Die Philosophie der Kyôto-Schule
Untertitel: Das absolute Nichts und die Liebe
Zusammenfassung des Manuskripts
- Zielgruppe: Alle, die auch an östlicher Philosophie interessiert sind. Philosophische Vorkenntnisse sind nützlich, aber nicht notwendig, dagegen ist die Lektüre von „Gedanken zu "Sein und Zeit"“ wichtig, weil ich mich auf einige dort näher ausgeführte Gedankengänge beziehe.
- Lernziele: Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen östlichem (speziell japanisch-buddhistischem) und westlichem Denken kennenlernen
- Sind Co-Autoren gegenwärtig erwünscht? Inhaltliche Änderungen bitte nur auf die Diskussionsseite schreiben, ich füge sie an geeigneter Stelle ein!
- Themenbeschreibung: Siehe Vorwort, insbesondere wird versucht, eine Beziehung zwischen dem östlichen Begriff des absoluten Nichts und dem Begriff der Liebe herzustellen (siehe Untertitel: Das absolute Nichts und die Liebe)
- Aufbau des Manuskripts: Siehe Vorwort. In der Gliederung halte ich mich an das in der Literaturliste aufgeführte Buch von Ohashi (2011)
Vorwort
Die vorliegende Schrift will eine Brücke schlagen von der Philosophie Heideggers, vor allem der in „Sein und Zeit“ entwickelte Ansatz (Heidegger, Sein und Zeit, 2006), wie er von mir weiter entwickelt wurde (hier im Fachbereich Philosophie: Gedanken zu "Sein und Zeit"), und der japanischen Philosophie der Kyôto-Schule (Ohashi, 2011), um dadurch eine Bereicherung für beide philosophischen Standpunkte zu bekommen. Das Interessante dabei, wie ich finde, ist, dass, obwohl die eine Philosophie auf dem Hintergrund der christlich-abendländischen Kultur und die andere im Kontext des Buddhismus entstanden ist, beide philosophischen Ansätze sich verbinden lassen über die Liebe, die ich in „Gedanken zu "Sein und Zeit" (Der Entwicklungsprozess der Liebe)“ (hier im Fachbereich Philosophie) als echtes und unmittelbares Verstehen des Daseins in seinem Worumwillen gekennzeichnet habe. Statt „eine Brücke schlagen“ sollte ich besser sagen „die Brücke weiter ausbauen“, da die Brücke schon von den japanischen Philosophen der Kyôto-Schule seit etwa hundert Jahren gebaut wurde, als sie sich mit der europäischen Philosophie befassten, insbesondere mit Hegel, Kierkegaard, Nietzsche und Heidegger.
Der grundlegende Begriff der Kyôto-Schule ist das „absolute Nichts“ (zettai mu), der oft mit dem buddhistischen Begriff Nirwana verbunden wird, sodass die entsprechende Philosophie auch als Religionsphilosophie bezeichnet wird. Aber, schreibt Ohashi auf Seite 24, „der Gedanke des absoluten Nichts [ist] eher atheistisch. Denn er hat nichts mit dem Heiligen zu tun und ist insofern nicht religiös im gewöhnlichen Sinne“ (Ohashi, 2011). Neben dem Buddhismus spielt aber noch etwas Typisches für die japanische Kultur, die man als kollektivistisch und nicht-individualistisch charakterisieren kann, eine wichtige Rolle, wie es in „Buddhismus und Christentum“ (Brück & Lai, 1997) auf Seite 182 erörtert wird: Schon in der Sprache drückt sich eine nicht-dualistische Grundhaltung aus, Gegensätze werden als Polaritäten gesehen, die sich auf einer höheren Ebene oder in der Praxis angleichen. Daher „die japanische Zurückhaltung gegenüber endgültigen dogmatischen Aussagen über das Absolute“ (ebenda) und das Unverständnis gegenüber absoluten Geschichtswahrheiten, die nicht mehr ihre überzeitliche Bedeutung erkennen lassen. Der Grund dafür liegt nicht nur in einem erkenntnistheoretisch begründeten Misstrauen gegenüber jedem Begriff, ob dadurch wirklich etwas begriffen oder nur noch mehr verschleiert wird, sondern auch in der anderen sozialen Funktion von Sprache, die vorrangig dem Gemeinschaftsgefühl dient und deswegen nicht definiert, sondern Empfindungen bezeichnet. Daher hat Heidegger wohl auch so große Resonanz in Japan gehabt, weil er nicht definiert, sondern aufzeigt. Meinungen sind in Japan keine individualistischen Abgrenzungen gegenüber anderen, sondern das Ergebnis einer Konsensfindung. Als die Philosophen der Kyôto-Schule bei ihrem Studium von Hegel, Kierkegaard, Nietzsche und Heidegger den Gedanken des Nichts gefunden hatten, war damit etwas Vermittelndes gefunden zwischen Ost und West, ein wichtiger Brückenpfeiler für eine gemeinsame Meinung, was der japanischen Mentalität absolut entsprach. Als die Nationalisten in Japan daraus eine „japanische Philosophie“ machen wollten, wehrte sich z.B. Nishida aufs heftigste. Im Unterschied zum westlichen Nihilismus bedeutet das absolute Nichts etwas, was wir prinzipiell nicht begreifen bzw. in Worte fassen können, weil es eine Tätigkeit bzw. etwas rein Prozesshaftes ohne Substanz ist, unmittelbar und echt, wobei »unmittelbar und echt« nicht begrifflich, sondern als Handlungsanweisung bzw. -empfehlung gemeint ist (Näheres siehe Kapitel 10).
Im ersten Kapitel gehe ich auf die Philosophie von Nishida ein, die anhand von zwei Aufsätzen in dem Buch von Ryôsuke Ohashi (Ohashi, 2011) vorgestellt wird. In Anlehnung an Hegels Dialektik fasst Nishida im ersten Aufsatz (Nishida, Selbstidentität und Kontinuität der Welt, 2011) Seiendes und die Welt als sich selbst Widersprechendes auf und führt dabei mehrere Gegensätzlichkeiten an. Anhand der von Fonagy et al. beschriebenen Entwicklungsebenen (Fonagy, Gergely, Jurist, & Target, 2008) habe ich die Widersprüche oder Gegensätze von Nishida geordnet und entwicklungspsychologisch in eine Reihenfolge gebracht, wobei sich schließlich fünf grundlegenden Gegensätze herauskristallisiert haben, die insofern aufeinander aufbauen, dass ihre Widersprüchlichkeit erst bis zu einem gewissen Grad überwunden werden muss, bevor der nächste Gegensatz erlebt werden kann, der den vorangegangenen mit einschließt. Der letzte Gegensatz, der Gegensatz räumlich-zeitlich, macht klar, dass alles Sein ausdruckshaft und damit gemeinschaftlich ist. Wenn dieser Gegensatz vollkommen überwunden ist, ist im menschlichen Leben Liebe und Erfüllung erreicht, das Sein des Daseins hat nichts mehr auszudrücken, sodass die Beziehung des Daseins zum Sein überhaupt, also sein menschliches Leben, die wahre Beziehung zum Sein (Selbst-Sein) und zum Nichts (Nicht-Selbst-Sein) ist und so beides als Vermittlung verbindet. Im Unterschied zu Nishida ist bei mir die oszillierende Entwicklung zu Liebe und Erfüllung und die im Dasein selbst liegende Aufforderung, sich nicht seinen Unzulänglichkeiten und den Gegensätzlichkeiten des In-der-Welt-Seins zu überlassen, das Substrat bzw. die Grundlage des absoluten Nichts, welches bei Nishida einfach als die Vermittlung zwischen Sein und Nichts aufgrund der reinen Erfahrung formal definiert ist. Diese formale Definition, auch wenn sie später von Nishida mehr mit Inhalt gefüllt wurde, wurde von Tanabe entschieden kritisiert, denn als Grundlage des philosophischen Systems von Nishida ist sie schon Sein, nämlich etwas Substanzielles, und nicht mehr Nichts (substanzlos). Im zweiten Aufsatz analysiert Nishida das Phänomen der Kunst, wobei er die Kunst und die Wissenschaft als die beiden Pole menschlichen Schaffens sieht. In Erweiterung von Nishida habe ich beides in Bezug auf die fünf grundlegenden Gegensätze analysiert und komme dabei wenn auch auf etwas anderem Weg über eine entsprechende Analyse der leiblichen Sinne, wobei sich hier ebenfalls eine Parallele zu den fünf grundlegenden Widersprüchen ergibt, zur Überwindung des Gegensatzes leiblich-geistig. Darüber, dass das Dasein immer auch sowohl ein In-der-Welt-sein als auch ein In-der-Gemeinschaft-sein ist, sind die beiden Pole Kunst und Wissenschaft verbunden und der Gegensatz zwischen Transzendenz und Immanenz überwindbar.
Auch Tanabes Logik der Spezies ist Dialektik, doch versucht Tanabe hier einen Mittelweg zwischen idealistischer und materialistischer Dialektik einzuschlagen. Der praktische Anstoß damals war ein politischer, Tanabe wollte, dass Japan sich zu dieser Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg weder zum Nationalismus noch zum Kommunismus hin entwickelte und sich so aus allen kriegerischen Auseinandersetzungen heraushielt. Dabei radikalisierte er Hegels Dialektik zur absoluten Dialektik als Logik der Spezies mit Betonung der Selbstentfremdung und der Tat-als-Wende. Seiner Meinung nach muss die Dialektik auf ein ewiges System, wie Nishida es durch seine Einführung des absoluten Nichts als „reine Erfahrung“ getan hat, verzichten und am Standpunkt der Vermittlung durch die Tat festhalten, denn eine Erfahrung kommt erst dadurch zustande, dass man sich mit dem Ergebnis der Tat auseinandersetzt. Insofern gibt es gar keine „reine Erfahrung“. Das entspricht übrigens Heideggers Kritik an Husserls Epoché. Was mir bei Tanabe allerdings fehlt, ist die emotionale Ebene bzw. die Befindlichkeit, wie Heidegger es nennt. In dem Schema Individuum-Spezies-Genus, das bei Hegel dem Schema Einzelnes-Besonderes-Allgemeines entspricht, ist für Tanabe das Individuum das geistige Subjekt. Ich habe dies insofern ergänzt, als dass das Individuum in seinem Doppelcharakter zusätzlich Objekt der Psyche ist, wobei die Psyche die Befindlichkeit des Daseins ausmacht. War bei Heidegger das Wesen des In-der-Welt-Seins noch die Sorge, so habe ich dies aufgeteilt in Ergriffenheit und Erwartung und ergänzt durch die Täuschung (hier im Fachbereich Philosophie: Gedanken zu "Sein und Zeit"), und dies entspricht den drei Momenten Psyche, Geist und Materie der absoluten Negation. Damit ist das Wesen des In-der-Welt-Seins die absolute Negation. Wie ich zeigen werde, folgt das Individuum als Objekt der Psyche dem weiblichen Prinzip, während es als geistiges Subjekt den Geist beherrschen will und so das männliche Prinzip verwirklicht. Wird dieser Gegensatz nicht überwunden, kann hier immer wieder das Böse entstehen, in der Überwindung aber wird die Liebe erreicht, wobei jeweils die Tat-als-Wende entscheidend ist. Ohne die Materie, die Selbstentfremdung der Liebe, gibt es weder Gutes noch Böses. Schließlich zeige ich dann auf, dass sich die Liebe in ihrer Dreieinigkeit von Psyche, Geist und Materie selbst vermittelt. Hieraus habe ich dann die Psychologik der Liebe entwickelt und den Doppelcharakter des Daseins sowohl als Individuum, als auch als Spezies, als auch als Genus jeweils als Objekt von Psyche, Geist bzw. Materie und als geistiges, materielles bzw. psychisches Subjekt herausgestellt. Im zweiten Aufsatz von Tanabe geht es um Kunst und Religion, die sich beide gleich gegenüber stehen. Sie sind gegensätzlich und doch vereint als Ergänzungen mit demselben Ziel, der Liebe, wobei die Kunst meines Erachtens mehr über die Psyche, über die Dynamik der Liebe, und die Religion mehr über den Geist, über den Aspekt der Rückkehr zum Absoluten, die Liebe vermittelt.
Hisamatsu ist weniger Philosoph und mehr Zen-Meister, also religiöser Praktiker, sodass ich in diesem Abschnitt auch das strittige Verhältnis von (Zen-)Erwachen und wahrem Selbst sowie Themen des interreligiösen Dialogs zwischen Buddhismus und Christentum berührt habe. Weiterhin habe ich das von Hisamatsu beschriebene Erwachen zum ursprünglichen bzw. wahren Selbst mit Hilfe der Psychologik der Liebe analysiert, die ich im vorangegangenen Kapitel anhand von Tanabes Logik der Spezies entwickelt habe.
Nishitani beleuchtet anhand einer Zen-Geschichte das Wesen der Begegnung sowie die Phänomene von wahrer Gleichheit und wahrer Freiheit, deren Überlagerung in der Leere, wie er das absolute Nichts nennt, gründet. In einem zweiten Aufsatz von Nishitani wird dann anhand des Dichters Bashô erläutert, wie jemand in der „Verrücktheit“ leben und dabei erleuchtet und doch in dieser Welt sein kann bzw. „nirgends wohnend in Ausgeglichenheit wohnt“ (Nishitani, Die »Verrücktheit« beim Dichter Bashô, 2011). Für mich ist die Paradoxie dieser Verrücktheit eine „heilige“ Begeisterung, die im Alltäglichen verankert bleibt. Statt durch eine Zweiwelten-Lehre Platons lässt sich dies besser durch die absolute Dialektik von Psyche, Geist und Materie aufzeigen.
Kôyama geht von dem Konzept der Entsprechung aus, das meines Erachtens von der buddhistischen Annahme der Vernetztheit von allem herrührt, und kommt von dorther zur Ortlogik der Entsprechungsidentität mit den Momenten Aufgabe, Ideal und Lösung als Rahmen, in dem Sein ver-ständlich wird, während Heidegger vom Konzept der Sorge ausgeht – meines Erachtens das mit der christlichen Caritas zusammenhängende Äquivalent der Entsprechung – und zur Zeitlichkeit mit den Ekstasen Gewesenheit, Zukunft und Gegenwart gelangt, worin das Sein des Daseins verständlich wird. Tatsächlich hat Heidegger hier meines Erachtens die Räumlichkeit vergessen, die in der Ortlogik neben der Zeitlichkeit enthalten ist. Bei mir (Kolb, 2011) ist die Prozesshaftigkeit mit ihren Ekstasen Herkunft, Zukunft, Ankunft und Auskunft der Sinn des Seins, also der Rahmen, in dem Sein verständlich wird, wobei Herkunft der Gewesenheit, Ankunft der Gegenwart und Auskunft der Räumlichkeit entspricht. Kôyama führt das meines Erachtens wesentliche Moment der Auskunft zwar nicht explizit auf, es ist aber im Gegensatz zu Heidegger nicht weggelassen worden, sondern in der Ortlogik enthalten: Aufgabe, Ideal und Lösung sind jeweils Auskunft gebende Herkunft, Auskunft verlangende Zukunft und Auskunft erzeugende Ankunft. Das Hier-und-Jetzt ist dann die Ankunft in der Auskunft und die Auskunft in der Ankunft, jeweils gehalten in der Auskunft gebenden Herkunft und der Auskunft verlangenden Zukunft. Die Ortlogik gibt über den Platz die entsprechende Auskunft über seine Angemessenheit. Ich habe daher die Prozesshaftigkeit auch Auskunftlogik genannt.
Kôsaka geht noch einen Schritt weiter, indem er den Weg in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen stellt. Dabei lassen sich die von ihm aufgeführten Eigenschaften des Begriffes Weg mit den fünf Gegensatzpaaren aus Kapitel 1 in Beziehung setzen und die von ihm erwähnten beiden Hauptphänomene Begegnung und Lauf mit Räumlichkeit und Zeitlichkeit, so dass ich seinen Begriff vom Weg als Entwicklungsprozess interpretieren konnte. Zum Schluss stellt Kôsaka dem Begriff Weg den Begriff Logos gegenüber und vergleicht daran östliche und westliche Philosophie. Diese Diskussion wird im nächsten Kapitel fortgesetzt, wobei ich die Unterschiede zwischen der westlichen und der japanischen Denkweise auf den Gegensatz räumlich-zeitlich zurückgeführt habe: Denken beruht immer auf einer Art von Abstraktion, bei der mindestens ein Aspekt ausgeschaltet wird, und das japanische Denken schaltet die Zeit aus, das westliche Denken den Raum. Damit ist die japanische Kultur sozial-kollektivistisch und die westliche technisch-individualistisch, in der japanischen Welt ist die Seinsweise sehr flexibel, die Handlungsweise dagegen streng reglementiert, um nicht die gemeinschaftliche Harmonie zu stören, während im Westen die Seinsweise als Individuum festgelegt ist und die Freiheit der Handlungsweise weitgehend gewährleistet wird.
Im nächsten Kapitel zeige ich dann, indem ich die Gedanken von Shigetaka Suzuki über die europäische Geschichte weiterführe, wie sich in unserer Kultur individualistisches und kollektivistisches Denken jeweils abgewechselt haben, wobei die beiden hauptsächlichen Geistesströmungen, das griechische Denken und das Christentum, eine wichtige Rolle gespielt haben. Außerdem zeigte sich die jeweilige Denkweise immer auch im politischen Handeln.
Am Beispiel des Vortrags von Takeuchi über ein religionsphilosophisches Problem des Buddhismus zeige ich auf, wie weit die buddhistische Philosophie mit der Entwicklungstheorie von Fonagy et al. übereinstimmt, und dass die biblische Geschichte vom Sündenfall gut zusammenpasst mit dem buddhistischen Lehrsatz vom abhängigen Entstehen.
Tsujimura geht dann der Frage nach, welches die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede des Wahrheitsbegriffs bei Heidegger und im Zen sind. Hierbei wird auch noch einmal der unterschiedliche Gebrauch von Sprache in der östlichen und der westlichen Kultur deutlich: während man bei uns Wahrheit sprachlich zu fassen versucht, dient die Sprache zumindest in der japanischen Kultur dazu, Handlungsanweisungen bzw. -empfehlungen zu geben, durch die jeder selbst zu seiner Wahrheit kommen kann.
Ueda schließlich stellt das absolute Nichts anhand der Zen-Geschichte vom Ochsen und dem Hirten in seinem Facettenreichtum dar, und vergleicht es mit den beiden abendländischen Denkweisen von Meister Eckhart und Nietzsche, wobei für ihn das Nichts von Eckhart zwar absolut aber noch positiv ist, während das Nichts von Nietzsche so negativ ist, dass es für Ueda zumindest unklar bleibt, wie er aus diesem Nichts herauskommt. Was Nietzsche betrifft, so bin ich derselben Meinung, für mich hat Nietzsche das Trauma seiner Jugend nicht vollständig überwunden, aber wenn ich mich bei Meister Eckhart nur auf seine Handlungsempfehlungen beziehe, dann finde ich, dass er mit dem Durchstoßen des Seelen- bzw. Gottesgrundes zugleich auch empfiehlt, Gott zu töten, auch wenn er dies niemals so extrem ausgedrückt hat und hätte, wie Nietzsche es getan hat.
Zum Schluss stelle ich noch einmal eigene Überlegungen zur Kunst der Fuge dar, die sich auf das Vorangegangene beziehen und aufzeigen, inwiefern diese Kunstform dazu beitragen kann, dass wir uns immer mehr in Richtung Liebe entwickeln.
Kitarô Nishida: Widersprüchliche Einheit, Ausdruck und absolutes Nichts, und wie die Liebe Grundlage von allem ist
[Bearbeiten]In dem ersten Aufsatz von Kitarô Nishida (Nishida, Selbstidentität und Kontinuität der Welt, 2011) aus dem Buch über die Kyôto-Schule (Ohashi, 2011) entspricht dem, was Nishida Selbstidentität oder Kontinuität nennt, die Prozesshaftigkeit bei mir (Kolb, 2011), nämlich dass ein Seiendes sich verändert und doch es selbst bleibt. Daseinsmäßig Seiendes ist aus sich selbst heraus prozesshaft bzw. selbstidentisch, während nichtdaseinsmäßig Seiendes nur durch das Dasein seine Prozesshaftigkeit bzw. Kontinuität „bekommen“ kann (ebenda). Wenn ein Seiendes sich verändert hat, ist es nicht mehr das Gleiche, wie kann es aber dann noch dasselbe sein? In diesem Fall ist „dasselbe“ das Selbst und etwas Allgemeines, während das Gleiche etwas Einzelnes ist. Wenn das Dasein eigentlich und damit selbstbestimmt ist, dann bestimmt es sich in jedem Augenblick von sich her und nicht von der Welt, das ist die Umschreibung von „eigentlich“ als Begriff von Heidegger (Heidegger, Sein und Zeit, 2006) in der Terminologie von Nishida. In diesem Sinne ist das Einzelne (das Gleiche, das Dasein in einem bestimmten Moment an einem bestimmten Ort) ganz und gar einzeln, und das Selbst, das Allgemeine, bestimmt und umschließt die Einzelnen und vermittelt oder verbindet die Einzelnen, ist also in diesem Sinne ganz und gar allgemein. Insofern ist das Dasein, wenn es eigentlich ist, „als wirkliche Selbstidentität von einander absolut Widersprechendem, d.h. als wirkliche widersprüchliche Einheit mit sich selbst identisch“ (Nishida, Selbstidentität und Kontinuität der Welt, 2011, S. 57). Das Selbst ist somit nicht als Substanz aufzufassen, sondern in seiner Vermittlung ist das Einzelne, also das Dasein in einem bestimmten Moment an einem bestimmten Ort, ein stets neues Ereignis der kreativen Selbst-Schöpfung (Ohashi, 2011, S. 271).
Dass zwei Seiende gleich sind, aber nicht dieselben, erkennt man am einfachsten, wenn beide räumlich zusammen sind, wie zum Beispiel die beiden sprichwörtlichen Eier, wenn sie nebeneinander da liegen. Dass zwei ungleiche Seiende dasselbe sind wie zum Beispiel eine Raupe und ein Schmetterling, kann man am zuverlässigsten nur dadurch erkennen, dass man die Raupe kontinuierlich so lange beobachtet, bis sie sich in einen Schmetterling verwandelt hat. In diesen beiden Fällen sind die verschiedenen Seienden von einem außenstehenden Beobachter als gleich, ungleich oder identisch bestimmt worden. Wie ist das Ganze aber bei daseinsmäßig Seiendem und wie lernt dieses, seine Identität bzw. sein Selbst eigenständig zu bestimmen? Nach Fonagy (Fonagy, Gergely, Jurist, & Target, 2008, S. 212) lassen sich dabei fünf Entwicklungsebenen erkennen, deren Entwicklung von der Mutter vor allem dadurch unterstützt wird, dass sie die entsprechenden Modi der Befindlichkeit ihres Kindes markiert wiederspiegelt und ihm auf diese Weise hilft, die entsprechenden Affekte zu regulieren, sodass es diese dann entsprechend verarbeiten, verstehen und Zusammenhänge begreifen kann. Im Einzelnen sind es folgende Ebenen des Selbst, die sich dem Kind durch seine Befindlichkeit ursprünglich erschließen, wobei sich das Dasein auf jeder Ebene bis zu seinem Tod weiterentwickeln kann, die Ebenen aber insofern aufeinander aufbauen, als dass auf einer Ebene erst ein gewisser Reifegrad erreicht sein muss, bevor das Dasein mit der Entwicklung auf der nächsten Ebene beginnen kann.
Zuerst erlebt das Kind sich selbst als Akteur, der mit physischer Kraft Veränderungen in der angrenzenden Umwelt herbeiführt. In seiner Weltanschauung bzw. seiner Weltlichkeit, wie Heidegger es nennt (Heidegger, Sein und Zeit, 2006, S. 86), besteht die Welt aus lauter Seienden, die nur von außen identifiziert bzw. bestimmt werden, es ist ein Konzept der Welt, in der Seiendes lediglich objektiv, d.h. allgemein ist, und die Nishida „physikalische Welt“ oder „Welt der Verneinung“ nennt (Nishida, Selbstidentität und Kontinuität der Welt, 2011, S. 70). In dem Sinn, dass Seiendes sich nicht selbst bestimmt, verneint es sich. Diese physische Entwicklungsebene des Kindes bzw. des Daseins ist also einerseits gekennzeichnet durch das Erleben der eigenen Physis, der Eigenwüchsigkeit, also anfänglich vor allem der Entwicklung der körperlichen Kraft und Geschicklichkeit, und andererseits durch eine naive Vorstellung der Welt als eine, in der es mit allem Seienden, dem nichts etwas ausmacht, nach Lust und Laune spielen kann. Auch die Zeit spielt bei dieser Weltlichkeit des Kindes keine Rolle, weder wann noch wie lange es mit den verschiedenen Seienden in der Welt interagiert. Auch der eigene Körper des Kindes scheint keine besondere Rolle zu spielen, wenn das Kind etwa beim Laufen-Lernen auf diese Ebene zurückgeht und unverdrossen ohne großes Beachten von Zeit und körperlichen Schmerzen immer wieder probiert und übt zu laufen. Seine Befindlichkeit, wenn es etwas bewirkt, ist Freude an der eigenen Physis, also Entwicklung (eigentlicher Modus der Befindlichkeit, siehe „Gedanken zu "Sein und Zeit"“ (Kolb, 2011)), oder Spaß an der bloß objektiven Welt, mit der es alles machen kann (uneigentlicher Modus dieser Befindlichkeit; ebenda). Diese Freude bzw. diesen Spaß empfinden Menschen noch bis ins hohe Alter, wenn sie mit Kraft und/oder Geschicklichkeit in ihrer Umwelt etwas an Veränderungen herbeigeführt haben, etwa bei Sport oder Spielen, weswegen zum Beispiel auch die Animation im Tourismus eine so große Bedeutung hat, wobei es hier mehr um den uneigentlichen Befindlichkeitsmodus von Spaß und weniger um eigentliche Freude geht. Indem die Mutter ihr Kind dabei möglichst echt und unmittelbar versteht, also möglichst nah an das Ideal des Liebens herankommt (ebenda), unterstützt sie ihr Kind durch markierte (imitierende) Affektspiegelung (Fonagy, Gergely, Jurist, & Target, 2008, S. 199) und teilweise humorvolle Demonstrationen von Lösungsmöglichkeiten (Kolb, 2011) bei der Regulierung der entsprechenden Erregung, sodass das Kind seine Befindlichkeit verarbeiten (bei zu großer Erregung kann keine Verarbeitung stattfinden) und zuerst seine Mutter und dann sich selbst auf dieser Ebene immer echter und unmittelbarer befindlich verstehen, also immer mehr lieben kann. Es kann auf diese Weise immer mehr lernen, es wertzuschätzen, dass es sich aus sich selbst heraus immer weiter entwickelt. Es ist ihm somit erschlossen, dass sein In-der-Welt-sein seine Eigenwüchsigkeit (Physis) umfasst, also seinen eigenen Entwicklungsprozess, auch wenn es dies noch nicht verstanden hat, und es wird so immer mehr in die Lage versetzt, diesen Aspekt seines Seins echt und unmittelbar zu verstehen, d.h. seine Beziehung zu seinem Sein wird in dieser Hinsicht immer liebevoller. So betrachtet versteht das Dasein auf dieser Entwicklungsebene den Gegensatz bzw. den Widerspruch zwischen aktiv und passiv oder zwischen kraftvoll-dynamisch und statisch-bewegungslos, also zwischen Bejahung und Verneinung, immer besser, d.h. immer echter und unmittelbarer, sodass es ihn im Idealfall mit Liebe sogar überwindet. Alle lebendig Seienden entwickeln sich auf dieser Ebene, aber bei primitiveren Lebensformen gibt es in ihrer Beziehung zu ihrem Sein keinen Widerspruch zwischen aktiv und passiv, sodass ihnen ihr eigener Entwicklungsprozess nicht erschlossen ist. Somit können sie ihn auch nicht wertschätzen und diesen Widerspruch auch nicht überwinden.
Mit der Zeit erkennt das Kind über ein immer echteres und unmittelbareres Verständnis seiner Befindlichkeit der Freude bzw. des Spaßes, dass die Welt doch nicht nur aus reinen konstanten und damit zeitlosen Objekten besteht, weil ihm der Spaß durch sein Gegenüber das ein oder andere Mal auch verdorben wird, und erreicht so die nächste Entwicklungsebene. Auf dieser erlebt das Kind, dass es Seiendes gibt, durch das das Kind selbst in seiner Befindlichkeit beeinflusst werden kann, sodass es etwa keine Freude bzw. keinen Spaß mehr empfinden kann. Die Welt erscheint ihm nicht mehr als „eine bloß allgemeine, bloß objektive Welt“ (Nishida, Selbstidentität und Kontinuität der Welt, 2011, S. 70), in der sich alles Seiende in diesem Sinne verneint, sodass es damit machen kann, was es will, sondern es erkennt in der Welt eine gewisse Selbstbestimmung und eine Eigentümlichkeit der Zeit, dass es z.B. zu manchen Zeiten etwas tut und dann seine Befindlichkeit von bestimmten anderen Seienden, die sich dann selbst nicht verneinen, sondern bejahen, auf eine bestimmte Weise beeinflusst wird und zu manchen Zeiten auf eine andere Art oder gar nicht. Seine Mutter etwa ist einmal gut und einmal böse. Als Parallele dazu, dass in Fonagy (Fonagy, Gergely, Jurist, & Target, 2008, S. 212) diese Entwicklungsebene als soziale bezeichnet wird, will ich das entsprechende Weltbild bzw. die entsprechende Weltlichkeit auch als soziale bezeichnen, die allerdings noch zwischen der physikalischen und der „biologischen Welt“ von Nishida (Nishida, Selbstidentität und Kontinuität der Welt, 2011, S. 70) steht. Für das Kind ist der Prozess der Vermittlung z.B. zwischen der guten und der bösen Mutter nicht nachvollziehbar, es weiß nicht, was es gewesen ist, was die Veränderung bei der Mutter bewirkt hat. Dem Dasein erschließt sich somit nicht die ganze Zeitlichkeit, sondern allmählich erst die Gewesenheit (Heidegger, Sein und Zeit, 2006) bzw. die Herkunft (Kolb, 2011), und zwar zunächst noch als ungelöstes Problem. In der Weltlichkeit des Kindes gibt es anfänglich noch keine von ihm erkennbare innere Vermittlung zwischen gewesenem Seienden und Seiendem in der gegenwärtigen Situation, die Selbstbejahung von Seiendem ist für das Kind noch kein Gestaltungsakt, die gute und die böse Mutter sind noch nicht dasselbe Seiende in der Weltlichkeit des Kindes. Entsprechendes gilt auch für das Kind selbst, welches sich selbst ebenfalls z.B. einmal als freudig und einmal als lustlos erlebt. Das Dasein fühlt sich in diesen Fällen einem unlösbaren Problem gegenüber und seine Befindlichkeit ist daher Wut darüber, in diese willkürlich und damit ungerecht erscheinende Welt, die nicht bloß objektiv ist und bei der es nicht weiß, was es alles ohne negative Konsequenzen in ihr machen kann, geworfen worden zu sein (eigentlicher Modus der Befindlichkeit) oder Zorn über eine geschehene negative Beeinflussung, also gewesene, als ungerecht empfundene Schädigung (uneigentlicher Modus dieser Befindlichkeit). Diese Wut bzw. diesen Zorn empfinden Menschen noch bis ins hohe Alter, wenn sie vor einer für sie unlösbaren Aufgabe stehen. Indem die Mutter ihr Kind dabei möglichst echt und unmittelbar versteht, also möglichst nah an das Ideal des Liebens herankommt, unterstützt sie ihr Kind durch markierte Affektspiegelung und teilweise humorvolle Demonstrationen von Lösungsmöglichkeiten bei der Regulierung der entsprechenden Erregung, sodass das Kind seine Befindlichkeit verarbeiten und zuerst seine Mutter und dann sich selbst auf dieser Ebene immer echter und unmittelbarer befindlich verstehen, also immer mehr lieben und entsprechende Zusammenhänge begreifen kann. Es kann auf diese Weise immer mehr lernen, dass sein In-der-Welt-sein auch ein Bedingt-sein umfasst, und dass es allmählich wertzuschätzen weiß, dass es durch die Selbstbestimmung von anderen daseinsmäßig Seienden auch positive Anregungen bekommt, die seine Freude vermehren können. Es ist ihm somit erschlossen, auch wenn es das noch nicht verstanden hat, dass andere daseinsmäßig Seiende etwas geschaffen haben, was ihm jetzt zur Verfügung steht und wovon es jetzt profitieren kann, und es wird so immer mehr in die Lage versetzt, diesen Aspekt seines Seins und insbesondere den seiner unverfügbaren Individualität echt und unmittelbar zu verstehen, d.h. seine Beziehung zu seinem Sein wird in dieser Hinsicht immer liebevoller. So betrachtet versteht das Dasein auf dieser Entwicklungsebene den Gegensatz bzw. den Widerspruch zwischen objektiv und subjektiv immer besser, d.h. immer echter und unmittelbarer, sodass es ihn im Idealfall mit Liebe sogar überwindet. Zumindest Pflanzen und Tiere zum Beispiel in einem Biotop entwickeln sich auch auf dieser Ebene, aber nicht bei allen gibt es in ihrer Beziehung zu ihrem Sein einen Widerspruch zwischen objektiv und subjektiv, sodass ihnen ihr eigenes Bedingt-sein und ihre Individualität nicht erschlossen sind. Somit können sie das ihnen Gegebene nicht wertschätzen und den Widerspruch zwischen objektiv und subjektiv auch nicht überwinden.
Mit der Zeit erschließt sich dem Kind über seine immer besser verstandene Befindlichkeit der Wut bzw. des Zorns, dass gewisse Zusammenhänge zwischen Gewesenem und in seiner Situation Gegenwärtigem bestehen. Es erkennt, dass es hier eine gewisse Vermittlung gibt, wie Nishida (Nishida, Selbstidentität und Kontinuität der Welt, 2011) es ausdrücken würde, die es zunächst bei sich selbst und nach und nach bei anderen immer besser eigenständig beeinflussen kann, und erreicht so die nächste Entwicklungsebene. Auf dieser erlebt das Kind, dass Handlungen zu bestimmten Ergebnissen führen, von denen das Kind die Handlungen unterscheiden kann. Die Welt erscheint ihm nicht mehr nur als eine teils objektive, teils willkürlich subjektive Welt, in der sich manches Seiende in diesem Sinne unverständlicherweise manchmal bejaht und manchmal verneint, sodass es sich immer wieder vor unlösbare Probleme gestellt sieht und darüber wütend (eigentlicher Modus) oder zornig (uneigentlicher Modus) ist, sondern es erkennt in der Welt eine gewisse Zielgerichtetheit und eine weitere Eigentümlichkeit der Zeit, dass nämlich bei bestimmten Handlungen mit einer gewissen Kontinuität etwas Bestimmtes in der Zukunft erfolgen kann. Es treten aber auch immer wieder Diskontinuitäten auf, sodass die Aktivitäten des Kindes überraschenderweise nicht zu dem von ihm erwarteten Ergebnis führen. Als Parallele dazu, dass bei Fonagy (Fonagy, Gergely, Jurist, & Target, 2008, S. 212) diese Entwicklungsebene als teleologische bezeichnet wird, will ich das entsprechende Weltbild bzw. die entsprechende Weltlichkeit auch als teleologische bezeichnen, die ebenfalls noch zwischen der physikalischen und der „biologischen Welt“ von Nishida steht. Für das Kind ist der Prozess der Vermittlung zwischen Handlung und Konsequenz noch nicht sicher nachvollziehbar, es kann anfangs noch viel zu wenig die Risiken einer Handlungsweise abschätzen. Dem Dasein erschließt sich somit nicht die ganze Zeitlichkeit, sondern als weiteres zeitliches Moment lediglich die Zukunft, also was auf das Dasein alles noch zukommen kann, und zwar noch als ungewisses Risiko. In der Weltlichkeit des Kindes gibt es noch keine abschätzbare innere Vermittlung zwischen Seiendem in der gegenwärtigen Situation und Seiendem, was aus der Zukunft noch auf es zukommen kann, die Selbstbejahung von Seiendem ist für das Kind immer noch kein Gestaltungsakt, die gute und die böse Mutter, die auf das Kind in der Zukunft zukommen können, sind noch nicht dasselbe Seiende in der Weltlichkeit des Kindes. Entsprechendes gilt auch für das Kind selbst, welches sich selbst zukünftig ebenfalls z.B. einmal freudig, einmal lustlos oder wütend auf sich zukommend erleben kann. Das Dasein fühlt sich in diesen Fällen einem nicht abschätzbaren Risiko gegenüber, und seine Befindlichkeit ist daher Angst vor der Ungewissheit seines In-der-Welt-Seins (eigentlicher Modus der Befindlichkeit) oder Furcht vor etwas bestimmtem Bedrohlichen, was auf es zukommen kann (uneigentlicher Modus dieser Befindlichkeit). Diese Angst bzw. diese Furcht empfinden Menschen noch bis ins hohe Alter, wenn sie vor einem für sie nicht abschätzbaren Risiko stehen. Indem die Mutter ihr Kind dabei möglichst echt und unmittelbar versteht, also möglichst nah an das Ideal des Liebens herankommt, unterstützt sie ihr Kind durch markierte Affektspiegelung und teilweise humorvolle Demonstrationen von Lösungsmöglichkeiten bei der Regulierung der entsprechenden Erregung, sodass das Kind seine Befindlichkeit verarbeiten und zuerst seine Mutter und dann sich selbst auf dieser Ebene immer echter und unmittelbarer befindlich verstehen, also immer mehr lieben kann. Es kann auf diese Weise immer mehr lernen, dass sein In-der-Welt-sein auch ein mögliches Seinkönnen oder Loslassen umfasst, und es wertschätzen, dass es durch unvorhergesehene Ereignisse immer wieder neue Gelegenheiten bekommen kann, sich weiter zu entwickeln, und lernen, Grenzen zu akzeptieren. Es ist ihm somit erschlossen, auch wenn es das noch nicht verstanden hat, dass es im Tod alles loslassen muss, was es bis dahin bekommen und noch nicht losgelassen hat, und es wird so immer mehr in die Lage versetzt, diesen Aspekt seines Seins und insbesondere seine Sterblichkeit echt und unmittelbar zu verstehen, d.h. seine Beziehung zu seinem Sein wird in dieser Hinsicht immer liebevoller. So betrachtet versteht das Dasein auf dieser Entwicklungsebene den Gegensatz bzw. den Widerspruch zwischen kontinuierlich und diskontinuierlich immer besser, d.h. immer echter und unmittelbarer, sodass es ihn im Idealfall mit Liebe sogar überwindet. Zumindest Tiere und viele Pflanzen entwickeln sich auch auf dieser Ebene, aber nur bei höher entwickelten Tiere gibt es in ihrer Beziehung zu ihrem Sein einen Widerspruch zwischen kontinuierlich und diskontinuierlich, sodass allen anderen ihr mögliches Seinkönnen oder Loslassen und ihre Sterblichkeit nicht erschlossen sind. Somit können sie auf dieser Ebene nichts wertschätzen und den entsprechenden Widerspruch auch nicht überwinden.
