Benutzer Cethegus/Der Nachsommer

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Adalbert Stifters Roman Der Nachsommer - Eine Erzählung erschien 1857. Der w:Roman ist einerseits w:Bildungsroman in der Nachfolge des Wilhelm Meister, andererseits ein moderner Roman, der mit der Gestaltung einer Kunstwelt experimentiert.

Einführung[Bearbeiten]

Stifter erzählt im Nachsommer eine Bildungs-, Liebes- und Familiengeschichte. Darin sind die Lebensverläufe zweier spiegelbildlich aufeinander bezogener Paare so ineinander verschlungen, dass das jüngere Paar Erfüllung findet, wo das ältere nur einen Nachsommer erlebt. Die Negativerfahrungen des älteren Paares schaffen Einsicht, Orientierung und materielle Bedingungen als Voraussetzung für das gelingende Leben der Jüngeren.

Heinrich Drendorf, der Ich-Erzähler, nimmt nach seiner Erziehung im Elternhaus in Wien – der Vater ist Kaufmann und seine Mutter Hausfrau – Wanderungen ins Gebirge auf, um seine Entwicklung zu vervollkommnen und sich zum Geologen auszubilden.

Stil[Bearbeiten]

Man hat an Stifters Erzählungen die Betonung der heilen Welt und seinen eigentümlichen auf Vereinfachung und Verallgemeinerung zielenden Stil[1] und auch eine gekünstelt erscheinende Gefühlsdarstellung kritisiert. Andererseits geht gerade davon auch ein besonderer Reiz aus[2].

Wertungen[Bearbeiten]

"Wir glauben nichts zu riskieren, wenn wir demjenigen, der beweisen kann, dass er sie ausgelesen hat, ohne als Kunstrichter dazu verpflichtet zu sein, die Krone von Polen versprechen," meinte Friedrich Hebbel 1858 über diesen Roman.
Nun war die Krone Polens schon damals nichts wert.

A: [...] ein Evangelium gepflegten Stumpfsinns. B.: Alle Gestalten im 'Nachsommer', von der ersten bis zur letzten, sind hinsichtlich Realität nur selektiv unterrichtet. Kein Konflikt der Generationen. Man bewegt sich zeitlupig ; denn: "Leidenschaft ist unsittlich", wie Stifter in unbegreiflicher Geistesverengung dekretiert, und sich damit selbst dichterisch entmannt hat. Der Würgengel vermeinter Sittsamkeit garantiert die stereotypste Starre und Kälte: im ganzen Buch lacht nicht ein Mensch!
A.: Ein Kabinettstück in seiner Art der chemisch gereinigte Liebeshandel Heinrichs und Nataliens: noch frostiger und pomadiger kann man sich nicht gerieren.“

Der sanfte Unmensch. Einhundert Jahre Nachsommer. Radioessay in: Der sanfte Unmensch, 1958, S.85

Eigentümlich handlungsarm und arm an Gefühlsdarstellung ist der Roman gewiss. Doch gerade das übt auf manche eine gewisse Faszination aus.[3], während viele spannende Bücher - das gilt insbesondere für w:Bestseller - nach einmaligem Lesen verbraucht sind.

Mit Flauberts Madame Bovary und Beaudelaires w:Les Fleurs du Mal, die alle 1857 erschienen, hat man den Roman als ein frühes Beispiel der Moderne[4] gesehen.

Begründung für eine Behandlung im Unterricht[Bearbeiten]

Da schon Zeitgenossen an diesem Roman gescheitert sind, sollte man ihn wohl nicht als Ganzschrift zur Klassenlektüre wählen. Wegen seiner literarischen Qualität[5] wäre es aber sinnvoll, auf ihn hinzuweisen. Außerdem eignet er sich dazu, den Unterschied von Kitsch und bewusster, den Leser fordernder Stilisierung herauszuarbeiten. Zu diskutieren wäre, ob man die - selten - zu findende Sprache der Leidenschaft dennoch zum Kitsch rechnen darf.

