindig zu machen, wie dasjenige was würklich ist, ohne Nachteil ihrer Meinungen und Lehrgebäude, möglich sein könne. Für uns ist genug, daß eine durch unzähliche Beispiele bestätigte Erfahrung außer allen Zweifel setzt, daß diejenige Gattung von Liebe, welche Shaftesbury mit bestem Recht zu einer Art des Enthusiasmus macht, und gegen welche Lucrez aus eben diesem Grunde sich mit so vielem Eifer erklärt, solche Würkungen hervorbringe, welche nicht besser als durch jenen Petronischen Ausdruck abgemalt werden können.

Agathon und Danae, die uns zu dieser Anmerkung Anlaß gegeben haben, hatten kaum vierzehn Tage, welche freilich nach dem Kalender der Liebe nur vierzehn Augenblicke waren, in diesem glückseligen Zustande, worin wir sie im vorigen Kapitel verlassen haben, zugebracht: als diese Seelenmischung sich in einem solchen Grade bei ihnen äußerte, daß sie nur von einer einzigen gemeinschaftlichen Seele belebt und begeistert zu werden schienen. Würklich war die Veränderung und der Absatz ihrer gegenwärtigen Art zu sein, mit ihrer vorigen so groß, daß weder Alcibiades seine Danae, noch die Priesterin zu Delphi den spröden und unkörperlichen Agathon wieder erkannt haben würden. [...]“

Wieland: Geschichte des Agathon Erster Teil

2. Teil[Bearbeiten]

Hippias weckt Agathons Eifersucht[Bearbeiten]

„Seine Eitelkeit fühlte sich beleidiget. Agathon und Danae hatten die Gelegenheit dazu gegeben. Er wußte zwar wohl, daß sie keine Absicht ihn zu beleidigen dabei gehabt haben konnten; allein darum bekümmert sich kein Hippias. [...]

Allein es gibt eine gewisse Kunst, dasjenige was einen widrigen Eindruck machen könnte, aus den Augen zu entfernen; es kömmt soviel auf die Wendung an; ein einziger kleiner Umstand gibt einer Begebenheit eine so verschiedene Gestalt von demjenigen, was sie ohne diesen kleinen Umstand gewesen wäre; daß man ohne eine merkliche Veränderung dessen was den Stoff der Erzählung ausmacht, tausend sehr bedeutende Treulosigkeiten an der historischen Wahrheit begehen kann. [...]

Die schöne und kluge Danae hatte also ihrem Liebhaber weder ihre Erziehung in Aspasiens Hause, noch ihre Bekanntschaft mit dem Alcibiades, noch die glorreiche Liebe, welche sie dem Prinzen Cyrus eingeflößt hatte, verhalten. Alle diese, und viele andre nicht so schimmernde Stellen ihrer Geschichte machten ihr entweder Ehre, oder konnten doch mit der Geschicklichkeit, worin sie die zweite Aspasia war, auf eine solche Art erzählt werden, daß sie ihr Ehre machten. Allein was diejenigen Stellen betraf, an denen sie alle Kunst, die man auf ihre Verschönerung wenden möchte, für verloren hielt; es sei nun, weil sie an sich selbst, oder in Beziehung auf den eigenen Geschmack unsers Helden, in keiner Art von Einkleidung, Wendung oder Licht gefallen konnten: über diese hatte sie klüglich beschlossen, sie mit gänzlichem Stillschweigen zu bedecken; und daher kam es dann, daß unser Held noch immer in der Meinung stund, er selbst sei der erste gewesen, welchem sie sich durch Gunst-Bezeugungen von derjenigen Art, womit er von ihr überhäuft worden war, verbindlich gemacht hätte. Ein Irrtum, der nach seiner spitzfindigen Denkens-Art zu seinem Glücke so notwendig war, daß ohne denselben alle Vollkommenheiten seiner Dame zu schwach gewesen wären, ihn nur einen Augenblick in ihren Fesseln zu behalten. Ihm diesen Irrtum zu benehmen, war der schlimmste Streich, den man seiner Liebe und der schönen Danae spielen konnte; und dieses zu tun, war das Mittel, wodurch der Sophist an beiden auf einmal eine Rache zu nehmen hoffte, deren bloße Vorstellung sein boshaftes Herz in Erzückung setzte. [...]

Seine Seele fühlte sich leer, weil sie allzuvoll war; er schrieb dieses der Abwesenheit seiner Freundin zu; er fühlte daß sie ihm mangelte, und dachte nicht daran, daß er sie weniger vermißt haben würde, wenn die Nerven seines Geistes durch die Gewohnheit einer wollüstigen Passivität nicht eingeschläfert worden wären. [...]