Mit der Zeit erschließt sich dem Kind über seine immer besser verstandene Befindlichkeit der Angst bzw. der Furcht, dass gewisse Zusammenhänge zwischen der Zukunft und in seiner gegenwärtigen Situation bestehen. Es erkennt, dass es hier eine gewisse Vermittlung gibt, wie Nishida es ausdrücken würde, die es zunächst bei sich selbst und nach und nach bei anderen immer besser eigenständig beeinflussen kann, und erreicht so die nächste Entwicklungsebene. Auf dieser erlebt das Kind, dass Handlungen von anderen und auch von ihm selbst in bestimmten Situationen unter bestimmten Umständen wiederholt werden, es bekommt von Anderen signalisiert, dass diese Pläne und Absichten verfolgen, und tut dies auch selbst, sodass bestimmte Abläufe nicht mehr linear sondern zirkulär sind. Die Welt erscheint ihm nicht mehr nur als eine sowohl objektive als auch subjektive und sowohl kontinuierliche als auch diskontinuierliche Welt, sodass es sich immer wieder vor unlösbare Probleme gestellt sieht und darüber wütend (eigentlicher Modus) oder zornig (uneigentlicher Modus) ist und entsprechend mit nicht abschätzbaren Risiken konfrontiert und deswegen ängstlich (eigentlicher Modus) oder furchtsam (uneigentlicher Modus) ist, sondern es erkennt, dass in der Welt einige Handlungen „auf vorgängigen intentionalen mentalen Zuständen, beispielsweise Wünschen, beruhen“ (Fonagy, Gergely, Jurist, & Target, 2008, S. 212), und eine weitere Eigentümlichkeit der Zeit, dass es nämlich sowohl lineare als auch zirkuläre Prozesse gibt. Als Parallele dazu, dass bei Fonagy (ebenda) diese Entwicklungsebene als intentionale bezeichnet wird, will ich das entsprechende Weltbild bzw. die entsprechende Weltlichkeit auch als intentionale bezeichnen, und diese entspricht der „biologischen Welt“ von Nishida. Für das Kind ist der Prozess der Vermittlung zwischen seinem vorgängigen intentionalen mentalen Zustand und dem Zustand der erfüllten Intentionen noch nicht sicher nachvollziehbar, es erlebt sich anfänglich immer wieder als getrennt von der Erfüllung seiner Intentionen. Dem Dasein erschließt sich somit die ganze Zeitlichkeit von Gewesenheit bzw. Herkunft (gewesene Schädigungen), Zukunft (Bedrohungen) und Gegenwart bzw. Ankunft (Getrenntheit, Abwesenheit). In der Weltlichkeit des Kindes gibt es schon eine gewisse innere Vermittlung zwischen Seiendem in verschiedenen Situationen, die Selbstbejahung und Selbstbestimmung von Seiendem ist für das Kind schon ein gewisser Gestaltungsakt, die gute und die böse Mutter, die dem Kind in der Zeit begegnen oder begegnen können, sind zwar schon dasselbe Seiende in der Weltlichkeit des Kindes, aber noch nicht als daseinsmäßig und somit unterschieden von einem Tier erkannt. Entsprechendes gilt auch für das Kind selbst, welches sich selbst zwar schon als gestaltend erleben kann, aber auch noch nicht als daseinsmäßig und unterschieden von einem Tier. Bis zu dieser Entwicklungsebene können übrigens auch viele höher entwickelte Tiere gelangen. Wenn das Dasein sich als getrennt erlebt von der Erfüllung seiner Intentionen, dann ist seine Befindlichkeit Leid wegen der Unerfülltheit seines In-der-Welt-Seins (eigentlicher Modus dieser Befindlichkeit) oder Trauer über die Getrenntheit von bestimmten beabsichtigten Situationen (uneigentlicher Modus dieser Befindlichkeit). Dieses Leid bzw. diese Trauer empfinden Menschen noch bis ins hohe Alter, wenn sie sich als getrennt von Erfüllung erleben. Indem die Mutter ihr Kind dabei möglichst echt und unmittelbar versteht, also möglichst nah an das Ideal des Liebens herankommt, unterstützt sie ihr Kind durch markierte Affektspiegelung und teilweise humorvolle Demonstrationen von Lösungsmöglichkeiten bei der Regulierung der entsprechenden Erregung, sodass das Kind seine Befindlichkeit verarbeiten und zuerst seine Mutter und dann sich selbst auf dieser Ebene immer echter und unmittelbarer befindlich verstehen, also immer mehr lieben kann. Es kann auf diese Weise immer mehr lernen, dass sein In-der-Welt-sein auch ein Begreifen von bedingten Übertragungsmöglichkeiten früherer Situationen in die Gegenwart ist, und es wertschätzen, dass es sich dadurch immer wieder damit auseinandersetzen kann, welchen Sinn seine Existenz hat. Es ist ihm somit erschlossen, auch wenn es das noch nicht verstanden hat, dass es einen Zusammenhang zwischen seiner Individualität und seiner Sterblichkeit gibt, den es immer echter und unmittelbarer verstehen kann, d.h. seine Beziehung zu seinem Sein wird in dieser Hinsicht immer liebevoller. So betrachtet versteht das Dasein auf dieser Entwicklungsebene den Gegensatz bzw. den Widerspruch zwischen linear und zirkulär immer besser, d.h. immer echter und unmittelbarer, sodass es ihn im Idealfall mit Liebe sogar überwindet. Zumindest viele höher entwickelte Tiere, vor allem Säugetiere, die Gemeinschaften bilden wie zum Beispiel Herden, Rudel, Horden oder Familienverbände, entwickeln sich auch auf dieser Ebene, aber bei ihnen gibt es in ihrer Beziehung zu ihrem Sein keinen Widerspruch zwischen linear und zirkulär, sodass ihnen ihre Übertragungen und der Sinn ihrer Existenz nicht erschlossen sind. Somit können sie auf dieser Ebene nichts wertschätzen und den entsprechenden Widerspruch auch nicht überwinden.
Mit der Zeit erschließt sich dem Kind über seine immer besser verstandene Befindlichkeit des Leids bzw. der Trauer, dass gewisse Zusammenhänge zwischen Gewesenheit bzw. Herkunft, Zukunft und seiner gegenwärtigen Situation, in der es gerade angekommen ist, bestehen. Es erkennt, dass es hier eine gewisse Vermittlung gibt, wie Nishida (Nishida, Selbstidentität und Kontinuität der Welt, 2011) es ausdrücken würde, und nimmt auf diese Weise immer mehr einen intentionalen Standpunkt ein, der dadurch gekennzeichnet ist, dass das Dasein entweder auf sein eigenes Sein und seine eigene Handlungsweise konzentriert ist, worum es ihm geht, oder auf das von anderen, wenn es diesen ebenfalls um ihr Sein und ihre Handlungsweise geht. Dabei erkennt es immer mehr die Bedeutung, nicht nur selbst zu verstehen, sondern auch verstanden zu werden, also um gegenseitige Vermittlung und Verständigung, und erreicht so die nächste Entwicklungsebene, bei der die Sprache als Möglichkeit der Verständigung und deren Entwicklung eine entscheidende Rolle spielen. Ontologisch liegt der Sprache nach Heidegger (Heidegger, Sein und Zeit, 2006, S. 160) die Rede zu Grunde, welche einen Zusammenhang herstellt zwischen der Situation und der Befindlichkeit, indem sie das eine als das andere auslegt (hermeneutisches „Als“) und so begreiflich macht. Insofern ist die Rede subjektiv-objektiv, indem sie zwischen der subjektiven Befindlichkeit und der objektiven Situation vermittelt. Die Sprache als Ausdruck der Rede ist „ein sich selbst gestaltender Gestaltungsakt“ (ebenda). Durch den Ausdruck wird das hermeneutische „Als“ zum apophantischen, also zum Hinweis auf die Bedeutung, eine Verständigungsmöglichkeit, die es auch schon bei höher entwickelten Tieren gibt. Dieser Verständigungsmöglichkeit liegt jedoch nicht die Absicht zu Grunde, sich mittels des Ausdrucks zu verständigen, sondern weil es den Ausdruck gibt, können wir uns (oder manche Tiere sich gegenseitig und wir uns mit manchen Tieren) dadurch verständigen, weil der jeweilige Ausdruck in seiner Bedeutung verstanden wird. Auch der sprachliche Ausdruck ist subjektiv-objektiv, denn es ist nicht der Ausdruck „eines Menschen und wird nicht von einem Menschen geschaffen“ (Nishida, Selbstidentität und Kontinuität der Welt, 2011, S. 72). Sprache dient zur Vermittlung bzw. gegenseitigen Aneignung von Verstandenem zwischen daseinsmäßig Seienden (also Menschen). Im Selbstgespräch kann das Dasein auch sich selbst etwas Verstandenes aneignen. Auf dieser letzten Entwicklungsebene erlebt das Kind, dass Handlungen von anderen und auch von ihm selbst auf zeitlich überdauernden mentalen Zuständen, also angeeignetem Verstandenen, beruhen können, wie zum Beispiel auf Überzeugungen oder bestimmten Vorlieben, sodass jeder Ausdruck eines Seienden bestimmte Teile seines Seins bzw. seiner Existenz und seiner Handlungsweisen repräsentiert. Indem das Dasein schließlich jede Seins- und Handlungsweise von Seiendem als Ausdruck oder Repräsentation von dessen Wesen bzw. Sein versteht – Wesen oder Sein sind nichts Substantielles, sondern können durch Taten jederzeit verändert werden –, ist ihm die ontologische Differenz (Heidegger, Sein und Zeit, 2006), also der Unterschied zwischen Sein und Seiendem zumindest erschlossen. Das befindlich Verstandene und in der Rede Begriffene bestimmt den Ausdruck des Daseins, und dieser Ausdruck bestimmt das befindlich Verstandene und in der entgegnenden Rede Begriffene der anderen, und dadurch dass sich das Dasein für diese Resonanz auf seinen Ausdruck, also auf die Repräsentanz seines Seins, interessiert, lässt es sich je nach dem bestimmen, d.h. es korrigiert entweder sein Verständnis oder seine Ausdrucksweise. Letzteres ist aber nur möglich, wenn das Dasein anderen Seienden begegnet, die der Ausdruck des Daseins, also die Repräsentanz seines Seins, so beeindruckt, dass das Dasein diese Veränderung wahrnehmen kann, d.h. man bestimmt sich gegenseitig (Nishida, Selbstidentität und Kontinuität der Welt, 2011, S. 76), die anderen Seienden werden durch den Ausdruck des Daseins, also die Repräsentanz seines Seins, und das Dasein durch die Veränderung aufgrund der Beeindruckung bei den anderen Seienden bestimmt. Repräsentanz meint die Möglichkeit der Wiedergabe, was ein Gedächtnis voraussetzt. Damit ist Sprache die für andere verständliche Wiedergabe von Gedächtnisinhalten. Sie ist weder eine reduktionistische Darstellung der Außenwelt noch weist sie auf eine innere Substanz, ein festes Wesen oder Sein, hin. Da das befindlich Verstandene und in der Rede Begriffene primär zeitlich und der Ausdruck primär räumlich ist und den Austausch mit dem Sein überhaupt einschließt (Kolb, 2011), bestimmt also das Zeitliche das Räumliche und das Räumliche das Zeitliche. Das entspricht übrigens auch einer Bemerkung in „Gedanken zu "Sein und Zeit"“ (ebenda), wonach die Zeitlichkeit eine Dimension und drei Ekstasen hat, in die das Dasein entrückt werden kann, während die Räumlichkeit drei Dimensionen und nur eine Ekstase, nämlich die der Auskunft besitzt. Innerhalb der drei zeitlichen Ekstasen kann das Dasein sich frei bewegen, während die Zeitdimension nur eine Richtung besitzt, in der sich das Dasein fortbewegen muss. Entsprechend kann das Dasein sich in der räumlichen Ekstase auch nur in eine Richtung bewegen, da es ein bestimmtes Sich-Einlassen und die dabei erhaltene Auskunft nicht mehr zurücknehmen bzw. –ge-ben kann, in den drei räumlichen Dimensionen wiederum ist es frei beweglich. Die Welt erscheint dem Dasein jetzt nicht mehr nur als eine sowohl objektive als auch subjektive, sowohl kontinuierliche als auch diskontinuierliche und sowohl lineare als auch zirkuläre Welt, sodass es sich immer wieder vor unlösbare Probleme gestellt sieht und darüber wütend (eigentlicher Modus) oder zornig (uneigentlicher Modus) ist, entsprechend mit nicht abschätzbaren Risiken konfrontiert und deswegen ängstlich (eigentlicher Modus) oder furchtsam (uneigentlicher Modus) und analog der ungewissen Erfüllung seiner Intentionen ausgeliefert und deswegen leidvoll (eigentlicher Modus) oder traurig (uneigentlicher Modus) ist, sondern es erkennt immer mehr, dass in der Welt die Seins- und Handlungsweisen eines Seienden als Ausdruck dessen momentanes Sein repräsentieren, und eine weitere Eigentümlichkeit der Prozesshaftigkeit, dass nämlich das Zeitliche zugleich räumlich und das Räumliche zugleich zeitlich ist. Als Parallele dazu, dass bei Fonagy (Fonagy, Gergely, Jurist, & Target, 2008, S. 212) diese Entwicklungsebene als repräsentationale bezeichnet wird, will ich das entsprechende Weltbild bzw. die entsprechende Weltlichkeit auch als repräsentationale bezeichnen, und diese entspricht der „ausdruckshaften Welt“ von Nishida (Nishida, Selbstidentität und Kontinuität der Welt, 2011, S. 77). Für das Kind ist der Prozess der Vermittlung zwischen Ausdruck und Verstandenem noch nicht sicher vollziehbar, es erlebt sein Verständnis und seinen Ausdruck anfänglich immer wieder als unzulänglich, was es daran merkt, dass seine Handlungen als Ausdruck seiner selbst von anderen als unzulänglich interpretiert werden bzw. dass seine Handlungen unerwünschte (Neben-)Wirkungen haben. Dem Dasein erschließt sich somit die ganze Prozesshaftigkeit mit den Ekstasen der Gewesenheit bzw. Herkunft (gewesene Schädigungen), der Zukunft (Bedrohungen), der Gegenwart bzw. Ankunft (Getrennt¬heit, Abwesenheit) und der Räumlichkeit bzw. Auskunft (Unzulänglichkeit, prinzipielles Schuldigseinkön¬nen), wie in „Gedanken zu "Sein und Zeit"“ in Kapitel 9 ausgeführt (Kolb, 2011). In der Weltlichkeit des Kindes gibt es jetzt mit der Ausdruckshaftigkeit eine innere Vermittlung zwischen Seiendem in verschiedenen Situationen, die Selbstbejahung und Selbstbestimmung von Seiendem ist für das Kind dadurch ein Gestaltungsakt, die gute und die böse Mutter, die dem Kind in der Zeit begegnet sind, begegnen oder begegnen können, sind jetzt dasselbe daseinsmäßig Seiende in der Weltlichkeit des Kindes. Entsprechendes gilt auch für das Kind selbst, welches sich selbst erst jetzt als, wenn auch zunächst und zumeist unzulänglich, gestaltend erleben kann. Wenn das Dasein sich als unzulänglich oder gar schuldig erlebt, dann ist seine Befindlichkeit Abscheu wegen der Unzulänglichkeit seines In-der-Welt-Seins (eigentlicher Modus dieser Befindlichkeit, „Gedanken zu "Sein und Zeit"“; ebenda), wobei das Dasein in diesem Fall die Verantwortung für die Unzulänglichkeit bei sich selbst sieht, oder Ekel vor der Widerwärtigkeit von bestimmten als unzulänglich empfundenen Zuständen in der Welt (uneigentlicher Modus dieser Befindlichkeit), wobei das Dasein in diesem Fall die Verantwortung für die Unzulänglichkeit nicht sich selbst, sondern dem Widerwärtigen in der Welt zuschreibt. Diese Abscheu bzw. diesen Ekel empfinden Menschen noch bis ins hohe Alter, wenn sie sich oder die Umstände ihrer Existenz als unzulänglich erleben, wenn sie zum Beispiel Pläne, Versprechen oder Vorsätze nicht eingehalten haben, oder wenn ihnen jemand oder etwas zu nah kommt. Indem die Mutter ihr Kind dabei möglichst echt und unmittelbar versteht, also möglichst nah an das Ideal des Liebens herankommt, unterstützt sie ihr Kind durch markierte Affektspiegelung und teilweise humorvolle Demonstrationen von Lösungsmöglichkeiten bei der Regulierung der entsprechenden Erregung, sodass das Kind seine Befindlichkeit verarbeiten und sich selbst auf dieser Ebene immer echter und unmittelbarer befindlich verstehen, also immer mehr lieben kann. Es kann auf diese Weise immer mehr lernen, dass sein In-der-Welt-sein ein Ausdruck seiner selbst ist, und es wertschätzen, dass ihm diese Möglichkeit des Ausdrucks gegeben ist, sowie lernen, mit seinen Unzulänglichkeiten immer besser umzugehen. Es ist nicht abscheulich, unzulänglich zu sein, es ist nur abscheulich, sich dem zu überlassen. Das Verstehen seines Schuldigseinkönnens ergibt sich aus der Zeitlichkeit, doch sich zu entschließen, damit immer besser umzugehen, und dies auch zu tun, ist räumlich. Damit ist die Befindlichkeit der Abscheu ein Aufruf, den Gegensatz bzw. den Widerspruch zwischen Zeitlichkeit und Räumlichkeit zu überwinden, dem Verstehen Ausdruck und dem Ausdruck bzw. der Auskunft Verständnis zu geben bzw. der Zeit Raum und dem Raum Zeit. In zwischenmenschlichen Beziehungen ist es wichtig, einander Raum zu geben, aber auch zur rechten Zeit füreinander da zu sein. Der Gegensatz räumlich-zeitlich zeigt sich auch in der rechten Art, einander zu helfen, nämlich ob dies einspringend-beherrschend oder vorspringend-befreiend (Heidegger, Sein und Zeit, 2006, S. 122) ist, ob man dem anderen in der Zeit Raum gibt, also befreit, oder nicht, d.h. beherrscht. Es ist dem Dasein somit erschlossen, auch wenn es das noch nicht verstanden hat, dass es sich selbst und alle anderen daseinsmäßig Seienden, die ihm begegnen, trotz aller Unzulänglichkeiten immer mehr lieben lernen kann, denn lieben heißt echt und unmittelbar verstehen und dazu anhalten, das Verstandene sich ausdrücklich anzueignen und umzusetzen, da es dem Dasein sowohl um sein eigenes Sein als auch um das Sein überhaupt bzw. schlechthin geht (Kolb, 2011). Niemand muss perfekt sein, aber niemand muss sich deswegen mit seinen Unzulänglichkeiten abfinden. Damit wird das Dasein immer mehr in die Lage versetzt, diesen umfassenden Aspekt seines Seins echt und unmittelbar zu verstehen, d.h. seine Beziehung zu seinem Sein wird insgesamt immer liebevoller. So betrachtet versteht das Dasein auf dieser Entwicklungsebene den Gegensatz bzw. den Widerspruch zwischen zeitlich und räumlich immer besser, d.h. immer echter und unmittelbarer, sodass es ihn im Idealfall mit Liebe sogar überwindet. Alle anderen Lebewesen außer dem Menschen können diese Ebene nicht erreichen und weder Abscheu noch Ekel in diesem Sinne empfinden. Einem Tier mag vielleicht etwas unangenehm sein, sodass es einen Bogen darum macht, aber diese Empfindung hat nichts mit Abscheu und Ekel zu tun, wie ein Mensch dies erleben kann. Ekel und Abscheu beinhalten immer auch eine Abwertung bzw. ein Werturteil, wozu Tiere nicht fähig sind. Wenn sich hieraus dann ein Wertesystem entwickelt, dann zeigt sich dabei die Problematik des Gegensatzes räumlich-zeitlich auf eine andere Weise: je unflexibler ein solches Wertesystem bezüglich des Ortes ist, d.h. je mehr es zeitlich angepasst ist (wenn das war und das droht, dann muss …), desto weniger können wir uns und andere echt und unmittelbar im jeweiligen Worumwillen in verschiedenen Umgebungen verstehen und entsprechend angemessen handeln, d.h. unser räumliches Urteilsvermögen ist eingeschränkt, wir finden uns räumlich (z.B. in anderen Kulturen) nicht mehr zurecht. Unsere zeitliche Orientiert¬heit geht auf Kosten der räumlichen. Wenn wir dagegen umgekehrt an jedem Ort unser Wertesystem dafür eigens neu entwerfen, sind wir zwar räumlich sehr gut orientiert, aber irgendwann wissen wir nicht mehr, wann welche Werte gelten sollen, d.h. unsere zeitliche Orientiertheit ist dahin.
Wenn man die bisherigen Gegensätze bzw. Widersprüche betrachtet, so sind ihnen jeweils bestimmte Befindlichkeiten zugeordnet, durch deren Verstehen das Dasein immer mehr Liebe entwickelt und so die Widersprüche überwindet und die Gegensätze vereint. Der erste Widerspruch, der dem Dasein begegnet, ist die Unvereinbarkeit der Gegensätze von aktiv und passiv als Bejahung und Verneinung der Selbstbestimmung. Die entsprechende Befindlichkeit ist die Freude als eigentlicher Modus und der Spaß als uneigentlicher. Je echter und unmittelbarer die Mutter ihr Kind in dieser Befindlichkeit versteht, wiederspiegelt und dabei vermittelt, dass sie selbst Freude empfinden kann sowohl am Dynamischen, als auch am Statischen bzw. sowohl an der Aktivität als auch an der Passivität, desto echter und unmittelbarer kann das Kind zuerst seine Mutter und dann auch sich selbst verstehen und so auf dieser Ebene immer mehr Liebe entwickeln und bei entsprechendem Innehalten immer mehr erkennen, dass Aktivität auch eine Form von Passivität ist und umgekehrt. Beim zweiten Widerspruch, bei der Unvereinbarkeit der Gegensätze von subjektiv und objektiv ist die entsprechende Befindlichkeit die eigentliche Wut und der uneigentliche Zorn. Auch hier kann das Kind mit der entsprechenden Unterstützung seiner Mutter auf dieser Ebene immer mehr sich in Richtung Liebe entwickeln und dabei immer mehr den Eindruck gewinnen, dass subjektiv zugleich objektiv und objektiv zugleich subjektiv ist, indem es immer mehr Mitgefühl entwickelt und so erlebt, dass es ihm oft genauso geht wie seinem Gegenüber. Voraussetzung dafür ist aber ein gewisser Grad an Entwicklung von Möglichkeiten innezuhalten. Beim Gegensatz von kontinuierlich und diskontinuierlich mit der eigentlichen Angst und der uneigentlichen Furcht versteht das Kind immer mehr, wie wichtig es ist, sich für alle Möglichkeiten offen zu halten, und diese Offenheit ist richtig verstanden keine rein intellektuelle Angelegenheit, sondern getragen von einem immer tiefer gehenden Empfinden von Einklang mit der Welt und allem in ihr begegnenden Seienden, also einer Form von Hingabe und letztlich auch Liebe, die diesen Widerspruch so überwindet. Voraussetzung dafür ist aber die Entwicklung von Möglichkeiten, andere bis zu einem gewissen Grad echt und unmittelbar zu verstehen und mitfühlen zu können. Beim Gegensatzpaar linear und zirkulär mit der Befindlichkeit von Leid und Trauer kann das Kind mithilfe seiner Mutter immer mehr verstehen, wie wichtig Geduld ist, denn eine heute verpasste Gelegenheit kann morgen schon wieder vor der Tür stehen, und wenn immer wieder dasselbe passiert, kann es doch allmählich einen Fortschritt geben, sodass linear zugleich zirkulär und zirkulär zugleich linear ist. Voraussetzung dafür ist aber die Entwicklung von Möglichkeiten, sich bis zu einem gewissen Grad offen halten und im Einklang mit sich und anderem Seienden sein zu können. Der Gegensatz zwischen räumlich und zeitlich mit der Befindlichkeit der eigentlichen Abscheu und des uneigentlichen Ekels stellt sicherlich die höchsten Anforderungen an das Dasein, da es hier um die brisanten Themen von Unzulänglichkeit, Schuld und Scham geht. Durch die entsprechende Unterstützung der Mutter kann das Kind immer mehr verstehen, dass nicht seine Unzulänglichkeit abscheulich ist, sondern nur Versessenheit oder mangelnde Entschlossenheit, sich mit seiner Unzulänglichkeit und den Folgen auseinander zu setzen. Nicht nur andere, sondern letzten Endes auch es selbst kann sich nur dann verzeihen. Diese Entschlossenheit bedeutet, dass das Kind immer wieder bereit ist innezuhalten, was in diesem Fall bedeutet, dass es nicht in einen blinden Aktionismus verfällt und sich so ablenkt und Probleme und Konflikte auf diese Art und Weise abwehrt, sondern dass es, wie Heidegger es ausdrückt (Heidegger, Sein und Zeit, 2006, S. 267 ff.), ein Gewissen haben und auf seinen Gewissensruf hören, also ihn verstehen will. Weiterhin meint diese Entschlossenheit, dass das Kind sich bemüht, immer echter und unmittelbarer die Auswirkungen seiner Unzulänglichkeit zu verstehen, und sich konfrontieren lässt mit der Befindlichkeit des Leids sowohl bei sich, als auch bei anderen Lebewesen, die Leid empfinden können, – das ist die Reumütigkeit –, mit der Befindlichkeit der Wut bei sich und anderen Lebewesen, die Wut empfinden können, – das ist die Wiedergutmachungsbereitschaft –, mit der Befindlichkeit der Angst bei sich und anderen Lebewesen, die Angst empfinden können, – das ist die Bereitschaft, entsprechende Vorkehrungen zu treffen, dass seine betreffende Unzulänglichkeit nicht immer wieder solche Folgen hat (Kolb, 2011). Bei der Umsetzung dieser Entschlossenheit, die man auch als Bereitschaft zu Buße im Sinne von Umkehr bezeichnen kann, im Falle, dass das Dasein sich aufgrund einer Unzulänglichkeit schuldig gemacht hat, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es immer wieder und immer mehr in Einklang mit sich und anderen Seienden kommt, sodass es bei entsprechender Geduld sich selbst und die betroffenen anderen daseinsmäßig Seienden ihm verzeihen und alle Beteiligten sich (wieder) freuen können. Durch diese Ausführungen wird deutlich, wie komplex diese Entwicklungsebene ist, weil das Dasein hier alles das, was es sich auf den anderen Ebenen erarbeitet hat, zur Anwendung bringen muss, um sich hier weiterzuentwickeln. Es muss dazu innehalten können, offen sein für alle Befindlichkeiten bei sich und anderen (Mitgefühl), immer wieder in Einklang kommen mit sich und anderen, Geduld haben mit sich und anderen und verzeihlich sein gegenüber sich selbst und anderen.
Je mehr dem Dasein die Überwindung all dieser Widersprüche und die Vereinigung all dieser Gegensätze gelingt, desto mehr an echtem und unmittelbarem Verständnis, also an Liebe, hat es entwickelt, und seine Beziehung nicht nur zu seinem eigenen Sein, sondern zum Sein überhaupt ist immer mehr in der Liebe und in der Wahrheit (Kolb, 2011) , sodass im Idealfall diese Beziehung kein Ende hat (siehe ebenda). Wenn es für das Dasein keine Gegensätze mehr gibt und keine Widersprüche, dann hat das Sein des Daseins nichts mehr auszudrücken, sein Selbst als Liebevolles ist für das Dasein selbst ausdrucks- und damit wirkungslos, „das Innerste des Wirkenden [muss] das Nicht-Wirken schlechthin sein“ (Ohashi, 2011, S. 33), sein Sein hat nur noch für andere einen Ausdruck und damit eine Wirkung. Dann ist das Selbst des Daseins das Nichts schlechthin (ebenda). Die wahre Beziehung des Daseins zum Sein überhaupt, sein wahres Leben, hat weder Anfang noch Ende und ist damit sowohl zeitlich als auch nicht-zeitlich, und es ist auskunftlos und zugleich auskunfthaft (für andere) und damit sowohl räumlich als auch nicht-räumlich. Das wahre Selbst des Daseins ist somit sowohl Sein als auch Nicht-Sein, es ist prozesshaft und nicht-prozesshaft, befindlich verstehbar und nicht-verstehbar, begreifbar und nicht-begreifbar. Die oszillierende und damit widersprüchliche Entwicklung des Daseins vermittelt somit das Sein (Selbst-Sein, Eigentlichkeit, gegenseitige Angewiesenheit, Liebe und Erfüllung) und das Nichts (Nicht-Selbst-Sein, Ich-Sein, Uneigentlichkeit, Abhängigkeit, Ruhe, Zwang und Kontrolle) und entspricht damit der absoluten Negation (sowohl Sein als auch Nichts werden verneint), durch die bewirkt wird, dass das Dasein zum absoluten Nichts kommt. Das Selbst und das Ich sind sowohl eines als auch zwei, wobei das Selbst einen funktionalen Vorrang als das Ursprünglichere hat, und insgesamt sind diese beiden Bezeichnungen nicht fassbar. Das absolute Nichts ist bei mir das Selbst des Daseins, welches sich zum echten und unmittelbaren Verstehen des Worumwillens von allem Seienden, also zur Liebe, entwickelt hat und damit das wahre Selbst ist. Es ist insofern ich-los, als dass es für das Dasein ausdrucks- und wirkungslos ist, aber insofern gleichzeitig ich-haft, als dass es ausdruckshaft und wirkungsvoll für andere sein kann. Da Liebe das allgemeinste Ziel der Entwicklung von allem daseinsmäßig Seienden und auch begrifflich vollkommen leer ist (echtes und unmittelbares Verstehen ist von mir nur negativ definiert in dem, was es nicht ist: es ist keine Täuschung und es ist nicht durch irgendetwas vermittelt), ist es absolut und nichts, das absolute Nichts.
Im Unterschied zu Nishida beruht dabei das absolute Nichts nicht auf der unmittelbaren bzw. „reinen“ Erfahrung (Ohashi, 2011, S. 30 f.), sondern ergibt sich aus der widersprüchlichen Entwicklung des Daseins zu Liebe und Erfüllung, die nur aufgrund ihrer Widersprüchlichkeit bzw. ihrer oszillierenden Bewegung zwischen einem Sich-Abhängig-Machen im Streben nach Ruhe und Kontrolle mit der damit verbundenen Abkehr des Daseins von ihm selbst und andererseits dem Akzeptieren des gegenseitigen Angewiesen-Seins im Streben nach Liebe und Erfüllung mit der damit verbundenen Umkehr des Daseins zu ihm selbst eine Entwicklung in Richtung Liebe und Erfüllung und der daraus resultierenden Wahrheit der Beziehung des Daseins zum Sein überhaupt ermöglicht, also zum Sein und zum Nichts, indem es sich selbst und andere absolut echt und unmittelbar in seinem und deren Worumwillen versteht (Kolb, 2011). Diese Entwicklung wird vorangetrieben und gefordert durch den Gewissensruf aus der vom Dasein selbst bezeugten Abscheu heraus, nichts gegen seine Unzulänglichkeiten zu tun. Die „reine“ Erfahrung – und das fehlt bei Nishida – kann daher nur durch die Erfahrung der „unreinen“ Unzulänglichkeiten entstehen, die beim Dasein diese Abscheu hervorrufen. Dies wird zwar erst durch die Entwicklung der Selbstidentität ermöglicht, aber Nishida sieht darin nicht die vom Dasein selbst bezeugte Aufforderung, die reine Erfahrung zu suchen. Damit bleibt diese abstrakt und nur ein bloßer Phantasiebegriff, ein sinnloses Gedankenspiel. Der reinen Erfahrung bei Nishida fehlt sowohl das In-der-Welt-sein als auch das In-der-Gemeinschaft-sein. Damit ist es anstelle der reinen Erfahrung die oszillierende Entwicklung – bei der Abkehr die Verneinung des Selbst und die Bejahung des Ich und in der Umkehr die Verneinung des Ich und die Bejahung des Selbst und damit auf zwei Ebenen die Vermittlung von Nichts und Sein, also die absolute Negation –, die Sein und Nichts verbindet. Um es noch einmal zu betonen, da dieser Gedanke in „Gedanken zu "Sein und Zeit"“ (Kolb, 2011) nicht ausgeführt wurde, diese Widersprüchlichkeit der Entwicklung ist absolut notwendig, damit das Dasein sich und andere in ihrem Worumwillen echt und absolut verstehen kann. Ohne das Grauen der beiden Weltkriege im letzten Jahrhundert, welches unsere Vorfahren erlebt und diese Erfahrung an uns weitergegeben haben, hätten wir uns vielleicht schon in einem Atomkrieg gegenseitig ausgelöscht und die Lebensgrundlage vieler Lebewesen auf der Erde zerstört. Das Dasein muss sich wahrscheinlich immer wieder auch von sich selbst abkehren, um immer mehr befindlich echt und unmittelbar zu verstehen und zu begreifen und sich und anderen ausdrücklich zu vermitteln, dass die Hinwendung zu sich selbst und die entschlossene Umkehr nach einer derartigen Abkehr die einzige Seins- und Handlungsweise ist, die seinem eigentlichen Sein entspricht. Bei dieser Entwicklung muss das Dasein sich auch nicht immer selbst von sich abkehren, es kann auch ausreichen, wenn ihm dies dadurch vermittelt wird, dass es dergleichen bei anderen beobachten kann oder entsprechende Vorkommnisse berichtet bekommt. Auch wenn es vielleicht zynisch klingt, so müssen wir Kain dafür dankbar sein, dass er Abel getötet hat, weil er uns dadurch vermittelt hat, wie abscheulich ein Mord ist. Tatsächlicher Zynismus ist nur, wenn man wie Stalin schreckliche Verhältnisse herstellt oder verschlimmert und dies damit begründet, dass dies der Weg sei, um diese Missstände zu beseitigen.
Die Frage, die noch geklärt werden muss, ist, ob wir mit diesen fünf grundlegenden Widersprüchen bzw. Gegensätzen alle Widersprüchlichkeiten ausgeschöpft haben, denn sonst stimmen die letzten Gedankengänge nicht, dass das Dasein mit ihrer Überwindung zur Wahrheit seiner Beziehung zum Sein und zum Nichts gelangt. Da jeder Widerspruch mit einer Befindlichkeit verknüpft ist und jede Befindlichkeit mithilfe der fünf Grundbefindlichkeiten vollständig analysiert werden kann (Kolb, 2011), genügt es zu zeigen, dass jede Grundbefindlichkeit sich eindeutig zurückführen lässt auf den oben jeweils schon zugeordneten Widerspruch bzw. Gegensatz. Jede Grundbefindlichkeit ist eindeutig einer der fünf Entwicklungsebenen zugeordnet, und jede dieser Ebenen hat eine eindeutige Entwicklungsaufgabe, die sich darstellen lässt als Überwindung eines bestimmten Gegensatzes, nämlich des Gegensatzes, welcher der entsprechenden Grundbefindlichkeit oben zugeordnet wurde. Damit ist aufgezeigt, dass jeder Gegensatz bzw. Widerspruch sich vollständig analysieren lässt mithilfe der fünf grundlegenden Gegensätze, nämlich die Widersprüchlichkeit der Selbstbestimmung oder aktiv-passiv, subjektiv-objektiv, kontinuierlich-diskontinuierlich, linear-zirkulär und zeitlich-räumlich.
Bei der ganzen Selbstentwicklung des Kindes, wenn das Kind also lernt, sich immer mehr selbst zu bestimmen, braucht es eine primäre Bezugsperson, in der Regel die Mutter, die es so gut wie möglich echt und unmittelbar bestimmen sollte, denn das sind die optimalen Voraussetzungen dafür, dass das Kind schließlich lernt, sich selbst möglichst echt und unmittelbar zu bestimmen, d.h. zu lieben. Der ganze Entwicklungsprozess des Kindes funktioniert aber nur dann, wenn Mutter und Kind in einer gegenseitigen Beziehungen stehen und das Kind genauso, wie es lernt sich selbst zu bestimmen, auch lernt, seine Mutter zu bestimmen und sich von ihr bestimmen zu lassen, sodass sie sich schließlich gegenseitig bestimmen. Erst dadurch kommt ein echter Ausdruck und eine Auskunft zustande, denn wie oben ausgeführt ist Ausdruck niemals etwas von einem Seienden allein, denn mit dem Ausdruck ist immer auch eine Wechselwirkung mit der Welt verbunden, in der das Dasein sich befindet, d.h. der Ausdruck kommt nur im Austausch zustande. Wirklicher zwischenmenschlicher Kontakt besteht aus Ausdrucksakten, die zugleich Gestaltungsakte sind (Nishida, Selbstidentität und Kontinuität der Welt, 2011, S. 77). Die Weltlichkeit im Sinne Heideggers besteht aus ausdrücklich angeeignetem Verständnis von der Welt, d.h. sie ist immer ausdruckshaft, was Nishida als „ausdruckshafte Welt“ bezeichnet (ebenda). Dabei ist das Dasein nicht ausdruckshaft, um Auskunft zu geben und Kontakt mit anderen herzustellen, sondern Auskunft und Kontakt entstehen dadurch, dass das Dasein ausdruckshaft ist und damit wechselwirkend. Das Dasein ist ausdruckshaft bzw. wechselwirkend, weil es ein In-der-Welt-Sein ist, jede Seins- und Handlungsweise drückt etwas aus, und das kann jeden anderen ergreifen, d.h. bestimmen. So betrachtet ist die ausdruckshafte Weltlichkeit immer eine gemeinschaftliche Weltlichkeit. Sie ist sowohl statisch als auch dynamisch, sowohl subjektiv als auch objektiv, sowohl kontinuierlich als auch diskontinuierlich, sowohl linear als auch zirkulär und sowohl zeitlich als auch räumlich.
In dem zweiten Aufsatz von Nishida (Nishida, Das künstlerische Schaffen als Gestaltungsakt der Geschichte, 2011) aus dem Sammelband von Ohashi (Ohashi, 2011) bezeichnet er die Kunst als „Ausdruck des geschichtlichen Lebens“, was in meiner Terminologie (Kolb, 2011) Ausdruck der Beziehung einer Gemeinschaft zum Sein überhaupt heißt. Wie in „Gedanken zu "Sein und Zeit"“ (Kolb, 2011) ausgeführt, besitzt eine Gemeinschaft eine derart ähnliche Struktur wie das Dasein, dass man genauso, wie ich die Beziehung des Daseins zum Sein überhaupt als menschliches Leben dieses Daseins bezeichnet habe (ebenda), die Beziehung einer Gemeinschaft zum Sein überhaupt das gemeinschaftliche Leben dieser Gemeinschaft nennen kann. Dessen Ausdruck ist dann nach Nishida Kunst, die aber jemand als solche nur dann erkennen kann, wenn er diese Gemeinschaft bzw. ihren Charakter, ihren Rhysmôs (die poetische Form von Rhythmus), wie sie tickt (ebenda), bis zu einem gewissen Grad echt und unmittelbar versteht, also bis zu einem gewissen Grad liebt. Damit sind wir bei den Ritualen einer Gemeinschaft, deren möglichst echtes und unmittelbares Verständnis uns die Möglichkeit gibt, die Kunst dieser Gemeinschaft zu verstehen, da jedes Ritual als gemeinschaftliches Handeln nach einer vorgegebenen, sich ähnlich oder identisch wiederholenden Ordnung rhythmisch ist und nach Nishida „von einer heftigen Gemütsbewegung begleitet sein [muss].“ (Nishida, Das künstlerische Schaffen als Gestaltungsakt der Geschichte, 2011, S. 115) Damit repräsentieren die Rituale einer Gemeinschaft ausdrücklich all das, wovon diese Gemeinschaft ergriffen ist und was sie erwartet, was nach meiner Arbeit (Kolb, 2011) bedeutet, dass die Rituale einer Gemeinschaft deren Sorge im Sinne von Heidegger ausdrücken und damit wesenhaft das Sein dieser Gemeinschaft zur Welt. Verständnis der Rituale einer Gemeinschaft bedeutet also Verständnis des Seins dieser Gemeinschaft zur Welt, d.h. also inwieweit man die Beziehung dieser Gemeinschaft zum Sein überhaupt echt und unmittelbar versteht.