Textstellen zur Erarbeitung der Charakteristika des Stils[Bearbeiten]

Am Brunnen[Bearbeiten]

„Endlich sagte sie: »Wir haben von dem Angenehmen dieses Ortes gesprochen und sind von dem edlen Steine des Marmors auf die Edelsteine gekommen; aber eines Dinges wäre noch Erwähnung zu tun, das diesen Ort ganz besonders auszeichnet.« »Welches Dinges?« »Des Wassers. Nicht bloß, daß dieses Wasser vor vielen, die ich kenne, gut zur Erquickung gegen den Durst ist, so hat sein Spielen und sein Fließen gerade an dieser Stelle und durch diese Vorrichtungen etwas Besänftigendes und etwas Beachtungswertes.« »Ich fühle wie ihr«, antwortete ich, »und wie oft habe ich dem schönen Glänzen und dem schattenden Dunkel dieses lebendigen flüchtigen Körpers an dieser Stelle zugesehen, eines Körpers, der wie die Luft wohl viel bewunderungswürdiger wäre als es die Menschen zu erkennen scheinen.« »Ich halte auch das Wasser und die Luft für bewunderungswürdig«, entgegnete sie, [...]

»Was kann euch denn an diesem Orte Schmerz erregen?« fragte sie. »Natalie«, antwortete ich, »es ist jetzt ein Jahr, daß ihr mich an dieser Halle absichtlich gemieden habt. Ihr saßet auf derselben Bank, auf welcher ihr jetzt sitzet, ich stand im Garten, ihr tratet heraus und ginget von mir mit beeiligten Schritten in das Gebüsch.« Sie wendete ihr Angesicht gegen mich, sah mich mit den dunklen Augen an und sagte: »Dessen erinnert ihr euch, und das macht euch Schmerz?« »Es macht mir jetzt im Rückblicke Schmerz und hat ihn mir damals gemacht«, antwortete ich. »Ihr habt mich ja aber auch gemieden«, sagte sie. »Ich hielt mich ferne, um nicht den Schein zu haben, als dränge ich mich zu euch«, entgegnete ich. »War ich euch denn von einer Bedeutung?« fragte sie. »Natalie«, antwortete ich, »ich habe eine Schwester, die ich im höchsten Maße liebe, ich habe viele Mädchen in unserer Stadt und in dem Lande kennen gelernt; aber keines, selbst nicht meine Schwester, achte ich so hoch wie euch, keines ist mir stets so gegenwärtig und erfüllt mein ganzes Wesen wie ihr.« Bei diesen Worten traten die Tränen aus ihren Augen und flossen über ihre Wangen herab. Ich erstaunte, ich blickte sie an und sagte: »Wenn diese schönen Tropfen sprechen, Natalie, sagen sie, daß ihr mir auch ein wenig gut seid?« »Wie meinem Leben«, antwortete sie. Ich erstaunte noch mehr und sprach: »Wie kann es denn sein, ich habe es nicht geglaubt.« »Ich habe es auch von euch nicht geglaubt«, erwiderte sie. »Ihr konntet es leicht wissen«, sagte ich. »Ihr seid so gut, so rein, so einfach. So seid ihr vor mir gewandelt, ihr waret mir begreiflich wie das Blau des Himmels, und eure Seele erschien mir so tief wie das Blau des Himmels tief ist. [...]

»Und nun hat sich alles recht gelöset.« »Es hat sich wohl gelöset, meine liebe, liebe Natalie.« »Mein teurer Freund!« Wir reichten uns bei diesen Worten die Hände wieder und saßen schweigend da.“

Nachsommer, Der Bund

Auf dem Weg[Bearbeiten]

„An dieser Stelle sah ich jetzt, daß mir eine Gestalt, welche mir früher durch Baumkronen verdeckt gewesen sein mochte, entgegen kam, welche die Gestalt Nataliens war. [...] »Es ist recht schön«, sprach sie, »daß wir gleichzeitig einen Weg gehen, den ich heute schon einmal gehen wollte, und den ich jetzt wirklich gehe.«

»Wie habt ihr denn die Nacht zugebracht, Natalie?« fragte ich. »Ich habe sehr lange den Schlummer nicht gefunden«, antwortete sie, »dann kam er doch in sehr leichter, flüchtiger Gestalt. Ich erwachte bald und stand auf. Am Morgen wollte ich auf diesen Weg heraus gehen und ihn bis über die Felderanhöhe fortsetzen; aber ich hatte ein Kleid angezogen, welches zu einem Gange außer dem Hause nicht tauglich war. Ich mußte mich daher später umkleiden und ging jetzt heraus, um die Morgenluft zu genießen.« [...]