Agathon hatte auf alle diese schöne Vorspieglungen nur Eine Antwort — seine Liebe zu Danae. Der Sophist fand sie unzulänglich. Eben diese Ursachen, welche seine Liebe zu Danae hervorgebracht hatten, sollten ihn auch für die Reizungen andrer Schönen empfindlich machen. Seiner Meinung nach machte die Abwechselung der Gegenstände das größeste Glück der Liebe aus. Er behauptete diesen Satz durch eine sehr lebhafte Ausführung der besondern Vergnügungen, welche mit der Besiegung einer jeden besondern Klasse der Schönen verbunden sei. Die Unwissende und die Erfahrne, die Geistreiche und die Blöde, die Schöne und die Häßliche, die Kokette, die Spröde, die Tugendhafte, die Andächtige — kurz jeder besondere Charakter beschäftige den Geschmack, die Einbildung, und so gar die Sinnen (denn von dem Herzen war bei ihm die Rede nicht) auf eine eigene Weise — erfordre einen andern Plan, setze andre Schwierigkeiten entgegen, und mache auf eine andre Art glücklich. Das Ende dieser schönen Ausführung war, daß es unbegreiflich sei, wie man so viel Vergnügen in seiner Gewalt haben, und es sich nur darum versagen könne, um die einförmigen Freuden einer einzigen, mit romanhafter Treue in gerader Linie sich fortschleppenden Leidenschaft bis auf die Hefen zu erschöpfen. [...]

Es ist so leicht voraus zu sehen, was für einen Ausgang diese Szene nehmen mußte, daß wir nach allem was von den Absichten des Sophisten bereits gesagt worden ist, den Leser seiner eignen Einbildung überlassen können. Ungeduldige Fragen auf der einen — Ausflüchte und schalkhafte Wendungen auf der andern Seite; bis sich Hippias auf vieles Zureden endlich das Geheimnis des wahren Standes der schönen Danae, und derjenigen Anekdoten, welche wir (wiewohl aus unschuldigem Absichten) unsern Lesern schon im dritten Kapitel des vierten Buches verraten haben, mit einer Gewalt, welcher seine vergebliche Freundschaft für Agathon nicht widerstehen konnte, abnötigen ließ. Wir haben schon bemerkt, wie viel es bei Erzählung einer Begebenheit auf die Absicht des Erzählers ankomme, und wie verschieden die Wendungen seien, welche sie durch die Verschiedenheit derselben erhält. Danae erzählte ihre Geschichte mit der unschuldigen Absicht zu gefallen. [...]

Unser Held glich während dieser Entdeckungen mehr einer Bild-Säule oder einem Toten als sich selbst. [...] Das Licht, worin ihm Hippias seine Göttin zeigte, machte mit demjenigen, worin er sie zu sehen gewohnt war, einen so beleidigenden Kontrast; der Gedanke, sich so sehr betrogen zu haben, war so unerträglich, daß es ihm unmöglich fallen mußte, dem Sophisten Glauben beizumessen. Der ganze Sturm, der seine Seele schwellte, brach also über den Verräter aus. Er nannte ihn einen falschen Freund, einen Verleumder, einen Nichtswürdigen—rief alle rächende Gottheiten gegen ihn auf — schwur, wofern er die Beschuldigungen, womit er die Tugend der schönen Danae zu beschmitzen sich erfrechete, nicht bis zur unbetrüglichsten Evidenz erweisen werde, ihn als ein das Sonnenlicht befleckendes Ungeheuer zu vertilgen, und seinen verfluchten Rumpf unbegraben den Vögeln des Himmels preis zu geben. Der Sophist sah diesem Sturm mit der Gelassenheit eines Menschen zu, der die Natur der Leidenschaften kennt; so ruhig, wie einer der vom sichern Ufer dem wilden Aufruhr der Wellen zusieht, dem er glücklich entgangen ist. Ein mitleidiger Blick, dem ein schalkhaftes Lächeln seinen zweideutigen Wert vollends benahm, war alles, was er dem Zorn des aufgebrachten Liebhabers entgegensetzte. Agathon stutzte darüber. Ein schrecklicher Zweifel warf ihn auf einmal auf die entgegengesetzte Seite. [...]