Kunst als Ausdruck dieser Beziehung erscheint mir zu durchschnittlich, ich finde, dass man Kunst so definieren sollte, dass sie einen Beitrag dazu leisten kann, dass die betreffende Gemeinschaft sich in ihrem Verständnis ihres Seins zur Welt immer weiter entwickelt in Richtung echten und unmittelbaren Verständnisses, also in Richtung Liebe und wahrem gemeinschaftlichen Leben. Auch eine Gemeinschaft macht entsprechende Erfahrungen, die ihre Unzulänglichkeiten aufzeigen, so dass eine Abscheu entsteht, nichts dagegen zu tun bzw. schädliche Auswirkungen nicht einzudämmen. Indem Kunst darauf aufmerksam macht und eventuell Lösungsmöglichkeiten aufzeigt und durchspielt, leistet sie einen derartigen Beitrag. Hier zeigt sich wieder die fehlende Aufforderung zur Tat in Nishidas Philosophie. Kunst sollte daher einerseits ein echteres und unmittelbareres Verständnis des gemeinschaftlichen Lebens ausdrücken, aber andererseits auch so, dass dieser Ausdruck von der Gemeinschaft verstanden werden kann, dass also dieses echtere und unmittelbarere Verständnis des gemeinschaftlichen Lebens durch die Kunst der Gemeinschaft vermittelt, d.h. von ihr aufgenommen und sich angeeignet werden kann. Eine ähnliche Auffassung von Kunst, in diesem Fall als schöner Stil, also schöne Ausdrucksform, bezeichnet, vertrat Georges Buffon (1707-1788) bei seiner berühmten Antrittsrede 1753 vor der Académie française: „[…] ein schöner Stil ist in der Tat nur so aufgrund der unendlich vielen Wahrheiten, die er vermittelt.“
Um das Ganze grundlegend zu analysieren, möchte ich an dieser Stelle die erste und ursprünglichste Gemeinschaft betrachten, nämlich die Gemeinschaft von Mutter und Kind, und hier Gestaltungsakte und „handelnde Anschauung“ (Nishida, Selbstidentität und Kontinuität der Welt, 2011, S. 112), womit Nishida ausdrückt, dass Handlung immer auf Anschauung beruht aufgrund der aus der Anschauung resultierenden Ergriffenheit und Erwartung des Handelnden, und dass umgekehrt Anschauung immer auf Handlung beruht, da die Handlungsergebnisse und die Praxis, die Art unseres Hinsehens bestimmen. Wie nicht anders zu erwarten, spielen in der Mutter-Kind-Beziehung Rituale bzw. Wiederholungen und ein damit verbundener Rhythmus eine große Rolle. Der gesamte von Fonagy et al. bezeichnete Als-ob-Modus (Fonagy, Gergely, Jurist, & Target, 2008, S. 266 f.) des Seins dieser Gemeinschaft umfasst den Bereich all ihrer Rituale. Dabei ist es die Kunst der Mutter, ihrem Kind immer mehr ihr eigenes Verständnis des In-der Welt-seins so zu vermitteln, dass es dieses sich aneignen, mit seinem realistischen Modus des Seins integrieren kann, bis es etwa vier Jahre alt ist, und danach bei neuen Erfahrungen die Möglichkeit besitzt, seine Weltlichkeit entsprechend zu verändern, sodass die Kongruenz zwischen seinen Erfahrungen und seiner Weltlichkeit erhalten bzw. erreicht wird. Letzteres ist notwendige und hinreichende Bedingung dafür, dass das Dasein sich immer mehr in Richtung Liebe entwickelt (Kolb, 2011). Bei den Ritualen der Mutter-Kind-Gemeinschaft finden wir folgende Eigentümlichkeiten: „Durch die rhythmische Wiederholung weckt die Mutter die Aufmerksamkeit ihres Kindes, und ihre Mitteilungen werden für ihr Kind immer besser befindlich verständlich, sodass es sich immer mehr freut und lacht. Die Situation wird für das Kind immer lustiger, und auch seine Mutter freut sich darüber entsprechend. Obwohl die Situation [...] für das Kind bedrohlich sein kann, muss es trotzdem lachen, wenn seine Mutter auf die Weise der rhythmischen Wiederholung damit umgeht. Im Spiel macht die Mutter sich teilweise wie ein Clown kindlicher, als sie ist, und durch ihre Lösung im positiven Ausgang der gespielten Szene vermittelt sie ihrem Kind Hoffnung. Die rhythmisch wiederholte Szene kann für das Kind nicht nur etwas Befreiendes, sondern auch etwas Großartiges und Erhebendes haben. Im Spiel kann die Welt dem Kind nicht nur nicht schaden, die rhythmischen Wiederholungen der Mutter zeigen ihm, dass die Welt ihm auch Anlass zu Lustgewinn ist. Die vom Kind empfundene Gefahr wird durch die Mutter im Verhalten gewollt inszeniert und für das Kind manchmal überraschend umspielt. Insgesamt vertieft dieses Spielen der Mutter ihre Gemeinschaft mit ihrem Kind. Die Mutter zeigt dem Kind Schwächen und Stärken, Unzulänglichkeiten und Möglichkeiten, und wie man damit praktisch umgehen und diese Gegensätze verbinden kann. Alle diese Eigenarten der rhythmischen Wiederholung machen den Humor deutlich, der in solchen Inszenierungen dem Kind nicht nur Trost und Beruhigung, sondern auch befindliches Verstehen und Freude vermittelt.“ (ebenda) In diesen und auch in Ritualen ganz allgemein fühlt das Dasein „ein Transzendentes Seiendes. Dabei [geht seine] Individualität unter, und [alle in der Gemeinschaft werden] gefühlsmäßig eins.“ (Nishida, Das künstlerische Schaffen als Gestaltungsakt der Geschichte, 2011,S. 115) Diese gefühlte Ganzheit oder Einheit wird dann als „das Heilige zur Grundlage der Gestaltung der Gesellschaft“ (ebenda). In der Gemeinschaft von Mutter und Kind ist die Mutter Schauspielerin und das Kind anfänglich ein Zuschauer, der sich immer mehr zum Mitspieler entwickelt. Dies hat auch seine Entsprechung bei Ritualen allgemein, bei denen der Anfänger passiv ist, mit der Zeit aber die Möglichkeit bekommt, in der Hierarchie und damit in der Aktivität und Selbstbestimmung immer mehr aufzusteigen. Bei dem Prozess, bei dem die Mutter ihrem Kind ihre eigene Weltlichkeit bzw. handelnde Anschauung vermittelt, befinden sich Mutter und Kind in einem spielerischen Als-ob-Modus bzw. fantastischen Modus des Seins (Kolb, 2011), in welchem das künstlerische Schaffen gründet, während im Äquivalenz-Modus (Fonagy, Gergely, Jurist, & Target, 2008, S. 263) bzw. im realistischen Modus des Seins (Kolb, 2011) die Wissenschaften ihre Basis haben. In der Kunst, die ja im fantastischen Modus des Seins gründet, „versinkt“ das Objektive im Subjektiven, in der Wissenschaft dagegen, deren Basis ja der realistische Modus des Seins ist, das Subjektive im Objektiven (Nishida, Das künstlerische Schaffen als Gestaltungsakt der Geschichte, 2011, S. 128). Beides muss in der Weltlichkeit integriert werden, damit keine Inkongruenz zwischen Erfahrung und Weltlichkeit entsteht, was ja zu Uneigentlichkeit und einer Entwicklung weg von Liebe und Wahrheit führt. Sowohl in der Kunst als auch in der Wissenschaft finden wir die beiden Gegensätzlichkeiten aktiv-passiv – in der Wissenschaft etwa im aktiven Experiment und der passiven Beobachtung – und objektiv-subjektiv, die jeweils überwunden bzw. integriert werden müssen, damit sowohl Kunst als auch Wissenschaft jeweils ihren Ansprüchen, Wahrheiten zu vermitteln, gerecht werden können. Wie ist es nun mit den anderen drei grundlegenden Gegensätzlichkeiten?
Sowohl in der Kunst als auch in der Wissenschaft haben wir es mit Abstraktionen zu tun, bei denen wir befindlich Verstandenes in der Rede begrifflich fassen, um es auszudrücken, dadurch anderen mitzuteilen und uns dann selbst ausdrücklich anzueignen und in unserer Weltlichkeit somit zu integrieren. Jede Abstraktion ist daher eine Vereinfachung, bei der das „sich Bewegende überhaupt ruhend“ (ebenda, Seite 119) gesehen wird. Indem aber sowohl in der Kunst als auch in der Wissenschaft nicht geruht wird, sondern immer wieder Neues geschaffen bzw. entdeckt wird – Kunst und Wissenschaft sind „in ihrem Grund eine Bewegung von handelnder Anschauung zu handelnder Anschauung“ (ebenda, Seite 124) –, wird hier der Gegensatz kontinuierlich-diskontinuierlich offensichtlich, da jede Bewegung sowohl kontinuierlich als auch diskontinuierlich sein kann. Sowohl Kunst als auch Wissenschaft dienen dabei der Angstbewältigung, wobei die Kunst dies mehr über Einfühlung, die Wissenschaft mehr über Vorhersagen bewerkstelligt, die auf herausgefundenen Gesetzmäßigkeiten beruhen. Dadurch dass sowohl in der Kunst als auch in der Wissenschaft von den jeweiligen Gegebenheiten ausgegangen wird, um jeweils zu ergründen, was möglich ist, Heidegger bezeichnet dies als geworfen-entwerfendes In-der-Welt-sein (Heidegger, Sein und Zeit, 2006, S. 148), Nishida als widersprüchliche Selbstidentität eines sich „von einem Gebildeten zu einem Bildenden [Bewegenden]“ (Nishida, Das künstlerische Schaffen als Gestaltungsakt der Geschichte, 2011, S. 117), lässt sich darin der Gegensatz linear-zirkulär mit der Befindlichkeit des Leids erkennen. Erst durch ein Übersteigen dieses Gegensatzes finden wir in dieser Welt eine Erlösung von unserem Leid. In der Kunst wird diese Erlösung durch „die Freude der reinen Anschauung“ (ebenda, Seite 120) erreicht, was wir dann als schön empfinden. Das Schöne ist also nicht, wie Kant meint, das, was ohne alles Interesse gefällt, sondern u.a. das, womit wir unser Leid überwinden. Es ist „ein Ausdruck des geschichtlichen Lebens“ (ebenda), d.h. der Ausdruck der Beziehung unserer Gemeinschaft zum Sein überhaupt. Nishida nennt es auch „das Paradigma der Spezies“ (ebenda, Seite 121). Wenn also eine Gesellschaft einen großen Busen bei einer Frau als schön empfindet, dann handelt es sich wahrscheinlich um eine Konsumgesellschaft, die mit den Ressourcen der Natur genauso rücksichtslos umgeht wie ein Säugling mit der für ihn großen und nährenden Mutterbrust.
Wenn wir nun das Schöne tiefgehender betrachten wollen, müssen wir bezüglich der Anschauung unsere Sinnlichkeit bzw. unsere leiblichen Sinne mit einbeziehen. Dabei finden wir beim Geschmackssinn als dem ersten sich physisch entwickelnden Sinn (ein Sinn ist nicht dann schon entwickelt, wenn die physiologische Grundlage entwickelt ist, sondern erst dann, wenn die dort generierten Daten aufgenommen, weiter verarbeitet und schließlich aktiv genutzt werden) den primären Gegensatz von Bejahung und Verneinung, es schmeckt oder es schmeckt nicht, der dem Gegensatz von aktiv und passiv entspricht und der Befindlichkeit von Freude oder Spaß, wenn es schmeckt. Umgangssprachlich heißt es auch, jemand habe Geschmack an etwas gefunden, wenn er oder sie sich aktiv mit etwas beschäftigt und daran Freude oder Spaß hat. Der Geschmackssinn ist ja schon beim Fetus in der Gebärmutter so weit entwickelt, dass das Neugeborene seine Mutter am Geschmack erkennt, den es schon im Fruchtwasser geschmeckt hat. Wenn es also diesen Geschmack wiedererkennt, wird es aktiv, saugt an der Brust und freut sich, bei seiner so erkannten Mutter zu sein. Beim nächsten sich entwickelnden Sinn, dem Geruchssinn, eröffnet sich dem Dasein zusätzlich der Gegensatz von objektiv und subjektiv, nämlich ob das „mein Geruch“ ist oder etwa der von etwas anderem, was „mich“ u.U. stört, mit der Befindlichkeit von Wut oder Zorn, was sich auch in der Redewendung ausdrückt, dass einem etwas stinkt. In der Folge kann dann auch beim Geschmackssinn der Gegensatz objektiv-subjektiv wahrgenommen werden, ein bestimmter Geschmack kann als vertraut oder fremd empfunden werden. Im Tastsinn zeigt sich zusätzlich der Gegensatz zwischen kontinuierlich und diskontinuierlich, man tastet sich ängstlich oder furchtsam an etwas heran, wie es im übertragenen Sinn auch heißt. Dadurch wird dann auch beim Geschmacks- und Geruchssinn dieser Gegensatz erkennbar. Im Gehörsinn offenbart sich zusätzlich der Gegensatz zwischen linear und zirkulär, was sich zum Beispiel in dem redensartlichen Begriff des Ohrwurms niederschlägt und von der Befindlichkeit des Leids oder der Trauer her im Begriff des Wehlauts, den jeder spontan äußert, wenn etwas zu sehr weh tut. Das Gehör ist der erste sich entwickelnde Sinn, mit dem etwas weiter Entferntes wahrgenommen werden kann, also Nähe und Ferne, sodass aufgrund von wahrgenommenem Getrennt-Sein die Befindlichkeit des Leids oder der Trauer hervorgerufen werden kann. Als Odysseus den Gesang der Sirenen hörte, empfand er große Sehnsucht und wollte nur noch bei ihnen sein. Mit der Offenbarung des Gegensatzes linear-zirkulär kann allerdings bei den bisher entwickelten Sinnen Leid und Trauer nicht empfunden werden. Das liegt daran, dass dieser Modus der Befindlichkeit mit Ferne und Getrenntheit zu tun hat, die ersten drei leiblichen Sinne aber nur für die Nähe ausgelegt sind. Im Gesichtssinn, womit wir am besten Bewegungen und Handlungen wahrnehmen können, finden wir dadurch schließlich zusätzlich den Gegensatz von räumlich und zeitlich heraus, da Bewegungen, die z.B. in der Physik untersucht werden, sowohl räumlich als auch zeitlich sind. Ferner empfinden wir, je nach dem, wie etwas aussieht, Abscheu oder Ekel. Wenn wir dagegen etwas als schön empfinden, dann kann es weder abscheulich noch eklig sein, sodass auch in der Kunst über diese Befindlichkeit eine Auseinandersetzung mit Unzulänglichkeiten stattfindet. Auch hier gibt es im Anschluss an diese Entwicklung das Phänomen, dass die Befindlichkeit der Abscheu und des Ekels bei allen anderen Sinnen ebenfalls empfunden werden kann, denn Abscheu und Ekel empfinden wir umso stärker, je näher uns etwas kommt, so dass wir es dann mit allen Sinnen, auch mit den ersten drei, wahrnehmen können. Somit ist aufgezeigt, dass auch der Gegensatz räumlich-zeitlich sowohl in der Kunst als auch in der Wissenschaft eine entscheidende Rolle spielt. Da Leiblichkeit die Sinne und die Sinnlichkeit mit einschließt, und wenn Geistiges das befindliche Verstehen und Begreifen der Prozesshaftigkeit und damit auch der ontologischen Differenz und des Selbst ist, so wird klar, dass sowohl in der Kunst als auch in der Wissenschaft Leibliches und Geistiges wichtig ist, und die bisherige Analyse der Entwicklung des Selbst, teilweise von Fonagy et al. übernommen (Fonagy, Gergely, Jurist, & Target, 2008), und die der fünf leiblichen Sinne konnte aufzeigen, dass im Leiblichen wie im Geistigen dieselben Gegensätzlichkeiten mit derselben befindlichen Dynamik vorherrschen und jeweils die Entwicklung bestimmen, sodass im Absoluten, wenn alle Gegensätze überwunden und Liebe und Erfüllung erreicht sind, auch der Gegensatz leiblich-geistig überwunden ist, oder wie Nishida es ausdrückt: „Unser Leib ist durch und durch geistig, unser Geist ist ganz und gar leibhaftig.“ (Nishida, Das künstlerische Schaffen als Gestaltungsakt der Geschichte, 2011, S. 122)
Neben diesen fünf leiblichen Sinnen gibt es noch einen sechsten Sinn, mit dem die fünf leiblichen Sinne erst richtig einen Sinn machen: das ist unser Sinn für Zusammenhänge, der Sinn für Ideen, Prognosen, Ästhetik, kurz unser Intellekt. Über unsere leiblichen Sinne bekommen wir immer mehr einen Eindruck von der uns umgebenden Welt, sodass wir immer mehr Erfahrungen darüber sammeln, was womit zusammenpasst und was nicht. So bilden sich in uns Vorstellungen und Ideen, wir bekommen Vorahnungen, und wenn etwas sich gut zusammengefügt, in dem Sinne, dass wir uns dafür begeistern, dann finden wir das schön bzw. ästhetisch. Bei ästhetischem Empfinden ist daher zumindest am Anfang ein Moment des Unerwarteten, der Überraschung, und zwar meist der freudigen Überraschung vorhanden. Wie neuere Forschungsergebnisse der Neurobiologie nahe legen, ist auch dieser sechste Sinn ein leiblicher Sinn, denn es gibt dazu auch ein physisches Korrelat (so wie die Augen ein physisches Korrelat für den Gesichtssinn sind): Der so genannte Anterior Cingulate Cortex (ACC) am oberen Ende des Frontallappens verarbeitet Umwelteindrücke und integriert sie mit vergangenen Erfahrungen (Brown & Braver, 2005). In dem zitierten Artikel werden zwar nur Risikoschätzungen untersucht, bei denen der ACC eine wichtige Rolle zu spielen scheint, aber es liegt meines Erachtens nahe anzunehmen, dass dieser Bereich ganz allgemein beim oben beschriebenen sechsten Sinn dessen physisches Korrelat ist. Die zugehörige Befindlichkeit möchte ich im eigentlichen Modus als Begeisterung am In-der-Welt-sein bezeichnen und im uneigentlichen Modus als Leidenschaft für etwas bestimmtes Seiendes.
Was das Schöne betrifft, so hat Kant in gewisser Weise doch recht: Das Schöne ist alles das, was anfänglich als freudige Überraschung ohne Interesse gefällt, dann aber Interesse weckt, und zwar je nach dem, bei welchem oder bei welchen der fünf grundlegenden Gegensätze es helfen kann, diese besser zu verstehen und zu überwinden, und ob der oder die Gegensätze auch gerade von Interesse sind. In dem Moment, in welchem das Schöne ohne Interesse gefällt, muss es dem Dasein aber schon erschlossen, wenn auch noch nicht von ihm verstanden sein, für welchen oder für welche der Gegensätze das als schön Gefallende nützlich und förderlich bezüglich des Verständnisses und der Überwindung ist, und dass dieser oder diese Gegensätze im Moment ausreichend wichtig sind. Einmal als schön empfunden, gefällt das Schöne nicht mehr ohne ein gewisses Interesse, dafür aber mit Begeisterung, d.h. die Begeisterung bzw. das eigentliche Interesse wird durch das Schöne nur ausgelöst, bezieht sich aber auf das In-der-Welt-sein allgemein. Insofern gefällt das Schöne ohne direktes Interesse. Bei direktem Interesse wäre die Befindlichkeit im uneigentlichen Modus der Leidenschaft anstelle der Begeisterung und das Schöne wäre nicht mehr schön, sondern nur noch ein Suchtmittel. Im einzelnen kann das Schöne beleben oder entspannen, helfen, sich mehr auf sich selbst zu konzentrieren oder mehr andere zu beachten, Ängste beruhigen oder auf Gefahren aufmerksam machen, trösten oder Leid zugänglich machen, sowie sensibilisieren für Themen wie Schuld und Verantwortung und letzten Endes immer auch insgesamt für Liebe und Erfüllung, für deren Erreichen das Schöne motivieren kann, so dass die Begeisterung für die Liebe geweckt ist. Damit ist das Schöne das, was Begeisterung (eigentlich) weckt, anfänglich ohne Interesse an dem Schönen an sich, dann mit Leidenschaft (uneigentlich) für das Schöne, was dadurch zum Suchtmittel werden kann, bis es Begeisterung für die Liebe weckt, und dann gefällt das Schöne dauerhaft ohne Interesse. Erst nachdem das Dasein diese Entwicklung durchlaufen hat, hat Kant recht.
Je mehr das Dasein die fünf grundlegenden Gegensätze überwindet, wobei es letzten Endes ausreicht, den letzten Gegensatz räumlich-zeitlich zu überwinden, weil dies nur möglich ist, wenn alle anderen ebenfalls überwunden worden sind, desto mehr hat sich seine Ergriffenheit und Erwartung entwickelt zu Liebe und Erfüllung, und seine Beziehung zum Sein überhaupt immer mehr zur Wahrheit, also zum wahren menschlichen Leben (Kolb, 2011), wobei dies auch der wahren Beziehung des Daseins zum Sein und zum Nichts entspricht, sodass die oszillierende Entwicklung des Daseins die absolute Negation ist (siehe oben). Auch hier wird noch einmal deutlich, dass das absolute Nichts nicht formal definiert ist, sondern von der Abscheu vor dem Verharren in Unzulänglichkeiten und der daraus resultierenden Sehnsucht nach Liebe herkommt, sodass sich daraus ein absolut echtes und unmittelbares Verständnis des Daseins von seinem eigenen Worumwillen und dem der Anderen entwickelt, also von jeglichem Sein und Handeln, da diesem immer ein Worumwillen des Seienden und Handelnden zugrunde liegt. Diese Entwicklung vollzieht sich aber nur als In-der-Welt-sein und als In-der-Gemeinschaft-sein, wobei auch der Eremit in einer Gemeinschaft ist, er hat nur einen größeren geographischen Abstand zu den anderen aus seiner Gemeinschaft. Kunst ohne In-der-Gemeinschaft-sein, also „bei völliger Ignorierung der Transzendenz[, würde] zur bloßen Phantasie“, Wissenschaft ohne In-der-Welt-sein, also „bei völliger Ignorierung der Immanenz[,] zum bloßen Begriff“ (Nishida, Das künstlerische Schaffen als Gestaltungsakt der Geschichte, 2011, S. 124).
Der fantastische Modus in der Mutter-Kind-Gemeinschaft, bei dem natürlich Phantasie eine große Rolle spielt (daher der Name), ist also nur dann keine bloße Phantasie, wenn es Transzendenz zwischen Mutter und Kind gibt, d.h. wenn beide sich, in der Terminologie Nishidas ausgedrückt, gegenseitig bestimmen. Entsprechend ist der realistische Modus nur dann keine bloße Begrifflichkeit, wenn das Dasein immanent es selbst ist, d.h. wenn es sich selbst bestimmt und selbstbestimmt handelt. Je mehr beides integriert ist, wenn also der Gegensatz zwischen Phantasie und Realität oder Transzendenz und Immanenz immer besser überwunden wird, kann der Entwicklungsprozess des Daseins in Richtung Liebe und Erfüllung voranschreiten. Nur so sind dann auch Kunst und Wissenschaft als Vermittler von Wahrheit immer mehr möglich. Das künstlerische Schaffen wird so zu einem sich selbst organisierenden Prozess innerhalb der Gemeinschaft, in der das Dasein künstlerisch handelt. Insofern ist ein Kunstwerk weniger das Werk des Künstlers, und mehr das aus dem gemeinschaftlichen Sein, der Transzendenz, heraus sich entwickelnde Werk, bei dem der Künstler sich selbst leibhaftig als Werkzeug zur Verfügung gestellt hat (ebenda, Seite 127). Das künstlerische Schaffen kann man auch als eigentlich unwillkürlichen Gestaltungsakt des Daseins als In-der-Gemeinschaft-sein bezeichnen, wobei es folgendes bedeutet, wenn das Dasein „eigentlich unwillkürlich“ gestaltet: es gibt sich hin an den Fluss der Ereignisse, also an die Eigendynamik der Prozesshaftigkeit bzw. des Seins seines In-der-Gemein¬schaft-seins; dabei sind seine Erfahrungen kongruent mit seiner Selbstbewusstheit, der Struktur seiner Selbstentwürfe, die ihm seine bisherige Entwicklungsgeschichte in seiner Gemeinschaft, seine Bedingtheit und seine Geworfenheit, verständlich macht; es vertraut auf die Eigendynamik des eigensten Seins des Daseins als In-der-Gemeinschaft-sein, hat also Selbstvertrauen; es gibt sich seinem In-der-Gemein¬schaft-sein selbst im Augenblick hin (Kolb, 2011). Insofern ist das künstlerische Schaffen wegen seiner eben beschriebenen Unwillkürlichkeit ein Trance-Phänomen.
Wie in „Gedanken zu "Sein und Zeit"“ (ebenda) dargestellt, gibt es im menschlichen Leben, also in der Beziehung des Daseins zum Sein überhaupt, ein Oszillieren der Entwicklung zum einen in Richtung Liebe und Erfüllung, zum anderen in Richtung Abhängigkeit, Ruhe und Kontrolle. Daher gibt es ein solches Hin und Her auch in der Kunst, sodass Nishida Dostojewskis „Die Brüder Karamasow“ zitiert: „[In der Kunst] kämpfe der Teufel mit Gott, und das Schlachtfeld sei das Menschenherz“ (Nishida, Das künstlerische Schaffen als Gestaltungsakt der Geschichte, 2011, S. 130). Wahres künstlerisches Schaffen muss daher einen Beitrag dazu leisten, dass die betreffende Gemeinschaft sich in ihrem Verständnis ihres Seins zur Welt immer weiter entwickelt in Richtung echten und unmittelbaren Verständnisses, also in Richtung Liebe und wahrem gemeinschaftlichen Leben. Kunst sollte daher einerseits ein echteres und unmittelbareres Verständnis des gemeinschaftlichen Lebens und Handelns ausdrücken, dies aber andererseits gleichzeitig so, dass dieser Ausdruck von der Gemeinschaft verstanden werden kann, dass also dieses echtere und unmittelbarere Verständnis des gemeinschaftlichen Lebens und Handelns durch das künstlerische Schaffen der Gemeinschaft vermittelt, d.h. von ihr aufgenommen und sich angeeignet werden kann. Der Künstler ist dann eine Art Mittler, der hilft, dass andere immer echter und unmittelbarer verstehen, also lieben lernen, und da er dies verständnisvoll, also so liebevoll wie möglich tut, er soll ja möglichst echt und unmittelbar verstehen, an welcher Stelle ihrer Entwicklung die anderen sich befinden, ist insgesamt betrachtet die Liebe die Grundlage des gesamten Vermittlungsprozesses, d.h. die Liebe vermittelt sich selbst und ist damit die Grundlage von allem.
Zum Schluss dieses Kapitels will ich beispielhaft demonstrieren, wie Gegensätze mithilfe der fünf grundlegenden Widersprüche analysiert werden können, und zwar an dem Gegensatz immanent-transzendent: Immanenz ist Für-Sich-Bleiben und Transzendenz ist Hinübersteigen zum anderen, In-Kontakt-sein mit anderen, Sich-gegenseitig-Berühren, In-demselben-Takt-Schwingen usw. Der erste Schritt der Analyse ist, den primären grundlegenden Gegensatz zu finden, das ist in diesem Fall der Gegensatz subjektiv-objektiv, der mit der Entwicklungsebene des sozialen Selbst verbunden ist. Daher muss im Vorhinein schon das physische Selbst weit genug entwickelt sein, und je mehr der entsprechende Gegensatz aktiv-passiv überwunden ist, desto häufiger und intensiver kann das Dasein für sich bleiben oder mit anderen in Kontakt sein. Damit ist aber nur etwas über die Quantität und nicht über die Qualität von Immanenz und Transzendenz ausgesagt. Die Qualität hängt davon ab, wie weit entwickelt das Selbst des Daseins auf den weiteren Entwicklungsebenen die dort vorherrschenden grundlegenden Gegensätze überwunden hat. Ist das teleologische Selbst noch nicht weit genug entwickelt, dann ist das Dasein von der Angst beherrscht, sich selbst oder den Kontakt zu anderen zu verlieren, ist das intentionale Selbst noch unterentwickelt, dann leidet das Dasein unter Einsamkeit oder darunter, sich selbst verloren zu haben, und bei Schwierigkeiten auf der repräsentationalen Entwicklungsebene hat das Dasein Scham- oder Schuldgefühle, zu viel oder zu wenig bei sich oder im Kontakt mit anderen zu sein. Wenn alle grundlegenden Gegensätze überwunden sind, dann hat das Dasein auch den Gegensatz immanent-transzendent überwunden.
Hajime Tanabe: Logik der Spezies, Tat-als-Wende und absolute Dialektik, und wie daraus die Psycho-Logik der Liebe wird
[Bearbeiten]Tanabe radikalisierte Hegels Dialektik zur absoluten Dialektik (absolute Dialektik bedeutet, dass der Dialektik selbst etwas Dialektisches zugrunde liegt, und nichts anderes wie z.B. der Geist bei Hegel, die Materie bei Marx, die Seele bei Platon oder das absolute Nichts bei Nishida) als Logik der Spezies mit Betonung der Selbstentfremdung und der Tat-als-Wende. Seiner Meinung nach muss die Dialektik auf ein ewiges System, wie Nishida es durch seine Einführung des absoluten Nichts als reine Erfahrung getan hat, verzichten und am Standpunkt der Vermittlung durch die Tat festhalten (Tanabe, Versuch, die Bedeutung der Logik der Spezies zu klären, 2011, S. 143). An der Philosophie Nishidas, an dessen Philosophie des absoluten Nichts, kritisiert Tanabe daher, dass dies eine Ontologie der Wirklichkeit sei, Ontologie hier verstanden als statische Substanz-Ontologie, die es so nicht geben kann (ebenda, Seite 147), denn Tat und Sein stehen sich insofern negativ gegenüber, als dass die Tat eine Veränderung des Seins bewirkt, d.h. die Wirklichkeit kann kein statisches Sein irgendeiner Substanz sein, auch wenn dieses Sein noch so ausdruckshaft ist. Wenn dann bei Nishida die Tat durch das absolute Nichts vermittelt wird, wird dieses Nichts unmittelbar vorausgesetzt und mit einem Inhalt mystischer Intuition in Sein verwandelt, sodass es die Tat nicht zustande kommen lässt. Die Tat wird nur gedacht „im Ausdrucksinhalt, der ihr Ergebnis ist“ (ebenda, Seite 148). Dies ist auch Tanabes Kritik an Heidegger, bei dem „die Tat bei der Möglichkeit der Entscheidung stehenbleibt“ (ebenda). Was die Kritik an Heidegger betrifft, so würde ich hier etwas anders argumentieren: Heidegger hält die Echtheit des Verstehens mit der Eigentlichkeit schon für erfasst, was nur dann gerechtfertigt ist, wenn gefordert wird, dass das Dasein die Konsequenzen oder Auswirkungen seines Ausdrucks annimmt, sich also im Austausch mit anderen befindet. Weil er aber beim Ausdruck bzw. bei der Auslegung das Moment des Austauschs mit anderen in einer Gemeinschaft weglässt, ist die Eigentlichkeit seines Verstehens nicht echt. Dadurch also, dass er insgesamt nur die Zeitlichkeit ohne die Räumlichkeit, die Basis des Austauschs, als den Sinn des Seins sieht, ein Manko, welches ich schon früher kritisiert habe (Kolb, 2011), lässt er tatsächlich die echte Tat, die Tat-als-Wende, in der Umsetzung der Zeitlichkeit statt der ganzen Prozesshaftigkeit aufgrund eines fehlenden echten Verstehens nicht zustande kommen, denn nur echtes Verstehen kann zu einer Tat-als-Wende führen. Die Kritik an Nishida kann ich insofern nachvollziehen, als dass er mit der Ausdruckshaftigkeit des Seins den Gegensatz räumlich-zeitlich nicht überwindet und seine Einführung des absoluten Nichts und der Logik des Ortes eher wie ein hilfloser Versuch anmutet, dieses Manko zu überdecken. Das absolute Nichts wird über die reine Erfahrung gewonnen, aber Erfahrungen ergeben sich nicht abstrakt, sondern nur durch Taten, und Nishida führt keine solchen auf, wodurch die reine Erfahrung entsteht. Zwar ist im Ausdruck die Tat insofern enthalten, als dass z.B. der Ausdruck eines Seienden, der sich etwas vornimmt, aber nicht tut, der etwas verspricht, aber nicht hält, der Ausdruck eines Heuchlers oder Schaumschlägers ist, während der Ausdruck eines Seienden, der tut, was er sagt, und der Versprechen hält, entsprechend der Ausdruck eines zuverlässigen Menschen ist. Insofern wird also die Tat nicht nur gedacht, sondern auch ausgedrückt. Sie wird aber nicht unmittelbar getan. Eine unmittelbar getane Tat wird erst hinterher zum Ausdruck. Die Planung der Tat soll dann auf der reinen Erfahrung beruhen, dem absoluten Nichts, aber deren Reinheit bzw. dessen Absolutheit stellt sich erst hinterher heraus, und zwar nicht schon beim Ausdruck, sondern erst bei dessen Wirkung, die allerdings erst noch wahrgenommen und bewertet werden muss. Die Tat wird im Ausdruck zwar eingeräumt, aber die Zeit zwischen Tat und Auswertung bleibt unberücksichtigt. Insofern gibt es also immer noch den Gegensatz räumlich-zeitlich zwischen Tat und Auswertung. Betrachtet man dagegen die von mir so aufgezeigte Liebe als echtes und unmittelbares Verstehen des Worumwillens von jeglichem Seienden, so ist in der Unmittelbarkeit die Zeitlichkeit und in der Echtheit, die keinem Zweifel mehr Raum bietet, die Räumlichkeit enthalten und damit insgesamt der Gegensatz räumlich-zeitlich überwunden. Da mit der Überwindung dieses Gegensatzes auch alle anderen vier grundlegenden Widersprüchlichkeiten überwunden sind, ist insbesondere die Widersprüchlichkeit der Selbstbestimmung aufgehoben und damit die Frage geklärt, dass die Tat zustande kommt. Sie kommt sogar in ihrer Selbstwidersprüchlichkeit als dynamisch und statisch, objektiv und subjektiv, kontinuierlich und diskontinuierlich, linear und zirkulär sowie räumlich und zeitlich zustande. So betrachtet beruht jedes echte und unmittelbare Verstehen auf Taten, und jede Tat führt zu immer mehr echtem und unmittelbarem Verstehen, wenn sie entsprechend ausgewertet wird. Wenn eine Tat einen Gegensatz verschärft, dann kommt es auf deren Auswertung an und eine eventuell daraus folgende Tat, die eine Tat-als-Wende bzw. eine Wiedergutmachung sein kann oder nicht, je nachdem ob sie die Selbstentfremdung bzw. die Abkehr des Daseins von ihm selbst fördert oder als Umkehr Gegensätze vermindert oder gar überwindet. Je nachdem, ob eine Tat im Gesamtzusammenhang zur Verschärfung eines Gegensatzes oder zu seiner Überwindung beiträgt, ist sie in der oszillierenden Entwicklung des Daseins eine Wende des Daseins zu ihm selbst hin oder von ihm selbst weg. Dies ist die Besonderheit der Tat, und was Tanabe als Spezies bezeichnet, ist in meiner Terminologie der Modus des Daseins, wenn es von der Vorstellung eines bestimmten Seinkönnens fasziniert dieses in einer Gemeinschaft und in der Welt auf seine Weise umsetzt. Je nach Bewertung des Ergebnisses kann das Dasein dann herausfinden, wie echt sein Verstehen war und wodurch es noch vermittelt wurde, welche Identifikation noch mit im Spiel war. Ohne Auswertung gibt es zwar keine Wiedergutmachung und Taten bleiben zufällig, aber letztlich werden Gegensätze nur durch Taten überwunden. Über den Modus der Spezies bekommt die oszillierende Entwicklung des Daseins hin zu echtem und unmittelbaren Verstehen, also hin zur Liebe, ihren spezifischen Charakter, und Liebe ist somit weder bloße Fantasie und noch ein bloßer Begriff.
In gewisser Weise ergänzen sich Heidegger und Nishida: Bei Heidegger ist mit dem Gewissensruf die Aufforderung zur Tat gegeben, es fehlt aber hinterher die Auskunft, was die Tat erbracht hat, welche Wirkung sie hat, welchen Eindruck sie als Ausdruck des Daseins gemacht hat, wie echt sie ist, während bei Nishida dies alles berücksichtigt wird, aber bei ihm die klare Aufforderung zur Tat fehlt. Bei meinem Ansatz (Kolb, 2011) ist beides enthalten. Wenn es nicht nur die Aufforderung zur Tat, sondern auch noch eine Nachkontrolle gibt, dann ist die Tat sozusagen umzingelt. Mehr kann Philosophie nicht leisten, handeln muss jeder selbst.
Die in der oben aufgezeigten Liebe enthaltene Selbstliebe entspricht übrigens dem Begriff des Selbstbewusstseins bei Tanabe (Tanabe, Versuch, die Bedeutung der Logik der Spezies zu klären, 2011, S. 144). Unmittelbares und echtes Verstehen bedeutet nicht nur Überwindung von Räumlichkeit und Zeitlichkeit, sondern auch die Negation allen Verstehens, welches durch Täuschung, durch andere Formen von Wissen oder durch irgendetwas vermittelt wird. Damit ist Selbstliebe bzw. Tanabes Selbstbewusstsein (der Kursivdruck soll darauf hinweisen, dass hier Selbstbewusstsein im Sinne von Tanabe gemeint ist) die Selbstverneinung im Für-Sich, und das Gegenteil, die Selbstentfremdung, ist die Selbstverneinung im An-Sich, sodass es sich bei der Selbstliebe „schon nicht mehr um Selbstverneinung und nicht mehr um Selbstwiderspruch [handelt]. Vielmehr stellt das die Rückkehr zu sich selbst dar. Weil aber die Rückkehr zu sich selbst die Negation der Selbstentfremdung bedeutet, muss sie die absolute Negation als solche sein.“ (ebenda, Seite 151) Das entspricht meiner Feststellung hier im ersten Kapitel, dass die widersprüchliche Entwicklung des Daseins zur Liebe die absolute Negation ist. Damit ist Liebe als Selbst- und Fremdliebe einerseits „Selbstverneinung-in-eins-mit-absoluter-Verneinung“ (ebenda, Seite 152) und andererseits Selbstbejahung-in-eins-mit-absoluter-Bejahung. Von der Selbstentfremdung zur Selbstliebe gelangt das Dasein nur, wenn es es selbst bleibt und sich dabei ändert, und dies kann nach Tanabe nur „durch die Tat verwirklicht [werden]“ (ebenda), also in meiner Terminologie durch das Umsetzen des Seinkönnens des Daseins. Wie bei Tanabe ist die Entwicklung der Selbstliebe und damit auch der Liebe die Rückkehr zum Absoluten oder die Negation der Selbstentfremdung bzw. die absolute Negation, was nicht als solches wahrgenommen, sondern nur durch Unmittelbarkeit und Echtheit des Verstehens bezeugt werden kann, wobei Tanabe schreibt: „Nur Glauben und Handeln bezeugen sie.“ (ebenda, Seite 153) Ich erkläre mir das so, dass die Echtheit nicht zeitlich, nur räumlich unmittelbar ist – denn echt ist unabdingbar echt, da kommt ausdrucksmäßig nichts dazu oder dazwischen –, und erst dann zeitlich unmittelbar ist, wenn alle Gegensätze überwunden sind bzw. wenn das Dasein sich in seinem Verstehen gar nicht mehr täuscht. Insofern ist »echt und unmittelbar« ein Gegensatz, der nur durch die Überwindung der Widersprüchlichkeit von räumlich-zeitlich aufgehoben werden kann. Damit ergibt sich, dass das Absolute, welches das Echte vermittelt, nicht unmittelbar geschaut werden kann, sondern sich selbst durch Negation vermittelt, und damit ist auch klar, dass das Absolute eine Nichtigkeit ist, also „durch und durch Nichts ist, […] dem es nicht erlaubt ist, Sein zu sein.“ (ebenda, Seite 140) Denn wenn dem so wäre, dann würde dies Fanatismus und Versessenheit implizieren. Echtheit muss in der Welt immer erst bezeugt sein. Das Echte wird also nur durch die absolute Negation vermittelt, d.h. es gibt keine Sicherheit, dass etwas echt ist, es gibt keinen festen Punkt, denn sonst könnte man, wie Archimedes meint, die Welt aus den Angeln heben. Die richtigen Taten führen nun zu echtem und unmittelbarem Verstehen, also zur Liebe, wobei „richtig“ genauso wie „echt“ nur durch die absolute Negation vermittelt werden kann, und „das absolute Nichts [ist] nichts anderes als die Wirksamkeit der absoluten Negation“ (ebenda, Seite 141). Wenn das Dasein sich nun zur Liebe entwickeln will, dann weiß es natürlich noch nicht, welches die richtigen Taten sind. Es muss sich dem also in Zirkeln annähern, d.h. es muss erst etwas tun, wovon es glaubt, dass es richtig ist, um sich danach zu überzeugen, ob es richtig war. Durch Glauben, Handeln und Bezeugen (im Sinne von sich davon überzeugen, ob der Glaube stimmte, und dies auch anderen zeigen) geht diese Entwicklung voran, und so ist das Zitat von Tanabe zu verstehen, dass Glauben und Handeln die Negation bezeugen. Wenn man das Glauben als eine Art Vorverständnis begreift, welches aus Vor-Habe, Vor-Sicht und Vor-Griff besteht (Heidegger, Sein und Zeit, 2006, S. 153), dann hat man etwas Ähnliches wie den hermeneutischen Zirkel, wobei hier im Unterschied zu Heidegger anstelle der Auslegung das Handeln und die Bezeugung verwendet werden. Dabei entspricht die Bezeugung dem Austausch, um den ich den hermeneutischen Zirkel in der Gemeinschaft erweitert habe (Kolb, 2011). Die Liebe ist erst dann erreicht, wenn der Gegensatz Echtheit und Unmittelbarkeit – das ist nur ein anderer Aspekt des Gegensatzes räumlich-zeitlich – überwunden ist und das Verständnis echt und unmittelbar ist.
