Benutzer:Cethegus/Sternstunden der Menschheit

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Sternstunden der Menschheit ist der Titel einer Sammlung von historischen Miniaturen von Stefan Zweig. Sie sind stark auf Spannung und dramatische Stimmungswechsel hin stilisiert. Die Bedeutsamkeit der Vorgänge wird meist stark überhöht. Doch auch wenn das Pathos nicht in unsere Zeit zu passen scheint, sind sie sehr geeignet, Einfühlung in historische Geschehnisse zu ermöglichen.

Flucht in die Unsterblichkeit (1513)[Bearbeiten]

„Nuñez de Balboa weiß, was für ihn auf dem Spiele steht – erbärmlicher Tod am Schafott oder Unsterblichkeit. Zunächst sich einmal Frieden mit der Krone erkaufen, seine schlimme Tat, die Usurpierung der Macht, nachträglich legitimieren und legalisieren! Deshalb sendet der Rebell von gestern als allereifrigster Untertan an den königlichen Schatzhalter auf Española, Pasamonte, nicht nur von dem Geldgeschenk Comagres das gesetzlich der Krone gehörige Fünftel, sondern, besser erfahren in den Praktiken der Welt als der dürre Rechtsgelehrte Enciso, fügt er der offiziellen Sendung noch privatim eine reichliche Geldspende an den Schatzmeister bei mit der Bitte, er möge ihn in seinem Amte als Generalkapitän der Kolonie bestätigen. Dies zu tun hat der Schatzhalter Pasamonte zwar keinerlei Befugnis, jedoch für das gute Gold schickt er Nuñez de Balboa ein provisorisches und in Wahrheit wertloses Dokument. Gleichzeitig hat Balboa, der sich nach allen Seiten sichern will, aber auch zwei seiner verläßlichsten Leute nach Spanien gesandt, damit sie bei Hofe von seinen Verdiensten um die Krone erzählten und die wichtige Botschaft meldeten, die er dem Kaziken abgelockt habe. Er brauche, läßt Vasco Nuñez de Balboa nach Sevilla melden, nur eine Truppe von tausend Mann; mit ihr mache er sich anheischig, für Kastilien so viel zu tun wie noch nie ein Spanier vor ihm. Er verpflichte sich, das neue Meer zu entdecken und das endlich gefundene Goldland zu gewinnen, das Kolumbus vergebens versprochen und das er, Balboa, erobern werde. Alles scheint sich nun für den verlorenen Menschen, den Rebellen und Desperado, zum Guten gewendet zu haben. Aber das nächste Schiff aus Spanien bringt schlimme Kunde. Einer seiner Helfershelfer bei der Rebellion, den er seinerzeit hinübergeschickt, um die Anklagen des beraubten Enciso bei Hofe zu entkräften, meldet, die Sache stünde für ihn gefährlich, und sogar lebensgefährlich. Der geprellte »bachiller« ist mit seiner Klage gegen den Räuber seiner Macht vor dem spanischen Gericht durchgedrungen und Balboa verurteilt, ihm Entschädigung zu leisten. Die Botschaft dagegen von der Lage des nahen Südmeers, die ihn hätte retten können, sie sei noch nicht eingelangt; jedenfalls werde mit dem nächsten Schiff eine Gerichtsperson einlangen, um Balboa zur Rechenschaft für seinen Aufruhr zu ziehen und ihn entweder an Ort und Stelle abzuurteilen oder in Ketten nach Spanien zurückzuführen. Vasco Nuñez de Balboa begreift, daß er verloren ist. Seine Verurteilung ist erfolgt, ehe man seine Nachricht über das nahe Südmeer und die goldene Küste erhalten hat. Selbstverständlich wird man sie ausnützen, während sein Kopf in den Sand rollt – irgendein anderer wird seine Tat, die Tat, von der er träumte, vollbringen; er selbst hat nichts mehr von Spanien zu erhoffen. Man weiß, daß er den rechtmäßigen Gouverneur des Königs in den Tod getrieben, daß er den Alcalden eigenmächtig aus dem Amte gejagt – gnädig wird er das Urteil noch nennen müssen, wenn es ihm bloß Gefängnis auferlegt und er nicht am Richtblock seine Verwegenheit büßen muß. Auf mächtige Freunde kann er nicht rechnen, denn er hat selbst keine Macht mehr, und sein bester Fürsprecher, das Gold, hat noch zu leise Stimme, um ihm Gnade zu sichern. Nur eines kann ihn jetzt retten vor der Strafe für seine Kühnheit – noch größere Kühnheit. Wenn er das andere Meer und das neue Ophir entdeckt, noch bevor die Rechtspersonen einlangen und ihre Häscher ihn fassen und fesseln, kann er sich retten. Nur eine Form der Flucht ist hier am Ende der bewohnten Welt für ihn möglich, die Flucht in eine grandiose Tat, die Flucht in die Unsterblichkeit.“


Die Eroberung von Byzanz (1453)[Bearbeiten]

Byzanz ist belagert und hofft auf eine europäische Flotte, die es vor den Türken rettet.