Was sagtest du, wenn ich selbst einer von denen gewesen wäre, welche sich rühmen können, die schöne Danae empfindlich gesehen zu haben?"—"Du?" rief Agathon mit einem ungläubigen Erstaunen, welches eben nicht schmeichelhaft für die Eitelkeit des Sophisten war. "Ja, Callias; ich"; erwiderte jener; "ich, wie du mich hier siehest, zehn oder zwölf Jahre abgerechnet, um welche ich damals geschickter sein mochte, den Beifall einer schönen Dame zu erhalten. Du glaubest vielleicht ich scherze; aber ich bin überzeugt, daß deine Göttin selbst zu edel denkt, um dir wenn du sie mit guter Art fragen wirst, eine Wahrheit verhalten zu wollen, von welcher ganz Smyrna zeugen könnte." Hier fuhr der barbarische Mensch fort, ohne das geringste Mitleiden mit dem Zustande, worein er den armen Agathon durch seine Prahlereien setzte, die Glückseligkeiten, welche er in den Armen der schönen Danae (der Himmel weiß mit welchem Grunde) genossen zu haben vorgab, von Stück zu Stück mit einem Ton von Wahrheit, und mit einer Munterkeit zu beschreiben, welche seinen Zuhörer beinahe zur Verzweiflung brachte. [...]

Wir wollen also lieber gestehen, daß wir uns unvermögend finden, den Tumult der Leidenschaften, welche in den ersten Stunden nach einer so grausamen Unterredung in dem Gemüte Agathons wüteten, abzuschildern, als durch eine frostige Beschreibung zu gleicher Zeit unsre Vermessenheit und unser Unvermögen zu verraten. [...]“

Wieland: Die Geschichte des Agathon, Zweiter Teil

Agathons Entwicklung[Bearbeiten]

„Wir haben unsern Helden bereits in verschiedenen Situationen gesehen; und in jeder, durch den Einfluß der Umstände, ein wenig anders als er würklich ist. Er schien zu Delphi ein bloßer speculativer Enthusiast; und man hat in der Folge gesehen, daß er sehr gut zu handeln wußte. Wir glaubten, nachdem er die schöne Cyane gedemütiget hatte, daß ihm die Verführungen der Wollust nichts anhaben könnten, und Danae bewies, daß wir uns betrogen hatten; es wird nicht mehr lange anstehen, so wird eine neue vermeinte Danae, welche seine schwache Seite ausfündig gemacht zu haben glauben mag, sich eben so betrogen finden. Er schien nach und nach ein andächtiger Schwärmer, ein Platonist, ein Republicaner, ein Held, ein Stoiker, ein Wollüstling; und war keines von allen, ob er gleich in verschiedenen Zeiten durch alle diese Classen ging, und in jeder eine Nüance von derselben bekam. So wird es vielleicht noch eine Zeitlang gehen – – Aber von seinem Character, von dem was er würklich war, worin er sich unter allen diesen Gestalten gleich blieb, und was zuletzt, nachdem alles Fremde und Heterogene durch die ganze Folge seiner Umstände davon abgeschieden sein wird, übrig bleiben mag – – davon kann dermalen die Rede noch nicht sein. Ohne also eben so voreilig über ihn zu urteilen, wie man gewohnt ist, es im täglichen Leben alle Augenblicke zu tun – – wollen wir fortfahren, ihn zu beobachten, die wahren Triebräder seiner Handlungen so genau als uns möglich sein wird auszuspähen, keine geheime Bewegung seines Herzens, welche uns einigen Aufschluß hierüber geben kann, entwischen lassen, und unser Urteil über das Ganze seines moralischen Wesens so lange zurückhalten, bis – – wir es kennen werden.“

Wieland: Geschichte des Agathon, Zweiter Teil 9. Buch 5. Kapitel, S.758-59

„Er war nicht mehr der jugendliche Enthusiast, der sich einbildet, daß es ihm eben so leicht sein werde, ein großes Vorhaben auszuführen, als es zu fassen. Die Athenienser hatten ihn auf immer von dem Vorurteil geheilt, daß die Tugend nur ihre eigene Stärke gebrauche, um über ihre Hässer obzusiegen. Er hatte gelernt, wie wenig man von andern erwarten kann; wie wenig man auf sie Rechnung machen, und (was das wichtigste für ihn war) wie wenig man sich auf sich selbst verlassen darf. Er hatte gelernt, wieviel man den Umständen nachgeben muß; daß der vollkommenste Entwurf an sich selbst oft der schlechteste unter den gegebenen Umständen ist; daß sich das Böse nicht auf einmal gut machen läßt; daß sich in der moralischen Welt, wie in der materialischen, nichts in gerader Linie fortbewegt, und daß man selten anders als durch viele Krümmen und Wendungen zu einem guten Zweck gelangen kann – – Kurz, daß das Leben, zumal eines echten Staats-Mannes, einer Schiffahrt gleicht, wo der Pilot sich gefallen lassen muß, seinen Lauf nach Wind und Wetter einzurichten; wo er keinen Augenblick sicher ist durch widrige Ströme aufgehalten oder seitwärts getrieben zu werden; und wo alles darauf ankommt, mitten unter tausend unfreiwilligen Abweichungen von der Linie, die er sich in seiner Carte gezogen hat, endlich dennoch, und so bald und wohlbehalten als möglich, an dem vorgesetzten Ort anzulangen.“