Bei mir war nun das immer echter und unmittelbarer werdende Verstehen des Worumwillens des Daseins das, was zur wahren Beziehung des Daseins zum Sein überhaupt führt (ebenda), also zur wahren Beziehung zum Sein und zum Nichts (siehe oben in Kapitel 1), insgesamt also zur wahren Beziehung des Daseins zum Absoluten. Damit ist die wegen der absoluten Negation notwendigerweise oszillierende Entwicklung zur Liebe der Weg zum Absoluten, also Zugang und daher zugleich Selbstäußerung des Absoluten nach Hegels Phänomenologie des Geistes (Hegel, 1988). Was Tanabe als „Bewegtheit der Geschichte“ im Gegensatz zur „ruhige[n] Einheit des Absoluten“ bezeichnet (Tanabe, Versuch, die Bedeutung der Logik der Spezies zu klären, 2011, S. 153), ist bei mir die durch das Umsetzen seines Seinkönnens vorangetriebene oszillierende Entwicklung aller daseinsmäßig Seienden, auch aller Gemeinschaften daseinsmäßig Seiender, zwischen den beiden Richtungen auf Ruhe und Kontrolle einerseits und andererseits auf Liebe zu, also diese Bewegtheit im Gegensatz zu Liebe und Erfüllung als eigentlichem Ziel der Entwicklung der Ergriffenheit und Erwartung (Kolb, 2011). Nur die oszillierende Entwicklung der Selbstliebe, die zugleich auch die Fremdliebe und damit die Liebe überhaupt ist, vereinigt die Selbstentfremdung und die Rückkehr zum Selbst. Daher kann nur die aufgrund der absoluten Negation oszillierende Entwicklung zur Liebe die oszillierende Entwicklung aller daseinsmäßig Seienden, nämlich die Bewegtheit der Geschichte, und die Erfüllung, die ruhige Einheit des Absoluten, vermitteln und vereinigen.
Den Modus des Daseins, welcher der Bewegung der Selbstentfremdung zugrunde liegt, nennt Tanabe Spezies, und diesem Modus liegt die Tat zugrunde. Die Bewegung der Selbstentfremdung entspricht der Materie, die somit „nichts anderes als die Selbstentfremdung des Absoluten [ist]. Der Aspekt seiner Rückkehr zu sich selbst ist der Geist. Deswegen ist die Materie […] nicht die Selbstentäußerung des Geistes, wie Hegel dachte“ (Tanabe, Versuch, die Bedeutung der Logik der Spezies zu klären, 2011, S. 155). Damit schlägt Tanabe einen Weg zwischen Idealismus und Materialismus ein: weder Geist noch Materie sind absolut, sie „sind beide nichts anderes als Momente der absoluten Vermittlung“ (ebenda, Seite 156), die der Spezies als Tat zugrunde liegt. Diese von Tanabe so genannte absolute Dialektik bringt idealistische und materialistische Dialektik durch Negation zur Synthese. Dies ist die Logik der Spezies. In meiner Terminologie (Kolb, 2011) stellt sich das Ganze folgendermaßen dar: der Entwicklungsprozess des in die Welt geworfenen Daseins ist wesenhaft Ergriffenheit, Erwartung und Täuschung. Bei der Umsetzung dieses Prozesses oszilliert (ebenda) die Entwicklung des Daseins richtungsmäßig zwischen den beiden Polen Friedhofs-Ruhe inklusive Erwartung, was dem Moment der Selbstentfremdung beim Modus der Spezies bei Tanabe entspricht, und Liebe inklusive Erfüllung, was bei Tanabe dem anderen Moment Selbstbewusstsein der Spezies oder als Richtung der Rückkehr bzw. Umkehr zum Selbst entspricht. Die Oszillation ist notwendig, damit das Dasein Erfahrungen macht, durch die sich ein immer echteres und unmittelbareres Verständnis seines Worumwillens entwickeln und immer weiter vervollkommnen kann. Tanabe drückt diese Notwendigkeit so aus: „Die Tat lässt sozusagen als Selbstbewusstsein der Materie am Für-Sich den Geist zustande kommen.“ (Tanabe, Versuch, die Bedeutung der Logik der Spezies zu klären, 2011, S. 156) Durch eine entsprechende Auswertung der Tat versteht das Dasein als Individuum sich selbst, d.h. die Tat lässt Verständnis bzw. Geist zustande kommen. Bei der Entfremdung, also bei Unverständnis, wenn das Dasein eine Enttäuschung nicht begreift oder begreifen will und sich so von sich selbst abkehrt und an einer Täuschung festhält, stagniert die Überwindung der im ersten Kapitel aufgeführten Gegensätze, und schon überwundene Widersprüche mit seiner Umwelt können erneut aufbrechen. Die Abkehr von sich selbst bzw. die Selbstentfremdung bringt Spaltungen hervor. Da die Selbstentfremdung selbst schon einen Gegensatz darstellt, haben wir Gegensätze auf zwei Ebenen. Genau das bezeichnet Tanabe als das Wesen der Spezies (ebenda, Seite 162). Aufgrund der Selbstentfremdung können die zusätzlichen Spaltungen nicht überwunden werden, und es kann somit keine Einheit entstehen. Auch eine entsprechende Gemeinschaft als Spezies im Zustand der Entfremdung ist in sich zerstritten, oder es herrscht eine Friedhofsruhe. Insofern ist das Dasein als Spezies einerseits Objekt des Geistes und eingeladen, dessen Vorstellung zur Überwindung der Widersprüche der Materie umzusetzen, weil es sich selbst noch fremd oder entfremdet ist, andererseits ist es tätiges Subjekt mit der Tat-als-Wende als Substrat und damit im Kontakt mit seiner Umwelt. Das sind die beiden Ebenen der Spezies. Das Gegenstück zur Spezies bezeichnet Tanabe als Genus. Das Dasein als das Allgemeine, welches ja immer auch ganz es selbst ist, ist so im Modus des Genus. Das Dasein oder jede Gemeinschaft ist also Spezies und Genus, besonders und allgemein. In der Bewegung der Rückkehr zu sich selbst herrscht entsprechend eine zweischichtige Einheit: zum einen ist das Dasein bzw. die Gemeinschaft sich selbst zugewandt, was man als „innere“ Einheit oder Einheitlichkeit bezeichnen kann (ebenda, Seite 164), es bewertet für sich einheitlich mit Begeisterung die Situation, und zum andern werden im Umsetzen des Seinkönnens nach und nach alle Spaltungen mit seiner Umwelt, d.h. die grundlegenden Widersprüche wie in Kapitel 1 dargestellt, überwunden, was das Dasein als Genus über seine Sinne und so auch nach „außen“ (ebenda) eine Einheit oder Einheitlichkeit mit seiner Umwelt realisiert, also Liebe und Erfüllung erreicht. Es schließt sich mit anderen zusammen, man hilft und unterstützt sich gegenseitig, und es verstärkt sich oder es entsteht eine Wir-Gefühl. Beide Arten der Einheit können nur gemeinsam erreicht werden, so wie auch Selbst- und Fremdliebe einander bedingen (Kolb, 2011). Wenn das Dasein seine Individualität, die ihm in der Geworfenheit übereignet wurde, und auch die Individualität aller anderen daseinsmäßig Seienden als Unverfügbarkeit und Würde akzeptiert (ebenda) und damit das Worumwillen von sich und allen anderen entsprechend immer echter und unmittelbarer versteht, wenn also das Dasein sich zur Liebe entwickelt und damit beim Umsetzen dieser Entwicklung tätig ist, Tanabe nennt dies „Wende-als-Tat, in der die Selbstverneinung mit der absoluten Negation in eins geht“ (Tanabe, Versuch, die Bedeutung der Logik der Spezies zu klären, 2011, S. 165 f.), wenn das Dasein also von der Abkehr von sich selbst (Selbstentfremdung, Selbstverneinung mit Materie als deren Moment) umkehrt, sich also in und durch die Tat ihm selbst und anderen zuwendet (Verwirklichung der Einheit von Selbstverneinung und absoluter Negation, Vereinigung von Materie und Geist), dann wendet sich das Dasein als Genus der Bejahung der absoluten Negation zu. Insofern ist das Dasein als Einzelnes im Modus des Individuums, d.h. im Akzeptieren bzw. Bejahen oder Ablehnen bzw. Verneinen der Individualität von sich und anderen, „der Vermittler jener Wende, in der die Spezies-als-der-absolute-Gegensatz sich in das Genus-als-die-absolute-Einheit wendet“ (ebenda, Seite 166 f.). Auf der Ebene der Befindlichkeit ist es die Abscheu, die zur Tat und damit zur Vermittlung jener Wende führt, denn weder die Unzulänglichkeiten noch das Schuldigsein sind abscheulich, sondern abscheulich ist nur, wenn das Dasein nichts dagegen tut (Kolb, 2011). Damit ist auch die Handlung des Daseins als materielles Subjekt nichts Abscheuliches an sich, abscheulich ist nur, wenn das Dasein sich dem materiellen Ergebnis der Handlung überlässt und nichts dafür tut, die Würde von sich und allen anderen immer echter und unmittelbarer zu verstehen und so das Geistige immer mehr zu bejahen. Mit der Würde bejaht sich das Dasein als geistiges Subjekt und entsprechend auch alle anderen. Als materielles Subjekt führt das Dasein tätig jene Wende herbei, es lässt sich immer mehr auf andere ein und erhält als Genus immer mehr Auskunft, was der Ekstase der Räumlichkeit bzw. der Auskunft bei der Prozesshaftigkeit des Daseins entspricht (ebenda), als geistiges Subjekt dagegen ist ihm diese Ekstase nicht zugänglich, sondern nur die drei zeitlichen Ekstasen der Prozesshaftigkeit, die ich als technisch bezeichnet habe, weil die in diesen Ekstasen lösbaren Aufgaben auch von entsprechend sorgfältig programmierten Computern bewältigt werden könnten (ebenda). Damit ist die Widersprüchlichkeit geistig-materiell dasselbe wie der Gegensatz zeitlich-räumlich. „Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach“, das heißt sich von der Zeitlichkeit her ein Bild seiner Unzulänglichkeiten zu machen und sich vorzunehmen, sich damit tätig auseinander zu setzen, zeigt zwar die geistige Bereitschaft, bleibt aber noch so lange im Bereich der Schwäche des im Materiellen verhafteten „Fleisches“, bis das Dasein tatsächlich die materiellen Gegensätze und Widersprüchlichkeiten im Räumlichen handelnd überwindet. Dem Gegensatz zeitlich-räumlich bzw. geistig-materiell, der insofern doppelschichtig ist, weil das Dasein neben seinen Unzulänglichkeiten auch noch widerständig in ihnen verhaftet ist, entspricht die Befindlichkeit der Abscheu, die den Gegensatz geistig-materiell vermittelt bzw. befindlich markiert und damit bewertet und zur Tat, d.h. zu dessen Überwindung und zur Überwindung der „Schwäche des Fleisches“, drängt. Die Befindlichkeit des Daseins erweist sich somit einerseits in der Bewertung als Moment des nach „innerer“ Einheit strebenden moralischen Gewissens des Genus und andererseits in diesem Drängen als Moment der Individualität des Individuums. Das andere gleichursprüngliche Moment der Individualität ist das befindliche Verstehen. Wenn man die Befindlichkeit als die Psyche bezeichnet, dann drängt die Psyche zur Vermittlung zwischen Geist (zeitlich) und Materie (räumlich), und dieser Gegensatz schließt alle anderen Gegensätze ein. Diese Widersprüchlichkeit kann nur in der Liebe, also durch die Rückkehr zu sich selbst, überwunden werden. Dann ist das Dasein zum Absoluten zurückgekehrt, denn dann gibt es keine Gegensätze oder Widersprüchlichkeiten mehr. Ergänzend zu Tanabe, der behauptet, das Individuum müsse das geistige Subjekt sein, betrachte ich das Individuum außerdem auch als Objekt der Psyche, da die Psyche zur Tat drängt, indem sie das Individuum auffordert zu entwerfen und dann die Spezies drängt, nach dem Entwurf zu handeln. Somit ist das Individuum in eins damit, dass es Subjekt ist, auch Objekt. Das ist die Zweischichtigkeit des Individuums. Außerdem ist dem Dasein durch seine Psyche die Bürde seiner Geworfenheit und zusammen mit dem Geist insgesamt seine Individualität als Bürde und Würde (als geistiges Subjekt) erschlossen, und je mehr es dies befindlich versteht, umso mehr erkennt es auch seine Individualität und damit seinen Modus als Individuum. Wenn nun die Materie die Selbstentfremdung des Absoluten und der Geist der Aspekt seiner Rückkehr zu sich selbst ist, dann ist die Psyche die Dynamik des Absoluten, das Kräftespiel zwischen Geist und Materie, welches durch die Spezies vermittelt wird, sodass wir mit der Psyche ein drittes Moment der absoluten Negation haben neben Materie und Geist. Die um das Moment der Psyche erweiterte absolute Dialektik von Tanabe könnte man daher auch Psychologik statt Logik der Spezies nennen, da das Dasein als Spezies die Kraft zur Tat von der Psyche bekommt. Den drei Modi Genus, Spezies und Individuum stehen die drei Momente der absoluten Negation gegenüber, nämlich Geist, Psyche und Materie (und zwar in dieser Reihenfolge). Der Geist als Aspekt der Rückkehr des absoluten Nichts bzw. der Liebe zu sich selbst strebt danach, alle Gegensätze zu überwinden, was das Dasein als Genus realisieren kann, so dass sich Geist und Genus gegenüberstehen; die Psyche als die Dynamik des absoluten Nichts bzw. der Liebe drängt zur Tat-als-Wende, wozu das Dasein als Spezies in der Lage ist, so dass sich Psyche und Spezies gegenüberstehen; die Materie als die Selbstentfremdung des absoluten Nichts bzw. der Liebe umfasst insbesondere die Widersprüchlichkeit der Selbstbestimmung und auch den Gegensatz von Würde und Bürde und damit die Individualität des Daseins, so dass sich Materie und Individuum gegenüberstehen.
Als Individuum ist das Dasein ganz im Für-Sich, ganz auf sich allein gestellt, denn die Bürde seiner Befindlichkeit als Objekt der Psyche kann ihm niemand abnehmen („Jeder trage sein eigenes Kreuz“), und seine Würde als Entwerfender, als geistiges Subjekt, kann ihm auch niemand streitig machen („Die Gedanken sind frei“). Als Individuum bestimmt sich das Dasein ganz und gar selbst, es ist ganz und gar ein Einzelnes, entwerfende Geworfenheit. Als Spezies ist das Dasein ganz im An-Sich, es kommt aus sich heraus und tritt als etwas Besonderes mit seiner Umwelt in Kontakt, denn mit seiner Absicht, als Objekt des Geistes eine bestimmte Möglichkeit seines Seinkönnens durch die Tat umzusetzen, trägt es etwas Besonderes an seine Umwelt heran, und in der tatsächlichen Umsetzung als materielles Subjekt entstehen Wechselwirkungen, entsteht Kontakt. War der Entwurf seines Seinkönnens noch ein Teil von ihm selbst, so ist das, was im Kontakt mit seiner Umwelt entsteht dem Dasein fremd, die Tat erzeugt also die Bewegung der Selbstentfremdung. Als Spezies bestimmt das Dasein ganz und gar seine Umwelt, ist auf Verstehen rückführbar handelnd. Als Genus ist das Dasein in einer Bewegung vom Fremden zurück zu sich selbst, indem es das Fremde, das Ergebnis des Kontakts, mit seinen Sinnen als Objekt der Materie wahrnimmt, um es dann gefühlsmäßig als psychisches Subjekt meist zusammen mit anderen zu bewerten und so als die daraus resultierende Befindlichkeit wieder zu einem Teil seines Selbst zu machen. Damit ist das Dasein als Genus sowohl im An-Sich als auch im Für-Sich, also im An-und-Für-Sich. Als Genus lässt sich das Dasein ganz und gar von seiner Umwelt bestimmen und ist damit ganz und gar ein Allgemeines, es ist im ausdrücklich-eindrücklich Sich-Aneignen. Nach einer entsprechenden Tat als Spezies kann das Dasein als Genus die Überwindung von Gegensätzlichkeiten der Materie realisieren.
Da die von Tanabe so konzipierte absolute Dialektik durch die Tat eine ständige Auseinandersetzung mit der Spezies als dem materiellen Subjekt ist, nennt er „diese Dialektik notwendigerweise Logik der Spezies“ (Tanabe, Versuch, die Bedeutung der Logik der Spezies zu klären, 2011, S. 169). In dem hegelschen Schema „Allgemeines, Besonderes und Einzelnes“, welches bei Tanabe Genus, Spezies und Individuum entspricht, möchte ich das Ganze einmal so beschreiben: wenn das Dasein in die Welt geworfen wird, ist ihm als Individuum von seiner Psyche, von seiner Befindlichkeit her seine Individualität und damit seine Unverfügbarkeit übereignet (Heidegger, Sein und Zeit, 2006, S. Seite 42, Randbemerkung d aus dem Handexemplar des Autors), die es teilweise als Last empfindet, die ihm teilweise auch Freude bereiten und die es mit der Zeit von der Psyche her als Bürde und vom Geist her als Würde befindlich verstehen, begreifen und sich auch ausdrücklich durch die Tat aneignen kann, zu der die Psyche drängt. Zugleich mit der Individualität ist ihm auch die Sterblichkeit gegeben (Kolb, 2011) (dasselbe drückt auch Tanabe aus, wenn er auf Seite 169 schreibt: „… das Individuum [entsteht] mit der Einheit des Ganzen zusammen“ (Tanabe, Versuch, die Bedeutung der Logik der Spezies zu klären, 2011)), das heißt im Tod wird es ein allgemein Gewesenes, ein gewesenes Genus, und es gibt automatisch seine Individualität wieder zurück, da ihm nun die materielle Basis und die Möglichkeit der Tat als Spezies fehlt. Zwischen diesen beiden Ereignissen des Anfangs und des Endes seines In-der-Welt-Seins ist das Dasein etwas Spezielles (Besonderes), Generelles (Allgemeines) und Individuelles (Einzelnes), dessen Wesen Ergriffenheit, Erwartung und Täuschung ist (Kolb, 2011). Wenn das Dasein eine Situation, die es durch eigenes Handeln oder Nicht-Handeln mitgestaltet hat, was bei jeder Situation der Fall ist, in der es sich befindet, von der Psyche her bewertet als psychisches Subjekt, und wenn es dann als Objekt der Psyche zur Tat bzw. zu eigenem Handeln oder Nicht-Handeln gedrängt wird, dann ist dies Ergriffenheit und etwas Spezielles, denn vom Dasein wird als Spezies eine Tat gefordert. Ergriffenheit ist also spezifisch und psychisch. Wenn das Dasein aufgrund dieser Ergriffenheit als geistiges Subjekt durch befindliches Verstehen ein Seinkönnen entwirft und als Objekt des Geistes vermittelst einer im Seinkönnen enthaltenen Vorstellung einer entsprechend besser bewerteten Situation zur Tat bzw. zu eigenem Handeln oder Nicht-Handeln eingeladen ist, dann beinhaltet dies Erwartung und etwas Generelles, denn die bessere Bewertung ist allgemeingültig, wird also von allen anderen in der Gemeinschaft geteilt, und wird daher vom Dasein als Genus vorgenommen. Erwartung ist also generell und geistig. Wenn das Dasein aufgrund dieser Erwartung als materielles Subjekt handelt oder nicht handelt und dann als Objekt der Materie das entsprechende Ergebnis nicht beachtet, leugnet oder verfälscht, dann hält das Dasein an einer Täuschung fest und an etwas Individuellem, denn dieser Vorgang hat mit der Selbstbestimmung des Daseins als Individuum zu tun. Täuschung ist also individuell und materiell. Damit entspricht das Wesen des In-der-Welt-Seins, nämlich Ergriffenheit, Erwartung und Enttäuschung, den drei Momenten der absoluten Negation, nämlich Psyche, Geist und Materie, das heißt das Wesen des In-der-Welt-Seins ist die absolute Negation. Bei der Auswertung der Tat kann das Dasein als Genus sich dadurch von sich selbst, aber auch von den anderen abkehren, dass es an einer Täuschung festhält, oder es kann bei der Auswertung der Tat die Täuschung loslassen und sich auf den Weg machen, zu sich selbst zu kommen und sich u.U. mit anderen zusammenzuschließen, um zu befriedigenderen Ergebnissen zu kommen. Dabei bekommt es teilweise auch unaufgefordert Hilfe von anderen, die zusammen mit ihm Mitglieder in derselben Gemeinschaft sind, insbesondere in den ersten Jahren eine Art Starthilfe von seiner Mutter, durch die es sein Selbst und seine Einzigartigkeit befindlich verstehen, begreifen und sich durch die Tat aneignen kann, also überhaupt erst einmal anfängt, zu sich selbst zu kommen. Durch seine Taten kann das Dasein als Spezies seiner Entwicklung immer wieder eine Wende geben, aber als Genus, wenn es an Täuschungen (Materie) festhält und Enttäuschungen bzw. enttäuschte Erwartungen (Psyche und Geist) negiert, also bei der Abkehr von ihm selbst und anderen, torpediert es die Umkehr zu sich selbst (auch als Gemeinschaftswesen) und entwickelt sich in Richtung von Ruhe und Kontrolle, d.h. Abhängigkeit und Selbstentfremdung, wenn es dagegen als Genus alle Enttäuschungen (Psyche und Geist) bejaht, Täuschungen loslässt und in diesem Sinne die Materie verneint, um deren Widersprüchlichkeit zu überwinden, dann leitet das Dasein als Genus eine Umkehr zu sich selbst und zu anderen ein (es ist ja ein Gemeinschaftswesen), eine Wende in Richtung Liebe und Erfüllung, die durch die Auswertung der Ergebnisse neuerlicher Taten immer wieder bestätigt werden muss. Dabei wird aus der Abhängigkeit ein Begreifen der gegenseitigen Angewiesenheit innerhalb seiner Gemeinschaft und aus der Selbstentfremdung immer mehr ein Selbstbewusstsein. Wenn das Dasein als Genus also entsprechend mitwirkt, dann hat das Besondere, also die Spezies, durch die Tat den Platz der Vermittlung zwischen Individuum (das Einzelne) und Genus (das Allgemeine, das Gemeinschaftswesen), und die Dialektik betrifft das Oszillieren der Entwicklung zwischen Abkehr von und Umkehr zu sich selbst. Gleichzeitig vermitteln aber die beiden Modi Individuum und Genus auch den Modus der Spezies, denn die Besonderheit des Daseins mit seiner oszillierenden Entwicklung ist dann gegeben, wenn das Dasein als Individuum und Genus ganz zu sich selbst gelangen will. Beim Festhalten oder Loslassen von Täuschungen bzw. Annehmen oder Leugnen von Enttäuschungen wird die Bedeutung des Daseins als Genus erkennbar, denn dabei entscheidet es sich, ob es sich mit anderen zusammenschließt oder sich absondert, die eigentliche Sünde, was ja etymologisch mit „sondern“ zusammenhängt.
Als Modifikation von Tanabe möchte ich anstelle von Rückkehr zu sich selbst, was nur für das absolute Nichts bzw. die Liebe passt, für das Dasein besser den Ausdruck Umkehr zu sich selbst verwenden, denn gerade die Entwicklung eines Kindes zeigt, dass es am Anfang noch gar nicht bei sich selbst ist, sondern sich erst zu sich selbst hin entwickelt. So wie der Fötus die biologische Evolution des Leiblichen nachzuvollziehen scheint, so durchläuft das Dasein bis etwa zu seinem vierten Lebensjahr, wenn seine so genannte soziale Geburt mit dem Erreichen der repräsentationalen Entwicklungsebene des Selbst verwirklicht ist, die Selbstentwicklung von allem Lebendigen, bis es über das Tierische hinaus beim Menschlichen angekommen ist. Aber selbst dann ist es noch lange nicht vollkommen bei sich selbst, sodass bis dahin keine Rede von einer Rückkehr sein kann. Allerdings findet bei dieser wie übrigens bei jeder lebendigen Entwicklung ein Hin und Her statt, sodass der Ausdruck Umkehr den Sachverhalt besser trifft.
Betrachtet man nun statt Individuum und Genus, die beide durch die Spezies vermittelt werden und gleichzeitig beide zusammen die Spezies vermitteln, Spezies und Genus, also die Besonderheit des Daseins, dass es sich von ihm selbst abkehren, aber auch wieder umkehren kann, und das Allgemeine des Daseins, dass es auch als Gemeinschaftswesen immer ganz es selbst ist, solange es ist, so vermittelt die Individualität des Individuums, nämlich seine Unverfügbarkeit als Objekt der Psyche und als geistiges Subjekt, zwischen Spezies und Genus, denn trotz der Selbstentfremdung kann das Dasein nicht willkürlich über sich wie über etwas Vorhandenes verfügen, das heißt bei allem ist es immer noch ein Gemeinschaftswesen und damit ein Genus, auch wenn es davon nichts wissen will. Andererseits bedeutet die Individualität des Individuums auch, dass es in der Tat die Freiheit hat und sich darauf befindlich versteht als geistiges Subjekt, sich von ihm selbst abzukehren. Somit vermittelt das Individuum Spezies und Genus. Gleichzeitig vermitteln aber die beiden Modi Spezies und Genus auch den Modus des Individuums, denn seine Würde bezieht das Dasein aus seinem Selbst als Gemeinschaftswesen, also dem Genus, und die Bürde zeigt sich ihm im Modus der Spezies, nämlich wenn es seine Mühe hat, sich entweder in der Abkehr bzw. in der Selbstentfremdung zu halten, da diese ihm erschlossen ist und sich immer wieder als solche meldet, oder zu sich selbst zu finden und in beiden Fällen sich selbst vom Befinden her zu tragen und zu ertragen.
Nehmen wir nun Individuum und Spezies, also die übereignete Bürde und Würde des Daseins als Objekt seiner Psyche sowie als geistiges Subjekt und seine Besonderheit, dass es sich von ihm selbst abkehren kann: trotz seiner Selbstentfremdung ist das Dasein als Genus immer noch ein Gemeinschaftswesen und sowohl Objekt seiner Psyche als auch geistiges Subjekt mit seiner Individualität, Bürde und Würde. Mit seiner ihm übereigneten Individualität ist das Dasein immer auch als Gemeinschaftswesen ganz es selbst mit seiner Befindlichkeit, die ihn seine übereignete Individualität als Belastung empfinden lässt, von der es sich abkehren kann und damit von ihm selbst, sodass seine Eigenart als Spezies erkennbar wird. Insgesamt vermittelt also auch das Genus Individuum und Spezies. Gleichzeitig vermitteln aber die beiden Modi Individuum und Spezies auch den Modus des Genus, denn die Individualität und Unverfügbarkeit des Daseins zusammen mit der Suche des Daseins im Modus der Spezies nach dem Unverfügbaren, nämlich dem Selbst als Gemeinschaftswesen, vermittelt den Modus des Genus. Insofern kann man tatsächlich von einer absoluten Vermittlung sprechen, als dass „jeder einzelne von den drei Modi […] die anderen beiden vermitteln [kann und auch …] umgekehrt zwei von ihnen den anderen einen vermitteln“ (Tanabe, Versuch, die Bedeutung der Logik der Spezies zu klären, 2011, S. 170), und die von Tanabe so bezeichnete absolute Dialektik bzw. die gerade aufgezeigte absolute Vermittlung „Logik der Spezies“ nennen, weil der Modus der Spezies als Vermittler einen besonders auserwählten Platz aufgrund seiner Möglichkeiten des Handelns und des Nicht-Handelns einnimmt. Für meine Begriffe fehlt hier noch das Moment der Psyche, sodass ich für die absolute Dialektik den Ausdruck „Psychologik der Spezies“ für besser halte.
Im folgenden Teil seines Aufsatzes (ebenda, Seite 171 – 174) setzt sich Tanabe mit der Dialektik als Logik der absoluten Vermittlung auseinander im Unterschied zur so genannten Identitätslogik und kommt ähnlich wie Heidegger dazu, dass Zirkelschlüsse notwendig sind, da es sie auch im Selbstbewusstsein gibt. Das ist ähnlich wie Heideggers Argumentation, dass das Dasein immer schon ein gewisses Vorverständnis vom Sein hat, sodass sich hieraus nicht nur der hermeneutische Zirkel des Verstehens ergibt, sondern dass auch die existenziale Analytik dem nach dem Sein befragten Dasein in dessen Zirkelschlüssen folgen muss, sodass eine „Konsequenzlogik“ unangemessen ist (Heidegger, Sein und Zeit, 2006, S. 314) (Kolb, 2011). Diese Diskussion um Logik wird in Kapitel 4 und 5 noch weiter vertieft, in Kapitel 5 auch die Notwendigkeit von Zirkelschlüssen. Sowohl Tanabe als auch Heidegger geht es um das Absolute. Das Sein, nach dessen Sinn Heidegger fragt (Heidegger, Sein und Zeit, 2006), ist ja als Begriff „Sein“ „der allgemeinste und leerste Begriff“ (ebenda, Seite 2), und damit ist das Sein von Heidegger mit dem Absoluten bei Tanabe vergleichbar: Da es dafür keine Konzeptualisierung gibt, wir uns also davon kein Bild und keine Vorstellung machen können, weil „Sein“ der leerste Begriff ist, ist es die absolute Nichtigkeit oder in diesem Sinne das absolute Nichts. Heidegger geht dann phänomenologisch von den Erfahrungen des Daseins aus, nach denen er dieses befragt, da die Erfahrungen ein gewisses Vorverständnis vom Sein beinhalten. Darauf baut dann seine existenziale Analytik in hermeneutischen Zirkelschlüssen auf. Im Selbstbewusstsein sind auch die Erfahrungen des Daseins enthalten, aber Tanabe betont anstelle der Phänomene die Tat, da erst durch sie die Erfahrungen gemacht werden können, die zum Selbstbewusstsein führen. Dabei setzt sich Tanabe mit der Zirkularität des Handelns auseinander, die darin besteht, dass eine konkrete Tat des Daseins eine Reaktion in seiner Umwelt auslösen kann, die es dann bei weiteren Taten beachten oder ignorieren kann, sodass sich komplexe Handlungsmuster ausbilden können. Und was im An-Sich, also im Handeln, sich an komplexen Mustern ausbilden kann, kann auch im Für-Sich, also im befindlichen Verstehen, geschehen und auch im An-und-für-Sich, im ausdrücklichen Sich-Aneignen des durch befindliches Verstehen geleiteten Handelns.
Das Dasein als Individuum und Objekt der Psyche entspricht mit seiner subjekthaften Tat als Spezies und Objekt des Geistes jenem Wendepunkt, in dem sich die Spezies, die durch die Tat in die Materie als Selbstentfremdung der Liebe eintaucht, durch absolute Negation, also die oszillierende Entwicklung zur Liebe hin, in das Genus wendet, indem diese Tat durch ein entsprechendes ausdrücklich-eindrückliches Sich-Aneignen in der Gemeinschaft mit anderen eine Umkehr in Richtung Selbstbewusstsein und Entwicklung zur Liebe einleitet. „Gleichzeitig geht die Besonderheit […] nicht einfach unter, sondern wird in der Negation bejaht, muss also in diesem Sinn aufgehoben werden.“ (Tanabe, Versuch, die Bedeutung der Logik der Spezies zu klären, 2011, S. 174 f.) Indem sich durch die vom Geist eingeleitete auf Verstehen rückführbare Tat der Speziescharakter durchsetzt, lässt sich das Dasein in seiner Bewertung der Tat als psychisches Subjekt von der Gemeinschaft leiten, sodass der Speziescharakter negiert wird. Die Psyche gibt aber bei ihrer Bewertung keine positive Richtung vor, sie verneint nur das Festhalten an der Materie und treibt weiter zur Tat-als-Wende an. Somit wirkt die Psyche als drittes Moment der absoluten Negation neben Geist und Materie sowie als Antriebspunkt der absoluten Negativität der Einheit, als ihr Vermittlungspunkt der Wende und als ihr Negationsmoment der Negativität der Spezies. „Dieser tathafte Wendepunkt, der auch »punctum saliens aller Lebendigkeit« heißen könnte, ist nichts anderes als das Individuum.“ (ebenda, Seite 175) Damit erweist sich das Individuum erneut als Objekt der Psyche, welche das Leben des Daseins vermittelt, also seine Beziehung zum Sein überhaupt, also zum absoluten Nichts bzw. zur Liebe. Das Individuum wird durch die Psyche, also durch seine Befindlichkeit, zum Leben erweckt und bewegt, sodass je nach Situation ein bestimmter Gegensatz bzw. Widerspruch befindlich verstanden werden kann. Durch entsprechende Taten als Wende bzw. Umkehr zu sich selbst, zu denen die Psyche durch Verneinung drängt, wird „das Spezies-Moment, das die Einheit im An-Sich repräsentierte, […] zum Genus als dem Ganzen“ (ebenda), wobei „das Genus die Einheit von Bewegung und Ruhe des Beisichseins“ (ebenda) ist, das heißt die Gegensätze sind ausdrücklich begriffen und überwunden, und das Dasein ist in der Liebe. Wenn man diese Entwicklung wie Tanabe als Aufstieg bezeichnet (ebenda, Seite 177), so treibt die Psyche zum Aufstieg an. Das Individuum hat aber wie die Spezies eine doppelte Struktur (ebenda): es ist nicht nur Objekt der Psyche sondern auch geistiges Subjekt, das heißt, weil es Objekt der Psyche ist, wird es von ihr gedrängt, auch Subjekt zu sein, den Geist zu benutzen und sich um Erkenntnis zu bemühen. In seinem Bemühen um Erkenntnis nimmt sich das Dasein als Individuum die Freiheit, alles Mögliche nach dem Prinzip Versuch-und-Irrtum auszuprobieren, d.h. es bewahrt und bejaht die Gegensätzlichkeit seiner selbst als Spezies, die Oszillation der Entwicklung des Daseins, sodass das Individuum als geistiges Subjekt immer wieder den Abstieg, die Entwicklung zur Selbstentfremdung, provoziert. Somit befindet sich das Dasein sowohl als Individuum, als auch als Spezies, als auch als Genus bildlich gesprochen immer am Kreuzungspunkt von Aufstieg und Abstieg (ebenda). Da die Psyche dem Individuum keine Richtung für eine Tat vorgeben kann, ist das Dasein als Einheit des Genus, also als Gemeinschaftswesen, darauf angewiesen, dass es in seiner Individualität als geistiges Subjekt entsprechende Entwürfe für Taten entwickelt, sodass das Dasein als Spezies diese umsetzen kann. Wenn man das Dasein als Einheit aller verschiedenen Möglichkeiten seines Seinkönnens auffasst (Kolb, 2011), so sind diese Möglichkeiten als Glieder der Einheit des Daseins auffassbar als Unter-Individuen mit entsprechenden Handlungsweisen, die sie als geistige Subjekte, also als selbstständige Glieder der Einheit des Daseins, entworfen haben. Die Antriebsenergie der Psyche, die unterschiedliche Qualitäten je nach Befindlichkeit besitzt und damit auch eine unterschiedliche Kompatibilität mit den verschiedenen Unter-Individuen, verteilt sich dann entsprechend und belebt die Glieder der Einheit. „Wenn die Einheit in ihrem Inneren ihre Glieder nicht belebt und nicht jedes einzelne Glied seine Selbstständigkeit haben lässt, verliert sie ihre Wirkung als Einheit.“ (Tanabe, Versuch, die Bedeutung der Logik der Spezies zu klären, 2011, S. 177) Auf die Gemeinschaft angewendet entspricht dies Tanabes früherer „Hervorhebung der Forderung, dass die ganzheitliche Einheit des Staates jedes einzelne Glied seinen jeweiligen Platz einnehmen und es durch freiwillige Mitarbeit am Ganzen teilnehmen lassen muss.“ (ebenda, Seite 177 f.) Auf das einzelne Dasein übertragen bedeutet das, dass es seine innere Harmonie verliert, wenn es nicht jeder einzelnen Möglichkeit seines Seinkönnens die Möglichkeit und Kraft gibt, sich in der entsprechenden Situation selbstständig zu entfalten und so freiwillig am Entwicklungsprozess des Daseins teilzunehmen. Die Verwirklichung von Abkehr und Umkehr bzw. Aufstieg und Abstieg als „wechselseitige Einheit […] ist einerseits Tat des Individuums, andererseits ist sie Selbstverwirklichung des Ganzen.“ (ebenda, Seite 179)
Als Objekt der Psyche verneint das Dasein als Individuum die Materie bzw. das Festhalten an deren Gegensätzlichkeiten und Täuschungen, und als geistiges Subjekt verneint es den Geist bzw. seine Herrschaft, indem es ihn zu benutzen bzw. gefügig zu machen versucht, und in beiden Fällen bejaht es die Tat, das Substrat bzw. den Nährboden der Spezies. In der Verneinung des Geistes ist das Dasein aktiv (es probiert aus, bejaht seine Selbstbestimmung), subjektiv (es geht nur von sich selbst aus), diskontinuierlich (es probiert sprunghaft alles Mögliche aus), linear (um geradlinigen Fortschritt bemüht) und zeitlich (es bewegt sich frei in den drei zeitlichen Ekstasen Gewesenheit bzw. Herkunft, Zukunft und Gegenwart bzw. Ankunft (Kolb, 2011), um die Technik seines Handelns immer mehr zu verbessern), sodass man diese Kombination der Pole der fünf grundlegenden Gegensätzlichkeiten aus dem vorigen Kapitel auch als männliches Prinzip bezeichnen kann. In der Verneinung der Materie dagegen ist das Dasein passiv (es lässt geschehen, hält inne und beobachtet, es verneint seine Selbstbestimmung), objektiv (es betrachtet seine Wirkung auf andere, ist offen für die eigene Befindlichkeit und die der anderen, holt sich Unterstützung bzw. schließt sich mit anderen zusammen), kontinuierlich (es setzt sich kontinuierlich mit dem Materiellen, welches es loslassen will, auseinander, es hält aber auch kontinuierlich am Wir-Gefühl mit den anderen fest), zirkulär (es betrachtet und erkundet wiederholt dasselbe von verschiedenen Seiten) und räumlich (es lässt sich ein, teilt den Raum mit anderen und tauscht sich aus), sodass man diese Kombination weibliches Prinzip nennen kann. Wir alle haben Möglichkeiten unseres Seinkönnens, die mehr am weiblichen oder mehr am männlichen Prinzip verhaftet sind, und je nach dem, wie weit wir die Gegensätze in der Materie überwunden haben, haben wir auch den Gegensatz weiblich-männlich integriert und sind in der Liebe. Als Objekt der Psyche, wenn es sich als solches akzeptiert, folgt das Individuum dem weiblichen Prinzip und befindet sich entwicklungsmäßig im Aufstieg, was dem Goethe-Zitat „Das Ewig-Weibliche, Zieht uns hinan“ („Alles Vergängliche Ist nur ein Gleichnis; Das Unzulängliche, Hier wird's Ereignis; Das Unbeschreibliche, Hier ist's getan; Das Ewig-Weibliche, Zieht uns hinan“ (Faust II, 12104 – 12111)) entspricht. Als geistiges Subjekt entscheidet sich das Individuum für das männliche Prinzip, will also den Geist benutzen und ist im Abstieg begriffen, indem es in die Welt der Materie eintaucht und dort seine Erfahrungen macht („Das Unzulängliche, Hier wird´s Ereignis“), bis es wieder umkehrt. Die Psyche drängt aber nicht nur einfach zur Tat, sondern zur Tat-Als-Wende („Das Unbeschreibliche, Hier wird´s getan“), d.h. das Dasein als Individuum soll als geistiges Subjekt ein Seinkönnen entwerfen, indem es das sich bisher angeeignete Verständnis auch nutzt, und in dessen Umsetzung als Spezies entsprechend handeln. Umgekehrt versteht das Dasein als geistiges Subjekt immer mehr, dass die Psyche ihm wichtige Anregungen geben kann, das Worumwillen von sich und anderen immer echter und unmittelbarer zu verstehen, also lieben zu lernen. Durch diese gegenseitige Vermittlung durch Negation, wenn die Psyche das Individuum auffordert, nicht immer ihr Objekt (Sich-Verneinen als Objekt der Psyche) sondern auch Benutzer des Geistes zu sein, und wenn das Individuum als Benutzer des Geistes erkennt, dass es als Objekt der Psyche durch entsprechendes Innehalten (Sich-Verneinen als geistiges Subjekt, das beherrschen will) den Geist besser benutzen kann, kann das Dasein in seinem Entwicklungsprozess den Gegensatz männlich-weiblich immer mehr überwinden und so zur Liebe finden. Psyche, Geist und Materie, die ja jeweils Momente der absoluten Negation sind, sind als solche neutral, nur das Dasein ist in seinem menschlichen Leben – also in seiner Beziehung zum Absoluten, insbesondere in seiner Beziehung zur Psyche, zum Geist und zur Materie – mit den Widersprüchen und Gegensätzlichkeiten der Materie konfrontiert, und zwar muss es sich als Objekt der Psyche mit dem jeweils weiblichen Pol der fünf grundlegenden Widersprüche aus Kapitel 1 auseinandersetzen und als geistiges Subjekt mit dementsprechend männlichen, bis es letztendlich den Gegensatz männlich-weiblich überwunden und sich zu Liebe und Erfüllung hin entwickelt hat. Entscheidend bei dieser ganzen Entwicklung sind die Tat-als-Wende als Spezies und das ausdrücklich-eindrückliche Sich-Aneignen der entsprechenden Erfahrung als Genus bzw. Gemeinschaftswesen, womit das Dasein seine Beziehung zum Absoluten, also sein menschliches Leben, immer wahrer werden lassen kann, indem es die Gegensätze, die es in der Auseinandersetzung mit der Materie durch Hören auf die Psyche und Benutzen des Geistes als Individuum erlebt, immer mehr überwindet. Das menschliche Leben und das Dasein („Alles Vergängliche“) ist dann nach Goethe in Wahrheit „nur ein Gleichnis“, es gleicht dem Absoluten in seinen Momenten Psyche, Geist und Materie.