Wir gingen langsam auf dem feinen Sandwege dahin, an einem Baumstamme nach dem andern vorüber, und die Schatten, welche die Bäume auf den Weg warfen, und die Lichter, welche die Sonne dazwischen legte, wichen hinter uns zurück. Anfangs sprachen wir gar nicht, dann aber sagte Natalie: »Und habt ihr die Nacht in Ruhe und Wohlsein zugebracht?« »Ich habe sehr wenig Schlaf gefunden; aber ich habe es nicht unangenehm empfunden«, entgegnete ich, »die Fenster meiner Wohnung, welche mir eure Mutter so freundlich hatte einrichten lassen, gehen in das Freie, ein großer Teil des Sternenhimmels sah zu mir herein. Ich habe sehr lange die Sterne betrachtet. Am Morgen stand ich frühe auf, und da ich glaubte, daß ich niemand in dem Schlosse mehr stören würde, ging ich in das Freie, um die milde Luft zu genießen.«

»Es ist ein eigenes erquickendes Labsal, die reine Luft des heiteren Sommers zu atmen«, erwiderte sie. »Es ist die erhebendste Nahrung, die uns der Himmel gegeben hat«, antwortete ich.“

Der Nachsommer, Die Entfaltung

Gustav und Mathilde: Die Liebeserklärung[Bearbeiten]

Die Liebeserklärung zwischen Gustav und Mathilde, den Liebenden der vorigen Generation, war nicht so abgeklärt gewesen.

„Sie fragte mich, ob ich denn nicht gerne in die Stadt gehe. Ich sagte, daß ich nicht gerne gehe, daß es hier gar so schön sei, und daß es mir vorkomme, in der Stadt werde alles anders werden.

›Es ist wirklich sehr schön‹, antwortete sie, ›hier sind wir alle viel mehr beisammen, in der Stadt kommen Fremde dazwischen, man wird getrennt, und es ist, als wäre man in eine andere Ortschaft gereist. Es ist doch das größte Glück, jemanden recht zu lieben.‹ ›Ich habe keinen Vater, keine Mutter und keine Geschwister mehr‹, erwiderte ich, ›und ich weiß daher nicht, wie es ist.‹ ›Man liebt den Vater, die Mutter, die Geschwister‹, sagte sie, ›und andere Leute.‹ ›Mathilde, liebst du denn auch mich?‹ erwiderte ich.

Ich hatte sie nie du genannt, ich wußte auch nicht, wie mir die Worte in den Mund kamen, es war, als wären sie mir durch eine fremde Macht hineingelegt worden. Kaum hatte ich sie gesagt, so rief sie: ›Gustav, Gustav‹, so außerordentlich, wie es gar nicht auszusprechen ist. Mir brachen die heftigsten Tränen hervor.

Da flog sie auf mich zu, drückte die sanften Lippen auf meinen Mund und schlang die jungen Arme um meinen Nacken. Ich umfaßte sie auch und drückte die schlanke Gestalt so heftig an mich, daß ich meinte, sie nicht loslassen zu können. Sie zitterte in meinen Armen und seufzte. Von jetzt an war mir in der ganzen Welt nichts teurer als dieses süße Kind. Als wir uns losgelassen hatten, als sie vor mir stand, erglühend in unsäglicher Scham, gestreift von den Lichtern und Schatten des Weinlaubes, und als sich, da sie den süßen Atem zog, ihr Busen hob und senkte: war ich wie bezaubert, kein Kind stand mehr vor mir, sondern eine vollendete Jungfrau, der ich Ehrfurcht schuldig war. Ich fühlte mich beklommen.