Noch einmal Hoffnung

[...] Es ist Zeit, höchste Zeit, daß Europa, daß die Christenheit sich ihres Versprechens entsinne; Scharen von Frauen liegen mit ihren Kindern den ganzen Tag vor den Reliquienschreinen in den Kirchen auf den Knien, von allen Wachttürmen spähen Tag und Nacht die Soldaten, ob nicht endlich in dem von türkischen Schiffen durchschwärmten Marmarameer die verheißene päpstliche und venezianische Entsatzflotte erscheinen wolle. Endlich, am 20. April, um drei Uhr morgens, leuchtete ein Signal. In der Ferne hat man Segel erspäht. Es ist nicht die gewaltige, die erträumte christliche Flotte, aber immerhin: langsam vom Wind getrieben, steuern drei große genuesische Schiffe heran und hinter ihnen ein viertes, kleineres, ein byzantinisches Getreideschiff, das die drei größeren zu seinem Schutz in die Mitte genommen. Sofort sammelt sich ganz Konstantinopel begeistert an den Uferwällen, um die Helfer zu begrüßen. Doch gleichzeitig wirft sich Mahomet auf sein Pferd und galoppiert in schärfstem Ritt von seinem Purpurzelt zum Hafen hinab, wo die türkische Flotte vor Anker liegt, und gibt Befehl, um jeden Preis das Einlaufen der Schiffe in den Hafen von Byzanz, in das Goldene Horn, zu verhindern. Hundertfünfzig, allerdings kleinere Schiffe, zählt die türkische Flotte, und sofort knattern Tausende Ruder ins Meer. Mit Enterhaken, mit Brandwerfern und Steinschleudern bewehrt, arbeiten sich diese hundertfünfzig Karavellen an die vier Galeonen heran, aber scharf getrieben vom Wind überholen und überfahren die vier mächtigen Schiffe die mit Geschossen und Geschrei belfernden Boote der Türken. Majestätisch, mit breit geschwellten runden Segeln steuern sie, unbekümmert um die Angreifer, hin zum sichern Hafen des Goldenen Horns, wo die berühmte Kette, von Stambul bis Galata hinübergespannt, ihnen dann dauernden Schutz bieten soll gegen Angriff und Überfall. Ganz nahe sind die vier Galeonen jetzt schon ihrem Ziel: schon können die Tausende auf den Wällen jedes einzelne Gesicht erkennen, schon werfen sich Männer und Frauen auf die Knie, um Gott und den Heiligen zu danken für die glorreiche Errettung, schon klirrt die Kette im Hafen nieder, um die Entsatzschiffe zu empfangen. Da geschieht mit einemmal etwas Entsetzliches. Der Wind setzt plötzlich aus. Wie von einem Magnet festgehalten, stehen die vier Segelschiffe völlig tot mitten im Meer, gerade nur ein paar Steinwürfe weit von dem rettenden Hafen, und mit wildem Jubelgeschrei wirft sich die ganze Meute der feindlichen Ruderboote auf die vier gelähmten Schiffe, die wie vier Türme reglos im Meer starren. Rüden gleich, die sich in einem Sechzehnender verbeißen, hängen sich mit Enterhaken die kleinen Schiffe an die Flanken der großen, mit Äxten scharf in das Holzwerk schlagend, um sie zum Sinken zu bringen, mit immer neuer Mannschaft die Ankerketten emporkletternd, Fackeln und Feuerbrände gegen die Segel schleudernd, um sie zu entzünden. Der Kapitän der türkischen Armada treibt entschlossen sein eigenes Admiralschiff gegen das Transportschiff, um es zu rammen; schon sind die beiden Schiffe wie Ringer ineinander verklammert. Zwar können sich, von ihren erhöhten Borden und durch Haubenpanzer geschützt, die genuesischen Matrosen zunächst noch der Emporkletternden erwehren, noch jagen sie mit Haken und Steinen und griechischem Feuer die Angreifer zurück. Aber bald muß das Ringen zu Ende sein. Es sind zu viele gegen zu wenige. Die genuesischen Schiffe sind verloren. Schauriges Schauspiel für Tausende auf den Mauern! So lustvoll nah, wie das Volk sonst im Hippodrom die blutigen Kämpfe verfolgte, so schmerzvoll nahe kann es jetzt eine Seeschlacht mit nacktem Auge betrachten und den scheinbar unvermeidlichen Untergang der Ihren, denn höchstens zwei Stunden noch, und die vier Schiffe erliegen der feindlichen Meute auf der Arena des Meers. Vergebens sind die Helfer gekommen, vergebens! Die verzweifelten Griechen auf den Wällen von Konstantinopel, gerade nur einen Steinwurf weit von ihren Brüdern, stehen und schreien mit geballten Fäusten in ohnmächtiger Wut, ihren Rettern nicht helfen zu können. Manche suchen mit wilden Gesten die kämpfenden Freunde anzufeuern. Andere wieder, die Hände zum Himmel gehoben, rufen Christus und den Erzengel Michael und alle die Heiligen ihrer Kirchen und Klöster an, die Byzanz seit so vielen Jahrhunderten beschützt haben, sie mögen ein Wunder wirken. Aber auf dem gegenüberliegenden Ufer von Galata wiederum warten und schreien und beten ebenso mit gleicher Inbrunst die Türken um den Sieg der Ihren: das Meer ist zur Szene geworden, eine Seeschlacht zum Gladiatorenspiel. Der Sultan selbst ist im Galopp herangejagt. Umringt von seinen Paschas reitet er so tief ins Wasser hinein, daß sein Oberrock naß wird,und schreit durch die zum Schallrohr gehöhlten Hände mit zorniger Stimme den Seinen den Befehl zu, um jeden Preis die christlichen Schiffe zu nehmen. Immer wieder, wenn eine seiner Galeeren zurückgetrieben wird, beschimpft er und bedroht er mit geschwungenem Krummsäbel seinen Admiral. »Wenn du nicht siegst, dann komme nicht lebend zurück.« Noch halten die vier christlichen Schiffe stand. Aber schon geht der Kampf zu Ende, schon beginnen die Wurfgeschosse, mit denen sie die türkischen Galeeren zurücktreiben, auszugehen, schon ermattet den Matrosen nach stundenlangem Kampfe gegen die fünfzigfache Übermacht der Arm. Der Tag ist niedergestiegen, die Sonne senkt sich am Horizont. Eine Stunde noch, und wehrlos müssen die Schiffe, selbst wenn sie bis dahin nicht von den Türken geentert sind, durch die Strömung an das von den Türken besetzte Ufer hinter Galata getrieben werden. Verloren, verloren, verloren! Da geschieht etwas, was der verzweifelnden, heulenden, klagenden Menge von Byzanz wie ein Wunder erscheint. Mit einmal beginnt ein leises Brausen, mit einmal erhebt sich ein Wind. Und sofort füllen sich die schlaffen Segel der vier Schiffe rund und groß. Der Wind, der ersehnte, der erbetene Wind ist wieder erwacht! Triumphierend erhebt sich der Bug der Galeonen, mit einem geschwellten Stoß überholt und überrennt ihr plötzlicher Anlauf die sie umschwärmenden Bedränger. Sie sind frei, sie sind gerettet. Unter dem brausenden Jubel der Tausende und aber Tausende auf den Wällen fährt jetzt das erste, das zweite, das dritte, das vierte in den sicheren Hafen ein, die herabgelassene Sperrkette klirrt schützend wieder empor, und hinter ihnen, auf dem Meere zerstreut, bleibt ohnmächtig die Meute der türkischen Kleinschiffe; noch einmal schwebt Jubel der Hoffnung wie ein purpurnes Gewölk über die düstere und verzweifelte Stadt. [...]“