Wieland: Geschichte des Agathon, Zweiter Teil 10. Buch 1. Kapitel, S.763-64

Agathon kommt nach Syrakus und wird Günstling des Tyrannen Dionys[Bearbeiten]

Agathon als Günstling von Dionys[Bearbeiten]

Aristipp empfiehlt Agathon bei Dionys und der ist von ihm begeistert.

„Wenn Agathon während einer Staats-Verwaltung, welche nicht ganz zwei Jahre daurte, das vollkommenste Vertrauen seines Prinzen und die allgemeine Liebe der Nation, welche er regierte, gewann, und sich dadurch auf diese hohe Stufe des Ansehens und der scheinbaren Glückseligkeit emporschwang, welche unverdienter Weise, der Gegenstand der Bewunderung aller kleinen, und des Neides aller zugleich boshaften Seelen zu sein pflegt: So müssen wir gestehen, daß diese launische unerklärbare Macht, welche man Glück oder Zufall nennt, den wenigsten Anteil daran hatte. Die Verdienste, die er sich in so kurzer Zeit um den Prinzen sowohl als die Nation machte, die Beruhigung Siciliens, das befestigte Ansehen von Syracus, die Verschönerung dieser Hauptstadt, die Verbesserung ihrer Polizei, die Belebung der Künste und Gewerbe, und die allgemeine Zuneigung, welche er einer vormals verabscheueten Regierung zuwandte—alles dieses legte ein unverwerfliches Zeugnis für die Weisheit seiner Staats-Verwaltung ab; und da alle diese Verdienste durch die Uneigennützigkeit und Regelmäßigkeit seines Betragens in ein Licht gestellt wurden, welches keine Mißdeutung zu zulassen schien; so blieb seinen heimlichen Feinden, ohne die ungewisse Hülfe irgend eines Zufalls, von dem sie selbst noch keine Vorstellung hatten, wenig Hoffnung übrig, ihn so bald wieder zu stürzen, als sie es für ihre Privat-Absichten wünschen mochten. [...]“

Wieland: Geschichte des Agathon, 10. Buch 2. Kapitel, S.774

Die Höflinge, die sich von ihm verdrängt sehen, finden lange keinen Ansatzpunkt, wie sie ihn bei Dionys anschwärzen können.

„[...] übrigens können wir nicht umhin, es mag nun unserm Helden nachteilig sein oder nicht, zu gestehen, daß zu einer Zeit, da sein Ansehen den höchsten Gipfel erreicht hatte; da Dionys ihn mit Beweisen einer unbegrenzten Gunst überhäufte; da er von dem ganzen Sicilien für seinen Schutzgott angesehen wurde, und das seltne, wo nicht ganz unerhörte Glück zu genießen schien, in einem so blendenden Glücksstande lauter Bewundrer und Freunde, und keinen Feind zu haben—die Damen zu Syracus die einzigen waren, welche ihre wenige Zufriedenheit mit seinem Betragen ziemlich deutlich merken ließen. Mit einer Figur wie die seinige, mit allem dem was den Augen und Herzen nachstellt in so außerordentlichem Grade begabt, war es sehr natürlich, daß er die Aufmerksamkeit der Schönen auf sich ziehen mußte. Die Damen zu Syracus hatten so gut Augen wie die zu Smyrna—und Herzen dazu—oder wenn sie keine hatten, so hatten sie doch etwas, dessen Bewegungen sehr gewöhnlich mit den Bewegungen des Herzens verwechselt werden; oder wenn sie auch das nicht hatten, so hatten sie doch Eitelkeit, und konnten also nicht gleichgültig gegen die eigensinnige Unempfindlichkeit eines Mannes sein, welcher eben dadurch ein Feind wurde, dessen Überwindung seine Siegerin zur Liebenswürdigsten ihres Geschlechts zu erklären schien. [...]