Zum Schluss seines Aufsatzes fragt Tanabe nach praktisch wichtigen Ergebnissen, die seine Logik der Spezies mit sich bringt, und geht als Beispiel auf die Beziehung zwischen Religion und Ethik ein. Zur damaligen Zeit (1937) betonte man besonders häufig Forderungen, dass „die Religion alle endlichen Existenzen verneinen, den menschlichen Gesichtspunkt hinwegfegen und sich durchweg auf Bestimmungen vom Standpunkt des Absoluten her stützen muss“ (Tanabe, Versuch, die Bedeutung der Logik der Spezies zu klären, 2011, S. 179). Dies war die Reaktion auf die idealistische Religionsphilosophie Hegels, „an den Endpunkt der menschlichen Vervollkommnung den religiösen Standpunkt“ (ebenda) zu platzieren. Bei dieser Reaktion, nämlich der Kritik Kierkegaards und der sich auf ihn berufenden dialektischen Theologie (zum Beispiel Karl Barth) an Hegel, besteht aber die Gefahr „wegen der Überbetonung des negativen Gegensatzes zwischen dem Absoluten und dem Relativen, zwischen Gott und Mensch“ (ebenda), dass eine Umkehr nur durch einen „Mittler (Christus) als der Selbstverneinung Gottes“ (ebenda) zustande kommt und „der Glaube an die [wahre] Beziehung zum Absoluten auf den Glauben an das Auftreten eines Mittlers eingeschränkt“ (ebenda) wird. Dieser Gegensatz im Christentum zwischen Kierkegaard und Hegel „kommt wohl von dem Mangel an Dialektik, der darin besteht, dass Gott nicht absolute Negation, sondern absolute Existenz ist“ (ebenda, Seite 180). Aber auch die buddhistische Haltung im Allgemeinen und Nishidas vom Zen-Buddhismus inspirierter „Standpunkt, der die Vereinigung des Absoluten und des Relativen […] in irgendeinem Sinn identitätsmäßig bejaht, […] verfällt der praxislosen Kontemplation als Verherrlichung der Wirklichkeit“ (ebenda) als letztlich unkritische Bejahung des Status quo. So vermeidet der Buddhismus zwar das Abgeben der Verantwortung an einen Mittler, es gibt hier sinngemäß zum Beispiel den Ausspruch: „Wenn du Buddha begegnest, dann erschlag ihn!“, aber er verfällt der buddhistischen Haltung, jeder könne sich selbst erlösen, was zu verstecktem Hochmut führen kann. Im Gegensatz dazu besteht bei Christen die Gefahr eines unkritischen Gehorsams gegenüber klerikalen und anderen Autoritäten, was zu Kreuzzügen und der Inquisition im Mittelalter geführt, sowie auch heute noch eine unkritische und teilweise geradezu dumme Außenpolitik von Großmächten zur Folge hat, die in ihrer Verblendung glauben, Gott sei auf ihrer Seite, wie Bob Dylan es in seinem Lied „With God On Our Side“ ausdrückte. Aus Tanabes Logik der Spezies folgt, dass „die Ethik und die Religion […] jede für sich auf ihrem eigenen Standpunkt Selbstständigkeit besitzen“ (ebenda, Seite 182). Der Standpunkt der Ethik ist die soziale ethische Praxis, die den konkreten Inhalt der Tat-als-Wende bilden muss, während der Standpunkt der Religion „das Bewusstsein der Wendung und wechselseitigen Vereinigung von Hinweg und Rückweg“ (ebenda, Seite 183) bzw. von Abstieg und Aufstieg ist. Von der Psychologik der Spezies aus betrachtet ist es die Psyche, die das Dasein einerseits zu konkretem ethischem Handeln drängt, es gleichzeitig aber auch dazu auffordert, dabei den geistigen Standpunkt der Religion zu beachten. Aus den entsprechenden Auswirkungen auf die Materie lernt das Dasein, immer besser auf die Psyche zu hören und immer echter und unmittelbarer dabei den geistigen Standpunkt der Religion zu verstehen, sodass es schließlich immer mehr zur Wahrheit kommt und sich zur Liebe hin entwickelt. Die jeweilige Auseinandersetzung mit Psyche, Geist und Materie ist für diesen Prozess gleich wichtig und jeweils unentbehrlich. In diesem Sinne bilden die Psyche als das Besondere, die Materie als das Einzelne und der Geist als das Allgemeine ebenfalls ein absolut dialektisches System, was bedeutet, dass jeweils zwei von ihnen durch das dritte vermittelt werden und jeweils zwei das dritte vermitteln. Mit der Liebe als Entwicklungsziel werden alle drei vereint. Dabei ist Liebe etwas, was niemals direkt wahrgenommen werden kann, sondern nur absolut negativ vermittelbar ist in dem Sinne, dass nur gesagt werden kann, was keine Liebe ist. Mit dem Erreichen der Liebe ist der Rückweg bzw. die Umkehr zum Absoluten vollendet, sodass sich die Liebe als das Absolute herausstellt. Die Materie mit all ihren Gegensätzlichkeiten und Widersprüchen ist die Selbstentfremdung der Liebe, der Geist das echte und unmittelbare Verständnis als Transzendenz des Individuums zum Absoluten, also der Aspekt der Rückkehr zur Liebe, und die Psyche ist die lebendige Dynamik der Liebe. Durch alle drei ergibt sich der Sinn der Liebe, die Immanenz und Transzendenz umfassende Prozesshaftigkeit (Kolb, 2011) mit allen möglichen Entwicklungsrichtungen hin zur oder weg von der Liebe, der Rahmen, in dem Liebe verständlich werden kann.
Liebe als absolute Vermittlung ihrer drei Momente Psyche, Geist und Materie, also ihrer selbst, lässt sich auch folgendermaßen verständlich machen: der Geist als das echte und unmittelbare Verständnis bzw. der Aspekt der Rückkehr zur Liebe vermittelt zusammen mit der Materie mit ihren fünf grundsätzlichen Widersprüchen die fünf Grundbefindlichkeiten (siehe 1. Kapitel) und damit die Psyche mit ihrem lebendigen Kräftespiel der Liebe. Andererseits vermittelt die Psyche mit ihren fünf Grundbefindlichkeiten und der damit verbundenen Negation der fünf grundlegenden Widersprüche als Aufforderung zu ihrer Überwindung zwischen der Materie mit ihren Widersprüchen und dem Geist als dem echten und unmittelbaren Verständnis bzw. dem Aspekt der Rückkehr zur Liebe, mit dessen Hilfe die Aufforderung der Psyche, die Widersprüche zu überwinden, erfüllt werden kann. Weiterhin vermittelt die Psyche mit den Grundbefindlichkeiten zusammen mit der Materie und deren Widersprüchen den Geist, der alles bereitstellen kann, um der Aufforderung der Psyche nach Überwindung nachzukommen. Andererseits vermittelt der Geist mit seinem echten und unmittelbaren Verständnis des Worumwillens von jedem Dasein, also mit der Rückkehr zur Liebe, zwischen der Psyche mit ihren Befindlichkeiten und der Materie mit ihren Widersprüchen. Außerdem vermittelt die Psyche mit ihrer Negation der Widersprüche der Materie zusammen mit dem Geist als dem echten und unmittelbaren Verständnis dieser Widersprüche die Materie. Andererseits vermittelt die Materie mit ihren Widersprüchen und der damit verbundenen Selbstentfremdung der Liebe zwischen der Psyche als dem lebendigen Kräftespiel der Liebe und dem Geist als dem echten und unmittelbaren Verständnis des Worumwillens von jedem Dasein, wodurch die Selbstentfremdung der Liebe aufgehoben bzw. die Liebe zu sich selbst zurückgebracht werden kann. Bei alldem braucht die Liebe als das Absolute das Dasein, das etwas tut, also lebt, d.h. das eine Beziehung zum Absoluten, also zur Liebe, eingeht. Und genau dafür brauchen das Dasein und das Absolute einen Mittler, d.h. ein anderes Dasein wie zum Beispiel am Anfang des Lebens die Mutter, aber auch später daseinsmäßig Seiende wie etwa Lehrer oder andere helfende Seiende, die das Dasein unterstützen, seine Beziehung zum Absoluten immer wahrer werden zu lassen. Dabei ist es wichtig, dass das Dasein sich früher oder später immer wieder von solchen Mittlern abnabelt, damit keine Abhängigkeiten entstehen und die Beziehung des Daseins zum Absoluten somit verfällt.
Das Absolute braucht also das Dasein, das Allgemeine braucht das Einzelne, und beide brauchen jeweils einen Mittler, einen Besonderen, der sich einerseits früher oder später zurückziehen muss und von dem das Dasein sich früher oder später lösen muss, damit die Beziehung zwischen dem Absoluten und dem Dasein nicht verfällt. Das Vermitteln des Mittlers sollte nicht einspringend-beherrschend, sondern vorspringend-befreiend sein, wie Heidegger es formulierte (Heidegger, Sein und Zeit, 2006, S. 122), sonst muss das Dasein sich von dieser Art der Vermittlung befreien, damit seine Beziehung zum Absoluten nicht verfällt. Einspringend-beherrschende Vermittlung verschärft den Gegensatz räumlich-zeitlich, vorspringend-befreiende Vermittlung dagegen hilft, diesen Gegensatz zu überwinden. Im Idealfall vermittelt der Mittler wie die Psyche, die motiviert und zur Handlung drängt, aber nicht dogmatisch irgendwelche Inhalte vorgibt, sondern dazu auffordert, diese selbst zu entwickeln. Ein derartiger Vermittler wird daher immer erst die Befindlichkeit des Daseins verstehen müssen, bevor er auf die beschriebene ideale Weise vermitteln kann. In diesem Sinne lässt sich auch das Problem der Transzendenz nur über die Befindlichkeit, also über die Psyche, lösen, wenn diese möglichst echt und unmittelbar verstanden wird durch Hingabe an die Prozesshaftigkeit im Unwillkürlich-Sein (Kolb, 2011). Also erst dann, wenn der Mittler einen hinreichenden Grad an Liebe für den Einzelnen und damit auch sich selbst gegenüber erreicht hat, kann er zwischen dem Einzelnen und der Liebe vermitteln, das heißt die Entwicklung des Einzelnen zur Liebe hin unterstützen, sodass es zur Tat-als-Wende kommt. Der Mittler benutzt somit die Liebe für den Einzelnen, also die Beziehung des Absoluten zum Einzelnen, und indem er vermittelt, kann diese Beziehung, das Leben des Einzelnen, sich immer mehr hin zum wahren Leben entwickeln. Innerhalb einer Gemeinschaft kann es nur dadurch eine stabile und tragfähige Verbindung untereinander geben, wenn nach Möglichkeit jeder für den anderen ein Mittler im obigen idealen Sinne ist. In einer derartigen Gemeinschaft ist das Vertrauen in die selbstreinigende Kraft der Vernunft (Hegel) gerechtfertigt. Das Absolute ist wie oben ausgeführt die Liebe, zu der das Dasein seine Beziehung, also sein Leben, nur über die Verbindung von Psyche und Geist über die Materie vermittelt bekommen kann. Insgesamt möchte ich daher diese Gedankengänge als die „Psychologik der Liebe“ bezeichnen.
An dieser Stelle, nachdem so oft die Rede von Liebe war, erhebt sich für mich die Frage, ob es auch das Böse gibt und wo es in der Psychologik der Liebe zu finden ist. Das Böse entsteht beim Dasein als Individuum, wenn es sich einerseits als Objekt der Psyche und andererseits als geistiges Subjekt wahrnimmt und entweder an der Psyche oder am Geist anfängt zu zweifeln. Zu zweifeln ist kein richtiges Bejahen und auch kein richtiges Verneinen, es ist ein Vermischen von Psyche oder Geist mit den Widersprüchlichkeiten der Materie. Zum einen also findet das Böse dort seinen Einstieg, wo das Individuum als Objekt der Psyche an dieser zu zweifeln beginnt und als geistiges Subjekt mithilfe seiner Macht über den Geist gegen den Einfluss der Psyche zu handeln beginnt. Solange das Dasein als Einzelnes dabei allein der mahnenden Psyche ausgesetzt ist, fühlt es sich zunehmend verunsichert und sucht daher nach anderen, denen es seine Zweifel vermitteln kann, sodass eine Gemeinschaft von Zweiflern entsteht, die sich gegenseitig darin unterstützen, die Mahnungen der Psyche zu überhören. In der Materie, der Selbstentfremdung der Liebe, erleiden die Zweifler die Folgen ihres Handelns, indem sie getrennt sind (das erzeugt Leid) von der positiven Dynamik der Liebe, nämlich von der Befindlichkeit der Freude, und wenn sie die Folgen ihres Handelns nicht sich selbst sondern der mahnenden Psyche zuschreiben, empfinden sie Trauer und Zorn (uneigentliche Befindlichkeiten), unterstellen, dass das Absolute etwas Strafendes ist, also etwas Bedrohliches, sodass sie Furcht (uneigentlich) vor dem Absoluten empfinden. Die Umstände und Situationen, in die sie sich geworfen fühlen, also die Welt der Materie mit all ihren Widersprüchlichkeiten, erscheint ihnen dann insgesamt widerwärtig und ihre (uneigentliche) Befindlichkeit ist Ekel. Ihre gesamte Befindlichkeit, d.h. ihre Psyche bzw. ihre Dynamik der Liebe hat sich so immer mehr in etwas Negatives oder Böses verwandelt, gegen das sie entweder vergeblich kämpfen, dem sie sich lethargisch und Verantwortung abgebend passiv-aggressiv überlassen, oder das sie an andere vermitteln, sodass diese die Folgen zu tragen haben und sie selbst so lange, wie andere die Konsequenzen tragen, davon befreit sind und womöglich noch ihren Spaß daran haben, dass andere für sie leiden. Die einzige Lösung dieses Dilemmas besteht darin, dass ein derartiger Zweifler wieder bereit ist, auf die Psyche zu hören, also auf den Ruf seines Gewissens, sodass der Prozess der Umkehr eingeleitet und durchgeführt werden kann, wie er beschrieben ist in „Gedanken zu "Sein und Zeit"“ (Kolb, 2011), was man vereinfacht und stichwortartig mit Reue, Wiedergutmachung und Vorkehr gegen Zweifel umreißen kann. Dann kann der Geist wieder aufhellen und zur Umkehr zur Liebe benutzt werden. Das Böse ist in diesem Fall also der Zweifel an der Dynamik der Liebe, was als Uneigentlichkeit der Befindlichkeit bzw. der Psyche zu einem Anhaften an der Materie geführt hat. Der Geist bzw. das geistige Potenzial des Daseins ist ebenfalls nicht mehr geschützt vor den Widersprüchlichkeiten der Materie und verfällt entsprechend, d.h. es können Geisteskrankheiten bzw. Psychosen wie Paranoia, Größenwahn oder wahnhafte Depressionen entstehen. Auf der gesellschaftlichen Ebene kann sich so der Totalitarismus ausbreiten, und Menschen in kollektivistischen Gesellschaften sind hierfür besonders anfällig. Die andere Art, wie das Böse entstehen kann, ereignet sich, wenn das Individuum als geistiges Subjekt am Geist zweifelt, seine Vorschläge bzw. Entwürfe nicht mehr oder nur noch zweifelnd und halbherzig umsetzt, sich völlig seinen Empfindungen hingibt und seine Erwartungen (Geist) auf das Materielle und auf andere ausrichtet. Dabei ist die Psyche bzw. die Befindlichkeit des Individuums nicht vor den Widersprüchen der Materie geschützt und wird uneigentlich, so dass alle möglichen neurotischen Erkrankungen entstehen können wie zum Beispiel Suchterkrankungen, Ängste und Depressionen. Auf der gesellschaftlichen Ebene kann sich so Anarchie ausbreiten, und Menschen in individualistischen Gesellschaften sind hierfür besonders anfällig. Nur wenn das Individuum unter anderem wieder Vertrauen in seine eigenen Fähigkeiten, in sein eigenes Seinkönnen in sein geistiges Potenzial gewinnt, ist der Prozess der Umkehr eingeleitet, und die Psyche kann wieder dazu mahnen, dass das Individuum wieder für sich selbst sorgt und die Verantwortung für sich entsprechend übernimmt.
Ich will noch einmal genauer und umfassender betrachten, wie und wo überall Zweifel entstehen können. Außer beim Individuum, wie oben schon ausgeführt, können Zweifel beim Dasein sich noch in den beiden Modi der Spezies und des Genus entwickeln. Als Spezies kann das Dasein Zweifel an den Vorstellungen des Geistes über ein mögliches Seinkönnen haben, weil es den entworfenen Plan für allgemein undurchführbar und damit den Vorschlag des Geistes für dumm hält. Dabei ist das Dasein entweder als geistiges Subjekt dumm, weil sein Vorschlag dumm ist, oder als Objekt des Geistes, weil es einen klugen Vorschlag für dumm hält. Andererseits kann das Dasein als Spezies auch Zweifel haben, ob es den entsprechenden Plan durchführen kann oder nur unter zu großen Anstrengungen oder zu großem Risiko eines Fehlschlags. Als materielles Subjekt kann es einfach keine Lust haben aufgrund von solchen oder anderen Zweifeln, Entwürfe bzw. Vorschläge des Geistes umzusetzen. Ich möchte dies vereinfacht mit dem Begriff Faulheit bezeichnen. Insgesamt bedeuten die Zweifel des Daseins als Spezies, dass das Dasein allgemein an seinen Fähigkeiten zweifelt, zur Liebe zu finden, was im Endeffekt dazu führt, dass es dann als Individuum an seinem Geist zweifelt, die Psyche überbewertet und früher oder später an einer neurotischen Störung erkrankt. Der frühere Chefarzt der Psychosomatischen Klinik Bad Herrenalb, Dr. Walter Lechler, pflegte etwas provozierend zu sagen, dass Neurose Dummheit und Faulheit sei. Etwas sachlicher kann man sagen, dass der Widerstand zu handeln auf einer Störung der Beziehungen des Daseins zu seiner sozialen Umwelt beruht, und zwar hauptsächlich auf Selbstvorwürfen, auf Fremdvorwürfen, auf Erwartungen an andere, durch die das Dasein sich von deren Verhaltensweisen abhängig macht, darauf, dass es sich vor anderen klein macht oder aufbläst, und darauf, dass es sich anderen oder bestimmten Traditionen verpflichtet fühlt, obwohl diese Verpflichtungen keine Funktion mehr erfüllen. Bei den Vorwürfen, ob sich selbst oder anderen gegenüber, handelt es sich um überbewerteten Zorn (uneigentlicher Modus der Wut), bei Erwartungen um überbewertete Abscheu im uneigentlichen Modus („Man wird doch wohl erwarten können, dass …“), wenn jemand sich klein macht oder aufbläst, dann handelt es sich um eine überbewertete Furcht (uneigentlicher Modus der Angst), und bei dysfunktionalen Verpflichtungen handelt es sich um überbewertete Trauer, wenn man sich sonst getrennt fühlt von anderen oder der Gemeinschaft mit einer bestimmten Tradition (uneigentlicher Modus von Leid), womit die Grundformen der überbewerteten Psyche erfasst sind. Als Genus kann das Dasein Zweifel an der Informationsvermittlung durch seine Sinne haben, wenn die Daten nicht mit seinen Erwartungen übereinstimmen. Sein 6. Sinn, sein Intellekt, lässt bestimmte Informationen einfach unter den Tisch fallen und vertraut mehr auf seine Fähigkeit, die Realität zu konstruieren, als darauf, sie gründlich zu beobachten und wahrzunehmen. Entsprechende Warnungen der Psyche, die solchen verstümmelten Ergebnissen gefühlsmäßig nicht vertraut, werden in den Wind geschlagen. Wenn man die Erwartung eines bestimmten Ergebnisses kombiniert mit einer Missachtung von Warnungen der Psyche als Gier bezeichnet, dann entstehen diese Zweifel aufgrund von Gier. Weiterhin kann das Dasein als Genus Zweifel an seiner Fähigkeit oder der der anderen haben, das Geschehen richtig von seiner Psyche her zu bewerten. Je brisanter die entsprechende Situation ist, desto größer ist dann die Angst des Daseins, dass es zu einer Katastrophe kommen kann. In beiden Fällen vertraut das Dasein als Genus nicht seiner Psyche, was im Endeffekt zu einer Überbewertung des Geistes und damit früher oder später zu einer Psychose führen kann. In Börsenkreisen sagt man, dass Gier und Angst einen Spekulanten erst in den Ruin und dann in den Wahnsinn treiben. Aufgrund von Gier und Angst schirmt das Dasein seine Privatheit immer mehr ab und verhindert das Entstehen eines Wir-Gefühls, verschließt sich also immer mehr vor der Öffentlichkeit. So erklärt sich auch Matussek die Dynamik von Psychosen (Matussek, Analytische Psychosentherapie, Bd. 1 Grundlagen, 1993), (Matussek, Analytische Psychosentherapie, Bd. 2 Anwendungen, 1997, S. 15 ff. z.B.). Mithilfe dieser Überlegungen lässt sich nun genauer konkretisieren, was es bedeutet, wenn ein Mittler zwischen dem Dasein und dem Absoluten vorspringend-befreiend vermittelt. Sobald ein Mittler dem Dasein als Individuum oder als Spezies hilft, mahnt er, auf die Psyche oder den Geist zu hören, obwohl das Dasein dazu gar nicht bereit ist und den Mittler als Oberlehrer oder Moralapostel, d.h. als beherrschend empfindet, oder er übernimmt für das Dasein das befindliche Verstehen oder das Umsetzen einer entworfenen Möglichkeit des Seinkönnens und springt damit ein, so dass seine Hilfe in all diesen Fällen einspringend-beherrschend ist. Wenn der Mittler aber das Dasein als Genus unterstützt, indem er mit ihm eine Wir-Gefühl aufbaut, und wahrnimmt, wie das Dasein handelt, sowie dem Dasein Mut macht und es motiviert, indem es die Aufmerksamkeit auf alle positiven Ansätze lenkt, mit deren Hilfe das Dasein sich und andere in ihrem Worumwillen immer echter und unmittelbarer versteht, und mit negativen Ergebnissen gelassen umgeht (Gelassenheit bedeutet Ruhe und Konzentration, also ernst nehmen und ruhig bleiben, eine Haltung, die insbesondere für einen Psychotherapeuten grundlegend ist, da er in der Regel mit vielen negativen Ereignissen konfrontiert wird), so dass er dabei dem Dasein immer mehr das Prinzip von Gelassenheit, Mut und Weisheit demonstriert, also immer mehr das Prinzip von Liebe, dann fühlt das Dasein sich einerseits gesehen und beachtet, also wertgeschätzt, wodurch die Zweifel an seiner Liebesfähigkeit, also am Geist, verringert werden können, und die positiven Bewertungen des Mittlers stärken das Wir-Gefühl und damit die Psyche beim Dasein, so dass die Zweifel daran auch immer weniger werden können. Der Mittler ist insofern vorspringend, dass er für das Dasein als Genus Gemeinschaft mit ihm kreiert und ein Vorbild darstellt, sich für die Zukunft genauer wahrzunehmen, Negativem gelassener zu begegnen und aus Positivem Mut zu schöpfen, und er ist insofern befreiend für das Dasein, weil er es immer mehr von Zweifeln befreit.
Das Böse manifestiert sich jeweils nur in der Materie und kann auch dort letztlich nur durch die Tat-als-Wende überwunden werden. Je nachdem ob sich im Dasein die Gegensätzlichkeiten von Psyche und Geist ohne Zweifel verbinden oder nicht, entsteht in der Materie Gutes oder Böses, Aufstieg oder Abstieg in der Terminologie von Tanabe. Psyche und Geist und ihre Gegensätzlichkeiten sind unvermeidbar, denn ohne sie gäbe es zwar nichts Böses, aber dafür auch nichts Gutes. Die Psyche kann den Geist beleben und erhellen, wenn das Dasein aber den Geist gegen die Psyche richtet, dann verdunkelt er sich, und wenn es die Psyche gegen den Geist richtet, dann wird diese bzw. seine Befindlichkeit uneigentlich. In beiden Fällen sind am Ende sowohl Psyche als auch Geist getrübt und als Momente der absoluten Negation unbrauchbar geworden. Dann können nur noch schlimme Konsequenzen in der Materie als dem letzten Moment der absoluten Negation das Dasein aufrütteln. Wenn das Absolute, also die Liebe, das Böse bzw. den Abstieg, d.h. Manifestationen in der Materie, nicht zulassen würde, könnte das Dasein als Individuum nicht über den Geist verfügen und auf die Psyche hören, um echt und unmittelbar zu verstehen, da es aufgrund fehlender Manifestationen in der Materie die Echtheit seines Verstehens nicht überprüfen könnte, es gäbe also keine Auskunft mehr, so dass sich die Prozesshaftigkeit des Daseins auflöst, weil eine Ekstase, nämlich die Auskunft, verschwunden ist. In „Gedanken zu "Sein und Zeit"“ (Kolb, 2011) habe ich aufgezeigt, dass Liebe auch Bereitschaft zur Hingabe der eigenen Existenz ist, wobei die Hingabe als Tat getragen ist von der Gelassenheit, das hinzunehmen, was nicht veränderbar ist, von dem Mut, das Veränderbare auch zu ändern, und von der Weisheit, dem echten und unmittelbaren Verständnis, das eine vom anderen zu unterscheiden. Der Gegensatz Seinkönnen und Nichtseinkönnen kann dabei nur durch die Weisheit der Liebe überwunden werden. Wenn das Dasein seine Existenz als geistiges Subjekt mit all seiner Weisheit der Psyche in der Materie voll und ganz zur Verfügung stellt, sich als Spezies also ganz hingibt, und wenn die Psyche diese Hingabe mit Freude annimmt, dann sind alle Gegensätze überwunden und die Liebe erreicht. Die Psyche als Dynamik der Liebe und der Geist als die Logik des Abstiegs weg von der und des Aufstiegs hin zur Liebe nehmen als Psychologik also eine besondere Stellung ein, weswegen ich die absolute Dialektik von Psyche, Materie und Geist als den drei Momenten der Entwicklung der Liebe, Psychologik der Liebe nenne.
Die Psychologik der Liebe kann auch noch auf andere Weise veranschaulicht werden (siehe Schaubild unten). Als Individuum ist das Dasein in seiner Geworfenheit (Herkunft) durch seine Befindlichkeit bzw. als Objekt der Psyche, der lebendigen Dynamik der Liebe, aufgefordert, als geistiges Subjekt zu verstehen und Ideen zu entwerfen (Zukunft), wie je nach Befindlichkeit ein Schaden behoben (Wut), eine Bedrohung kontrolliert (Angst), ein Getrennt-Sein beendet (Leid), eine Widerwärtigkeit beseitigt (Abscheu, Scham, Schuld) oder eine Begeisterung (Freude) vermehrt werden kann. Dadurch erschafft das Dasein sein Selbstbewusstsein, die verschiedenen Möglichkeiten seines Seinkönnens und damit sein Selbst. Als Spezies ist das Dasein Objekt des Geistes, es ist also durch positive Zukunftsvorstellungen eingeladen, seine Entwürfe durch die Tat-als-Wende als materielles Subjekt umzusetzen. Dadurch erschafft das Dasein eine Verbindung zur Welt bzw. Wirkungen in der Welt (Ankunft), es ist in diesem Sinne kreativ, und seine Immanenz schlägt um in Transzendenz. Außerdem kreiert es je nach dem immer mehr die Rückkehr der in der Materie entfremdeten Liebe zurück zu sich selbst, es schafft also eine immer engere Annäherung an die Wahrheit dadurch, dass es die Beziehung des Daseins zum absoluten Nichts, zur Liebe, immer enger werden lässt. Als Genus schließlich ist das Dasein einerseits Objekt der Materie und bekommt so von ihr über die Sinne Auskunft über die Gegensätzlichkeiten der Materie vermittelt, inwieweit sie überwunden sind, inwieweit also eine „äußere“ Einheit entstanden ist. Dabei kann das Genus andererseits als psychisches Subjekt in der Gemeinschaft mit anderen, also durch Mitgefühl, die Auskunft bewertend „erfühlen“, was es durch seine Taten in der Welt bewirkt hat, ob es anderes lebendig Seiendes erfreut hat, wütend gemacht, geängstigt, verletzt oder abgewertet bzw. gedemütigt hat, also ob es eher grausam gewesen ist oder anderes Seiendes eher geliebt und in seinem Worumwillen immer echter und unmittelbarer verstanden hat (emotional-geistige Auswertung der Auskunft). Je mehr Gegensätzlichkeiten es überwunden hat, desto mehr hat das Dasein als Gemeinschaftswesen damit auch eine Einheit von Bewegung und Ruhe des Beisichseins erreicht, also eine „innere“ Einheit. Mit „äußerer“ und „innerer“ Einheit erschafft das Dasein als Genus ein Wir-Gefühl und damit eine Moralität. Je nach dem, wie die Befindlichkeit dann ist, fordert sie das Dasein als Individuum erneut auf, als geistiges Subjekt weitere Möglichkeiten des Seinkönnens zu entwerfen, und der Kreislauf beginnt von neuem. „Selbst“, „Wahrheit“ und „Moralität“ sind hier keine metaphysischen Begriffe, d.h. etwas, was hinter allem schon immer existiert hat und auf ewig bestehen bleibt, sondern etwas, was sich geschichtlich kontingent entwickelt hat und sich immer weiter durch Kontingenz entwickeln und verändern wird. Mit Kontingenz ist hier gemeint, dass mehrere voneinander relativ unabhängige Ereignisse zusammentreffen, so dass ein Entwicklungsprozess gewissen Zufälligkeiten ausgesetzt ist, die ihn mehr oder weniger beeinflussen können.
Die Sprache hat bei diesem Prozess das Schema Frage-und-Antwort. Als Objekt wird das Dasein gefragt oder fragt sich selbst, und als Subjekt gibt es Antwort – Sprache ist eben sowohl subjektiv als auch objektiv. Als Objekt der Psyche wird das Individuum z.B. von seinem Gewissen gefragt oder das Dasein fragt sich selbst, was denn gerade los ist, es ist wie eine Anfrage, ob eine Abhilfe oder Lösung für ein Problem möglich ist, und das Individuum als geistiges Subjekt unterbreitet verschiedene Angebote, von denen das Dasein als geistiges Subjekt nach unter Umständen reiflicher Überlegung eine Auswahl trifft, sodass dem Dasein als Spezies und Objekt des Geistes der Auftrag erteilt wird als Frage, ob es die entsprechende Tat ausführen möchte. Die Antwort darauf ist dann die Ausführung der Spezies als materielles Subjekt, wobei das Dasein als materielles Subjekt sich auch ganz unvermittelt für ein anderes Seinkönnen entschließen kann, warum auch immer. Als Subjekt, egal ob materiell, geistig oder psychisch, ist das Dasein nicht berechenbar. Die darauf folgende „Abnahme“ bzw. Überprüfung enthält ein Feedback darüber, welche Gegensätzlichkeiten überwunden sind und welche noch nicht, d.h. worin es sich in seinem Verstehen noch getäuscht hat, sodass das Dasein als Genus bzw. Gemeinschaftswesen und Objekt der Materie sich überlegen kann, sich Unterstützung von anderen holen bzw. sich mit ihnen zusammenschließen kann, weil es die Anfrage präsentiert bekommt, ob und inwieweit es Interesse hat und sich dafür verantwortlich fühlt, also wie es als psychisches Subjekt die Lage bewertet und so eine emotionale Antwort auf die Frage nach der Überwindung von Gegensätzlichkeiten gibt. Das dabei entstehende Wir-Gefühl, wobei das Wir alle in der Situation betroffenen Seienden mehr oder weniger umfassen kann, ist Teil dieser Antwort und in den weiteren Zyklen spricht das Dasein auch für die anderen dieser Wir-Gemeinschaft und jeder andere dieser Gemeinschaft auch für das Dasein. Dies ist eine ähnliche Art der „Entsprechung“, wie sie von Iwao Kôyama eingeführt (Kôyama, 2011) und in Kapitel 5 von mir referiert wird. Innerhalb dieser Wir-Gemeinschaft entsteht eine immer umfassendere Verständigung untereinander. Das Dasein selbst ist ja auch eine Art Gemeinschaft seiner verschiedenen Möglichkeiten seines Seinkönnens, die es sich selbst erschaffen hat. Es entsteht somit eine immer größere Vielheit nach „innen“ im Selbst durch immer mehr Möglichkeiten des Seinkönnens des Daseins und nach „außen“ durch die immer größer anwachsende Wir-Gemeinschaft und damit zugleich auch eine immer größere Einheit in dieser wachsenden Vielheit, wenn Gegensätzlichkeiten und Konflikte sowohl des Daseins für sich als auch innerhalb der Wir-Gemeinschaft immer besser überwunden werden. Wenn die Gegensätzlichkeiten allerdings nicht überwunden werden oder gar noch größer werden, dann schrumpfen die Wir-Gemeinschaft und das Selbst (in den Möglichkeiten des Seinkönnens) je nach dem, um welche Konflikte es sich jeweils handelt. In diesem Fall werden bildlich gesprochen die Zyklen der Spirale um das absolute Nichts herum in dem Schaubild immer größer, das Dasein entfernt sich immer mehr von der Liebe, während im anderen Fall die Zyklen immer enger werden und das Dasein sich zusammen mit einer anwachsenden Wir-Gemeinschaft immer mehr dem absoluten Nichts bzw. der Liebe nähert.
Um die Brauchbarkeit des Modells der Psychologik der Liebe weiterhin zu demonstrieren, möchte ich die Betrachtungen über Gut und Böse damit folgendermaßen ergänzen: Wie oben erwähnt entstehen Gut und Böse beim Dasein durch Vertrauen bzw. Mut und durch Zweifel, je nachdem ob es Psyche und Geist vor Verunreinigungen durch die Materie schützt oder einem von beiden misstraut, indem es entweder die Psyche oder den Geist anzweifelt und dadurch deren Verhältnis zueinander gestört ist. Gut und Böse zeigen sich dann für andere beim Dasein als Spezies in der Materie als Ergebnis seiner Taten. Als Genus bzw. Gemeinschaftswesen kann das Dasein unter Umständen anderen einreden, das Böse sei gut. Dabei wird bei den anderen das Verhältnis von Psyche und Geist manipuliert und derart gestört, dass sich das Böse immer weiter ausbreiten kann. Beim Individuum zeigt sich das Böse also dadurch, dass das Dasein sich aufbläht, wenn es mit dem Geist (zum Beispiel mit einer fixen Idee) die Psyche zu beherrschen sucht in der Rolle des Täters oder des Helfers, oder sich klein macht, indem es nicht auf seine Liebesfähigkeit vertraut und sich geistlos der Psyche als Opfer unterwirft („Ich schaffe es nicht“). Bei der Spezies wird das Böse für alle im Ergebnis der Taten des Daseins sichtbar, und beim Genus äußert sich das Böse dadurch, dass das Dasein dieses Ergebnis so bewertet, dass es weiterhin in der Rolle des Opfers, Täters oder Helfers bleibt oder von einer Position zur anderen springt und dadurch bei sich selbst das Böse aufrecht erhält und unter Umständen andere noch damit ansteckt, die sich von seiner Bewertung beeinflussen lassen und zum Dasein in dieses Rollendreieck Opfer-Täter-Helfer hineingehen und mit dem Dasein „im Dreieck springen“. In „Gedanken zu "Sein und Zeit"“ (Kolb, 2011) habe ich dieses Rollendreieck am Ende von Kapitel 5 und Anfang Kapitel 6 näher beschrieben.