Georg Friedrich Händels Auferstehung (1741)[Bearbeiten]

Georg Friedrich Händels Auferstehung

Das Genie einer Nacht (1792)[Bearbeiten]

Das Genie einer Nacht|Das Genie einer Nacht (Rouget de Lisle und die Marseillaise)

Die Weltminute von Waterloo (1815)[Bearbeiten]

Die Weltminute von Waterloo

Die Marienbader Elegie (1823)[Bearbeiten]

Die Marienbader Elegie (Goethe)

Die Entdeckung Eldorados (1848)[Bearbeiten]

Der verhängnisvolle Spatenstich

„1848, im Januar. Plötzlich kommt James W. Marshall, sein Schreiner, aufgeregt zu Johann August Suter ins Haus gestürzt, er müsse ihn unbedingt sprechen. Suter ist erstaunt, hat er doch noch gestern Marshall hinauf geschickt in seine Farm nach Coloma, dort ein neues Sägewerk anzulegen. Und nun ist der Mann ohne Erlaubnis zurückgekehrt, steht zitternd vor Aufregung vor ihm, drängt ihn in sein Zimmer, schließt die Tür ab und zieht aus der Tasche eine Handvoll Sand mit ein paar gelben Körnern darin. Gestern beim Graben sei ihm dieses sonderbare Metall aufgefallen, er glaube, es sei Gold, aber die anderen hätten ihn ausgelacht. Suter wird ernst, nimmt die Körner, macht die Scheideprobe: es ist Gold. Er entschließt sich, sofort am nächsten Tage mit Marshall zur Farm hinaufzureiten, aber der Zimmermeister ist als erster von dem furchtbaren Fieber ergriffen, das bald die Welt durchschütteln wird: noch in der Nacht, mitten im Sturm reitet er zurück, ungeduldig nach Gewißheit. Am nächsten Morgen ist Colonel Suter in Coloma, sie dämmen den Kanal ab und untersuchen den Sand. Man braucht nur ein Sieb zu nehmen, ein wenig hin und her zu schütteln, und die Goldkörner bleiben blank auf dem schwarzen Geflecht. Suter versammelt die paar weißen Leute um sich, nimmt ihnen das Ehrenwort ab, zu schweigen, bis das Sägewerk vollendet sei, dann reitet er ernst und entschlossen wieder zu seiner Farm zurück. Ungeheure Gedanken bewegen ihn: soweit man sich entsinnen kann, hat niemals das Gold so leicht faßbar, so offen in der Erde gelegen, und diese Erde ist sein, ist Suters Eigentum. Ein Jahrzehnt scheint übersprungen in einer Nacht: Er ist der reichste Mann der Welt.[...]

Der Rush

Der reichste Mann? Nein – der ärmste, der jämmerlichste, der enttäuschteste Bettler dieser Erde. Nach acht Tagen ist das Geheimnis verraten, eine Frau – immer eine Frau! – hat es irgendeinem Vorübergehenden erzählt und ihm ein paar Goldkörner gegeben. Und was nun geschieht, ist ohne Beispiel. Sofort lassen alle Männer Suters ihre Arbeit, die Schlosser laufen von der Schmiede, die Schäfer von den Herden, die Weinbauern von den Reben, die Soldaten lassen ihre Gewehre, alles ist wie besessen und rennt mit rasch geholten Sieben und Kasserollen hin zum Sägewerk, Gold aus dem Sand zu schütteln. Über Nacht ist das ganze Land verlassen, die Milchkühe, die niemand melkt, brüllen und verrecken, die Büffelherden zerreißen ihre Hürden, stampfen hinein in die Felder, wo die Frucht am Halme verfault, die Käsereien arbeiten nicht, die Scheunen stürzen ein, das ungeheure Räderwerk des gigantischen Betriebes steht still. Telegraphen sprühen die goldene Verheißung über Länder und Meere. Und schon kommen die Leute herauf von den Städten, von den Häfen, Matrosen verlassen ihre Schiffe, die Regierungsbeamten ihren Posten, in langen, unendlichen Kolonnen zieht es von Osten, von Westen, zu Fuß, zu Pferd und zu Wagen heran, der Rush, der menschliche Heuschreckenschwarm, die Goldgräber. Eine zügellose, brutale Horde, die kein Gesetz kennt als das der Faust, kein Gebot als das ihres Revolvers, ergießt sich über die blühende Kolonie. Alles ist für sie herrenlos, niemand wagt diesen Desperados entgegenzutreten. Sie schlachten Suters Kühe, sie reißen seine Scheuern ein, um sich Häuser zu bauen, sie zerstampfen seine Äcker, sie stehlen seine Maschinen – über Nacht ist Johann August Suter bettelarm geworden, wie König Midas, erstickt im eigenen Gold.[...]“