Der Kaufmann, mit welchem Agathon nach Syracus gekommen war, war einer von denjenigen, welchen er ehmals zu Athen das Bildnis seiner Psyche zu dem Ende gegeben hatte, damit sie mit desto besserm Erfolg aller Orten möchte aufgesucht werden können. Gleichwohl erinnerte er sich dieses Umstands nicht eher, bis er einsmals bei einem Besuch, den er ihm machte, dieses Bildnis von ungefähr in dem Cabinet seines Freundes ansichtig wurde. Dasjenige was Agathon in diesem Augenblick empfand, war wenig von dem unterschieden, was er empfunden hätte, wenn es Psyche selbst gewesen wäre. Die Ideen seiner ersten Liebe wurden dadurch wieder so lebhaft, daß er, so schwach auch seine Hoffnung war, das Urbild jemals wieder zu sehen, sich aufs Neue in dem Entschluß bestätigte, ihrem Andenken getreu zu bleiben. Die Damen von Syracus hatten also würklich eine Nebenbuhlerin, ob sie gleich nicht erraten konnten, daß diese zärtlichen Seufzer, welche jede unter ihnen seinem Herzen abzugewinnen wünschte, in mitternächtlichen Stunden vor einer gemalten Gebieterin ausgehaucht wurden. [...]

Die schöne Cleonissa war ein Frauenzimmer, und hatte also ihren Anteil an den Schwachheiten, welche die Natur ihrem Geschlecht eigen gemacht hat, und ohne welche diese Hälfte der menschlichen Gattung weder zu ihrer Bestimmung in dieser sublunarischen Welt so geschickt, noch in der Tat, so liebenswürdig sein würde als sie ist. [...]“

Wieland: Geschichte des Agathon, 10. Buch 2. Kapitel, S.775-781

Cleonissa unterschied sich von den anderen Frauen von Syrakus dadurch, dass sie sich besonders unnahbar gab. Dies heilt sie für einen so großen Vorzug, dass sie nicht verstehen konnte, weshalb Agathon keine Annäherungsversuche machte. Dass sie mit Philistus verheiratet war, schien ihr keine Rechtfertigung für Agathons Zurückhaltung.

So beschloss sie, ihn mit allen Mitteln weiblicher Kunst, zu ihrem schmachtenden Liebhaber zu machen.

„Cleonissa hatte bereits die Hälfte ihrer Künste erschöpft, ehe er nur gewahr wurde, daß ein Anschlag gegen ihn im Werke sei; und von dem Augenblick, da er es gewahr wurde, stieg sein Kaltsinn, nach dem Verhältnis wie ihre Bemühungen sich verdoppelten, auf einen solchen Grad; oder deutlicher zu reden, der Absatz, den ihre zuletzt bis zur Unanständigkeit getriebene Nachstellungen mit der affektierten Erhabenheit ihrer Denkungs-Art, und mit der Majestät ihrer Tugend machten, tat eine so schlimme Würkung bei ihm, daß die schöne Cleonissa sich genötiget sah, die Hoffnung des Triumphs, womit sich ihre Eitelkeit geschmeichelt hatte, gänzlich aufzugeben. Die Wut, in welche sie dadurch gesetzt wurde, verwandelte sich nach und nach in den vollständigsten Haß, der jemals (mit Shakespear zu reden) die Milch einer weiblichen Brust in Galle verwandelt hat. [...] In dieser Situation befanden sich die Sachen, als Dionys, des ruhigen Besitzes der immer gefälligen Bacchidion, und ihrer Tänze überdrüssig, sich zum ersten mal einfallen ließ, die Beobachtung zu machen, daß Cleonissa schön sei. [...] Dionys war so dringend, so unvorsichtig—und sie hatte so viele Personen in Acht zu nehmen—sie, die in jedem andern Frauenzimmer eine Nebenbuhlerin hatte, und bei jedem Schritt von hundert eifersüchtigen Augen belauret wurde, welche nicht ermangelt haben würden, den kleinsten Fehltritt, den sie gemacht hätte, durch eben so viele Zungen der ganzen Welt in die Ohren flüstern zu lassen. [...] Sie setzte also seinen Erklärungen, Verheißungen, Bitten, Drohungen, (zu den feinern Nachstellungen war er weder zärtlich noch schlau genug) eine Tugend entgegen, welche ihn durch ihre Hartnäckigkeit notwendig hätte ermüden müssen, wenn das Mitleiden mit dem Zustand, worein sie ihn zu setzen gezwungen war, sie nicht zu gleicher Zeit vermocht hätte, seine Pein durch alle die kleinen Palliative zu lindern, welche im Grunde für eine Art von Gunstbezeugungen angesehen werden können, ohne daß gleichwohl die Tugend, bei einem Liebhaber wie Dionys war, dadurch zuviel von ihrer Würde zu vergeben scheint. Die zärtliche Empfindlichkeit ihres Herzens—die Gewalt welche sie sich antun mußte, einem so liebenswürdigen Prinzen zu widerstehen—die stillschweigenden Geständnisse ihrer Schwachheit, welche zu eben der Zeit, da sie ihm den entschlossensten Widerstand tat, ihrem schönen Busen wider ihren Willen entflohen—o! tugendhafte Cleonissa! Was für eine gute Aktrice warest du!—Was hätte Dionys sein müssen, wenn er bei solchen Anscheinungen die Hoffnung aufgegeben hätte, endlich noch glücklich zu werden?