Nach einer Weile sagte ich: ›Teure, teure Mathilde.‹ ›Mein teurer, teurer Gustav‹, antwortete sie. Ich reichte ihr die Hand und sagte: ›Auf immer, Mathilde.‹ ›Auf ewig‹, antwortete sie, indem sie meine Hand faßte. […]

Ich hatte früher nie irgend ein Mädchen bei der Hand gefaßt als meine Schwester, ich hatte nie mit einem ein liebes Wort geredet oder einen freundlichen Blick gewechselt. Dieses Gefühl war jetzt wie ein Sturm wind über mich gekommen. […] Ich ging wieder zu unserem Wohnhause zurück, und ging auf den Platz, von dem ich Mathildens Fenster sehen mußte. Sie beugte sich aus einem heraus und suchte mit den Augen. Als sie mich erblickt hatte, fuhr sie zurück. Auch mir war es gewesen da ich die holde Gestalt sah, als hatte mich ein Wetterstrahl getroffen. Ich ging wieder in die Büsche. Es waren Flieder in jener Gegend, die eine Strecke Rasen säumten und in ihrer Mitte eine Bank hatten, um im Schatten ruhen zu können. Zu dieser Bank ging ich immer wieder zurück. […] Es war zauberhaft, ein süßes Geheimnis mit einander zu haben, sich seiner bewußt zu sein und es als Glut im Herzen zu hegen. […]

Sie stand wie eine feurige Flamme da, und mein ganzes Wesen zitterte. Im vorigen Sommer hatte ich ihr oft die Hand gereicht, um ihr über eine schwierige Stelle zu helfen, um sie auf einem schwanken Stege zu stützen, oder sie auf schmalem Pfade zu geleiten. Jetzt fürchteten wir, uns die Hände zu geben, und die Berührung war von der größten Wirkung. […] Dann setzte sie sich zu dem Klaviere und rief einzelne Töne aus den Saiten. […]

Es begann nun eine merkwürdige Zeit. In meinem und Mathildens Leben war ein Wendepunkt eingetreten. Wir hatten uns nicht verabredet, daß wir unsere Gefühle geheim halten wollen; dennoch hielten wir sie geheim, wir hielten sie geheim vor dem Vater, vor der Mutter, vor Alfred und vor allen Menschen. Nur in Zeichen, die sich von selber gaben, und in Worten, die nur uns verständlich waren, und die wie von selber auf die Lippen kamen, machten wir sie uns gegenseitig kund. […] Wenn wir durch den Garten gingen, wenn Alfred um einen Busch bog, wenn er in dem Gange des Weinlaubes vor uns lief, wenn er früher aus dem Haselgebüsche war als wir, wenn er uns in dem Innern des Gartenhauses allein ließ, konnten wir uns mit den Fingern berühren, konnten uns die Hand reichen, oder konnten gar Herz an Herz fliegen, uns einen Augenblick halten, die heißen Lippen an einander drücken und die Worte stammeln: ›Mathilde, dein auf immer und auf ewig, nur dein allein, und nur dein, nur dein allein!‹ ›O ewig dein, ewig, ewig, Gustav, dein, nur dein, und nur dein allein.‹ Diese Augenblicke waren die allerglückseligsten.“

Der Nachsommer, Der Rückblick, S.761 - 768

Gustav und Mathilde: Die Trennung[Bearbeiten]

Doch dieses Paar findet nicht zueinander. Gustav entscheidet sich für das, was er für seine Pflicht hält.

„Dennoch war allgemach etwas da, das wie ein Übel in mein Glück bohrte. Es nagte der Gedanke an mir, daß wir die Eltern Mathildens täuschen. Sie ahnten nicht, was bestand, und wir sagten es ihnen nicht. Immer drückender wurde mir das Gefühl, und immer ängstender lastete es auf meiner Seele. Es war wie das Unheil der Alten, welches immer größer wird, wenn man es berührt. Eines Tages, da eben die Rosenblüte war, sagte ich zu Mathilden, ich wolle zur Mutter gehen, ihr alles entdecken und sie um ihr gütiges Vorwort bei dem Vater bitten. Mathilde antwortete, das werde gut sein, sie wünsche es, und unser Glück müsse dadurch sich erst recht klären und befestigen.