Heroischer Augenblick (1849)[Bearbeiten]

Heroischer Augenblick (Dostojewskis Begnadigung vor seiner geplanten Hinrichtung)

Das erste Wort über den Ozean (1858)[Bearbeiten]

DER NEUE RHYTHMUS

Ein Lord Byron bewältigt auf seiner Childe-Harold-Fahrt nicht mehr Meilen im Tag als Ovidius auf seinem Wege ins poetische Exil, Goethe reist im achtzehnten Jahrhundert nicht wesentlich bequemer oder geschwinder als der Apostel Paulus zu Anfang des Jahrtausends. Unverändert weit liegen die Länder in Raum und Zeit voneinander geschieden im Zeitalter Napoleons wie unter dem römischen Imperium; noch obsiegt der Widerstand der Materie über den menschlichen Willen. Erst das neunzehnte Jahrhundert verändert fundamental Maß und Rhythmus der irdischen Geschwindigkeit. In seinem ersten und zweiten Jahrzehnt rücken die Völker, die Länder rascher aneinander als vordem in Jahrtausenden; durch die Eisenbahn, durch das Dampfboot werden Tagereisen von vordem in einem einzigen Tag, bisher endlose Reisestunden in Viertelstunden und Minuten bewältigt. Aber so triumphal auch von den Zeitgenossen diese neuen Beschleunigungen durch die Eisenbahn und das Dampfboot empfunden werden, diese Erfindungen liegen immerhin noch im Bereich der Faßbarkeit. Denn diese Vehikel verfünffachen, verzehnfachen, verzwanzigfachen doch nur die bisher gekannten Geschwindigkeiten, der äußere Blick und der innere Sinn vermag ihnen noch zu folgen und sich das scheinbare Wunder zu erklären. Völlig unvermutet aber in ihren Auswirkungen erscheinen die ersten Leistungen der Elektrizität, die, ein Herkules schon in der Wiege, alle bisherigen Gesetze umstößt, alle gültigen Maße zertrümmert. Nie werden wir Späteren das Staunen jener Generation über die ersten Leistungen des elektrischen Telegraphen nachzufühlen vermögen, die ungeheure und begeisterte Verblüffung, daß eben derselbe kleine, kaum fühlbare elektrische Funke, der gestern von der Leidener Flasche gerade noch einen Zoll weit bis zum Fingerknöchel hinüberzuknistern vermochte, mit einmal die dämonische Kraft gewonnen hat, Länder, Berge und ganze Erdteile zu überspringen. Daß der noch kaum zu Ende gedachte Gedanke, das noch feucht hingeschriebene Wort in derselben Sekunde schon Tausende Meilen weit empfangen, gelesen, verstanden werden kann und daß der unsichtbare Strom, der zwischen den beiden Polen der winzigen Voltaschen Säule schwingt, ausgespannt zu werden vermag über die ganze Erde von ihrem einen bis zum andern Ende. [...]

Erst durch diese Entdeckung hat die Relation von Raum und Zeit die entscheidendste Umstellung seit Erschaffung der Welt erfahren.[...]

Dieses weltbedeutsame Jahr 1837, da zum erstenmal der Telegraph das bisher isolierte menschliche Erleben gleichzeitig macht, wird selten in unseren Schulbüchern auch nur vermerkt, die es leider noch immer für wichtiger halten, von Kriegen und Siegen einzelner Feldherren und Nationen zu erzählen statt von den wahrhaften, weil gemeinsamen Triumphen der Menschheit. Und doch ist kein Datum der neueren Geschichte an psychologischer Weitwirkung dieser Umstellung des Zeitwertes zu vergleichen. Die Welt ist verändert, seit es möglich ist, in Paris gleichzeitig zu wissen, was in Amsterdam, Moskau und Neapel und Lissabon in derselben Minute geschieht. [...] Wenige Jahre nach der Einführung des Landtelegraphen wird das Guttapercha entdeckt als der geeignete Stoff, elektrische Leitungen im Wasser zu isolieren; nun kann man beginnen, das wichtigste Land jenseits des Kontinents, England, an das europäische Telegraphennetz anzuschließen. [...]

Damit ein Wunder oder ein Wunderbares sich vollende, ist immer die erste Vorbedingung der Glaube eines einzelnen an dieses Wunder. [...] Ganze Bergwerke von Eisen und Kupfer werden verbraucht für diese eine Schnur, ganze Wälder von Gummibäumen müssen bluten, um die Guttaperchahülle zu schaffen auf so riesige Distanz. Und nichts veranschaulicht sinnlicher die enormen Proportionen der Unternehmung, als daß dreihundertsiebenundsechzigtausend Meilen einzelnen Drahtes in dieses eine Kabel versponnen werden, dreizehnmal soviel, als genügte, die ganze Erde zu umspannen, und genug, um in einer Linie die Erde mit dem Mond zu verbinden. Seit dem Turmbau von Babel hat die Menschheit im technischen Sinne nichts Grandioseres gewagt. [...]