Mithilfe der Psychologik der Liebe lassen sich auch die verschiedenen Wissenschaften einordnen. Die Philosophie Heideggers beispielsweise beschäftigt sich vor allen Dingen mit dem Individuum, der Bürde der Befindlichkeit des Individuums als Objekt der Psyche dadurch, dass das Dasein in die Welt geworfen wurde, und der Würde des Individuums als geistiges Subjekt, welches als solches sein Seinkönnen entwerfen und damit den Freiraum des Eigentlich-Seins ausschöpfen kann, der durch die drei zeitlichen Ekstasen der Gewesenheit, der Zukunft und der Gegenwart aufgespannt wird. Dabei kümmert er sich kaum um das Dasein als Spezies – er wehrte sich ja auch immer gegen die Behauptung, er betreibe Anthropologie – und auch das Dasein als Genus lag nicht im Fokus seiner Aufmerksamkeit, denn er wollte ja auch niemals Ethik betreiben. Als Gemeinschaftswesen war für Heidegger die Gefahr auch vermutlich zu groß, der Herrschaft des Man zu verfallen. Anthropologie und Politikwissenschaft beschäftigen sich hauptsächlich mit dem Dasein als Spezies, welches sich im Spannungsfeld von Geist und Materie befindet. Dabei betrachtet die Anthropologie die verschiedenen Kulturen von Menschen, wie ihr jeweiliges Umfeld das Denken und die Rituale einer Kultur beeinflussen und umgekehrt die Kultur auch die Umwelt der Menschen verändern kann, sowie die unterschiedlichen Entwicklungsprozesse des handelnden Menschen, also des Daseins als Spezies, in den jeweiligen Kulturen. Da Tanabe politisch sehr interessiert war, ist es daher kein Wunder, dass er die Spezies in den Mittelpunkt seiner Philosophie gestellt hat. Geisteswissenschaften beschäftigen sich vor allen Dingen mit dem Geist, also mit dem Dasein als geistiges Subjekt und als Objekt des Geistes, also teilweise mit individuellen Aspekten des Daseins und teilweise mit solchen des Daseins als Spezies, wenn geistige Vorstellungen zu Handlungen einladen oder auffordern, wie dies zum Beispiel bei vielen Theaterstücken der Fall ist. Technik und Naturwissenschaften dagegen befassen sich mit der Materie, also damit, wie Prozesse in der Welt mit und ohne Einfluss des Menschen ablaufen. Dabei interessieren sich derartige Wissenschaftler kaum dafür, welche geistigen Einflüsse dazu führen, dass Menschen handeln, und es kümmert sie im allgemeinen auch wenig, wie Handlungsergebnisse emotional und moralisch bewertet werden. Für viele Sozialwissenschaften ist vor allen Dingen das Dasein als Genus von Interesse, da nur hier die vorausspringend-befreiende Hilfe möglich ist und Moralität und ein Gemeinschaftsgefühl entstehen. Da beim Entwicklungsprozess des Daseins sowohl Psyche, Geist als auch Materie eine wichtige Rolle spielen ebenso wie das Dasein als Individuum, als Spezies und als Genus, halte ich es für wichtig, an alle Wissenschaftler, die sich von ihrer Wissenschaft her nur mit einem begrenzten Teil dieses Entwicklungsprozesses befassen, liebevoll zu appellieren, sich auch für das Ganze zu interessieren, also auch für das, was außerhalb ihres Wissensgebietes sich befindet.
Der zweite von Ohashi (Ohashi, 2011) aufgeführte Teil eines Aufsatzes von Tanabe (Tanabe, Valérys Kunstphilosophie, 2011) beschäftigt sich mit der Dichtkunst, wobei Tanabe auch Themen seiner Religionsphilosophie anführt und darstellt. Da es um die Übersetzung eines französischen Symbolgedichts ins Japanische geht, setzt sich Tanabe zuerst mit den Schwierigkeiten der Übertragung von Symbolen in eine andere Sprache auseinander und klärt den Unterschied zwischen Zeichen und Symbol. Ich möchte dies mit konkreten Beispielen veranschaulichen. Wenn Heideggers badischer Bauer den Südwind als Zeichen für Regen betrachtet, dann bleibt dieses Zeichen „bei der Verwandlung von Sein in Sein stehen“ (ebenda, Seite 184), d.h. der Wind bleibt Wind und wird als solcher als Hinweis auf Regen angesehen. Wenn dagegen das Meer mit Ebbe und Flut als Symbol genommen wird für Leben, Tod und Geburt, dann wird von dem faktischen Meer vollkommen abgesehen, sein faktisches Sein wird in Nichts verwandelt, und dieses in Nichts verwandelte Meer wird dann durch das Symbol in Sein verwandelt, nämlich in einen Begriff mit der Bedeutung „Leben, Tod und Geburt“. Beim Südwind als Zeichen für Regen ist das „als“ apophantisch, beim Meer als Symbol für Leben, Tod und Geburt ist das „als“ dagegen hermeneutisch. Den dialektischen Prozess, bei dem die Verwandlung von Sein in Nichts die Verwandlung von Nichts in Sein vermittelt, kann man in Anlehnung an Heidegger (Heidegger, Sein und Zeit, 2006, S. 150 z.B.) auch so beschreiben: als Vor-Habe nehmen wir das faktische Meer, von dem wir schon ein gewisses Vorverständnis haben; in einer Vor-Sicht sondieren wir dieses Verstandene hinsichtlich einer bestimmten Auslegbarkeit (wir wissen, dass es Ebbe und Flut gibt, dass alles Leben ursprünglich aus dem Meer stammt, dass das Meer Land verschlingt und aus dem Meer auch wieder Land empor steigen kann usw.). Mit der Vor-Habe liegt uns etwas Einzelnes vor, aus dem wir in der Vor-Sicht etwas Besonderes extrahieren und dadurch vom faktischen Meer ganz absehen, also dessen Sein in ein Nichts verwandeln. In einem Vor-Griff machen wir uns dann begreiflich, dass wir das „vor-sichtig“ Extrahierte mit der Thematik von Leben, Tod und Geburt allgemein verbinden können. Das Extrahieren, also die Verwandlung von Sein in Nichts, vermittelt so die Verwandlung von Nichts in Sein. Die im vorgetragenen Gedicht ausgedrückte und damit ausgelegte Symbolik bekommt durch die ausdrückliche Auslegung neben der Bedeutung noch eine weitere Qualität, die Tanabe als „Klang der Worte“ (Tanabe, Valérys Kunstphilosophie, 2011, S. 187) bezeichnet, und die in einem Gegensatz zur Bedeutung steht. Der Klang der Worte und auch der Rhythmus, der meines Erachtens genauso wichtig ist, lösen beim Zuhörer eine gewisse Befindlichkeit aus, die in demselben Gegensatz zu ihrer Bedeutung steht wie Psyche und Geist, und eine wichtige Aufgabe für die Dichterin (wenn ich ab hier teils die weibliche, teils die männliche Form benutze, so ist das jeweils andere Geschlecht mit eingeschlossen. Ich hoffe, damit den Gegensatz männlich-weiblich einigermaßen überwunden zu haben) ist es, diesen Gegensatz zu überwinden bzw. eine Einheit von Bedeutung und Klang der Worte zu erreichen. Dabei opfere sie „um der Klangharmonie willen die Genauigkeit der Bedeutung“ (ebenda), d.h. als Objekt der Psyche und als geistiges Subjekt folgt der Dichter in erster Linie der Aufforderung, auf seine Befindlichkeit zu hören, indem er nach einem möglichst echten und unmittelbaren Verständnis seiner Befindlichkeit sucht, um deren Bedeutung möglichst so im Gedicht auszudrücken, dass seine Psyche zufrieden ist, was nur dann der Fall ist, wenn sein Dichten eine Tat-als-Wende ist. Auch von den Zuhörern aus betrachtet sind Klang und Rhythmus der Worte deswegen etwas wichtiger, weil sich ihnen dadurch die Aufforderung der Psyche vermittelt, und wenn sie deren Bedeutung nicht so richtig verstehen, sind sie dadurch noch mehr aufgefordert, als geistige Subjekte selbst tätig zu werden. Damit kommt die Dichterin als Künstler der am Ende vom ersten Kapitel formulierten Aufgabe der Kunst nach, etwas zu vermitteln, wodurch andere gefördert werden in ihrer Entwicklung hin zur Liebe.
Beim Meer als Symbol wird das Meer selbst verneint, und dadurch kann das Meer mit einer neuen Bedeutung zurückkehren. Damit wird das Symbol selbst zum Symbol für Tod und Auferstehung. Dadurch, dass im Symbol der Tod die Auferstehung vermittelt, wird der Tod zum Ratgeber, wie ich dies in einem anderen Zusammenhang in „Gedanken zu "Sein und Zeit"“ (Kolb, 2011) dargelegt habe. Solche Überlegungen sind typisch für den Philosophen, den Klang und Rhythmus der Worte weniger interessiert als ihre Symbolik und ihre damit verbundene Dialektik, und diese Überlegungen machen auch die Bedeutung von Symbolen nicht nur für Dichterinnen und Künstlerinnen allgemein, sondern für uns alle klar. Symbole vermitteln nicht nur Geistiges in Form von Bedeutungen, sondern auch Psychisches in Form von Anschaulichkeit, wenn wir ihren dialektischen Entstehungs- und Entwicklungsprozess befindlich verstehen. Letzteres erfordert aber, dass der Philosoph sich mit der Künstlerin verbindet und sie immer echter und unmittelbarer befindlich versteht, denn die Künstlerin ist etwas mehr Objekt der Psyche und der Philosoph mehr geistiges Subjekt, was man auch am Beispiel von Tanabe erkennen kann, der nur die eine Seite des Individuums als geistiges Subjekt begrifflich erfasst hat und nicht die andere Seite als Objekt der Psyche. So wie es für die Psychologin bei ihrer Tätigkeit förderlich ist, sich mit Philosophie zu befassen, so kann auch der Philosoph nur davon profitieren, wenn er sich mit der Psyche und ihren Eigentümlichkeiten beschäftigt.
Tanabe kritisiert nun bei Valéry, er „deutete […] das Nichts bloß als leeres Nichts und erkannte den positiven Wendecharakter des absoluten Nichts nicht an.“ (Tanabe, Valérys Kunstphilosophie, 2011, S. 202) Wie von mir oben schon ausgeführt, besteht dieser positive Wendecharakter des absoluten Nichts darin, dass das Dasein seine Existenz als geistiges Subjekt mit all seiner Weisheit der Psyche in der Materie voll und ganz zur Verfügung stellt, sich als Spezies also ganz hingibt, sodass der Abstieg in immer tiefer werdende Spaltungen und Gegensätze durch eine Umkehr, eine Sinnesänderung (Metanoia) mit konsequenten Taten, die im einzelnen Reue, Wiedergutmachung und Vorkehr gegen einen weiteren Abstieg beinhaltet, in einen Aufstieg zur Liebe, also zum Absoluten, gewendet wird. Dass die Psyche, also die Dynamik der Liebe, es freudig und „begeistert“ annimmt, wenn das Dasein nach einem Abstieg in die Materie, also in die Selbstentfremdung der Liebe, seine Existenz als geistiges Subjekt mit all seiner Weisheit der Psyche in der Materie voll und ganz zur Verfügung stellt, sich als Spezies also ganz hingibt im oben erwähnten Sinn (Gelassenheit, Mut und Weisheit), kann man auch wie Tanabe „Barmherzigkeit und Gnade der Sündenvergebung“ (ebenda) nennen, es entspricht aber vor allem dem Bibelzitat, dass es im Himmel mehr Freude über einen reuigen Sünder als über zehn Gerechte gebe. In diesem Prozess der Wende offenbart sich die Liebe, und philosophisch betrachtet zeigt sich darin die „Dialektik der Einheit von Nichts-und-Liebe“ (ebenda). Tanabe bezeichnet diese Umkehr oder Metanoia als „Moment der Vermittlung, in dem die Verzweiflungsseite jenes Nichts in die Bejahungsseite des absoluten Nichts gewendet wird.“ (ebenda, Seite 204) Von der Psyche aus betrachtet wird die Abscheu in Begeisterung gewendet.
Wie kommt es nun, dass Menschen wie Valéry diesen Wendecharakter des absoluten Nichts bzw. der Liebe nicht erkennen? Meines Erachtens liegt es daran, dass sie nicht glauben können oder wollen, dass es so eine Wende geben kann und dass sie neue Erfahrungen machen können, wenn sie die Psyche und ihre Aufforderungen als solche annehmen und als geistige Subjekte sich auf die Suche nach Veränderung machen, also nach der Tat-als-Wende. In diesem Glauben und dementsprechenden Erleben in der Materie wird das absolute Nichts als Liebe vollzogen, und wenn „das Glauben und Erleben dieser Liebe fehlt, muss auch der Glaube an die Einheit von […] Tod-und-Auferstehung eine völlig vermittlungslose Forderung bleiben“ (ebenda, Seite 205). Die nächste Frage, die sich nun stellt, ist, wodurch dieser Glaube vermittelt wird, dieser Glaube an die Liebe. Wie oben schon erwähnt, gibt es in Gemeinschaften immer wieder Mittler, die diesen Glauben an die Liebe weitergeben. Aber diese Mittler haben den Glauben auch vermittelt bekommen, sodass sich die Frage nach dem Ursprung dieser Reihe von Vermittlungen stellt. Meines Erachtens beginnen diese Vermittlungsreihen bei so genannten Religionsstiftern, zum Beispiel Moses, Buddha, Jesus und Mohammed. Um nicht in allzu wilde Spekulationen zu verfallen, will ich mich möglichst streng an Heideggers Hermeneutik mit Vorhabe, Vorsicht, Vorgriff und ausdrückliche Auslegung halten. In der „Vorhabe“ befindet sich die von mir schon verstandene Bewandtnisganzheit dieser vier historischen Persönlichkeiten, wobei ich einschränkend feststellen muss, dass ganz allgemein und bei mir persönlich noch stärker das Wissen um diese vier Personen sehr eingeschränkt ist. Das, woraufhin das von mir Verstandene ausgelegt werden soll, ist die Antwort auf die Frage, wodurch diesen vier Menschen der Glaube an die Liebe vermittelt wurde, sodass meine „Vorsicht“ auf Ereignisse im Leben dieser vier ausgerichtet ist, in denen es eine Wende gegeben hat, bevor es zur Vermittlung des Glaubens an die Liebe gekommen sein muss. Im „Vorgriff“, als vorläufiges Begreifen, halte ich folgendes fest: die Wende bei Moses ereignete sich, als er der Aufforderung der Psyche durch die Tat-als-Wende nachkam, vom Pharao die Freiheit für sein Volk zu verlangen. Die Zeit, bevor er darauf reagierte, war dadurch gekennzeichnet, dass er in einer ziemlichen Notsituation lebte und sich als gesuchter Mörder furchtsam versteckte. Bei Buddha kam es zur Wende, als er der Aufforderung der Psyche nachkam, seinen luxuriösen Palast zu verlassen und sich mit dem Leben und Schicksal der anderen auseinanderzusetzen. Er hatte sich davor im Luxus gelangweilt und immer mehr Abscheu wegen der starken Diskrepanz zwischen Arm und Reich empfunden, bis er der in der Abscheu enthaltenen Aufforderung der Psyche folgte. Bei Jesus ist es etwas schwieriger, den Moment der Wende zu finden, weil in den Evangelien sein Lebensweg so vermittelt wird, als habe es keine Wende gegeben, sodass ich nur vermuten kann, dass der Tod von Johannes dem Täufer dazu führte, dass die Aufforderung der Psyche so stark wurde, dass er zur Tat-als-Wende schritt und durch Wunder und Verkündigung seiner frohen Botschaft Trost spendete. Davor hatte es eine lange Periode von Unterdrückung sowohl durch König Herodes als auch durch die Römer gegeben, unter der seine Familie und er wie alle Israelis leiden mussten. Die Römer regierten ja nach dem Prinzip „Teile und herrsche“ und rissen die Familienverbände auseinander, indem z.B. jeder zu seinem Geburtsort ziehen sollte, und Trennung erzeugt Leid. Auch bei Mohammed gab es eine lange Zeit von Unterdrückung und Ungerechtigkeiten, die er als Vollwaise mit steigender Wut erdulden musste, bis er auf den Ruf der Psyche hörte und sich und alle, die ihm folgten, durch die Tat-als-Wende von ungerechter Behandlung befreite. In der ausdrücklichen Auslegung dieses „Vorgriffs“ meine ich, das Folgende damit aufzeigen zu können: bei allen vier Religionsstiftern gab es eine lange Zeit von Missständen und Widersprüchlichkeiten auf der Ebene der Materie (als Selbstentfremdung des Absoluten), die zu entsprechenden primären Befindlichkeiten geführt haben, bei Mohammed aufgrund erlebter Ungerechtigkeiten zu Wut, bei Moses aufgrund der Verfolgung zu Angst, bei Jesus aufgrund von Getrenntheit und Verlusterlebnissen bei anderen und sich selbst zu Leid und bei Buddha aufgrund der Widerwärtigkeit, dass eine Oberschicht im Luxus schwelgte, während es den meisten anderen schlecht ging, zu Abscheu. („Primär“ bedeutet hier nur, dass die betreffende Befindlichkeit im Vordergrund stand, alle anderen Befindlichkeiten aber genauso wichtig waren. Beispielsweise hat Buddha auch viel über das Leid gesprochen, aber er hatte mehr Abstand dazu und hatte selbst lange nicht so gelitten wie Jesus. Moses hatte so große Angst, vor den Pharao zu treten, dass es ihm die Sprache verschlug und er seinen Bruder Aaron mitnehmen musste. Dabei hatte er wohl vor dem Zorn Gottes, wenn er dessen Auftrag nicht erfüllte, mehr Angst als vor dem Pharao, sonst wäre er wahrscheinlich nicht dorthin gegangen.) Alle vier haben lange Zeit nicht auf den entsprechenden Ruf der Psyche gehört, wie abscheulich, Wut, Angst und Leid erzeugend ein derartiges In-der-Welt-Sein war, bis sie den Ruf aufgrund besonders krasser Ereignisse oder vielleicht auch, weil sich zu viel angesammelt und der berühmte Tropfen das Fass zum Überlaufen gebracht hatte, nicht mehr überhören konnten und sich teilweise eher widerwillig oder ängstlich daran machten, etwas zu tun. Damit war dann der Bann gebrochen und sie erlebten den Aufstieg und die Verbindung zur Liebe. Bei Mohammed war die Lösung seiner Wutproblematik der Glaube, dass Allah barmherzig sei, sich der ungerecht Behandelten annehme, ihnen helfe und so die Gerechtigkeit wiederherstelle, sodass Mohammed dann gegen Diskriminierung und für Gerechtigkeit kämpfte, wobei er trotz aller Wut erregender Umstände sich immer bemühte, fair zu bleiben. Moses glaubte, unter dem Schutz Gottes zu stehen, was ihm die Kraft und den Mut gab, trotz aller Angst vom Pharao die Freilassung seines Volkes zu verlangen. Jesus vermittelte den Trost, dass wir alle Schwestern und Brüder sind, sodass wir so das Leid der Getrenntheit überwinden können, und Buddha überwand seine Abscheu vor der Adelsklasse, aus der er entstammte, indem er alles wertfrei betrachtete und sich für die Aufhebung aller Klassen- und Kastenunterschiede aktiv einsetzte. Bei allen vieren kam es zu einer bestimmten Erkenntnis, die sie dann aktiv in Handlung, also Tat-als-Wende, umsetzten und dabei darauf achteten, dass die Ergebnisse ihres Handelns ihren Erkenntnissen nicht widersprachen, dass sie also eine Wende erreichten und konsequent dabei blieben. Wenn man nun fragt, was letzten Endes zur jeweiligen Umkehr geführt hat, so muss man sagen, dass dies einerseits die Psyche, also die Dynamik der Liebe, war in Verbindung mit der Materie, also der Selbstentfremdung der Liebe. Die Wahrnehmung der jeweiligen Situationen (Materie) führte zu einer entsprechenden psychischen Bewertung und Reaktion, was eine derartige Aufforderung ergab, dass sich der Geist der Betreffenden, also der Aspekt der Rückkehr zur Liebe, nicht mehr verschließen konnte, sondern sich öffnete und sie mit Begeisterung zu den richtigen Taten führte. Insgesamt kann man also sagen, dass die Liebe mit all ihren Momenten, nämlich Psyche, Materie und Geist, sie zur Liebe geführt hat, sodass sich damit erneut in meinen Betrachtungen herausstellt, dass die Liebe sich selbst vermittelt. Es ist eine „dreieinheitliche Vermittlung“. Tanabe verwendet diesen Begriff zwar auch (Tanabe, Valérys Kunstphilosophie, 2011, S. 206), meint aber damit zum einen die Sündenvergebung, was meines Erachtens am ehesten der Psyche in ihrer freudig-begeisterten Annahme der Umkehr entspricht, zum anderen den Dank und die Vergeltung dafür in der Liebe zu Gott, der die Liebe ist, was wohl eine Parallele zum Geist ist, und zum dritten die Mitwirkung bzw. den konkreten Vollzug des Rückwegs durch die tätige Liebe am Nächsten, ein Äquivalent der Materie. Insofern kann ich Tanabes dreieinheitliche Vermittlung dann doch als Äquivalent zu der von Psyche, Geist und Materie betrachten.
Interessant zu erwähnen an dieser Stelle sind die „unverrückbaren Weisungen“, die Hans Küng im Vorwort von „Buddhismus und Christentum“ (Brück & Lai, 1997, S. 21 f.) aufführt, da man sie parallel zu den vier Grundbefindlichkeiten Angst, Wut, Leid und Abscheu, sowie zu den entsprechenden grundlegenden Gegensätzen kontinuierlich-diskontinuierlich, objektiv-subjektiv, linear-zirkulär und räumlich-zeitlich und damit zu den oben aufgeführten vier Weltreligionen Judentum, Islam, Christentum und Buddhismus sehen kann:
- Du sollst nicht töten! Oder positiv: Hab Ehrfurcht vor dem Leben! Also eine Verpflichtung auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor dem Leben.
- Du sollst nicht stehlen! Oder positiv: Handle gerecht und fair! Also eine Verpflichtung auf eine Kultur der Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung.
- Du sollst nicht lügen! Oder positiv: Rede und handle wahrhaftig! Also eine Verpflichtung auf eine Kultur der Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeit.
- Du sollst nicht Unzucht treiben! Oder positiv: Achtet und liebet einander! Also eine Verpflichtung auf eine Kultur der Gleichberechtigung und die Partnerschaft von Mann und Frau.
Der erste Punkt betrifft die Angst, da es um die Bedrohung des Lebens geht, und Angst als primäre Befindlichkeit (siehe oben) passt zum Judentum, da sowohl das Erleben von Moses als auch das des jüdischen Volkes bis heute von dem Gegensatz kontinuierlich-diskontinuierlich und damit verbunden von lebensbedrohlicher Gewalt wie Pogromen und Genozid geprägt sind. Das zweite betrifft die Wut, da es um Ungerechtigkeiten geht, und als primäre Befindlichkeit passt es zum Islam, da sowohl das Erleben von Mohammed als auch die Geschichte des Islam bis heute von dem Gegensatz objektiv-subjektiv und damit verbunden von Heimtücke und Ungerechtigkeiten immer wieder überschattet wurde. Die dritte Weisung betrifft das Leid, da es um Toleranz bzw. Duldung statt Trennung geht, und das passt als primäre Befindlichkeit insofern zum Christentum, als dass Jesus mit Intoleranz konfrontiert war und dieses Thema sich durch die ganze Geschichte der Christenheit zieht, sei es, dass anfänglich die Christen nicht toleriert wurden, sei es, dass sie selbst während der Inquisition intolerant waren, oder dass bis heute Christen anderen Kulturen gegenüber intolerant sind und sich in deren Entwicklung einmischen und so Leid verursachen. Mit dem Gegensatz linear-zirkulär wurde Jesus bei der Ermordung von Johannes dem Täufer konfrontiert: einerseits bewirkte Johannes einen Aufbruch, dass etwas nach vorne ging, also linear, andererseits war seine Ermordung ein Rückschlag für alle, also zirkulär, sodass Jesus Schmerz und Trauer darüber empfand. Mit der Befindlichkeit des Leids und dem Gegensatz linear-zirkulär ist die ganze Zeitlichkeit erschlossen, und die Erlösung von Leid liegt in der Zeitlosigkeit, in der Ewigkeit, nämlich das ewige Leben. In der Zeitlosigkeit liegt allerdings auch die ewige Verdammnis. Das vierte betrifft die Abscheu, da es um etwas Widerwärtiges wie Unzucht und Menschenverachtung geht, und passt als primäre Befindlichkeit zum Buddhismus, da Buddha die menschenverachtende Verschwendung der Reichen widerwärtig fand, und da bis heute im Buddhismus die Tendenz besteht, sich in der Meditation den Widerwärtigkeiten der Welt zu entziehen. Den Gegensatz räumlich-zeitlich löste Buddha in der Meditation, indem er sich dabei einerseits vorbildhaft Raum und Zeit ließ, andererseits aber keine konkreten Ratschläge erteilte und so einem menschenverachtenden und beherrschenden Dogmatismus weder Raum noch Zeit gab. Im Gegensatz zum Christentum, welches die Rückkehr zu Gott in der Zeitlosigkeit bzw. Ewigkeit sieht, ist im Buddhismus primär (siehe oben) die Räumlichkeit mit der Befindlichkeit der Abscheu erschlossen, sodass hier der Übergang, die Rückkehr oder die Erlösung in der Raumlosigkeit, in der Leere, im Nirwana besteht. Nirwana und ewiges Leben entsprechen sich also durchaus, und beides hat nichts mit Nihilismus im Sinne einer Verneinung jeglicher Seins-, Erkenntnis-, Wert- oder Gesellschaftsordnung zu tun. Interessant ist hierbei, dass das Christentum den Gegensatz gut-böse mit hinüber ins Jenseits nimmt, indem dort Himmel und Hölle räumlich getrennt sind (es gibt also noch Raum), während es diesen Gegensatz im buddhistischen Jenseits der Raumlosigkeit nicht gibt. Auf der anderen Seite geht im Christentum das Diesseits kontinuierlich ins Jenseits über, indem es einen Jüngsten Tag annimmt, der im Grunde auch der älteste Tag des Diesseits ist, während der Buddhismus streng trennt zwischen dem Diesseits als Verhaftet-Sein mit dem Raum und dem Jenseits als Raumlosigkeit.
An das Thema „Gott ist Liebe“ anknüpfend, denn Gott ist nur eine andere Bezeichnung für das Absolute, setzt sich Tanabe nun mit dem ersten Johannesbrief auseinander, in welchem dieser Satz im vierten Kapitel vorkommt, und mit dem Johannesevangelium, das wahrscheinlich vom selben Autor stammt, in dem aber Gott als das Licht beschrieben wird. „Gerade die Liebe ist das Nichts im Gegensatz dazu, dass Licht und Leben Sein sind. Die Einheit von Nichts-und-Liebe ist der Kern der Religion.“ (Tanabe, Valérys Kunstphilosophie, 2011, S. 207) Dem ist allerdings entgegenzuhalten, dass physikalisch betrachtet Licht sich sowohl wie Teilchen als auch wie Wellen verhält. In diesem Sinne ist es Sein und Nichts und daher eine ideale Metapher bzw. ein ideales Symbol für das Absolute. Die von Tanabe in den Vordergrund gebrachte Metanoia, in der durch die Liebe Gottes die Selbstaufgabe ermöglicht wird (ebenda, Seite 208), entspricht bei mir der Umkehr und der Liebe als Hingabe der eigenen Existenz (siehe oben). Kunst und Religion vermitteln beide die Liebe, das vereint sie, aber, „während die eine [die Religion] auf dem Tun-Glauben-Erleben der transzendenten Wende fußt, [bleibt] die andere [die Kunst] auf dem Standpunkt des Symbols [stehen …], das immanent unmittelbar das Nichts in Sein verwandelt“ (ebenda). Für meine Begriffe stellt die Kunst die besondere Wirkung der Psyche in den Vordergrund und baut darauf – im Unterschied zur Religion –, dass das Individuum als geistiges Subjekt dann wohl folgt, während die Religion den Glauben an die Dynamik der Liebe als Grundlage voraussetzt, sodass das Individuum als geistiges Subjekt auf den Aufruf der Liebe hört und sich nicht absondert (Sünde), und – im Unterschied zur Kunst – der unmittelbaren Wirkung der Psyche keine besondere Aufmerksamkeit entgegenbringt. So stehen sich Kunst und Religion gegenüber und ergänzen sich vereint in der Vermittlung der Liebe.
An dieser Stelle möchte ich einmal zusammenfassen, was die bisherige Analyse erbracht hat. In „Gedanken zu "Sein und Zeit"“ (Kolb, 2011) konnte in Ergänzung zu Heidegger (Heidegger, Sein und Zeit, 2006) die Frage nach dem Sinn des Seins, also nach dem Rahmen, in welchem das Sein verständlich wird, durch die Prozesshaftigkeit mit ihren vier Ekstasen Gewesenheit bzw. Herkunft, Zukunft, Gegenwart bzw. Ankunft und Räumlichkeit bzw. Auskunft beantwortet werden. Ferner ergaben sich für die Befindlichkeit die fünf Grundbefindlichkeiten Freude, die dem gesamten Entwicklungsprozess des Daseins zugeordnet werden konnte, Wut mit der primären Ekstase der Gewesenheit bzw. Herkunft, Angst mit der primären Ekstase der Zukunft, Leid mit der primären Ekstase der Gegenwart bzw. Ankunft und Abscheu mit der primären Ekstase der Räumlichkeit bzw. Auskunft. Die Befindlichkeit bzw. die Psyche, wie ich sie hier genannt habe, lässt sich vollständig analysieren und beschreiben durch diese fünf Grundbefindlichkeiten. Weiterhin ergab sich in dem Rahmen der Prozesshaftigkeit, dass das Dasein in seiner Entwicklung zwischen zwei Polen oszilliert, die sich durch zwei extreme Modi der Sorge des Daseins charakterisieren lassen, zum einen Abhängigkeit von der Welt im Besorgen von Ruhe und Kontrolle, zum anderen gegenseitige Angewiesenheit in einer Gemeinschaft (bzw. in der Welt insgesamt) im Streben nach Liebe und Erfüllung. Im ersten Kapitel hier konnte gezeigt werden, dass das Dasein mit fünf grundlegenden Widersprüchen in der Welt konfrontiert ist, und dass es Liebe und Erfüllung nur erreichen kann, wenn es diese Widersprüche (und damit alle Widersprüche in der Welt) überwindet. Es ist also so lange von der Welt abhängig, bis diese Widersprüche, nämlich die Gegensätze aktiv-passiv, subjektiv-objektiv, diskontinuierlich-kontinuierlich, linear-zirkulär und zeitlich-räumlich, in seiner Beziehung zum Sein überhaupt, also in seinem menschlichen Leben, aufgehoben bzw. überwunden sind. Dabei ist der Gegensatz aktiv-passiv mit der Befindlichkeit der Freude und dem Geschmackssinn, der Gegensatz subjektiv-objektiv mit Wut und dem Geruchssinn, der Gegensatz diskontinuierlich-kontinuierlich mit Angst und dem Tastsinn, der Gegensatz linear-zirkulär mit Leid und dem Gehörsinn und der Gegensatz zeitlich-räumlich mit Abscheu und dem Gesichtssinn verknüpft. Hieraus wird ersichtlich, dass die oszillierende Entwicklung des Daseins und alle Widersprüche in seinem menschlichen Leben mit seiner Sinnlichkeit, einem Teil seiner Leiblichkeit, zu tun haben, und dass die Abhängigkeit von der Welt aufgrund der Materie besteht, die sich isomorph durch die Entsprechung zwischen den leiblichen Sinnen und den Gegensätzlichkeiten der Materie in der Leiblichkeit abbildet. Je größer die Gegensätze, je extremer die Widersprüche, desto größer die Abhängigkeit, desto uneigentlicher und sich selbst mehr entfremdet ist das Dasein, desto weniger echt und unmittelbar ist sein Verständnis von seinem Worumwillen, desto geringer also seine Fähigkeit zu lieben aufgrund seines Mangels an echtem und unmittelbarem Verständnis seines Worumwillens. Diese Fähigkeit ist der Geist, der Aspekt der Rückkehr der Liebe zu sich selbst, die transzendierende Fähigkeit zu lieben. Befindlichkeit, Leiblichkeit und Liebesfähigkeit bzw. Psyche, Materie und Geist sind zwar bei jedem einzelnen Dasein verschieden, aber sie sind insofern auch allgemein, als dass sie jeweils aus denselben Komponenten bestehen und somit gleichermaßen analysiert werden können. Sie haben bei jedem einzelnen Dasein dieselben vergleichbaren Charakteristika. Insofern können wir von der Psyche, der Materie und dem Geist sprechen.
Haben wir nun mit diesen Bezeichnungen dasselbe angesprochen wie Tanabe? Die Psyche als Befindlichkeit kommt bei ihm gar nicht vor, sie wurde ja von mir entsprechend eingeführt. Es geht also nur noch um Materie und Geist. Materie war bei Tanabe die Selbstentfremdung des Absoluten, also der Liebe, denn Liebe ist ja das Absolute, wie ich oben gezeigt habe. In seiner Leiblichkeit und Sinnlichkeit ist das Dasein sich selbst entfremdet, und dies gilt allgemein für jedes Dasein, so dass die Materie als die Grundlage der Sinnlichkeit die Selbstentfremdung von allem Dasein ist, also die Selbstentfremdung des Absoluten. Der Geist bei Tanabe war der Aspekt der Rückkehr des Absoluten zu sich selbst, und das ist ja gerade die Liebesfähigkeit. Somit ist die Frage, ob die Bezeichnungen von Materie und Geist als Leiblichkeit und Liebesfähigkeit dasselbe meinen wie Tanabe, positiv zu beantworten.
Fahren wir nun fort mit der Zusammenfassung: Als in die Welt geworfenes Entwerfend-Sein ist das Dasein ein Individuum und damit Objekt der Psyche und geistiges Subjekt. In seiner spezifischen Entwicklung, die zwischen Aufstieg zum Absoluten und Abstieg in die Selbstentfremdung oszilliert und deren Richtung durch die leibliche (in der Materie) Tat-als-Wende jeweils geändert wird, ist das Dasein eine auf Verstehen rückführbar handelnde Spezies im Sinne von Tanabe und damit ein Objekt der Zukunftsvorstellungen, also des Geistes, und ein in der Materie tätiges, also materielles Subjekt. In seinem Hören-Wollen auf den Gewissensruf bzw. in seinem Achten-Wollen auf seine Befindlichkeit der Abscheu, nichts gegen seine Unzulänglichkeit zu tun, ist das Dasein im Begriff umzukehren, also seine Liebesfähigkeit und damit immer mehr ein Selbstbewusstsein im Sinne von Tanabe (man könnte es auch ganzheitliches Selbstverständnis nennen) zu entwickeln, sodass es schließlich nach der Tat zum sich den Ausdruck eindrücklich aneignenden Genus nach Tanabe bzw. zum Gemeinschaftswesen wird, also als Objekt der Materie das Ergebnis der Tat, die Auskunft, annimmt (eigentlich) oder ablehnt (uneigentlich) und als psychisches Subjekt in der emotionalen Bewertung der allgemein von der Gemeinschaft akzeptierten oder der von ihm persönlich zurückgewiesenen Auskunft zur Einheit von Bewegung und Ruhe des Beisichseins, zu echtem und unmittelbarem Verstehen des Worumwillens von allem Seienden und damit zu vollkommener Liebesfähigkeit gelangt oder nicht. Wie können wir nun das Verhältnis zwischen dem Dasein und dem Sein überhaupt, also zwischen dem Dasein und der absoluten Nichtigkeit, dem Absoluten oder der Liebe, wie können wir diese Beziehung und damit das menschliche Leben mithilfe von Psyche, Materie und Geist einerseits und Individuum, Spezies und Genus andererseits näher charakterisieren? Die Psyche ruft das Dasein als Individuum und als Spezies, also als Einzelnes und als Besonderes, dazu auf, die Gegensätzlichkeiten der Materie zu überwinden. Wenn das Dasein seine Psyche beachtet, dann bemüht es sich als Individuum, den Aufruf zu verstehen, wobei andere in der Gemeinschaft, in der das Dasein Mitglied ist, dieses beim vorausgehenden Sich-Aneignen als Genus unterstützen können, und je echter und unmittelbarer es das Drängen seiner Psyche versteht, je größer also seine Liebesfähigkeit bzw. sein Selbstbewusstsein im Sinne von Tanabe ist, und je einladender die im Geist entwickelten Zukunftsvorstellungen des Seinkönnens des Daseins sind, desto wahrscheinlicher ist die Durchführung einer Tat-als-Wende als Spezies anhand des durch befindliches Verstehen als Individuum entwickelten Seinkönnens, also als ein in der Materie auf Verstehen rückführbar tätiges und damit Objekt des Geistes und materielles Subjekt. Ob die Tat eine Wende herbeigeführt hat, stellt sich erst im weiteren Verlauf der Entwicklung durch den Austausch mit dem Sein überhaupt heraus. Als Objekt der Materie nimmt das Dasein im Zusammenschluss mit anderen als Genus im Idealfall die Auskunft über die einzelne Tat auf, integriert sie in den Gesamtzusammenhang seiner Entwicklung und bewertet diesen emotional in Übereinstimmung mit anderen als psychisches Subjekt. Wenn es eine Wende zum Aufstieg gegeben hat, stellt das Dasein als Genus fest, dass es sowohl „äußerlich“ als auch „innerlich“ immer mehr zur Einheit geworden ist, ansonsten wird ihm vor allem emotional deutlich, dass es sich immer mehr von ihm selbst und anderen entfremdet hat und sich dann in einem Abstieg befindet, die Spaltungen, sein Festhalten an Täuschungen und seine Abhängigkeit von der Welt sind größer geworden. Wann immer das Dasein mithilfe seines Geistes über das Verstehen seiner Psyche erkennt, dass es im Abstieg begriffen ist, kann es durch eine entsprechende Tat eine Wende herbeiführen. An jeder Wende kann das Dasein etwas lernen, d.h. seine Liebesfähigkeit steigern, bei einer Wende vom Aufstieg zum Abstieg kann es immer mehr begreifen, wie es einen Abstieg verhindern kann, und bei einer Wende vom Abstieg zum Aufstieg, wie es immer wieder einen Aufstieg bewirken kann. Insofern ist jede Wende für die Entwicklung seiner Liebesfähigkeit wichtig und kann ihm selbst und durch entsprechende Vermittlung an andere auch diesen helfen, immer mehr zur Liebe zu kommen. Das Verhältnis des Daseins zum Sein überhaupt zeigt sich in der Entwicklung des Daseins: mit dem Aufruf der Psyche gibt das Absolute dem Dasein einen Impuls zu handeln. Die Psyche hat also etwas Dynamisches und belebt dadurch das Dasein, sodass man sie als Beziehung und Leben vermittelnde Dynamik der Liebe bezeichnen kann, die immanent im Dasein als Individuum zur Wirkung kommt. Der Geist der Gemeinschaft, in der das Dasein Mitglied ist, hilft dem Dasein als Individuum und geistiges Subjekt seine Psyche immer echter und unmittelbarer zu verstehen in ihrem Worumwillen und damit auch im Worumwillen allen Daseins, sodass der Geist als transzendentes Element ein Aspekt der Rückkehr der Liebe zu sich selbst ist. Indem das Dasein als Individuum Psyche und Geist so verbindet, dass die Tat, die es als Spezies – durch die Tat ist das Dasein etwas Besonderes – durch die Vermittlung von Geist und Psyche ausführt, eine Wende herbeiführt, überwindet das Dasein in der Materie den Gegensatz von Immanenz und Transzendenz, sodass das Dasein immer mehr positiv zu bewertende Auskunft erhält, und indem sich in der Beziehung des Daseins zu allen anderen bzw. zum Sein überhaupt, also zum Absoluten, herausstellt, dass es wahrhaftig eine Wende zum Aufstieg ist, manifestiert sich in dieser Beziehung die Wahrheit, und das Dasein kommt immer mehr in die Liebe, je größer und umfangreicher diese Wahrheit wird, bis das menschliche Leben des Daseins als Genus und Gemeinschaftswesen dann vollkommen wahr geworden ist und eine Einheit besteht von Bewegung und Ruhe des Beisichseins, aber auch eine Einheit mit den anderen in demselben Geist, dem Geist der Liebe bzw. dem Geist des absoluten Nichts. In der Psyche herrscht dann Begeisterung, und das befindliche Verstehen des Daseins davon ist Dankbarkeit. Die Materie schließlich, in der alle Gegensätze überwunden sind, ist geklärt, es ist klar erkennbar, dass alles mit allem in Beziehung steht (dies folgt aus der gegenseitigen Angewiesenheit in der Welt).