Ich ging nun zur Mutter Mathildens, und sagte ihr alles mit schlichten Worten, aber mit zagender Stimme.“

Der Nachsommer, Der Rückblick, S.773

Die Mutter spricht mit Risach und erklärt ihm ausführlich, Mathilde sei noch zu jung für eine Bindung und er müsse auch erst eine Lebensstellung erarbeiten. Er anwortet:

„„Wir haben uns nicht vorzustellen vermocht, daß das, was für uns ein so hohes Glück war, für die Eltern ein Unheil sein wird. Ihr habt es mir mit Eurer tiefsten Überzeugung gesagt. Selbst wenn Ihr irrtet, selbst wenn unsere Bitten Euch zu erweichen vermöchten, so würde Euer freudiger Wille, Euer Herz und Euer Segen mit dem Bunde nicht sein, und ein Bund ohne der Freude der Eltern, ein Bund mit der Trauer von Vater und Mutter müßte auch ein Bund der Trauer sein, er wäre ein ewiger Stachel, und Euer ernstes oder bekümmertes Antlitz würde ein unvertilgbarer Vorwurf sein. Darum ist der Bund, und wäre er der berechtigteste, aus, er ist aus auf so lange, als die Eltern ihm nicht beistimmen können. Eure ungehorsame Tochter würde ich nicht so unaussprechlich lieben können, wie ich sie jetzt liebe, Eure gehorsame werde ich ehren und mit tiefster Seele, wie fern ich auch sein mag, lieben, so lange ich lebe. Wir werden daher das Band losen, wie schmerzhaft die Lösung auch sein mag. – O Mutter, Mutter! – laßt Euch diesen Namen zum ersten und vielleicht auch zum letzten Male geben – der Schmerz ist so groß, daß ihn keine Zunge aussprechen kann? und daß ich mir seine Größe nie vorzustellen vermocht habe. […] Ich werde morgen Mathilden sagen, […] daß sie ihrem Vater und ihrer Mutter gehorchen müsse.“

Der Nachsommer, Der Rückblick, S.779-780

Am nächsten Tag geht Risach zu Mathilde und erklärt ihr, was er bei ihrer Mutter ausgerichtet hat und was sie nun tun müssten. Mathilde hat dafür kein Verständnis.

„„Ich ging auf die Gründe, welche die Mutter angegeben hatte, nicht ein, und legte Mathilden nur dar, daß sie zu gehorchen habe, und daß unter Ungehorsam unser Bund nicht bestehen könne.

Als ich geendet hatte, war sie im höchsten Maße erstaunt. ›Ich bitte dich, wiederhole mir nur in kurzem, was du gesprochen hast, und was wir tun sollen‹, sagte sie. ›Du mußt den Willen deiner Eltern tun und das Band mit mir lösen‹, antwortete ich. ›Und das schlägst du vor, und das hast du der Mutter versprochen, bei mir auszuwirken?‹, fragte sie. ›Mathilde, nicht auszuwirken‹, antwortete ich, ›wir müssen gehorchen; denn der Wille der Eltern ist das Gesetz der Kinder.‹

›Ich muß gehorchen‹, rief sie, indem sie von der Bank aufsprang, ›und ich werde auch gehorchen; aber du mußt nicht gehorchen, deine Eltern sind sie nicht. Du mußtest nicht hieher kommen und den Auftrag übernehmen, mit mir das Band der Liebe, das wir geschlossen hatten, aufzulösen. Du mußtest sagen: ›Frau, Eure Tochter wird Euch gehorsam sein, sagt Ihr nur Euren Willen; aber ich bin nicht verbunden, Eure Vorschriften zu befolgen, ich werde Euer Kind lieben, so lange ein Blutstropfen in mir ist, ich werde mit aller Kraft streben, einst in ihren Besitz zu gelangen. Und da sie Euch gehorsam ist, so wird sie mit mir nicht mehr sprechen, sie wird mich nicht mehr ansehen, ich werde weit von hier fortgehen; aber lieben werde ich sie doch, so lange dieses Leben währt und das künftige, ich werde nie einer andern ein Teilchen von Neigung schenken, und werde nie von ihr lassen.‹ ›So hättest du sprechen sollen, und wenn du von unserm Schlosse fortgegangen wärest, so hätte ich gewußt, daß du so gesprochen hast, und tausend Millionen Ketten hätten mich nicht von dir gerissen, und jubelnd hätte ich einst in Erfüllung gebracht, was dir dieses stürmische Herz gegeben. Du hast den Bund aufgelöste, ehe du mit mir hieher gegangen bist, ehe du mich zu dieser Bank geführt hast, die ich dir gutwillig folgte, weil ich nicht wußte, was du getan hast. Wenn jetzt auch der Vater und die Mutter kämen und sagten: ›Nehmet euch, besitzet euch in Ewigkeit‹, so wäre doch alles aus. Du hast die Treue gebrochen, die ich fester gewähnt habe als die Säulen der Welt und die Sterne an dem Baue des Himmels.‹