DIE DRITTE FAHRT

Und nun bestätigt sich abermals die alte Erfahrung, daß die entscheidenden Dinge fast immer im geheimen gelingen. Diesmal geht die Abfahrt völlig unbeachtet vor sich; keine Boote, keine Barken umkreisen glückwünschend die Schiffe, keine Menge versammelt sich am Strand, kein festliches Abschiedsdiner wird gegeben, keine Reden gehalten, kein Priester fleht den Beistand Gottes herab. Wie zu einem piratischen Unternehmen, scheu und schweigsam fahren die Schiffe aus. Aber freundlich erwartet sie die See. Genau am vereinbarten Tage, am 28. Juli, elf Tage nach der Abfahrt von Queenstown, können die »Agamemnon« und die »Niagara« an der vereinbarten Stelle in der Mitte des großen Ozeans die große Arbeit beginnen. Seltsames Schauspiel – Heck gegen Heck wenden sich die Schiffe einander zu. Zwischen beiden werden nun die Enden des Kabels vernietet. Ohne jede Förmlichkeit, ja ohne sogar daß die Leute an Bord dem Vorgang wesentliches Interesse schenken (sie sind schon so abgemüdet von den erfolglosen Versuchen), sinkt das eiserne und kupferne Tau zwischen den beiden Schiffen in die Tiefe bis zu dem untersten, von keinem Lot noch erforschten Grund des Ozeans. [...]

DAS GROSSE HOSIANNA

[...] Fast zur gleichen Stunde erfahren in den ersten Augusttagen der alte und der neue Kontinent die Botschaft des gelungenen Werkes; die Wirkung ist eine unbeschreibliche. In England leitartikelt die sonst so bedächtige Times: »Since the discovery of Columbus, nothing has been done in any degree comparable to the vast enlargement which has thus been given to the sphere of human activity.« »Seit der Entdeckung des Kolumbus ist nichts geschehen, was in irgendeiner Weise vergleichbar wäre dieser gewaltigen Erweiterung der Sphäre menschlicher Tätigkeit.« Und die City ist in hellster Erregung. Aber schattenhaft und scheu scheint diese stolze Freude Englands, verglichen mit der orkanischen Begeisterung Amerikas, kaum daß dort die Nachricht übermittelt wird. Sofort stocken die Geschäfte, die Straßen sind überflutet mit fragenden, lärmenden, diskutierenden Menschen. Über Nacht ist ein völlig unbekannter Mann, Cyrus W. Field, zum Nationalhelden eines ganzen Volkes geworden. Franklin und Kolumbus wird er emphatisch zur Seite gestellt, die ganze Stadt und hinter ihr hundert andere beben und dröhnen von Erwartung, den Mann zu sehen, der »die Vermählung des jungen Amerika und der Alten Welt« durch seine Entschlossenheit vollzogen. Aber noch hat die Begeisterung nicht den höchsten Grad erreicht, denn nichts als die dürre Meldung ist ja vorläufig eingetroffen, daß das Kabel gelegt sei. Aber kann es auch sprechen? Ist die Tat, die eigentliche, gelungen? Grandioses Schauspiel – eine ganze Stadt, ein ganzes Land wartet und lauscht auf ein einziges, auf das erste Wort über den Ozean. Man weiß, die englische Königin wird allen voran ihre Botschaft, ihren Glückwunsch sagen, jede Stunde erwartet man sie ungeduldiger. Aber es vergehen noch Tage und Tage, weil durch einen unglücklichen Zufall gerade das Kabel nach Neufundland gestört ist, und es dauert bis zum 16. August, bis die Botschaft der Königin Viktoria in den Abendstunden in Neuyork eintrifft.

Zu spät freilich, als daß die Zeitungen die offizielle Mitteilung bringen könnten, kommt die ersehnte Nachricht; nur angeschlagen kann sie werden an den Telegraphenämtern und Redaktionen, und sofort stauen sich ungeheure Massen. Zerschunden und mit zerrissenen Kleidern müssen sich die Newspaper Boys durch das Getümmel durchschlagen. In den Theatern, in den Restaurants wird die Botschaft verkündet. Tausende, die noch nicht fassen können, daß der Telegraph dem schnellsten Schiff um Tage vorauseilt, stürmen zu dem Hafen von Brooklyn, um das Heldenschiff dieses friedlichen Sieges, die »Niagara«, zu begrüßen. Am nächsten Tage dann, am 17. August, jubeln die Zeitungen mit faustdicken Überschriften: »The cable in perfect working order«, »Everybody crazy with joy«, »Tremendous Sensation throughout the city«, »Now's the time for an universal jubilee«. Triumph ohnegleichen: Seit Anfang alles Denkens auf Erden hat ein Gedanke mit seiner eigenen Geschwindigkeit über das Weltmeer sich geschwungen. Und schon donnern von der Battery hundert Kanonenschüsse, um anzukündigen, daß der Präsident der Vereinigten Staaten der Königin geantwortet habe. [...]