Kritisch bei dieser Entwicklung ist immer, ob das Dasein einerseits als Objekt jeweils der Aufforderung der Psyche und der Einladung des Geistes folgt oder sich widersetzt und in der Gemeinschaft die Auskunft aus dem Materiellen annimmt oder zurückweist, und ob es andererseits als Subjekt Geist, Materie und Psyche so benutzt, dass die Gegensätzlichkeiten insgesamt immer geringer werden oder größer. Je stärker Wut, Angst, Leid und Abscheu oder je stärker sich jegliche Stimmung an einzelnem Seienden in der Welt festmacht und damit immer uneigentlicher wird – je kritischer und unruhiger also die Psyche ist – oder je konflikthafter sich verschiedene Möglichkeiten des Seinkönnens gegenüberstehen, sodass Entscheidungen zwischen ihnen immer schwieriger werden, – je kritischer und unruhiger der Geist ist – oder je unüberwindbarer die Gegensätzlichkeiten der Materie (aktiv-passiv, subjektiv-objektiv, kontinuierlich-diskontinuierlich, linear-zirkulär, räumlich-zeitlich und weiblich-männlich) – je kritischer und unruhiger die Materie ist –, desto weniger ist das Dasein Objekt oder benutzt Geist, Materie oder Psyche in angemessener Weise. Wenn es als Objekt dabei die Psyche als Individuum, die Materie als Genus oder den Geist als Spezies zurückweist, kann das darin liegende Misstrauen auch berechtigt sein, weil es zuvor die Psyche als Genus, die Materie als Spezies oder den Geist als Individuum unangemessen benutzt hat. Entsprechend kann eine unangemessene Benutzung von Geist, Materie oder Psyche auch auf einer vorangegangenen Zurückweisung von Psyche, Geist oder Materie beruhen. Wie hieraus ersichtlich wird, kann sich schnell ein Teufelskreis aufbauen, wenn das Dasein an einer Stelle etwas nicht annimmt oder unangemessen benutzt. Andererseits kann es eine derartige Entwicklung am zuverlässigsten in der Materie erkennen, an der Entfremdung der Liebe von sich selbst, und je nach dem dort, wo noch die größte Klarheit herrscht, in der Psyche oder im Geist, ansetzen und eine Umkehr einleiten oder sich als Genus Hilfe bei einem vorspringend-befreienden Mittler holen.
Shin-ichi Hisamatsu: Die Philosophie des Erwachens zum gestaltlosen Selbst, das in eine lebendige, reale Welt zurückkehrt
[Bearbeiten]Bei Hisamatsu scheint es fraglich, ob man ihn als Philosophen im strengen Sinn bezeichnen kann. Seine Stärke ist nicht das Schreiben, sondern liegt „in der lebendigen Wirkung, die er als Zen-Meister in jeder Begegnung zeigte“ (Ohashi, 2011, S. 38). Was bei Nishida die reine Erfahrung bzw. das Absolute Nichts ist, ist bei Hisamatsu das Zen-Erwachen. Wie er in seinem bei Ohashi (Ohashi, 2011) aufgenommenen Aufsatz schreibt, werde der Mensch durch die Zen-Praxis erst zum „Zweifelskloß“, und erst in dessen Durchbrechen erwache er dann zu seinem „ursprünglichen Selbst“ (Hisamatsu, Eine Erläuterung des Lin-chi-(=Rinzai)-Zen, 2011, S. 219).
Im zweiten Aufsatz (Hisamatsu, Kunst und Kunstwerke im Zen-Buddhismus, 2011) in Ohashi (Ohashi, 2011) umschreibt Hisamatsu das „ursprüngliche Selbst“ ausführlicher als das wahre oder form- und weiselose Selbst (ebenda, Seite 226) und die entscheidende Zen-Erfahrung als „ein Erwachen zum Form- und Weiselosen in unserem Selbst“ (ebenda, Seite 227). Keine Form und keine Weise heißt begrifflich nicht fassbar, dieses gestaltlose Selbst ist also absolutes Nichts. „Unser gewöhnliches Selbst bleibt fast immer in endlosen Gegensätzen [...] zwischen Sein und Nichtsein befangen“ (ebenda). Erst in der Überwindung der Gegensätze, wie in Kapitel 1 dargestellt, „kommt das form- und weiselose Selbst zum Erwachen“ (ebenda). Wahre Zen-Kunst ist, wenn „das form- und weiselose Selbst [...] am Kunstwerk verwirklicht zum Ausdruck kommt“ (ebenda, Seite 232).
Zum „Zweifelskloß“ zu werden, bedeutet meines Erachtens, durch die Zen-Übung mit allen Widersprüchen und Gegensätzlichkeiten konfrontiert zu werden, wie sie z.B. in Kapitel 1 erläutert wurden. In deren Überwindung bzw. im Durchbrechen dieses „Zweifelskloßes“ erwacht dann das Dasein zu seinem ursprünglichen Selbst, d.h. die Beziehung zu seinem Sein wird wahr, das Dasein erwacht zu seiner ursprünglichen Beziehung zu seinem und dem Sein überhaupt, es erwacht also zu seinem ursprünglichen und wahren menschlichen Leben und ist in der Liebe. Nach Tanabe ist es dann ganz Genus. Das Erwachen ist also auch die Rückkehr des Absoluten, der Liebe, zu sich selbst. Das Erwachen ist aber abhängig von der Zen-Praxis, das ist zum einen die Aufforderung aufzuwachen, der Zen-Meister als Mittler beeinflusst so die Befindlichkeit des Daseins als Individuum, die Psyche, und zum andern die Tat-als-Wende des Daseins als Spezies, das Durchbrechen des „Zweifelskloßes“ bzw. die Überwindung der Gegensätzlichkeiten in der Materie. Insofern ist das Erwachen etwas Relatives, das ursprüngliche Selbst aber ist absolut.
Im Zen werden aber das Erwachen und das ursprüngliche Selbst als total umkehrbar angesehen. Nach einer Kritik von Katsumi Takizawa, einem Schüler Nishidas, der unter dem Eindruck von Karl Barth evangelischer Christ geworden war, „müsse [dann] das Zen-Erwachen, das aber doch von konkreten Bedingungen abhänge, zum Maß aller Dinge überhöht werden, was eine unzulässige Absolutsetzung relativer Erscheinungen sei. Die Zen-Einheit von Absolutem und Relativem [...] sei eine unzulässige Vermischung des Begründenden mit dem Begründeten“ (Brück & Lai, 1997, S. 186). In der Überhöhung des Zen-Erwachens, welches ja auch auf einer Tat des Daseins beruht, liegt auch eine Überheblichkeit des Daseins als Spezies. Dies ist eine ähnliche Kritik, wie sie Tanabe an Nishida übte, dass man auf ein ewiges System, wie Nishida es durch seine Einführung des absoluten Nichts als reine Erfahrung getan habe, verzichten müsse (Tanabe, Versuch, die Bedeutung der Logik der Spezies zu klären, 2011, S. 143). Hier ist das Zen-Erwachen die reine Erfahrung. Im Unterschied zu Nishida betont Hisamatsu aber ausdrücklich, dass der so erwachte Mensch zurückkomme zum „wundersamen Wirken“ in der wirklichen Welt (ebenda), sonst sei es kein Lin-chi-Zen sondern „Zen des toten Menschen“ (Hisamatsu, Eine Erläuterung des Lin-chi-(=Rinzai)-Zen, 2011, S. 220). Entsprechend war Hisamatsu aktiv, indem er z.B. die F.A.S.-Gesellschaft (Formloses Selbst, All-Menschheit, Suprahistorische Gestaltung der Geschichte) gründete, um vom Zen ausgehend mit sozio-ökonomischen Problemen aktiv umzugehen.
Takizawa bezeichnet das Verhältnis von Erwachen und gestaltlosem bzw. ursprünglichem und wahrem Selbst als untrennbar-nicht-identisch-unumkehrbar (Brück & Lai, 1997, S. 185). Die Untrennbarkeit liegt meines Erachtens im Geist begründet, weil das wahre Selbst geistig im Dasein schon immer da ist, und weil der Geist die transzendente Liebesfähigkeit ist, die das Erwachen und die zugrunde liegende Tat untrennbar mit dem wahren Selbst verbindet, das Nicht-identisch-Sein in der Materie, weil es nur dort Spaltung und Nicht-Identität gibt, und die Unumkehrbarkeit in der Psyche, weil sie dynamisch das Sich-Einlassen und die Überwindung von Gegensätzen fordert, was jeweils ja nur unumkehrbar in einer Richtung möglich ist. Insofern werden Erwachen und wahres Selbst absolut dialektisch (nach Tanabe, s. Kapitel 2) durch Geist, Materie und Psyche vermittelt. Entsprechend sind das gewöhnliche Selbst, das Ich oder Ego, und das wahre Selbst eines und zwei zugleich, wobei das wahre Selbst einen funktionalen Vorrang als das Ursprünglichere vor dem Ich bzw. Ego hat.
Anhand der Psychologik der Liebe aus dem vorigen Kapitel (siehe auch das Schaubild unten) können wir uns das Ganze auch so veranschaulichen: Beim Entwicklungsprozess des Daseins, der in diesem Schaubild um das absolute Nichts bzw. um die Liebe kreist und sich oszillierend daran annähern und sich wieder entfernen kann, verharren wir des Öfteren an verschiedenen Stellen, z.B. beim Geist, wenn wir grübeln, oder bei der Materie, wenn wir uns in einen Aktionismus hineinsteigern. Was wir aber meistens vermeiden, weil es dort zu unangenehm werden kann, ist, bei der Psyche zu verweilen. Genau das wird aber bei der Meditation gemacht: Wir sitzen ganz ruhig und lassen uns so nicht auf die Materie ein, und wir stoppen uns beim Denken, lassen uns also nicht auf den Geist ein, sodass wir uns dazu bringen, bei der Psyche anzuhalten und uns so mit der Dynamik der Liebe zu konfrontieren, was oft von Meditierenden als inneres Feuer beschrieben wird. Dadurch setzen wir uns immer mehr den sinnlich vermittelten Gegensätzlichkeiten und Widersprüchen aus, die in uns durch die Psyche, also durch Wut, Angst, Leid und Abscheu, präsent sind (in uns als psychischem Subjekt) und die uns (als psychischem Objekt) die Psyche direkt vor die Nase setzt, sodass wir immer mehr zum „Zweifelskloß“ werden. Im Durchstoßen dieses Kloßes, also im individuellen Erwachen, werden uns unsere wahren Möglichkeiten des Seinkönnens klar und deutlich, also unser wahres und ursprüngliches Selbst – ursprünglich als die geistige Antwort (bzw. Entsprechung) auf unsere ursprünglichen Gegensätzlichkeiten –, sodass wir in der Umsetzung dieser Möglichkeiten zum „wundersamen Wirken“ im materiellen Alltag kommen. Meditieren hilft also, das Gleichgewicht zwischen Psyche, Geist und Materie bzw. zwischen Fühlen, Denken und Handeln, was sich oft zu Ungunsten der Psyche bzw. des Fühlens und damit der Lebendigkeit verschiebt, wiederherzustellen. Indem immer mehr Zweifel durchstoßen werden, erwacht das Dasein als Individuum immer mehr zu seinem wahren Selbst und nähert sich so immer mehr dem absoluten Nichts bzw. der Liebe. Erwachen ist dabei das Entdecken von immer mehr wahren Möglichkeiten des Seinkönnens des Daseins. So betrachtet scheint das wahre Selbst etwas Absolutes zu sein. Andererseits werden die Möglichkeiten des Seinkönnens des Daseins von diesem als individuelles geistiges Subjekt erst erschaffen, sodass das Selbst und auch das entdeckte wahre Selbst etwas Relatives ist. Im Unterschied zu Takizawa ist meine Betrachtungsweise nicht-metaphysisch, sie geht nicht von einem schon von vorneherein feststehenden wahren Selbst aus. Auch im Zen gibt es außer dem absoluten Nichts nichts Absolutes, und vom Absoluten geht Zen nicht aus, sondern hin. Erst wenn wir vollkommen in der Liebe sind, ist unser Selbst absolut, und zwar absolutes Nichts, und auch das Erwachen ist dann erst absolut, das absolute Nichts. Solange das Erwachen und das wahre Selbst nur partiell und noch nicht vollkommen sind, sind sie relativ und in dem durch die Psychologik der Liebe beschriebenen Zirkelprozess sich wechselseitig bestimmend, d.h. durch fortschreitendes Erwachen wird das wahre Selbst immer mehr entdeckt, und durch fortschreitendes Entdecken des wahren Selbst kommt es zu immer mehr „wundersamem Wirken“, wodurch immer tiefer liegende, ursprünglichere und bis dahin noch verborgene Gegensätzlichkeiten zum Vorschein kommen können, sodass dies wiederum zu erneutem und immer größerem Erwachen führt.
Weil Hisamatsu weniger Philosoph, sondern mehr Zen-Meister war und in dem ersten hier referierten Aufsatz (Hisamatsu, Eine Erläuterung des Lin-chi-(=Rinzai)-Zen, 2011) eine Religion interpretiert, und weil Takizawa dasselbe tut, der eine als Insider, der andere als Outsider, stellt sich für mich hier die Frage, wer eine Religion in einem philosophischen oder theologisch engagierten Dialog interpretieren kann, ohne dadurch Gegensätze zu erzeugen. Von der Psychologie her ist klar, dass ein kontroverser Dialog nur dann konstruktiv sein kann, wenn die jeweiligen Kontrahenten nur sich selbst interpretieren und ansonsten möglichst nah bei den Fakten bleiben. In diesem Zusammenhang führte nun Christian Joachim in einem Referat den Begriff des „Homo Religiosus“ (Ohashi, 2011, S. 277) ein, sodass durch die Haltung eines religiösen Menschen ein konstruktiver Dialog zwischen verschiedenen Religionen möglich wird. Ich möchte diesen Gedanken folgendermaßen erweitern: allgemein betrachtet kann ein Mensch religiös sein, im Besonderen hat er dann ein bestimmtes religiöses Bekenntnis und im Einzelnen ein bestimmtes religiöses Erleben. Hinsichtlich der Religion ergibt sich somit eine Dialektik mit diesen drei Komponenten des Allgemeinen, des Besonderen und des Einzelnen. Entsprechend kann jemand Religion im Allgemeinen, ein bestimmtes eigenes religiöses Bekenntnis im Besonderen und sein eigenes individuelles religiöses Erleben im Einzelnen interpretieren, ohne dass ein Dialog mit anderen destruktiv werden muss. Auf diese Weise kann ein Dialog wesentlich tiefere Dimensionen erreichen, als wenn die betreffenden Dialogpartner nur auf der allgemeinen Ebene kommunizieren.
Keiji Nishitani: Unendlicher Schrecken, unendliche Schönheit, Leere und durch das Herz inspirierte »Verrücktheit«
[Bearbeiten]Nishitani ging von dem Problem des Bösen aus, und „Einsicht in das Böse und in den Nihilismus in einem radikalen Sinne verlangt den Verzicht auf einen Systemgedanken“ (Ohashi, 2011, S. 238). Hierin sehe ich eine Parallele zu Tanabe, der auch den Verzicht auf ein ewiges System forderte, weil er am Standpunkt der Vermittlung durch die Tat festhielt (Tanabe, Versuch, die Bedeutung der Logik der Spezies zu klären, 2011, S. 143), und beim Bösen geht es ja um die böse Tat oder die Unterlassung der guten, in jedem Fall also um die Tat. Dieser Verzicht auf einen Systemgedanken führte ihn dann zu seinem Hauptgedanken, dem Gedanken der Leere, und damit ist er bei dem Hauptgedanken der gesamten Kyôto-Schule, dem Gedanken des absoluten Nichts. Beim Denken geht es um das Begreifen der Tat. Begreifen ist einerseits sinnlich (mit den Händen anfassen), und das sinnlich Begriffene wird dann durch einen Begriff ausgedrückt. Der ausdrückliche Begriff ist ein Wort, dem der Logos ontologisch zu Grunde liegt. Andererseits ist das Begreifen auch eine Tat, insgesamt also eine sinnliche Tat, eine Tat, die einen sinnlichen Eindruck hinterlässt, der dann wieder ausgedrückt werden kann. Der Logos ist also das Dazwischen zwischen dem Eindruck, den die Tat als solche macht, und der Tat des Ausdrucks des dadurch Begriffenen, das, was zwischen Eindruck und Ausdruck vermittelt, also zwischen verschiedenen Taten. Die Tat ist das Gemachte, das Faktum. Die Tat in Worte fassen bedeutet dann ein „gegenseitiges, völlig ungehindertes Ineinander von Logos und Faktum“, wie es die Kegon-Schule des Buddhismus ausdrückt (Ohashi, 2011, S. 239). Etwas begrifflich Gefasstes kann auch noch einmal neu begrifflich gefasst werden, indem zum Beispiel schon früher begrifflich Gefasstes damit kombiniert wird. Dies ist dann ein „gegenseitiges, völlig ungehindertes Ineinander von Logos und Logos“. Wenn ich eine Tat begreife, dann ist dies auch eine Tat, also ein Faktum. Die Tat begreifen ist dann die Tat, eine Tat zu begreifen, und bedeutet, bevor man dies begrifflich fasst, ein „gegenseitiges, völlig ungehindertes Ineinander von Faktum und Faktum“. Will man dieses Ineinander zu Wort bringen, also begrifflich fassen, kommt man mit der Logik durcheinander, denn man muss in jedem Fall reduzieren, kann also nicht beide Fakten, das Begreifen und die eigentliche Tat, gleichzeitig in Begriffe fassen: ist die Tat begreifen ein „gegenseitiges, völlig ungehindertes Ineinander von Logos und gegenseitigem, völlig ungehindertem Ineinander von Faktum und Faktum“ oder ein „gegenseitiges, völlig ungehindertes Ineinander von Logos und gegenseitigem, völlig ungehindertem Ineinander von Logos und Faktum“?
Wenn man dies noch weiter ineinander verschachtelt, eine Tat, eine Tat zu begreifen und eventuell auszudrücken, eine Tat zu begreifen und eventuell auszudrücken, eine Tat zu begreifen und eventuell auszudrücken usw., dann erhält man als ein Extrem einmal Logos und unendlich oft Faktum oder als anderes Extrem unendlich oft Logos und einmal Faktum. Weiterhin sind auch sämtliche Mischungen von X mal Logos und Y mal Faktum möglich. Ferner kann es mehrere zusammenhängende Taten geben, die entweder zusammen oder erst jede einzeln und dann zusammen begriffen und eventuell ausgedrückt werden können, oder erst in mehreren Gruppen zusammen und dann alle zusammen begriffen und eventuell ausgedrückt werden können, so dass sich auch hier eine komplexe Struktur von X mal Logos und Y mal Faktum ergeben kann. Dies zeigt die Grenzen des systematischen Denkens, und wenn eine „Erfahrung dennoch zu Wort gebracht werden [soll], so darf solches Wort weder bloß logisch noch bloß unlogisch sein“ (ebenda, Seite 240). In der Praxis, also im Alltag, gibt es aufgrund von Erfahrungen natürlich Erwartungswerte sinnvoll zusammengefasster Gruppen von Fakten, auf die der Logos angewandt wird, bevor alles zusammen vom Logos her begriffen wird, so dass wir uns auf unser logisches Denken mit großer Sicherheit verlassen können. Je tiefer aber wir etwas ergründen wollen, desto geringer werden die Wahrscheinlichkeiten für die jeweiligen Erwartungswerte, so dass die Sicherheit unserer Logik immer mehr aufgeweicht wird. Ich sehe darin eine große Ähnlichkeit mit der Quantenphysik: auch hier gibt es Erwartungswerte, die im Makroskopischen eine Erwartungswahrscheinlichkeit von praktisch 1 haben, deren Wahrscheinlichkeit in der Größenordnung von Elementarteilchen aber immer kleiner wird. Wenn zum Beispiel bei der Spaltung eines Atomkerns zwei gleichartige Elementarteilchen in entgegengesetzte Richtungen fliegen und man irgendeinen Wert bei einem der beiden Teilchen misst – eine Messung entspricht in etwa dem In-Worte-fassen, in beiden Fällen kann man von einer Reduktion sprechen –, dann weiß man damit schon etwas über das andere Teilchen, was sich dann durch Messungen bestätigen lässt. Wenn ein alter Zen-Meister gesagt hat: Einer trinkt Wein, und ein anderer wird betrunken (ebenda, Seite 240), dann ist dies im Alltag bzw. auf der makroskopischen Ebene sehr unwahrscheinlich, bei Elementarteilchen jedoch, oder wenn man sehr tiefgründig denkt, geschieht dergleichen unter bestimmten Voraussetzungen relativ oft. Diese Voraussetzungen betreffen in der Quantenphysik, dass die Elementarteilchen z.B. aus demselben Atomkern stammen. Bei Individuen entspricht dem, dass sie einmal eine Einheit gebildet haben. Partner von Suchtkranken können zum Beispiel eine Kontrollsucht entwickeln, d.h. der eine trinkt, und der andere wird süchtig. Auch Heidegger kritisiert die Verwendung der Logik im westlichen Denken: Die Orientierung am Aussagesatz und dessen Logik stellt für ihn einen Sündenfall im sprachphilosophischen Denken des Abendlandes dar. Mit der Fundierung der Sprache im Existenzial der Rede hofft er auf eine „Befreiung der Grammatik von der Logik“ (Heidegger, Sein und Zeit, 2006, S. 165). Fundierung im Existenzial der Rede bedeutet, sich an der Tat des Begreifens zu orientieren und nicht am Ausdruck durch Worte. Die ausdrückliche Begriffsbildung an sich ist die fatale Reduktion des Begreifens, wenn sie nicht als dessen Reduktion aufgefasst wird. Ein Zen-Gedicht, dessen Herkunft mir leider nicht mehr einfällt, lässt sich bezüglich dieser Problematik etwa so auslegen, wobei dieser Zweizeiler noch wesentlich mehr Interpretationen zulässt und so noch ganz andere Inhalte ausdrückt: „Große Weite – offenes Ohr./ Nichts von heilig, sagte der Tor.“ „Große Weite“ drückt das Unermessliche ineins mit der Leere aus, „offenes Ohr“ unsere eigentliche Aufnahmefähigkeit ineins mit unserer Verschlossenheit. Hier werden Faktum und Begreifen angesprochen, der relative Eindruck. „Sagte“ ist der Ausdruck, und dass „der Tor“ es ist, der etwas ausdrückt, besagt, dass es töricht ist, das auszudrücken, weil „Nichts von heilig“ dabei herauskommt, nur Gespaltenes; dabei ist der Tor töricht ineins mit weise ob dieser Erkenntnis. Was jetzt allerdings „Nichts von heilig“ ist, die „Große Weite“ als Leere, der Eindruck des „offenen Ohrs“, das „Sagen“ als Ausdruck, der Logos beim Tor, der zwischen dem offenen Ohr, dem Eindruck, und dem Sagen, dem Ausdruck des Tors, liegt, oder „der Tor“ selbst, bleibt offen, bleibt „Große Weite“, die jemand mit „offenem Ohr“ vielleicht hören kann.
Bevor ich mich mit Nishitanis Aufsätzen befasse, noch ein Wort zum Logos: Zwischen dem Eindruck der Realität, dem Allgemeinen, und einem Ausdruck dieses Eindrucks, also einem Einzelnen, vermittelt der Logos als das Besondere. Die Realität löst beim Dasein eine bestimmte Befindlichkeit aus, und das entspricht der Psyche, wie im 2. Kapitel ausgeführt, also der Dynamik der Liebe, die Eindruck macht. Da jeder Ausdruck, wie oben festgestellt, eine Reduktion des Absoluten darstellt, bedeutet dies eine Entfremdung der Liebe, das ist die Materie, und der Logos als das Vermittelnde zwischen Psyche und Materie muss dann der Geist sein, der Aspekt der Rückkehr des Absoluten, also der Liebe, zu sich selbst. Was also jeweils allgemein, besonders oder einzeln ist, wechselt bei der absoluten Dialektik (siehe Tanabe) ständig je nach Zusammenhang. Diese Konzepte werden so relativiert und dadurch entsprechend aufgelöst. Wenn das Dasein in der Liebe ist, sein Leben bzw. seine Beziehung zum absoluten Nichts, zur Liebe, wahr ist, dann hat es die Widersprüchlichkeiten des Ausdrucks, der Materie, überwunden, es ist nicht mehr ausdruckshaft für sich selbst, sondern nur noch für andere, und sein Logos, sein Geist, seine Liebesfähigkeit ist vollkommen. Der Eindruck der Realität, seine durch die Realität hervorgerufene Befindlichkeit oder Psyche ist Begeisterung, die zu keiner Tat drängt, und was für andere eine Tat-als-Wende ist, ist „wundersames Wirken“ für das Dasein und keine Tat, es ist Tun im Nichts-Tun, eine Begeisterung am Alltäglichen, die die Alltäglichkeit alltäglich sein lassen kann, ohne in ihr verhaftet zu sein. Diese Begeisterung weist auf die Überwindung des Gegensatzes von Psyche und Geist hin.
Im ersten Aufsatz von Nishitani (Nishitani, Vom Wesen der Begegnung, 2011) geht es ihm darum, „den Grund der Begegnung bis ins Letzte zu ergründen“ (ebenda, Seite 243). Bei einer Beschreibung der Begegnung als „persönliches“ Verhältnis von „Ich und Du“ nach Martin Buber geht es um das „Persönliche“, also das, was durch alle Äußerlichkeiten „hindurch tönt“ (per sonare). Nishitani betrachtet nun zwei Sachverhalte, die sich zu widersprechen scheinen und doch gleichzeitig bestehen, sich also überlagern: für sich betrachtet sind „sowohl Ich als Du [...] als Herr der Absolute“, in ihrem Verhältnis zueinander sind „sowohl Ich als Du [...] je der absolut Relative“. Daraus abgeleitet ergibt sich die Überlagerung von Freiheit und Gleichheit, wobei Nishitani kritisiert, dass weder das eine noch das andere aufgrund von Moral einer Religion oder praktischer Vernunft nach Kant „bis zum letzten Grunde vollzogen“ (Nishitani, Vom Wesen der Begegnung, 2011, S. 245) wird, sodass es dort „kein wahres Begegnen der Menschen“ (ebenda) gibt. Die Gleichheit wird ja durch das Allgemeine, durch eine gegenseitige Verbundenheit bzw. Beziehung hergestellt, also z.B. durch einen Staat, der Gesetze erlässt, eine Religion mit Geboten und Verboten oder eine wie auch immer begründete Ethik. Nishitani fragt nun, ob es ein Allgemeines gibt, durch das „die absolute Gleichheit in Wahrheit verwirklicht“ (ebenda, Seite 246) wird. Dieses Allgemeine muss „einerseits den einzelnen Menschen und die Freiheit seines „Ich“ im Ganzen aufsaugen [...] und [...] zugleich andererseits [...] den Einzelnen und seine Freiheit im Ganzen wiederhervorgehen“ (ebenda) lassen können. In der absoluten Negation des Einzelnen und seiner Freiheit verschwindet ja das Gleich-Sein und die Gleichheit wird sinnlos. Dieses Allgemeine, Nishitani nennt es das wahre Allgemeine, lässt somit „die Gleichheit als absolute Negation des Einzelnen und seiner Freiheit in eins mit seiner absoluten Affirmation zustande kommen“ (ebenda). Wenn das Allgemeine die Einheit und damit die Gleichheit gesetzhaft vermittelt, kann es den Einzelnen nicht völlig aufsaugen – Gesetze können nicht alle Ausnahmen erfassen –, und wenn es dann die Gleichheit dadurch verwirklichen will, „dass es die Freiheit des Einzelnen gänzlich erstickt“ (ebenda), kommt es zum Totalitarismus. Andererseits lässt ein solches Allgemeines „die Einzelnen sich aus sich selber aufeinander beziehen“ (ebenda), da es „halbwegs den Einzelnen innewohnen bleibt“ (ebenda), denn bei vom Gesetz nicht erfassten Ausnahmen kann der Einzelne machen, was er will. Mit zunehmender Freiheit entsteht dann Anarchie. Wenn das Allgemeine Gesetze im weitesten Sinne schafft, ist es substanziell, das heißt das wahre Allgemeine darf nicht substanziell sein. Damit ist es das absolute Nichts (Nishida) oder die Leere (Nishitani).
Nishitani folgt dann Nishida, indem er den „Standort“ bestimmt, „auf dem die bis zu ihrem letzten Grund sich vollziehende Freiheit nicht der Anarchie verfällt“ (ebenda, Seite 247). „Dieser Ort öffnet sich erst dann, wenn die Hinneigung zur Gleichheit als Negation der Freiheit bis zur absoluten Negation der Freiheit vollzogen wird. Eben da ereignet sich der Ort der Leere als Ort der Freiheit“ (ebenda), und dort ist dann die Gleichheit sinnlos bzw. absolut negiert. Umgekehrt öffnet sich erst dann der Ort, auf dem die bis zu ihrem letzten Grund sich vollziehende Gleichheit nicht dem Totalitarismus verfällt, wenn die Hinneigung zur Freiheit als Negation der Einheit und Gleichheit bis zur absoluten Negation der Einheit und Gleichheit vollzogen wird. Eben da ereignet sich der Ort der Leere als Ort der Einheit und Gleichheit, und dort ist dann alles vereinzelt und unabhängig und daher die Freiheit sinnlos bzw. absolut negiert. Damit ereignet sich der Ort der Leere als der Ort der Freiheit in eins mit dem Ort der Einheit und Gleichheit. Da ein sich ereignender Ort etwas Prozesshaftes ist, ist der Rahmen, in dem dies alles verständlich wird, die Prozesshaftigkeit, der Sinn des Seins (Kolb, 2011). Wenn statt der Leere etwas anderes als Allgemeines genommen wird, wenn also ein anderer Standpunkt eingenommen wird, so schwankt die entsprechende Gemeinschaft zwischen Totalitarismus und Anarchie. „Der Totalitarismus trägt in sich immer die Möglichkeit, unmittelbar in Anarchie umzuschlagen – und umgekehrt“ (ebenda).
Inwiefern ist nun die Liebe als Allgemeines dasselbe wie die Leere? Dadurch, dass der einzelne Mensch in seinem Worumwillen echt und unmittelbar verstanden wird, werden er und die Freiheit seines „Ich“ im Ganzen aufgesaugt, und zugleich können er und seine Freiheit im Ganzen wieder hervorgehen. Damit ist die Liebe das wahre Allgemeine, das die Gleichheit als absolute Negation des Einzelnen und seiner Freiheit in eins mit seiner absoluten Affirmation zustande kommen lässt. Im echten und unmittelbaren Verstehen liegen absolute Verneinung und absolute Bejahung zugleich.
Die Überlagerung von wahrer Freiheit und wahrer Gleichheit gründet in der Leere und führt uns wieder zurück zu dem Sachverhalt, „dass Ich und Du je als Herr der Absolute sind, und dass zugleich Ich und Du je der absolut Relative sind“ (ebenda), worauf die Frage nach dem Wesen der Begegnung uns gebracht hat. In meiner Terminologie aus dem 2. Kapitel sind beide, Ich und Du, als Individuen geistige Subjekte und damit als Herren zwei Absolute, also absolute Herrscher darüber, ob sie von der Liebe entfremdet bleiben oder zu ihr umkehren wollen, und als Objekte der Psyche sind sie absolut Relative, also absolut ausgeliefert an die Dynamik der Liebe. Als Herren haben beide die freie Wahl, dem anderen gegenüber entfremdet zu bleiben, ja sogar sein Todfeind zu sein, oder umzukehren zur Liebe dem anderen gegenüber, sogar wenn er Todfeind ist und bleibt. Gleichzeitig sind beide aber der Dynamik der Liebe ausgeliefert, im Fall der Todfeindschaft einem u.U. verborgenen „unendlichen Schrecken“ (ebenda, Seite 251), im Fall der Umkehr zur Liebe dem Empfinden einer „unendlichen Schönheit“ (ebenda, Seite 253).
Die Zen-Geschichte, die Nishitani als Aufhänger für seinen Aufsatz benutzt, schildert nun beispielhaft, wie die beiden Zen-Meister sich begegnen und die absolute Gegnerschaft durchspielen. Dabei wird aufgezeigt, wie darin die absolute Harmonie in eins enthalten ist. Absolute Gegnerschaft ist das absolute Eintauchen bzw. Absteigen (siehe 2. Kapitel) in die Materie, in die Entfremdung der Liebe von sich selbst. Die Absolutheit des Gegeneinander kommt von der Kompromisslosigkeit her, die gleichzeitig eine absolute Indifferenz der eigenen Person gegenüber beinhaltet, was der eine Meister dadurch ausdrückt, dass er, vom anderen nach seinem Namen gefragt, nicht seinen eigenen, sondern den des anderen angibt, d.h. in der absoluten Gegnerschaft sieht jeder von seinem eigenen Ego ab und in dieser Alterozentriertheit herrscht der absolute Einklang, „beide sind Ein und das Selbe“ (ebenda, Seite 252). Wenn ein Individuum absolut als geistiges Subjekt handelt, sieht es also von sich als Subjekt ganz ab und ist nur noch geistig. Damit aber ist es schon umgekehrt und in der Liebe, in der Harmonie in absoluter „Beziehungslosigkeit“, dem absoluten Nichts bzw. der Leere. In der Absolutheit wird „der Streit zum Spiel verwandelt“ (ebenda, Seite 253). Ich und Du sind Nicht-Eins und Nicht-Zwei, was „besagt, dass jeder seine Absolutheit bewahrt und doch im Gegeneinander [, also Nicht-Eins,] steht [...]. In der vollkommenen Anerkennung dessen, dass Du in Deiner absoluten Indifferenz Ich bist und dadurch gerade auf absolute Weise Du selbst, lasse Ich Dich zu Mir selbst werden. Und Ich bin auf eben solche Weise Ich selbst, stehend in meiner absoluten Indifferenz [also Nicht-Zwei]“ (ebenda, Seite 252). Das ist die Überwindung des Gegensatzes von Immanenz und Transzendenz. Wer auf absolute Weise Er selbst ist, in seiner absoluten Indifferenz, ist ganz Genus, ist zurückgekehrt zum Absoluten, zum absoluten Nichts, zur Leere, zur Liebe. „Dafür müssen wir durch den Streit des Verschluckens oder Verschlucktwerdens [...], d.h. durch die wechselseitige Ertötung jedes kleinen Ich zu jenem Ort zurückkehren, in dem Ich und Du Nicht-Zwei sind und der Streit zum Spiel verwandelt wird“ (ebenda, Seite 253).
Wie kommen wir nun zur wahren Begegnung, d.h. wie können wir den Gegensatz von Immanenz und Transzendenz überwinden und zur wahren Transzendenz kommen? Die Zen-Geschichte, die Nishitani zitiert, zeigt als Weg, dass wir dazu durch den Streit hindurch und das Konzept unserer „Selbstverhaftung oder Selbstanhänglichkeit“ (ebenda, Seite 254) aufgeben müssen. Absolutes Nichts, Leere oder Liebe sind keine neuen Konzepte, sie sind jeweils Aufforderungen, alle Konzepte loszulassen und echt und unmittelbar das Worumwillen von allem Seienden zu verstehen (was aufgrund seiner negativen Definition, was es nicht ist, kein Konzept darstellt), und können dadurch befreiend wirken. Bei Leere oder Liebe geht es „um die Überwindung des mentalen Anhaftens an Konzepten [...] und deshalb gerade nicht um eine Realitätsaussage“ (Brück & Lai, 1997, S. 442), Leere bzw. Liebe ist vielmehr „eine Aussage über das Erkennen“ (ebenda), es ist keine neue Metaphysik, sondern es ist „anti-metaphysisch“ (ebenda). Leere oder Liebe haben „wesentlich die Funktion [...], das Bewusstsein vom Anhaften an Konzepten zu befreien“ (ebenda). Wenn in der Zen-Geschichte der eine Zen-Meister dem anderen gegenüber ausdrückt „Ich bin Du“, so sehe ich hier eine Parallele zwischen Zen und dem Christentum, denn auch Jesus hat dieses „Ich bin Du“ immer wieder ausgedrückt: gegenüber „dem Geringsten meiner Brüder“, dass man alles ihm antue, was man diesem Geringsten antue (Matthäus 25,40), gegenüber dem absoluten Du, also gegenüber Gott, und gegenüber der Obrigkeit, seien es die Hohepriester oder Pontius Pilatus. Letztere waren leider keine Zen-Meister, die in diesem Fall ihre Machtkonzepte losgelassen und gelacht hätten wie der Meister in der Zen-Geschichte, sondern sie wurden seine Todfeinde, indem sie haften blieben an ihrem Machtdenken und so nicht zu sich selbst kamen, während er durch den Streit und dem damit verbundenen unendlichen Schrecken hindurchgegangen war, alles losgelassen hatte und in der Liebe war.
An den Gegnern Jesu wird auch das Böse deutlich: „Böse ist nicht eigentlich das Gesetz, sondern jene Seinsart des Menschen, die auf dem als Sein gesetzten Allgemeinen – sei es als Heteronomie, sei es als Autonomie, sei es als Theonomie – insistieren will“ (Nishitani, Vom Wesen der Begegnung, 2011, S. 254). Es ist die Seinsart des Individuums, das als geistiges Subjekt nicht auf die Psyche hören will, auf seinem Status als geistiges Subjekt beharrt und sich in seiner Versessenheit als Objekt der Psyche verneint und sich verhärtet gegenüber seinen Empfindungen. Gleichzeitig ist aber der Fanatismus dieses Insistierens „das Korrelat der geistigen Selbstaufgabe“ (Brück & Lai, 1997, S. 369), d.h. in der Negation seiner selbst als Objekt der Psyche negiert das Individuum sich auch als geistiges Subjekt. Statt durch den Streit hindurch zu gehen und zu sich selbst umzukehren, sind die Autoritäten nicht zu sich selbst umgekehrt, sondern wurden zu Todfeinden Jesu. Die beiden Zen-Meister und Jesus aber blieben bei sich selbst. Es ist dasselbe wie bei der Frage nach der Erleuchtung: „Was tut der Bauer vor der Erleuchtung? Er steht frühmorgens auf, frühstückt, fährt aufs Feld und arbeitet, kommt abends zurück, isst sein Abendessen, hat Sex mit seiner Frau und geht dann schlafen. Was tut der Bauer nach der Erleuchtung? Er steht frühmorgens auf, frühstückt, fährt aufs Feld und arbeitet, kommt abends zurück, isst sein Abendessen, hat Sex mit seiner Frau und geht dann schlafen.“
Im zweiten Aufsatz von Nishitani bei Ohashi (Ohashi, 2011) geht es um die Kunst am Beispiel des Dichters Bashô, der den größten Künstler in dem „Menschen [sah], der dem Weg des Herzens folgt“ (Nishitani, Die »Verrücktheit« beim Dichter Bashô, 2011, S. 263). Mit Herzlichkeit meint er dabei, man solle „im nötigen Fall sein Gefühl mit ganzer Kraft ausdrücken. Man soll nicht in seinem Inneren versinken.“ (ebenda) Andererseits führt Nishitani zuvor aus, dass Bashôs Herz „im Nirgends-Wohnen sorglos wohnt“ (ebenda), „an nichts gebunden“ (ebenda), es „entspringt einem nicht zu fassenden Ort. Oder: es entspringt der Leere. Und die Leere ist eben das Herz selbst.“ (ebenda) Damit wird klar, dass Nishitani mit Leere und absolutem Nichts die Liebe meint, aber nicht als ein Konzept, sondern als Urgrund aller Konzepte, aller Konzeptlosigkeit und von allem Verwerfen von Konzepten schlechthin. Von Leere, absolutem Nichts oder Liebe kann man nur sagen, was es nicht ist: es ist echt und unmittelbar, also insbesondere nicht vermittelt oder vermittelbar. Es ist ähnlich wie in der Quantenphysik: auf der makroskopischen Ebene kann man Liebe ungefähr beschreiben, obwohl sich auch hier schon einige Schwierigkeiten auftun, zu sagen, was wirklich Liebe ist, und Menschen zweifeln und sind misstrauisch, ob ein anderer Mensch sie liebt. Wenn man aber in die Tiefe denkt, kann man nur feststellen, was keine Liebe ist.