Cleonissa hatte die Vorsicht gebraucht, die Schwestern des Prinzen, von dem Augenblicke, da sie an seiner Leidenschaft nicht mehr zweifeln konnte, zu ihren Vertrauten zu machen; diese hatten wieder im Vertrauen alles seiner Gemahlin entdeckt, und die Gemahlin seiner Mutter. Die Prinzessinnen, welche seine bisherigen Ausschweifungen immer vergebens beseufzet, und besonders gegen die arme Bacchidion einen Widerwillen gefaßt hatten, wovon sich kein andrer Grund, als die launische Denkungs-Art dieser Damen angeben läßt, waren erfreut, daß seine Neigung endlich einmal auf einen tugendhaften Gegenstand gefallen war. Die ausnehmende Klugheit der schönen Cleonissa machte ihnen Hoffnung, daß es ihr gelingen würde, ihn unvermerkt auf den rechten Weg zu bringen.[...]

Alles Nachteilige, was Agathon dem Prinzen von seiner neuen Göttin sagen konnte, bewies höchstens, daß sie nicht so viel Hochachtung verdiene als er geglaubt hatte; aber es verminderte seine Begierden nicht; desto besser für seine Absichten, wenn sie nicht so tugendhaft war. Diesen edlen Gedanken ließ er zwar den Agathon nicht sehen; aber Cleonissa wurde ihn desto deutlicher gewahr. Dionys hatte nicht so bald erfahren, daß die Tugend der Dame nur ein Popanz sei, so eilte er was er konnte, Gebrauch von dieser Entdeckung zu machen, und setzte sie durch ein Betragen in Erstaunen, welches mit seinem vorigen, und noch mehr mit der Majestät ihres Charakters, einen höchst beleidigenden Kontrast machte. Er war zwar Diskret genug, ihr nicht geradezu zu sagen, was für Begriffe man ihm von ihr beigebracht habe; aber sein Bezeugen sagte es so deutlich, daß sie nicht zweifeln konnte, es müßte ihr jemand schlimme Dienste bei ihm geleistet haben.

Er ließ also den Philistus zu sich rufen, und entdeckte ihm mit der ganzen Vertraulichkeit eines ehrlichen Mannes, der mit einem ehrlichen Manne zu reden glaubt, die nahe Gefahr, worin seine Ehre und die Tugend seiner Gemahlin schwebe. Freilich entdeckte er dem edeln Philistus nichts, als was dieser in der Tat schon lange wußte; aber Philistus machte nichts desto weniger den Erstaunten; indessen dankte er ihm mit der lebhaftesten Empfindung für ein so unzweifelhaftes Merkmal seiner Freundschaft, und versicherte, daß er auf ein schickliches Mittel bedacht sein wollte, seine Gemahlin, von welcher er übrigens die beste Meinung von der Welt habe, gegen alle Nachstellungen der Liebesgötter sicher zu stellen. Man hat wohl sehr recht, uns die Lehre bei allen Gelegenheiten einzuschärfen, daß man sich die Leute nach ihrer Weise verbindlich machen müsse, und nicht nach der unsrigen. [...] Aber diese Leute aus der großen Welt sind so pünktliche Beobachter des Wohlstands!—und sind darum zu beloben; denn es beweiset doch immer, daß sie sich ihrer wahren Gestalt schämen, und die Verbindlichkeit etwas bessers zu sein als sie sind, stillschweigend anerkennen [...]