DAS GROSSE CRUCIFIGE

Tausende und Millionen Stimmen lärmen und jubeln an diesem Tage. Nur eine einzige und die wichtigste bleibt während dieser Feier merkwürdig stumm – der elektrische Telegraph. Vielleicht ahnt Cyrus W. Field in der Mitte des Jubels schon die fürchterliche Wahrheit, und grauenhaft müßte dies sein für ihn, als einziger zu wissen, daß gerade an diesem Tage das atlantische Kabel aufgehört hat zu funktionieren, daß, nachdem schon in den letzten Tagen nur mehr konfuse und kaum mehr lesbare Zeichen gekommen waren, der Draht endgültig ausgeröchelt hat und seinen letzten, sterbenden Atemzug getan. Noch weiß und noch ahnt von diesem allmählichen Versagen in ganz Amerika niemand als die paar Menschen, die den Empfang der Sendungen in Neufundland kontrollieren, und auch diese zögern noch Tage und Tage angesichts des maßlosen Enthusiasmus, den Jubelnden die bittere Mitteilung zu machen. Bald aber fällt es auf, daß die Nachrichten so spärlich eintreffen. Amerika hatte erwartet, Stunde um Stunde werde jetzt Botschaft über den Ozean blitzen – statt dessen nur ab und zu eine vage und unkontrollierbare Kunde. Es dauert nicht lang, und ein Gerücht flüstert sich herum, man habe im Eifer und der Ungeduld, bessere Übertragungen zu erreichen, zu starke elektrische Ladungen geschickt und damit das ohnehin unzulängliche Kabel verdorben. Noch hofft man die Störung zu beheben. Doch bald ist es nicht mehr zu leugnen, daß die Zeichen immer stammelnder, immer unverständlicher geworden sind. Gerade nach jenem katzenjämmerlichen Festmorgen, am 1. September, kommt kein klarer Ton, keine reine Schwingung mehr über das Meer. Nichts nun verzeihen die Menschen weniger, als in einer ehrlichen Begeisterung ernüchtert zu werden und von einem Manne, von dem sie alles erwartet, sich hinterrücks enttäuscht zu sehen. Kaum daß sich das Gerücht bewahrheitet, der vielgerühmte Telegraph versage, wirft sich die stürmische Welle des Jubels nun im Rückschlag als bösartige Erbitterung dem unschuldig Schuldigen, Cyrus W. Field, entgegen. Er hat eine Stadt, ein Land, eine Welt betrogen; längst habe er von dem Versagen des Telegraphen gewußt, behauptet man in der City, aber eigensüchtig habe er sich umjubeln lassen und inzwischen die Zeit benützt, um die ihm gehörigen Aktien mit ungeheurem Gewinn loszuschlagen. Sogar noch bösartigere Verleumdungen melden sich, darunter die merkwürdigste von allen, die peremptorisch behauptet, der atlantische Telegraph habe überhaupt nie richtig funktioniert; alle Meldungen seien Schwindel und Humbug gewesen und das Telegramm der Königin von England schon vorher abgefaßt und nie durch den Ozeantelegraph übermittelt gewesen. [...]

SECHS JAHRE SCHWEIGEN

[...] Nun ist alles leicht, was früher unermeßlich schwer gewesen. Am 23. Juli 1865 verläßt das Mammutschiff mit einem neuen Kabel die Themse. Wenn auch der erste Versuch mißlingt, wenn durch einen Riß zwei Tage vor dem Ziel die Legung mißglückt und noch einmal der unersättliche Ozean sechsmalhunderttausend Pfund Sterling schluckt, die Technik ist schon zu sicher ihrer Sache, um sich entmutigen zu lassen. Und als am 13. Juli 1866 zum zweitenmal die »Great Eastern« ausfährt, wird die Reise zum Triumph, klar und deutlich spricht diesmal das Kabel nach Europa hinüber.

[...] von diesem Augenblick an hat die Erde gleichsam einen einzigen Herzschlag; sich hörend, sich schauend, sich verstehend lebt die Menschheit nun gleichzeitig von einem bis zum andern Ende der Erde, göttlich allgegenwärtig durch ihre eigene schöpferische Kraft. Und herrlich wäre sie dank ihres Sieges über Raum und Zeit nun für alle Zeiten vereint, verwirrte sie nicht immer wieder von neuem der verhängnisvolle Wahn, unablässig diese grandiose Einheit zu zerstören und mit denselben Mitteln, die ihr Macht über die Elemente gegeben, sich selbst zu vernichten.“

Die Flucht zu Gott (1910)[Bearbeiten]

Die Flucht zu Gott (Tolstois letzte Tage im Herbst des Jahres 1910)

Der Kampf um den Südpol (1912)[Bearbeiten]

Der sechzehnte Januar

»Gehobene Stimmung« verzeichnet das Tagebuch. Morgens sind sie ausgerückt, früher als sonst, die Ungeduld hat sie aus ihren Schlafsäcken gerissen, eher das Geheimnis, das furchtbar schöne, zu schauen. 14 Kilometer legen die fünf Unentwegten bis nachmittags zurück, heiter marschieren sie durch die seelenlose, weiße Wüste dahin: nun ist das Ziel nicht mehr zu verfehlen, die entscheidende Tat für die Menschheit fast getan. Plötzlich wird einer der Gefährten, Bowers, unruhig. Sein Auge brennt sich fest an einen kleinen, dunklen Punkt in dem ungeheuren Schneefeld. Er wagt seine Vermutung nicht auszusprechen, aber allen zittert nun der gleiche furchtbare Gedanke im Herzen, daß Menschenhand hier ein Wegzeichen aufgerichtet haben könnte. Künstlich versuchen sie sich zu beruhigen. Sie sagen sich – so wie Robinson die fremde Fußspur auf der Insel vergebens erst als die eigene erkennen will –, dies müsse ein Eisspalt sein oder vielleicht eine Spiegelung. Mit zuckenden Nerven marschieren sie näher, noch immer versuchen sie sich gegenseitig zu täuschen, sosehr sie alle schon die Wahrheit wissen: daß die Norweger, daß Amundsen ihnen zuvorgekommen ist.