›Mathilde‹, sagte ich, ›was ich jetzt tue, ist unendlich schwerer, als was du verlangtest.‹ ›Schwer oder nicht schwer, von dem ist hier nicht die Rede‹, antwortete sie, ›von dem, was sein muß, ist die Rede, von dem, dessen Gegenteil ich für unmöglich hielt. Gustav, Gustav, Gustav, wie konntest du das tun?‹

Sie ging einige Schritte von mir weg, kniete, gegen die Rosen, die an dem Gartenhause blühten, gewendet, in das Gras nieder, schlug die beiden Hände zusammen und rief unter strömenden Tränen: ›Hört es, ihr tausend Blumen, die herabschauten, als er diese Lippen küßte, höre es du, Weinlaub, das den flüsternden Schwur der ewigen Treue vernommen hat, ich habe ihn geliebt, wie es mit keiner Zunge, in keiner Sprache ausgesprochen werden kann. Dieses Herz ist jung an Jahren, aber es ist reich an Großmut; alles, was in ihm lebte, habe ich dem Geliebten hingegeben, es war kein Gedanke in mir als er, das ganze künftige Leben, das noch viele Jahre umfassen konnte, hätte ich wie einen Hauch für ihn hingeopfert, jeden Tropfen Blut hätte ich langsam aus den Adern fließen und jede Faser aus dem Leibe ziehen lassen – und ich hätte gejauchzt dazu. Ich habe gemeint, daß er das weiß, weil ich gemeint habe, daß er es auch tun würde. Und nun führt er mich heraus, um mir zu sagen, was er sagte. Wären was immer für Schmerzen von außen gekommen, was immer für Kämpfe, Anstrengungen und Erduldungen; ich hätte sie ertragen, aber nun er – er –! Er macht es unmöglich für alle Zeiten, daß ich ihm noch angehören kann, weil er den Zauber zerstört hat, der alles band, den Zauber, der ein unzerreißbares Aneinanderhalten in die Jahre der Zukunft und in die Ewigkeit malte.‹

Ich ging zu ihr hinzu, um sie empor zu heben. Ich ergriff ihre Hand. Ihre Hand war wie Glut. Sie stand auf, entzog mir die Hand, und ging gegen das Gartenhaus, an dem die Rosen blühten.““

Der Nachsommer, Der Rückblick, S.781 - 783

Nach einem langen getrennten Leben finden sie sich erst nach dem Austritt des Mannes aus dem Arbeitsleben, im "Nachsommer" in inniger Freundschaft und Kooperation, aber getrennten Lebensräumen zusammen. - Man kann es Resignation nennen. Goethe spricht im Wilhelm Meister von "Entsagung". Die Sprache, die im "Nachsommer" vorherrscht, spiegelt etwas von dieser neuen Haltung wider.

Bildungslehre[Bearbeiten]