Dionys geriet in einen so heftigen Anfall von Eifersucht über seinen unwürdigen Liebling—dieser Mann, der der Liebe eines Dionys unwürdig war, war Agathon!— daß Cleonissa, (welche besorgte, daß ein plötzlicher Ausbruch zu mißbeliebigen Erläuterungen Anlaß geben könnte) alle ihre Gewalt über ihn anwenden mußte, ihn zurückzuhalten. Sie bewies ihm die Notwendigkeit, einen Mann, der zu allem Unglück der Abgott der Nation wäre, vorsichtig zu behandeln. Dionys fühlte die Stärke dieses Beweises, und hassete den Agathon nur um so viel herzlicher.“

Wieland: Geschichte des Agathon, 10. Buch 2. Kapitel, S.783 bis 3. Kapitel, S.792
Agathons Entscheidung, den Tyrannen zu stürzen[Bearbeiten]

„Er mußte zusehen, wie nach und nach, unter tausend falschen und nichtswürdigen Vorwänden, seine besten Anordnungen als schlecht ausgesonnen, überflüssig, oder schädlich, wieder aufgehoben, oder durch andere unnütze gemacht — wie die wenigen von seinen Kreaturen, welche in der Tat Verdienste hatten, entfernt — wie alle seine Absichten mißdeutet, alle seine Handlungen aus einem willkürlich falschen Gesichts-Punkt beurteilt, und alle seine Vorzüge oder Verdienste lächerlich gemacht wurden. Zu eben der Zeit, da man seine Talente und Tugenden erhob, behandelte man ihn eben so, als ob er nicht das geringste von den einen noch von den andern hätte. Man behielt zwar noch, aus politischen Absichten (wie man es zu nennen pflegt) den Schein bei, als ob man nach den nämlichen Grundsätzen handle, denen er in seiner Staats-Verwaltung gefolget war: In der Tat aber geschah in jedem vorkommenden Falle gerade das Widerspiel von dem, was er getan haben würde; und kurz, das Laster herrschte wieder mit so despotischer Gewalt als jemals. Hier wäre es Zeit gewesen, die Clausul gelten zu machen, welche er seinem Vertrag mit dem Dionys angehängt hatte, und sich zurückzuziehen, da er nicht mehr zweifeln konnte, daß er am Hofe dieses Prinzen zu nichts mehr nütze war. [...]“

Wieland: Geschichte des Agathon, Zweiter Teil 10. Buch 3. Kapitel, S.794/5

Aristipps Rat:

„"Mein lieber Agathon, ein rechtschaffener Mann muß, so bald er an einem Hofe leben will, sich eines guten Teils von seiner Rechtschaffenheit abtun, um ihn seiner Klugheit zu zulegen. [...]

Deine Freunde zu w:Tarent werden dich mit offnen Armen empfangen. Ich wiederhole es, Agathon, verlaß einen Fürsten, der seiner Sklaven, und Sklaven die eines solchen Fürsten wert sind; und denke nun daran, wie du selbst des Lebens genießen wollest, nachdem du den Versuch gemacht, wie schwer, wie gefährlich, und insgemein wie vergeblich es ist, für andrer Glück zu arbeiten." So sprach Aristipp; und Agathon würde wohl getan haben, einem so guten Rate zu folgen. Aber wie sollte es möglich sein, daß derjenige, welcher selbst eine Haupt-Rolle in einem Stücke spielt, so gelassen davon urteilen sollte, als ein bloßer Zuschauer? [...]“

Wieland: Geschichte des Agathon, Zweiter Teil 10. Buch 3. Kapitel, S.795-97

Agathons Reflexion:

„Aber würde es edel von mir gehandelt sein, ein Volk, dessen Wohlfahrt der Endzweck meiner Bemühungen war, ein Volk, welches mich als seinen Wohltäter ansieht, den Launen dieses weibischen Menschen, und der Raubsucht seiner Schmeichler und Sklaven Preis zu geben? [...] Nein — Dionys hat Beweise genug gegeben, daß er unverbesserlich ist, und durch die Nachsicht gegen seine Laster nur in der lächerlichen Einbildung bestärkt wird, daß man ihnen Ehrfurcht schuldig sei. Es ist Zeit der Komödie ein Ende zu machen, und diesem kleinen Theater-Könige den Platz anzuweisen, wozu ihn seine persönliche Eigenschaften bestimmen." Unsere Leser sehen aus dieser Probe der geheimen Gespräche, welche Agathon mit sich selbst hielt, daß er noch weit davon entfernt ist, sich von diesem enthusiastischen Schwung der Seele Meister gemacht zu haben, der bisher die Quelle seiner Fehler sowohl als seiner schönsten Taten gewesen ist. [...]“

Wieland: Geschichte des Agathon, Zweiter Teil 10. Buch 3. Kapitel, S.797/8

Reflexion des Erzählers:

„Wir können also als gewiß annehmen, daß er zu dem Entschluß, eine Empörung gegen den Dionys zu erregen, durch eben so tugendhafte Gesinnungen getrieben zu werden glaubte, als diejenigen waren, welche fünfzehn Jahre später einen der edelsten Sterblichen, die jemals gelebt haben, den Vorlage:Wpde von Corinth, aufmunterten, die Befreiung Siciliens zu unternehmen. Allein es ist darum nicht weniger gewiß, daß die lebhafte Empfindung des persönlichen Unrechts, welches ihm zugefüget wurde, der Unwille über die Undankbarkeit des Dionys, und der Verdruß sich einer verachtenswürdigen Buhler-Intrigue aufgeopfert zu sehen, einen großen Einfluß in seine gegenwärtige Denkens-Art gehabt, und zur Entzündung dieses heroischen Feuers, welches in seiner Seele brannte, nicht wenig beigetragen habe. Im Grunde hatte er keine andre Pflichten gegen die Sicilianer, als welche aus seinem Vertrag mit dem Dionys entsprangen, und vermöge eben dieses Vertrags aufhörten, so bald diesem seine Dienste nicht mehr angenehm sein würden. Syracus war nicht sein Vaterland. [...]

Dionys hatte Macht genug, seine Absetzung schwer zu machen; und die verderblichen Folgen eines Bürgerkriegs waren die einzigen gewissen Folgen, welche man von einer so zweifelhaften Unternehmung voraussehen konnte [...]“

Wieland: Geschichte des Agathon, Zweiter Teil 10. Buch 3. Kapitel, S.799

Agathons Entscheidung

„Er entdeckte sich den Freunden Dions, welche, erfreut über den Beitritt eines Mannes, der durch seine Talente und seine Gunst beim Volke ihrer Partei das Übergewicht zu geben vermögend war, ihm hinwieder die ganze Beschaffenheit der Angelegenheiten Dions, die Anzahl seiner Freunde, und die geheimen Anstalten entdeckten, welche in Erwartung irgend eines günstigen Zufalls, bereits zu seiner Zurückkunft nach Sicilien gemacht worden waren: Und so wurde Agathon in kurzer Zeit aus einem Freund und ersten Minister des Dionys, das Haupt einer Konspiration gegen ihn, an welcher alle diejenigen Anteil nahmen, die aus edlern oder eigennützigern Bewegursachen, mit der gegenwärtigen Verfassung unzufrieden waren. [...]“

Wieland: Geschichte des Agathon, Zweiter Teil 10. Buch 3. Kapitel, S.801

Arbeitsaufgaben[Bearbeiten]

allgemein
  • Inwiefern unterscheiden sich Wolframs Parzival und Grimmelshausens Simplizissimus, die Ried als "Entwicklungsromane" bezeichnet, grundsätzlich von Wielands Bildungsroman Geschichte des Agathon?
  • Im ersten Teil des Romans heißt es "Nein, wahre Liebe kann so wenig eifersüchtig sein, als sich selbst fühlende Stärke zittern kann."
Im zweiten Teil wird Agathon eifersüchtig. - Was will der Erzähler damit wohl zum Ausdruck bringen? Dass Agathon Danae nicht wirklich geliebt hat, oder was sonst?
zu Agathons Aufenthalt in Syrakus
  • Vergleichen Sie die Entscheidung zur Gewalt, wie Agathon sie trifft, mit der der Aufständischen in Syrien im Verlaufe des "Arabischen Frühlings".
  • Vergleichen Sie sie mit Kennedys Entscheidung für die Schweinebucht-Invasion 1961 und andererseits mit Obamas Kubabesuch im März 2016.
  • Wieso hat Anna Amalia Wieland wohl zum Prinzenerzieher ihres Sohnes Carl August bestellt?
  • Aus welchen Gründen könnte Carl August Abstand zu Wieland gesucht und Goethe als Mentor vorgezogen haben?
  • Wie weit lässt sich Goethes Verhältnis zu Carl August mit dem von Agathon und Dionys vergleichen?
  • Betrachten Sie Goethes Italienreise und seine Rückkehr ins Ministeramt vor dem Hintergrund der Ratschläge Aristipps an Agathon.

Rezensionen[Bearbeiten]

"Nebenbei entpuppt sich Wieland als ausgezeichneter Kenner der Antike und der antiken Philosophie. Auch will er keineswegs einfach nur unterhalten, sondern verpackt in die Geschichte des Agathon auch sehr ernsthafte Anliegen – und nicht nur platte tagespolitische. Die Lehren, die Aspasia ihrer Meisterschülerin Danae weitergibt, stellen eine höchst erquickliche Mischung dar aus einer Schule der Hetären und feministisch-emanzipatorischen Tipps."

Anmerkungen[Bearbeiten]

  1. litteratur.ch

Linkliste[Bearbeiten]