Bald zerbricht der letzte Zweifel an der starren Tatsache einer schwarzen Fahne, die an einem Schlittenständer hoch aufgerichtet ist, über den Spuren eines fremden, verlassenen Lagerplatzes – Schlittenkufen und die Abdrücke vieler Hundepfoten: Amundsen hat hier gelagert. Das Ungeheure, das Unfaßbare in der Menschheit ist geschehen: der Pol der Erde, seit Jahrtausenden unbeseelt, seit Jahrtausenden, und vielleicht seit allem Anbeginn ungeschaut vom irdischen Blick, ist in einem Molekül Zeit, ist innerhalb von fünfzehn Tagen zweimal entdeckt worden. Und sie sind die zweiten – um einen einzigen Monat von Millionen Monaten zu spät –, die zweiten in einer Menschheit, für die der erste alles ist und der zweite nichts. [...]

Am 18. Januar erreicht Kapitän Scott mit seinen vier Gefährten den Pol. Da die Tat, der erste gewesen zu sein, ihm nicht mehr den Blick blendet, sieht er nur mit stumpfen Augen das Traurige der Landschaft. »Nichts ist hier zu sehen, nichts, was sich von der schauerlichen Eintönigkeit der letzten Tage unterschiede« – das ist die ganze Beschreibung, die Robert F. Scott vom Südpol gibt. Das einzig Seltsame, das sie dort entdecken, ist nicht von Natur gestaltet, sondern von feindlicher Menschenhand: Amundsens Zelt mit der norwegischen Flagge, die frech und siegesfroh auf dem erstürmten Walle der Menschheit flattert. [...]

Mit prophetischem Argwohn schreibt Scott in sein Tagebuch: »Mir graut vor dem Rückweg.« 

Der Zusammenbruch

Der Heimmarsch verzehnfacht die Gefahren. Am Wege zum Pol wies sie der Kompaß. Nun müssen sie achten, bei der Rückkehr außerdem noch die eigene Spur nicht zu verlieren, wochenlang nicht ein einziges Mal zu verlieren, um nicht von den Depots abzukommen, wo ihre Nahrung liegt, ihre Kleidung und die aufgestaute Wärme in den paar Gallonen Petroleum. [...]

Und nichts bezeugt grandioser den geistigen Heroismus dieser paar Menschen in der ungeheuren Einsamkeit, als daß Wilson, der Forscher, selbst hier, haarbreit vom Tod, seine wissenschaftlichen Beobachtungen fortsetzt und auf seinem eigenen Schlitten zu all der notwendigen Last noch sechzehn Kilogramm seltner Gesteinsarten mitschleppt. [...]

Die Briefe des Sterbenden

Mit erstarrenden Fingern schreibt Kapitän Scott, schreibt Briefe aus der Stunde seines Todes an alle Lebendigen, die er liebt. Wundervoll sind diese Briefe. Alles Kleinliche ist ihnen von der gewaltigen Nähe des Todes abgetan, die kristallene Luft dieses unbelebten Himmels scheint in sie eingedrungen. An Menschen sind sie gerichtet und sprechen doch zur ganzen Menschheit. An eine Zeit sind sie geschrieben und sprechen für die Ewigkeit. [...]

Als letztes zittern die schon erfrierenden Finger noch den Wunsch hin: »Schickt dies Tagebuch meiner Frau!« Aber dann streicht seine Hand in grausamer Gewißheit das Wort »meiner Frau« aus und schreibt darüber das furchtbare »meiner Witwe«. [...]

Die Antwort

[...] in großartigem Widerspiel ersteht aus einem heroischen Tode gesteigertes Leben, aus Untergang Wille zum Aufstieg ins Unendliche empor. Denn nur Ehrgeiz entzündet sich am Zufall des Erfolges und leichten Gelingens, nichts aber erhebt dermaßen herrlich das Herz als der Untergang eines Menschen im Kampf gegen die unbesiegbare Übermacht des Geschickes, diese allezeit großartigste aller Tragödien, die manchmal ein Dichter und tausendmal das Leben gestaltet.“

Der versiegelte Zug (1917)[Bearbeiten]

Der Mann, der bei dem Flickschuster wohnt

Die kleine Friedensinsel der Schweiz, von allen Seiten umbrandet von der Sturmflut des Weltkrieges, ist in jenen Jahren 1915, 1916, 1917 und 1918 ununterbrochen die Szene eines aufregenden Detektivromans. In den Luxushotels gehen kühl und als ob sie einander nie gekannt hätten, die Gesandten der feindlichen Mächte aneinander vorüber, die ein Jahr vorher noch freundschaftlich Bridge gespielt und sich ins Haus geladen. Aus ihren Zimmern huscht ein ganzer Schwarm undurchsichtiger Gestalten. Abgeordnete, Sekretäre, Attachés, Geschäftsleute, verschleierte oder unverschleierte Damen, jeder mit geheimnisvollen Aufträgen bedacht. Vor den Hotels fahren prachtvolle Automobile mit ausländischen Hoheitszeichen vor, denen Industrielle, Journalisten, Virtuosen und scheinbar zufällige Vergnügungsreisende entsteigen. Aber fast jeder hat den gleichen Auftrag: etwas zu erfahren, etwas zu erspähen, und der Portier, der sie ins Zimmer führt, und das Mädchen, das die Stuben fegt, auch sie sind bedrängt, zu beobachten, zu belauern. Überall arbeiten die Organisationen gegeneinander, in den Gasthöfen, in den Pensionen, in den Postämtern, den Cafés. Was sich Propaganda nennt, ist zur Hälfte Spionage, was sich als Liebe gebärdet, Verrat, und jedes offene Geschäft all dieser eiligen Ankömmlinge verbirgt ein zweites und drittes im Hintergrund. Alles wird gemeldet, alles überwacht; kaum daß ein Deutscher von irgendwelchem Range Zürich betritt, weiß es die gegnerische Botschaft schon in Bern, und eine Stunde später Paris. [...]