„Weil euch euere Natur selber zum Teile aus dem Kreise herausgezogen hat, den ihr um euch gesteckt habt, weil ihr zu euren früheren Bestrebungen noch den Einblick in die Dichtungen gesellt habt, so wie ja schon das Landschaftsmalen als ein Übergang in das Kunstfach ein Schritt aus eurem Kreise war, so erlaubet mir, daß ich als Freund, der euch wohl will, ein Wort zu euch rede. Ihr solltet zu eurem Wesen eine breitere Grundlage legen. Wenn die Kräfte des allgemeinen Lebens zugleich in allen oder vielen Richtungen tätig sind, so wird der Mensch, eben weil alle Kräfte wirksam sind, weit eher befriedigt und erfüllt, als wenn eine Kraft nach einer einzigen Richtung hinzielt. Das Wesen wird dann im Ganzen leichter gerundet und gefestet. Das Streben in einer Richtung legt dem Geiste eine Binde an, verhindert ihn, das Nebenliegende zu sehen und führt ihn in das Abenteuerliche. Später, wenn der Grund gelegt ist, muß der Mann sich wieder dem Einzigen zuwenden, wenn er irgendwie etwas Bedeutendes leisten soll. Er wird dann nicht mehr in das Einseitige verfallen. In der Jugend muß man sich allseitig üben, um als Mann gerade dann für das Einzelne tauglich zu sein. Ich sage nicht, daß man sich in das Tiefste des Lebens in allen Richtungen versenken müsse, wie zum Beispiele in allen Wissenschaften, wie ihr ja selber einmal angefangen habt, das wäre überwältigend oder tötend, ohne dabei möglich zu sein; sondern daß man das Leben, wie es uns überall umgibt, aufsuche, daß man seine Erscheinungen auf sich wirken lasse, damit sie Spuren einprägen, unmerklich und unbewußt, ohne daß man diese Erscheinungen der Wissenschaft unterwerfe. Darin, meine ich, besteht das natürliche Wissen des Geistes, zum Unterschiede von der absichtlichen Pflege desselben. Er wird nach und nach gerecht für die Vorkommnisse des Lebens. Ihr habt, scheint es mir, zu jung einen einzelnen Zug erfaßt, unterbrecht ihn ein wenig, ihr werdet ihn dann freier und großartiger wieder aufnehmen. Schaut auch die unbedeutenden, ja nichtigen Erscheinungen des Lebens an. Geht in die Stadt, sucht euch deren Vorkommnisse zurecht zu legen, kommt dann zu uns auf das Land, lebt einmal eine Weile müßig bei uns, das heißt tut, was euch der Augenblick und die Neigung eingibt, wir wollen dieses Haus und den Garten genießen, wollen den Nachbar Ingheim besuchen, wollen auch zu anderen entfernteren Nachbarn gehen und die Dinge an uns vor über fließen lassen, wie sie fließen.[6]

Der väterliche Freund Freiherr von Risach zum Protagonisten der Romans Der Nachsommer von Adalbert Stifter, 2. Band, 1. Kapitel

Auseinandersetzung mit der bildenden Kunst[Bearbeiten]

„So wie ich früher Gegenstände der Natur für wissenschaftliche Zwecke gezeichnet hatte, wie ich bei diesen Zeichnungen zur Anwendung von Farben gekommen war, wie ich ja vor Kurzem erst Geräte gezeichnet und gemalt hatte: so versuchte ich jetzt auch, den ganzen Blick, in dem ein Hintereinanderstehendes, im Dufte Schwebendes, vom Himmel sich Abhebendes enthalten war, auf Papier oder Leinwand zu zeichnen und mit Ölfarben zu malen. Das sah ich sogleich, daß es weit schwerer war als meine früheren Bestrebungen, weil es sich hier darum handelte, ein Räumliches, das sich nicht in gegebenen Abmessungen und mit seinen Naturfarben, sondern gleichsam als die Seele eines Ganzen darstellte, zu erfassen, während ich früher nur einen Gegenstand mit bekannten Linienverhältnissen und seiner ihm eigentümlichen Farbe in die Mappe zu übertragen hatte. Die ersten Versuche mißlangen gänzlich. Dieses schreckte mich aber nicht ab, sondern eiferte mich vielmehr noch immer stärker an. Ich versuchte wieder und immer wieder. Endlich vertilgte ich die Versuche nicht mehr, wie ich früher getan hatte, sondern bewahrte sie zur Vergleichung auf. Diese Vergleichung zeigte mir nach und nach, daß sich die Versuche besserten und die Zeichnung leichter und natürlicher wurde. Es war ein gewaltiger Reiz für das Herz, das Unnennbare, was in den Dingen vor mir lag, zu ergreifen, und je mehr ich nach dem Ergreifen strebte, desto schöner wurde auch dieses Unnennbare vor mir selbst. [...]