Nur über einen Mann gibt es wenig Berichte aus jenen Tagen, vielleicht weil er zu unbeachtlich ist und nicht in den vornehmen Hotels absteigt, nicht in den Kaffeehäusern sitzt, nicht den Propagandavorstellungen beiwohnt, sondern mit seiner Frau völlig zurückgezogen bei einem Flickschuster wohnt. [...]

Er meidet die Gesellschaft, selten sehen die Hausleute den scharfen, dunklen Blick in den schmalgeschlitzten Augen, selten kommen Besucher zu ihm. Aber regelmäßig, Tag für Tag, geht er jeden Morgen um neun Uhr in die Bibliothek und sitzt dort, bis sie um zwölf Uhr geschlossen wird. Genau zehn Minuten nach zwölf ist er wieder zu Hause, zehn Minuten vor eins verläßt er das Haus, um wieder als erster in der Bibliothek zu sein, und sitzt dort bis sechs Uhr abends. [...]

Der Pakt

In seinem Auftrag begibt sich der schweizerische Gewerkschaftssekretär Fritz Platten zu dem deutschen Gesandten, der schon vordem allgemein mit den russischen Emigranten verhandelt hatte, und legt ihm die Bedingungen Lenins vor. Denn dieser kleine unbekannte Flüchtling stellt – als ob er seine kommende Autorität schon ahnen könnte – keineswegs eine Bitte an die deutsche Regierung, sondern legt ihr die Bedingungen vor, unter denen die Reisenden bereit wären, das Entgegenkommen der deutschen Regierung anzunehmen: daß dem Wagen das Recht der Exterritorialität zuerkannt wird. Daß eine Paß- oder Personenkontrolle weder beim Eingang noch beim Ausgang ausgeübt werden dürfe. Daß sie ihre Reise zu den normalen Tarifen selbst bezahlen. Daß ein Verlassen des Wagens weder angeordnet noch auf eigene Initiative stattfinden darf. Der Minister Romberg gibt diese Nachrichten weiter. Sie gelangen bis in die Hände Ludendorffs, der sie zweifellos befürwortet, obwohl in seinen Erinnerungen über diesen welthistorisch vielleicht wichtigsten Entschluß seines Lebens kein Wort zu finden ist. In manchen Einzelheiten versucht der Gesandte noch Änderungen zu erreichen, denn mit Absicht ist das Protokoll so zweideutig von Lenin abgefaßt, daß nicht nur Russen, sondern auch ein Österreicher wie Radek in dem Zuge unkontrolliert mitfahren dürfen. Aber ebenso wie Lenin hat auch die deutsche Regierung Eile. Denn an diesem Tage, dem 5. April, erklären die Vereinigten Staaten Amerikas Deutschland den Krieg. Und so erhält Fritz Platten am 6. April mittags den denkwürdigen Bescheid: »Angelegenheit in gewünschtem Sinne geordnet.« Am 9. April 1917, um halb drei Uhr, bewegt sich vom Restaurant Zähringerhof ein kleiner Trupp schlechtgekleideter, Koffer tragender Leute zum Bahnhof von Zürich. Es sind im ganzen zweiunddreißig, darunter Frauen und Kinder. Von den Männern ist nur der Name Lenins, Sinowjews und Radeks weiter bekannt geblieben. [...]

Das Projektil schlägt ein

Die erste Geste Lenins auf russischem Boden ist charakteristisch: er sieht nicht die einzelnen Menschen, sondern wirft sich vor allem auf die Zeitungen. Vierzehn Jahre war er nicht in Rußland gewesen, hat er die Erde nicht gesehen, nicht die Landesfahne und die Uniform der Soldaten. Aber nicht wie die andern bricht dieser eiserne Ideologe in Tränen aus, nicht umarmt er wie die Frauen die ahnungslos überraschten Soldaten. Die Zeitung, die Zeitung zuerst, die Prawda, um zu untersuchen, ob das Blatt, sein Blatt, den internationalen Standpunkt genug entschlossen einhält. [...]

Es ist Zeit, fühlt er, daß er gekommen ist, um das Steuerrad umzureißen und seine Lebensidee vorzustoßen gegen Sieg oder Untergang. Aber wird er dazu noch kommen? Letzte Unruhe, letztes Bangen. Wird nicht Miljukow gleich in Petrograd – so heißt die Stadt damals noch, aber nicht lange mehr – ihn verhaften lassen? Die Freunde, die ihm entgegengefahren sind in dem Zuge, Kamenew und Stalin, zeigen ein merkwürdiges geheimnisvolles Lächeln in dem dunklen Abteil dritter Klasse, das von einem Lichtstumpf unsicher beleuchtet ist. Sie antworten nicht oder wollen nicht antworten. Aber unerhört ist dann die Antwort, die die Wirklichkeit gibt. Wie der Zug einläuft in den finnischen Bahnhof, ist der riesige Platz davor voll von Zehntausenden von Arbeitern, Ehrenwachen aller Waffengattungen erwarten den aus dem Exil Heimgekehrten, die Internationale erbraust. Und wie Wladimir Ilitsch Ulianow jetzt heraustritt, ist der Mann, der vorgestern noch bei dem Flickschuster gewohnt, schon von hunderten Händen gefaßt und auf ein Panzerautomobil gehoben. Scheinwerfer von den Häusern und der Festung sind auf ihn gerichtet, und von dem Panzerautomobil herab hält er seine erste Rede an das Volk. Die Straßen beben, und bald haben die »zehn Tage, die die Welt erschüttern«, begonnen. Das Geschoß hat eingeschlagen und zertrümmert ein Reich, eine Welt.“

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