Durch das Urteil meiner Freunde wurde mir der Verstand plötzlich geöffnet, daß ich das, was mir bisher immer als wesenlos erschienen war, betrachten und kennen lernen müsse. Durch Luft, Licht, Dünste, Wolken, durch nahe stehende andere Körper gewinnen die Gegenstände ein anderes Aussehen, dieses müsse ich ergründen, und die veranlassenden Dinge müsse ich, wenn es mir möglich wäre, so sehr zum Gegenstande meiner Wissenschaft machen, wie ich früher die unmittelbar in die Augen springenden Merkmale gemacht hatte. Auf diese Weise dürfte es zu erreichen sein, daß die Darstellung von Körpern gelänge, die in einem Mittel und in einer Umgebung von anderen Körpern schwimmen.[7]

Adalbert Stifter: Der Nachsommer, 2. Band, Die Erweiterung

Weitere charakteristische Textstellen[Bearbeiten]

Zu den Personen, insbesondere zu Heinrich Drendorf[Bearbeiten]

Text[Bearbeiten]

Online[Bearbeiten]

Gedruckte Ausgaben[Bearbeiten]

Adalbert Stifter: Der Nachsommer. Roman. Mit einem Nachwort und Auswahlbibliographie von Uwe Japp. Artemis und Winkler, Düsseldorf, Zürich 2005.

Rezensionen[Bearbeiten]

Fußnoten[Bearbeiten]

  1. Die Tendenz zur Objektivierung des Schreibens bringt schließlich auch den unverwechselbaren Stifterschen Stil hervor, der sich im Nachsommer bereits auf dem Weg zu der grandiosen Verkarstung und monumentalen Versimpelung des Spätwerks befindet. Ich nenne nur einige Aspekte. 1. beginnen bei Stifter die schlichten Hauptsätze zu dominieren. Oder, um es auf germanistisch zu sagen: Stifter bevorzugt gegenüber der Hypotaxe zunehmend die Parataxe, denn hypotaktische Sätze konstruieren Abhängigkeitsverhältnisse, Über- und Unterordnungen, Beziehungen also, die erst ein Sprecherindividuum stiftet. Parataktische Sätze dagegen sagen das schlichte Nebeneinander von Sachverhalten in Form einer Reihung aus, ohne sie durch die Art ihrer sprachlichen Vergegenwärtigung gewissermaßen schon zu kommentieren. 2. neigt Stifter zur Tilgung aller Metaphern. (Ch. Begemann: Erschriebene Ordnung)
  2. Der fremdartige, irritierende Reiz des Buches geht von der Radikalität aus, mit der Künstlichkeit hier zum Programm erhoben und zugleich kaschiert wird. [...] Und diese Künstlichkeit macht unverkennbar, daß die Ordnung, deren Zeuge wir werden, eine Ordnung ist, die allein vom Text produziert wird.(Ch. Begemann: Erschriebene Ordnung)
  3. Läßt man sich einmal auf den Nachsommer ein, dann entwickelt gerade das, was man ihm vorwerfen kann, einen eigenartigen anziehend-abstoßenden Sog.(Ch. Begemann: Erschriebene Ordnung)
  4. Ohne es noch begreifen zu können, artikuliert Hebbel, wie nahe Stifter einem wesentlichen Prinzip der literarischen Moderne kommt: der Selbstreflexivität der Literatur [...] (Ch. Begemann: Erschriebene Ordnung)
  5. Die Bedeutung von Stifters Nachsommer für Österreich hat man mit der von Goethes Wilhelm Meister für Deutschland verglichen (vgl. Hofmannsthals Nachwort zum Nachsommer im ersten Satz)
  6. Aus der Tatsache, dass die Welt des Freiherrn von Risach im Roman als das unangezweifelte Vorbild erscheint, darf man schließen, dass Risach hier Stifters eigene Anschauungen wiedergibt.
  7. Auch wenn Stifter in diesem 1857 geschriebenen Werk noch die Probleme realistischen Malens von fernen Gegenständen behandelt, so ist doch mit der Formulierung "Durch Luft, Licht, Dünste, Wolken, durch nahe stehende andere Körper gewinnen die Gegenstände ein anderes Aussehen ..." eine Grundüberlegung der Impressionisten ausgesprochen, die erst Mitte der sechziger Jahre des Jahrhunderts mit typischen Werken hervortraten.

Linkliste[Bearbeiten]