„Was im Herzen [bei mir: in der Liebe], das [die] keine unterscheidende Reflexion vornimmt, [...] seinen Ort findet [...], das ist der »Same von fûga«.“ (ebenda, Seite 263 f.) Der Übersetzer tut sich hier schwer, das japanische Wort fûga ins Deutsche zu übertragen. Im Einzelnen bedeutet fû Wind und ga im heutigen Japanisch Eleganz, Anmut, (feiner) Geschmack (ebenda, Seite 264, Anmerkung 23). Aus dem Zusammenhang heraus würde ich, obwohl ich kein Japanisch beherrsche, fûga frei mit „Atemhauch des Geistes“ oder „Begeisterung“ übersetzen. Wind interpretiert Nishitani als das Pneuma, den Geist aus dem Johannes-Evangelium (3, 8), sodass im Herzen als dem Ort des Gefühls, der Befindlichkeit bzw. der Dynamik der Liebe, der Ort für den Samen der Begeisterung bzw. des Atemhauchs des Geistes, also des Atemhauchs des Aspekts der Rückkehr der Liebe zu sich selbst, sich ereignen kann. Im Individuum ist also das Herz bzw. das Ereignis der Befindlichkeit der Ort, an dem sich die Dynamik der Liebe und der Aspekt der Rückkehr der Liebe zu sich selbst ursprünglich (Same) und ganz fein (Atemhauch) als Begeisterung für die Liebe berühren. Dabei ist das Herz anfänglich noch nicht unbedingt rein, d.h. es enthält noch alle möglichen Widersprüche und ist zerrissen, es ist somit in einer Art Selbstentfremdung der Liebe und damit noch zu sehr anhaftend an der Materie. Je mehr das Herz durch entsprechende Taten, angeregt durch die Psyche und inspiriert durch den Geist und damit insgesamt begeistert, gereinigt wird von seinen Widersprüchen und befreit von seiner Zerrissenheit, desto reiner und wahrer ereignet es sich als Ort der feinen Berührung von Psyche und Geist, sodass der Same der Begeisterung immer besser aufgehen kann. Wenn der Same von fûga also in das Herz fällt, dort seinen Ort findet und aufgeht, dann ist das Herz rein und die Liebe erreicht. Jede Veränderung berührt alle Menschen, da wir mit allem vernetzt sind, es ändert also insbesondere die Befindlichkeit von jedem, sodass jede Veränderung als Same von fûga unser Herz berührt. Das ist damit gemeint, wenn Bashô die Veränderungen im Universum Same von fûga nennt. Somit „weht für Bashô der Geist der Kunst so unruhig wie der Wind und versetzt sein Herz in einen Zustand der Verrücktheit“ (ebenda, Seite 264).
Mit Verrücktheit wird hier ein Zustand beschrieben, der dadurch entsteht, dass das Individuum sich mit einem Widerspruch bzw. mit seiner Zerrissenheit in irgendeiner Art und Weise konfrontiert sieht und diesen Widerspruch löst bzw. sich von der entsprechenden Zerrissenheit befreit. Bei Bashô ist dies der Konflikt, ob er sesshaft als Samurai am Hof seines Fürsten wohnt, oder ob er als Dichter und Wandermönch nirgendwo eine feste Bleibe hat. Die Lösung bzw. seine Verrücktheit ist, dass er „nirgends wohnend doch in Ausgeglichenheit wohnt“ (ebenda, Seite 265). Zu dieser Lösung bzw. zu dieser Verrücktheit kam er durch den Geist der Kunst, durch die er „etwas entdeckt hat (nämlich das Verfassen „verrückter Verse“), an dem man aus dem An-keiner-Sache-Verhaftetsein heraus doch haften soll“ (ebenda). Anders ausgedrückt ist die Verrücktheit bei Bashô „ein Nicht in der alltäglichen Welt Leben (Wohnen) und dennoch in ihr Leben (Wohnen), ein Wohnen und dennoch Nicht-Wohnen und schließlich ein Leben (Wohnen) in Ausgeglichenheit im Nirgends-Wohnen. Dieses Nirgends-Wohnen ist weiter in der Entscheidung, die Kunst als Leben zu wählen, als Urgrund dieser Entscheidung enthalten“ (ebenda, Seite 266). Eine solche Entscheidung muss stetig wiederholt werden.
Damit ein Künstler in diesem Sinne verrückt ist und somit den Samen von fûga im Herzen behält, müssen Kunst und Leben gleichermaßen geübt werden, denn wenn er „das Leben überbetont, wird sich in seinem künstlerischen Geist eine Vagheit zeigen, und daraus wird sich ergeben, dass er auch als Mensch nicht tief mit der Wahrheit in Berührung kommt. Überbetont der Künstler aber andererseits seine Kunst, wird er sich von den Wahrheiten, die in den täglichen Angelegenheiten des menschlichen Lebens liegen, entfernen, und dadurch wird wiederum seine Kunst einer Ursprünglichkeit ermangeln. In beiden Fällen verliert der Künstler […] die Fähigkeit, tief zu fühlen“ (ebenda, Seite 268). Diese Verrücktheit „ist sowohl eine »Verrücktheit« gegenüber einem Leben in der alltäglichen Welt als auch eine »Verrücktheit« gegenüber einem Leben im Verzicht auf diese Welt“ (ebenda, Seite 270). Hier wird die Abscheu sowohl vor dem alltäglichen Leben als auch vor dem Verzicht darauf und damit der Gegensatz von Raum und Zeit (siehe 1. Kapitel) überwunden, es „wird sogar der Gedanke der Leere zur Leere gemacht. […] Hier west nun erstmals das absolute Nichts, das jenseits der beiden Bereiche des Seins und des Nichts steht, bzw. die wahre Leere als das wundersame Sein“ (ebenda).
Die Entscheidung, Kunst und Leben gleichermaßen zu betonen, bedeutet, „ein Leben im Verzicht auf die alltägliche Welt und ein Leben in dieser Welt eben durch ihre Trennung zu verbinden, und diese Übung wurde bei ihm als künstlerische Schöpfung vollzogen“ (ebenda, Seite 271 f.). Im Verhältnis zur alltäglichen Welt sind Kunst und Leben in diesem Sinne verrückt. „Über die alltägliche Welt hinaus und doch in dieser zu leben“ (ebenda, Seite 272), bedeutet auch, zur alltäglichen Welt zurückzukehren, nachdem „man eine erhabene Erleuchtung erlangt hat“ (ebenda). Dies entspricht auch der Haltung von Hisamatsu (siehe oben), dass man nach dem Erwachen nicht in der Ruhe der wahren Leerheit verharren darf, sonst wird sie zu einem unechten Zustand, und Zen wird zum „Zen des toten Menschen“ (Hisamatsu, Eine Erläuterung des Lin-chi-(=Rinzai)-Zen, 2011, S. 220). Über die alltägliche Welt hinaus bedeutet auch „von aller Illusionshaftigkeit befreit“ (Nishitani, Die »Verrücktheit« beim Dichter Bashô, 2011, S. 272), während das künstlerische Schaffen und Leben in dieser Welt, das Selbstbewusstsein und die Hingabe als Künstler „eine tiefe Illusion“ (ebenda) darstellen. Je befreiter von Illusion das Leben ist, also die Beziehung des Künstlers zum Sein überhaupt, desto vertiefter die Illusionshaftigkeit seiner Kunst, die auch einen Teil seiner Beziehung zum Sein überhaupt ist. Umgekehrt gilt auch, dass je tiefer der Künstler durch vermehrte Hingabe zur Illusionshaftigkeit seiner Kunst durchdringt, desto mehr ist sein künstlerisches Leben von Illusion befreit. Im äußersten Fall ist die Beziehung des Künstlers zum Sein überhaupt von Illusion befreit in eins mit tiefster Illusionshaftigkeit. Diese „Paradoxie“ (ebenda, Seite 273) ist die eigentliche Verrücktheit des Künstlers, die sich ereignet in der sanften Berührung von Psyche und Geist bzw. Logos in der Materie, also in der so umschriebenen „Psycho-Logie“ des Widersprüchlichen, und die Paradoxie der Verrücktheit stellt sich als Begeisterung heraus, die im Alltäglichen verankert bleibt, und wie wir aus der Neurobiologie wissen, verändert sich unser Gehirn nur dann, wenn wir etwas mit Begeisterung tun. Sobald sich also Psyche und Geist im Herzen berühren, ändert sich die Materie, das Herz.
Am Schluss seines Aufsatzes beschreibt Nishitani einen wichtigen Unterschied zwischen Platons Ansichten über den Künstler und denen von Bashô: auch Platon sieht im Dichter einen Menschen in einem Zustand „heiligen Wahnsinns“ (ebenda, Seite 278), aber er besitze „nicht die Erkenntnis der Wahrheit und die Weisheit […]. Für den Philosophen Platon war die Dichtung nicht mehr als nur die Nachbildung von Erscheinungen der sinnlichen Welt“ (ebenda). Die über dem Sinnlichen stehenden Ideen würden nur in der Philosophie geschaut. Die Liebe des Künstlers zum Schönen sinnlicher Erscheinungen erhebe sich zur Liebe des Philosophen zum Schönen von geistig Seiendem, so dass Platon Kunst und Philosophie an dieser Stelle trenne. Das „In-Ekstase-Geraten der Seele (›Verrücktwerden‹ des Herzens), das gewöhnlich als etwas der Kunst Eigentümliches betrachtet wird, [wird] hier nun vielmehr in den Bereich der Philosophie hineingenommen, es wird hier zur urquellhaften Bewegkraft einer Philosophie als Liebe zur Weisheit. […] Die Paradoxie im Verhältnis der Kunst und einer dieser gegenüberstehenden transzendenten Welt hat Platon auf eine vollkommen gegenteilige Weise zu lösen gesucht.“ (ebenda, Seite 279) Sodann konstatiert Nishitani (ebenda), das abendländische Denken sei nicht bei einer solchen Herabsetzung der Kunst stehen geblieben, sondern sehe nun in der Kunst einen eigenen Weg neben der Philosophie, diese Ideen zum Ausdruck zu bringen. Die Liebe zum geistig Schönen sei in den Bereich der Kunst hinein genommen worden. Die Kunstauffassung des Ostens beruht jedoch nicht wie die des Westens auf einer Zweiwelten-Lehre, nämlich der Lehre der Welt der Erscheinungen und der der Ideen. Wenn man von der Vernetztheit und der gegenseitigen Beziehung von allem Seienden ausgeht, dann hinterlassen die Erscheinungen jeweils einen Eindruck und beeinflussen so die Befindlichkeit (Psyche) des jeweiligen Daseins als Individuum, welches die durch den Logos (Geist) vermittelten Ideen in der Materie, also der mit Widersprüchen und Illusionen durchsetzten Selbstentfremdung des Absoluten bzw. der Liebe, ausdrücken kann. Statt einer Zweiwelten-Lehre ist die absolute Dialektik von Psyche, Geist und Materie dem östlichen Denken wesentlich angemessener.
Iwao Kôyama: Entsprechungsidentität und Ortlogik
[Bearbeiten]In der von Ohashi aufgenommenen Schrift von Kôyama (Kôyama, 2011) umschreibt dieser zuerst den Begriff der Entsprechung, der m.E. von der Ausdruckshaftigkeit von allem Seienden herrührt. Dabei ist daseinsmäßig Seiendes (im Sinne Heideggers) von sich aus immer ausdruckshaft, sobald es die repräsentationale Entwicklungsebene des Selbst (siehe erstes Kapitel) erreicht hat. Wie in Kapitel 1 aufgezeigt, ist dies nur möglich, wenn es mehrere ausdruckshaft Seiende gibt. Ein von sich aus ausdruckshaft Seiendes soll Person heißen, sein Ausdruck „tönt durch“ sein Sein hindurch im Sinne von lat. „per-sonare“ (hindurch tönen). Andersartig Seiendes „erhält“ seine Ausdruckshaftigkeit von Personen, der Ausdruck einer Trauerweide erscheint jemandem z.B. traurig, der eines kleinen Babys selig lächelnd. Sobald eine Person sich von der Ausdruckshaftigkeit eines anderen Seienden „angesprochen fühlt“, besteht zwischen beiden eine Entsprechung, und in der Beziehung zwischen beiden findet ausgehend von der „angesprochenen“ Person eine Auseinandersetzung statt. Bei zwei Personen können sich auch beide gegenseitig voneinander angesprochen fühlen, und die Auseinandersetzung geht dann von beiden aus. Da der Ausdruck erst einen Sinn macht, wenn er einen Eindruck macht, d.h. wenn es zu einer Entsprechung kommt, und weil eine Person erst zu einer solchen wird, wenn sie Ausdruck erkennen und sich von ihm ansprechen lassen kann (erst dann hat sie ja die repräsentationale Ebene erreicht), sind Ausdruck, Entsprechung und Auseinandersetzung Ursprung der Person, erst das macht eine Person überhaupt zu einer Person. Bei einer Entsprechung geht es der Person um das Sein des anderen Seienden, und wenn es der Person um das Sein überhaupt geht, dann geht es ihm um das Sein von allem, d.h. es gibt eine Entsprechung zwischen dieser Person und allem, mithin also zum Absoluten bzw. zur Liebe. Diese Person ist dann mit allem „vernetzt“ durch die jeweiligen Entsprechungen und damit ist alles miteinander vernetzt. Dies entspricht der buddhistischen Überwindung der Abscheu (siehe oben), die die Distanz erkennt und Wege geht, die Bedingungen der Distanz abzuschaffen. Dass es dem Dasein um das Sein überhaupt geht, bedeutet, dass sein Leben, also die Beziehung zum Sein, menschlich ist (Kolb, 2011). „In diesem Sinne ist die Entsprechung die fundamentalste und zugleich ursprünglichste Seinsweise, welche die menschliche Existenz erst eigentlich zu einer solchen macht.“ (Kôyama, 2011, S. 288)
Statt von Entsprechung bzw. Vernetztheit auszugehen, wie es der buddhistischen Denkweise entspricht, geht Heidegger vom In-der-Welt-sein aus, was m.E. eher einer christlichen Denkweise entstammt, denn Jesus als In-der-Welt-sein Gottes ist der Trost schlechthin, der das Leid der Gottesferne aufhebt. Auch das In-der-Welt-sein an sich ist schon ein Trost, da es bedeutet, dass das Dasein nicht isoliert und damit durch Getrennt-Sein im Leid ist (siehe oben). Heidegger kommt von da aus zur Zeitlichkeit, was von mir verbessert wurde als Prozesshaftigkeit (Kolb, 2011), worin das Sein des Daseins verständlich wird. Kôyama geht von der Entsprechung aus als dem „Grundprinzip der philosophischen Logik“ (ebenda, Seite 289) bzw. als der „Seins- und Lebensweise des Menschen, seine Weise zu fühlen, zu begehren und zu handeln, [...] ein Fundamentalstes und Allgemeinstes [...]: eben eine Kategorie“ (ebenda), was m.E. bei Heidegger dem Existential der Sorge entspricht. Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied zwischen Entsprechung und Sorge: Während die Kategorie der Entsprechung davon ausgeht, dass es Personen um das Sein von anderen Seienden und erst später um das eigene Sein geht, wenn eine Person sich selbst zum Objekt gemacht hat, liegt Heideggers Existential der Sorge die Annahme zugrunde, dass es dem Dasein zuerst um sein eigenes Sein und erst später um das Sein von anderen Seienden geht. Daher kann man Heideggers Philosophie als individualistisch und die von Kôyama als kollektivistisch bezeichnen. Andererseits sagt Heidegger, dass das Dasein, also wir selbst, zuerst etwas bei anderen verstehen und dann erst bei uns selbst, weil wir uns zwar ontisch das Nächste, ontologisch aber das Fernste sind.
Kôyama sieht Entsprechung zuerst nur als Beziehung zwischen Personen. Ich finde, man kann das jetzt schon verallgemeinern als Beziehung zwischen einer Person und einem beliebigen anderen Seienden. Wenn das andere Seiende keine Person ist, dann gibt die Person dem anderen Seienden einen entsprechenden Ausdruck, sodass zwischen beiden eine ähnliche Art von Gespräch entsteht, wie es sonst zwischen zwei Personen stattfinden kann. „Deshalb ist Entsprechung ihrem innersten Wesen nach sowohl dialogisch als auch dialektisch.“ (ebenda, Seite 288) Jede persönliche Beziehung zwischen einer Person und einem beliebigen anderen Seienden wird durch Entsprechung überhaupt erst ermöglicht. Wenn Subjekt eine Person bezeichnet und Objekt ein beliebig anderes Seiendes, dann ist Entsprechung die Grundlage jeder Subjekt-Objekt-Beziehung. Entsprechung hat das Schema Frage-und-Antwort. „Aber auch umgekehrt gilt: Dialog und Dialektik haben ihrerseits Entsprechungscharakter (bzw. Auseinandersetzungscharakter). Aus dem Entsprechungsverhältnis entspringen Phänomene, welche als solche an den einzelnen [...] (Seienden) selbst nicht erscheinen [...]. Nehmen wir ein Beispiel: Ein – beliebiges – Subjekt spricht ein Objekt an. Dieses antwortet jenem (bzw. jenes gibt diesem einen Ausdruck als Antwort an jenes, wenn das Objekt keine Person ist). Dessen Antwort gemäß wendet es sich wieder ans Subjekt, welches wiederum dem Objekt antwortet. Doch ehe sie in diese Entsprechungsbeziehung eintreten, haben Subjekt und Objekt als solche noch gar nicht existiert. Erst nachdem sich die Entsprechungsbeziehung eingestellt hat, ergab sich erstmalig auch jene neue Situation“ (ebenda, Seite 289). Indem Antworten neue Fragen mit neuen Antworten hervorrufen, „ergibt sich ein stetes Fortschreiten in Form von wechselseitigen Entsprechungen“ (ebenda, Seite 290), so dass „das Entsprechungsprinzip schöpferisch“ (ebenda) ist.
Weil die Antwort eine Verbindung zur gestellten Frage hat, „ist Entsprechung immer zugleich auch Entsprechungsidentität“ (ebenda). Darauf beruht auch die Tatsache, dass ein Subjekt ein Objekt aufgrund der Entsprechung wiedererkennen und damit identifizieren kann. Außerdem bewirkt der Inhalt der Frage ein Erwecken, welches zu einem Erwachen des Inhalts der Antwort führt. Obwohl die entsprechenden Inhalte von Frage und Antwort bestehen, sind sie erst dann existent, wenn die Frage gestellt und die Antwort gegeben ist. Die Inhalte sind also „von Verhältnissen wie Kausalität und Wechselwirkung, wie sie bei Naturphänomenen (im Sinne der Naturwissenschaften) gelten, wesentlich verschieden“ (ebenda). Die Entsprechung von Frage und Antwort betrifft nur die Art und Weise, der Inhalt der Antwort kann nur vermutet werden. „Denn ein wahrer Dialog ist ein solcher, in dem das Ergebnis nicht von vorneherein feststeht“ (ebenda, Seite 290 f.). „Der wahre Dialog ist dialektisch, und wahre Dialektik zeichnet aus, dass in ihr die Synthese nicht von vorneherein schon feststeht” (ebenda, Seite 291). Eigentliche Entsprechung ist schöpferisch und „als schöpferische erst ist sie Entsprechung im wahren Sinne” (ebenda). Da der Antwortende mit seiner Antwort zugleich auch fragt und der Fragende mit seiner Frage zugleich auch antwortet, ist Entsprechung ihrem eigentlichen Wesen nach korrelierend und reziprok. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Entsprechung personal, reziprok und schöpferisch ist und sich „nicht nur auf bewusste und phänomenale Entsprechungen [beschränkt]. Ihr Zustandekommen verweist vielmehr auf eine Grundkategorie, die die ursprüngliche Seinsweise des Menschen bezeichnet“ (ebenda, Seite 292), die bei Heidegger (Heidegger, Sein und Zeit, 2006) Sorge genannt wird. Diese Grundkategorie als ein Grundprinzip der Logik bezeichnet Kôyama mit dem Begriff Entsprechungsidentität.
Erst an dieser Stelle auf Seite 292 erweitert Kôyama den Begriff der Entsprechung als Grundlage der Subjekt-Objekt-Beziehung, indem er als Objekte auch personifizierte Seiende zulässt. Eine Personifizierung besteht für mich darin, dass eine Person einem nicht-persönlichen Seienden einen Ausdruck „gibt“, der die Person anspricht. So etwas geschieht nur aufgrund von Sorge (Heidegger) dieser Person, und das war ja dasselbe wie Entsprechung. Entsprechung bzw. Sorge ist also die Voraussetzung dafür, dass eine Person ein nicht-persönliches Seiendes personifiziert. In diesem Fall ist natürlich die Aktivität der Entsprechung, also der Dialog, einseitig und die Reziprozität schwach ausgebildet. „Die logische Struktur der Entsprechung findet sich sowohl in unserer ‘‘natürlichen Umwelt als auch im Umfeld der Gesellschaft. Sie erscheint in Ideal und Idee, in Gott, wie überhaupt in jedweder Transzendenz‘‘“ (ebenda). Das Subjekt kann sich auch selbst oder Teile von sich zum Objekt machen. Insgesamt wird meines Erachtens bei der Entsprechung auch das Phänomen der Projektion sichtbar: je mehr das Subjekt dem Objekt einen Ausdruck gibt, desto mehr projiziert das Subjekt die eigene Ausdruckshaftigkeit auf das Objekt, und je mehr das Subjekt den tatsächlichen Ausdruck des Objekts echt und unmittelbar befindlich versteht, desto weniger projiziert das Subjekt seine eigene Ausdruckshaftigkeit. Je weniger das Subjekt projiziert, desto mehr liebt es das Objekt (Kolb, 2011). Im Fall eines personifizierten Objekts liegt eine reine Projektion vor, das Subjekt hat eigentlich sich selbst oder einen Teil von sich zum Objekt gemacht. Je echter und unmittelbarer das Subjekt dies befindlich versteht, desto mehr versteht es sich selbst echt und unmittelbar in seinem Worumwillen, desto mehr liebt es sich also selbst und damit jede andere Person, die ihm begegnet (ebenda).
In der Logik jeder natur-, geistes- und sozialwissenschaftlichen Untersuchung ist das logische Prinzip der Entsprechung gegenwärtig, denn jede Untersuchung ist der „Versuch, auf eine Frage, ein Problem, eine Antwort zu erhalten“ (ebenda, Seite 293). Die „Logik der Entsprechung [ist] auch eine Logik von Aufgabe und Lösung“ (ebenda, Seite 294). Die Aufgabe verweist auf eine Situation und damit auf ein Feld, in dem sie existiert. Leider gibt Kôyama an dieser Stelle nicht an, was genau er unter Feld versteht, sondern erst später auf Seite 297. Eine Aufgabe stellt sich immer dadurch, dass ich bestimmte Erfahrungen mache, die mich nicht befriedigen, sondern unzufrieden zurücklassen. Dabei geht es nicht um „das Ergebnis einer Einzelerfahrung, sondern eines Beziehungsgeflechts von Erfahrungen“ (ebenda, Seite 296) Zwar werden wir durch Einzelerfahrungen auf Aufgaben aufmerksam, aber jede Einzelerfahrung ist in ein ganzheitliches Beziehungsgeflecht verwoben, welches Kôyama dann Feld nennt. Die Einzelerfahrung ist das Einzelne, welches im System des Feldes seinen Platz hat. Wenn alles seinen eigentlichen Platz hat, dann gibt es keine Aufgabe. Aufgaben „stellen sich nämlich erst dann, wenn das Einzelne im Begriff ist, seinen Platz zu verlieren. Dass die Aufgabe gelöst wurde, bedeutet dann, dass das Einzelne im Feld einen neuen Platz gefunden hat. Damit ist das Feld allerdings nicht mehr das ursprüngliche, sondern es ist eines mit einer neuen Ordnung.“ (ebenda, Seite 298) Ein Feld ist immer ein Aufgaben- und ein Situationsfeld. Vom Wort her sind übrigens Feld und Welt verwandt. An diesem Begriff des Feldes ist meines Erachtens zu kritisieren, dass der Ausdruck »ganzheitlich« nicht präzise genug ist, weil in gewisser Weise alle Erfahrungen miteinander zusammenhängen. Statt ganzheitlich sollte man meiner Meinung nach lieber sagen: auf eine Reihe von Fragestellungen oder bestimmte Themengebiete bezogen. Wie Kôyama auf Seite 296 schreibt, kann es für die Gesamtheit der Beziehungen und der Erfahrungen weder in der Zeit noch im Raum eine feste Grenze geben. Insofern ist ein Feld also nach außen hin immer offen und die Gesamtheit seiner Beziehungen, also seine Ganzheitlichkeit, ist jeweils nur relativ. Der eigentliche Zustand einer Aufgabe ist instabil, da sie von ihrem Inhalt gedrängt nach der Lösung und damit nach Stabilisierung strebt. Die Untersuchung ist der Prozess der zwischen Aufgabe und Lösung abläuft. Mit der Aufgabe ist die Ordnung gestört (befindliche Unzufriedenheit) und die Lösung stellt die Ordnung wieder her (befindliche Zufriedenheit). Meines Erachtens gründet die Ordnung auf der Entsprechung: wenn diese klar ist, herrscht Ordnung, wenn nicht, ist die Ordnung gestört. „Der Inhalt der Aufgabe strebt stets nach einem ihm gemäßen Platz.“ (ebenda, Seite 295) „Somit bezeichnen Aufgabe und Lösung in einem ursprünglichen Sinne einen in sich konsequenten Sachzusammenhang, dessen Grundlage die Entsprechungsidentität bildet und der gekennzeichnet ist durch Dinge von spezifischer Eigentümlichkeit mit je eigener Individualität.“ (ebenda) Die Logik von Aufgabe und Lösung ist daher die Logik von Situationen, Feld und Platz, Kôyama nennt es die Ortlogik, d.h. „das Prinzip der Entsprechung [ist] in Wahrheit nichts anderes als das Prinzip der Ortlogik.“ (ebenda, Seite 296)
Die Elemente Feld, Platz und Einzelnes kennzeichnen das Grundschema der Ortlogik. Nach dem bisher Gesagten stellt sich eine Aufgabe dann, wenn das Einzelne im Begriff ist, seinen Platz zu verlieren. Wann aber ist dies der Fall? Doch nur dann, wenn die Befindlichkeit eines Individuums gestört ist, weil es unzufrieden ist. Die Befindlichkeit, also die Psyche, fordert dazu auf, dem Einzelnen einen anderen Platz zu geben und so die Ordnung des Feldes zu verändern. Um diese Aufgabe zu lösen und dem Einzelnen einen neuen Platz zu geben, der Zufriedenheit herstellt, ist es nötig, dass das Individuum den Geist benutzt und eine Untersuchung anstrengt, um die mangelnde Ordnung herstellen bzw. die Widersprüchlichkeiten in der Materie überwinden zu können. Insofern kennzeichnen auch die Aspekte Psyche, Geist und Materie das Grundschema der Ortlogik. Beide Schemata sind absolut dialektisch im Sinne von Tanabe (siehe Kapitel 2) und unterscheiden sich so von Hegels Schema Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit. Letzteres hat mit der formalen Logik zu tun, während die Ortlogik sich auf positiv gegebene Sachverhalte bezieht. Die Einzelerfahrungen sind erst in ihrem Feld verständlich, der Platz bringt die Ordnung des Feldes zum Ausdruck, die die Beziehung zwischen Feld und Einzelnen ist. Kein Einzelnes existiert außerhalb einer solchen Ordnung, und es gibt auch kein Feld ohne eine solche Ordnung, die zugleich auch die Festlegung des Platzes beinhaltet. „Eben darin liegt die Identität der Entsprechung.“ (ebenda) Entsprechend gilt: die Widersprüchlichkeiten der Materie sind erst durch den Geist verständlich, die Psyche bringt zum Ausdruck, inwieweit diese Widersprüchlichkeiten überwunden sind, wodurch sich dann herausstellt, ob die jeweilige Person den Geist angemessen zur Überwindung der Widersprüchlichkeiten eingesetzt hat (das ist die Beziehung bzw. die Bezogenheit des Geistes auf die Materie). Es gibt keine Widersprüchlichkeit, die nicht durch die Psyche erfasst würde, und ohne die Psyche hätte das Individuum auch keine Veranlassung, den Geist dazu zu benutzen, die Widersprüchlichkeiten der Materie zu überwinden. Durch die Reaktion der Psyche wird auf dynamische Weise klargestellt, wann eine Widersprüchlichkeit überwunden ist. (Dies erinnert an die Verwendung von so genannten psychosomatischen Markern in der Hypnosetherapie, die dadurch gekennzeichnet sind, dass bestimmte Körperbereiche, nämlich diese Marker, sich in irgendeiner Art und Weise unwohl anfühlen, wenn die betreffende Person sich auf eine bestimmte Thematik oder eine bestimmte Erfahrung konzentriert. Die Befindlichkeit des Unwohl-Seins ist die Psyche, der jeweilige Körperbereich als Marker gibt Auskunft über die Widersprüchlichkeit in der Materie hin, und die Sichtweise, diesen Körperbereich als psychosomatischen Marker zu verstehen und durch eine Untersuchung eine Lösung zu finden, ist die entsprechende Antwort des Daseins als geistiges Subjekt.) Eine dynamische Festlegung der Ordnung eines Feldes bedeutet, dass der neue Platz einer Einzelerfahrung nach einer weiteren Veränderung eines Platzes einer anderen Einzelerfahrung unter Umständen eine erneute Platzveränderung der ersten Einzelerfahrungen nötig macht. Die Lösung einer Aufgabe kann so weitere Aufgaben erzeugen, und die Lösung einer Aufgabe kann auch mehrere Platzveränderungen gleichzeitig bedeuten. Was wir hier mit Kôyama Erfahrungen genannt haben, kann man „auch im Sinne von Tatsache oder Ereignis verstehen und das Schema der Ortlogik auf die Beziehungen von Individuum und Gesellschaft, Ich und Welt, Einzelwesen und Umwelt übertragen“ (ebenda, Seite 299).
Durch das Interesse bedingt, Heidegger würde sagen: durch das Ausmaß der Sorge bedingt, erhält das Feld eine Struktur von Mittelpunkt und Umfeld. Interesse ist eine Qualität der Entsprechung. Je wichtiger eine Entsprechung für eine Person ist, desto größer ist ihr Interesse an allem, was damit verbunden ist, je enger verbunden, desto größer das Interesse. Wie oben schon erwähnt, ist ein Feld nach außen hin prinzipiell offen und die Gesamtheit seiner Beziehungen nur relativ. In Abhängigkeit vom Interesse bzw. von der Sorge oder der Qualität der Entsprechung ist es jedoch in manchen Fällen möglich, wenigstens von einer gewissen Abgeschlossenheit zu sprechen, nämlich dann, wenn das Feld alle Erfahrungen und alle Beziehungen enthält, welche von Interesse sind bzw. um die es der jeweiligen Sorge gerade geht oder die für die Person gemäß der Entsprechung, mit der sie sich (der Entsprechungsidentität gemäß) gerade identifiziert, wichtig sind. Wäre die Abgeschlossenheit des Feldes absolut, dann hätten wir es mit einer Versessenheit zu tun. Insofern ist jedes Feld durch das Interesse bzw. die Sorge strukturiert in den Mittelpunkt des Interesses bzw. der Sorge und dessen Umfeld, welches alles umfasst, was von Interesse ist bzw. worauf die Sorge sich bezieht. Da jedes Feld sowohl ein Aufgaben- als auch einen Situationsfeld ist, wird durch diese Struktur von Mittelpunkt und Umfeld, also durch das Interesse bzw. die Sorge, eine Situation ausgebildet, welche die Aufgabe enthält, die Ordnung des Feldes herzustellen, aufrecht zu erhalten oder immer weiter zu optimieren. Insofern beruht die Ordnung des Feldes immer auf dem Interesse bzw. auf der Sorge der Person. „Diesem Interesse gemäß beinhaltet seine Struktur ein Differenzieren nach unterschiedlichen Graden von Wichtigkeit.“ (ebenda, Seite 300) Auf diese Weise ist der Mittelpunkt festgelegt als der wichtigste Bereich des Feldes und das Umfeld als der Rest des Feldes. Ein Feld ist auch nicht absolut vollendet, das heißt die Aufgaben, die sich aus der Situation des Feldes ergeben, sind zwar klar und präzise, aber nicht umfassend und erschöpfend. Ein relativ abgeschlossenes aber nicht vollendetes Feld ist stets dynamisch, also insgesamt sowohl räumlich als auch zeitlich. Indem immer wieder untersucht wird, wie Ordnung hergestellt werden kann, besitzt ein Feld immer auch ein bestimmtes Maß an Stabilität. Insofern ist es offen mit einem gewissen Maß an Abgeschlossenheit und dynamisch mit einem gewissen Maß an Stabilität.
Die Räumlichkeit als ursprüngliches Charakteristikum des Feldes ist jedoch nicht identisch mit dem physikalischen Raum als quantitativ gefasster, homogener Raum, denn die begriffene Nähe und Ferne in einem Feld sind durch das Interesse, also durch Entsprechung bzw. Sorge der jeweiligen Person geprägt. Mathematisch betrachtet liegt eine Topolgie eines Raumes vor, die nicht unbedingt metrisch sein muss. Bei Interesse an der Physik sind die Distanzen dann quantitativ gefasst und homogen, sodass eine Metrik definierbar ist. Insofern liegt die Räumlichkeit des Feldes einer physikalischen Raumbestimmung voraus und ist grundsätzlich verschieden von ihr. Ein Feld „ist jener Ort, an dem wir mit den uns gegenüberstehenden Dingen und Menschen Beziehungen mannigfaltigster Art eingehen“ (ebenda, Seite 301). Die Zeitlichkeit als ein ebenfalls „wesentliches Strukturmoment des Feldes“ (ebenda, Seite 302) wird durch die Dynamik und die Geschichtlichkeit des Feldes deutlich. Am Beispiel von Eltern und Kindern, die gleichzeitig in einem sozialen Feld existieren, veranschaulicht Kôyama „die gleichzeitige Existenz von Ungleichzeitigem“ (ebenda). Die Vergangenheit ist hier zwar gleichzeitig mit der Gegenwart, aber „ihre Zugehörigkeit zu einer anderen Zeitdimensionen [bleibt] weiterhin bestehen […]. Insofern ist das Feld sowohl gleichzeitig wie ungleichzeitig. [Die Zeitlichkeit ist] nicht eine als linearer Ablauf vorgestellte Zeitlichkeit. […] Je mehr das Feld in sein Umfeld übergeht, desto mehr neigt es der Vergangenheit zu, wobei die Mitte des Feldes die Gegenwart bildet. Aber diese Gegenwart ist […] eine Gegenwart, welche das Interesse einschließt, eine eigentlich seinsollende Wahrheit auch zu verwirklichen“ (ebenda, Seite 302 f.). Was die Zukünftigkeit betrifft, die in der Gegenwart enthalten ist, so fehlt hier meines Erachtens neben dem von Kôyama angeführten intentionalen Seinsollen, was von gegenwärtigem Leid oder gegenwärtiger Trauer herrührt (siehe Kapitel 1), das teleologische Auf-sich-Zukommen, wodurch sich Furcht und Angst verbreiten können (siehe Kapitel 1). Das Umfeld bzw. die Vergangenheit wird durch die Befindlichkeit der Wut bzw. des Zorns vermittelt, wenn die Erfahrungen negativ waren, oder durch die Befindlichkeit der Freude oder der Begeisterung bzw. des Spaßes oder der Leidenschaft bei positiv empfundenen Erfahrungen. Auf diese Weise vermittelt die Befindlichkeit, also die Psyche, die Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem Feld. Insofern kann man sich meines Erachtens ein Feld am besten wie einen senkrechten Doppelkegel vorstellen, bei dem der untere Kegel die Vergangenheit, der obere die Zukunft und die Mitte, in der sich die beiden Kegelspitzen treffen, die Gegenwart darstellen.
Kôyama zählt nun verschiedene Arten von Feldern auf: das Feld der Natur, der Kultur, der ökonomischen Zirkulation, des Rechts, der Politik und der Erziehung. Weiterhin führt er noch die abstrakten und daher unwirklichen Felder der Logik und der Mathematik an und schließlich noch die Welt der Religion, die sich als „ein unsere Wirklichkeit transzendierendes Feld […] in einer völlig anderen Dimension [bewegt]. Dasjenige nun, was all diese verschiedenen Felder miteinander verknüpft, ist unser Selbst“ (ebenda, Seite 304). Dieses Selbst muss in seiner Entwicklung zumindest die repräsentationale Ebene (siehe Kapitel 1) erreicht haben, also personal bzw. ein sich seiner selbst bewusstes Selbst sein. Damit ist es aber noch nicht eigentlich bzw. das wahre Selbst. „Nun bedeutet das wahre, selbst-bewusste Selbst ein unbedingtes negierendes Transzendieren der alltäglichen Wirklichkeit und Streben nach dem Eigentlichen des Menschen. Darin erreicht das Selbst-Bewusstsein des Selbst seine äußersten Möglichkeiten. Das Selbst […] besteht […] auch und gerade in der Tätigkeit, welche bestrebt ist, das Selbst-Bewusstsein dieses eigentlichen Selbst zu vertiefen. Das Selbst ist nämlich das Subjekt der Tätigkeit der Selbst-Negation wie auch das der Selbst-Transzendenz.“ (ebenda) Ich denke, dass Kôyama mit Selbst-Bewusstsein dasselbe meint wie ich mit Selbstbewusstheit (Kolb, 2011).
Ich veranschauliche mir das folgendermaßen: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft und Räumlichkeit sind die vier Momente eines Feldes, die seine Struktur und seine Dynamik bestimmen und damit seine Prozesshaftigkeit. Diese vier Momente des Feldes sind die vier Ekstasen seiner Prozesshaftigkeit (ebenda), wobei ich die Vergangenheit als Ekstase Herkunft genannt habe, die Gegenwart Ankunft und die Räumlichkeit Auskunft. In der Alltäglichkeit kommt es aufgrund der Sorge bzw. der Entsprechung dazu, dass ich mich mit allem möglichen identifiziere und damit verhaftet bin, was eine Entsprechung mit mir hat, zum Beispiel mit meinem Namen, mit meiner Nationalität, mit meinem Körper, mit meinem Beruf oder meiner sozialen Stellung, mit meinen Gefühlen bzw. meiner Befindlichkeit, meinen Fähigkeiten usw. Dies alles entspricht Erfahrungen, die ich in der Vergangenheit gemacht habe oder die aus der Zukunft noch auf mich zukommen können, das heißt ich bringe mich auf diese Art und Weise zurück zu meiner Herkunft und laufe vor in die Zukunft meiner Wünsche und Befürchtungen. Gehalten von all diesen Erfahrungen meiner Herkunft und meiner Zukunft komme ich dann bei mir selbst an und erlebe so bei meiner Ankunft die Spannung zwischen dem Tatsächlichen und dem Möglichen, also die Widersprüchlichkeiten meiner momentanen Situation. In dieser räumlichen Situation kann ich diese Widersprüchlichkeiten lösen und überwinden und erhalte so die Auskunft, dass ich selbst diese Widersprüchlichkeiten nicht bin. Wenn ich mich z.B. mit bestimmten Fähigkeiten identifiziere, die sich in der Vergangenheit aufgrund meiner „Herkunft“ herausgestellt haben, und die ich in Zukunft einsetzen will oder soll, wobei ich vielleicht unsicher bin, ob mir ähnliche Erfolge wie früher gelingen, so lastet bei meiner „Ankunft“ in dieser momentanen Situation auf mir die Spannung des Erfolgsdrucks. Diesen kann ich dann möglicherweise dadurch überwinden, dass ich mich nach entsprechender Prüfung davon überzeuge und mir sage, dass ich nichts beweisen muss, und bekomme so die „Auskunft“, dass ich nicht meine Fähigkeiten bin. Indem ich also diese Identifikationen meines Selbst negiere, vertiefe ich durch die entschlossene Tätigkeit des Sich-Zurückbringens zu meiner Herkunft, des Vorlaufens zur Zukunft all meiner Wünsche und Befürchtungen und des Lösens bzw. des Überwindens der bei meiner Ankunft entdeckten Widersprüchlichkeiten das Selbst-Bewusstsein meines eigentlichen Selbst, löse mich also immer mehr von der Alltäglichkeit und erreiche so immer mehr die Selbst-Transzendenz. Damit bin ich dann ganz ich selbst und mit meinem wahren Selbst im Hier und Jetzt des Alltags „angekommen“ und Herkunft und Zukunft spielen keine Rolle mehr.
In der ständigen Vertiefung des Selbst-Bewusstseins meines eigentlichen Selbst wandeln sich meine Wünsche und Befürchtungen durch die Überwindung der Gegensätze zwischen ihnen und meiner Herkunft immer mehr um in das Eigentliche und Wahre, was mir in der Tätigkeit der Selbst-Negation und der Selbst-Transzendenz immer deutlicher wird. Kôyama bezeichnet das, was auf das Wahre hinzielt, mit dem Begriff Ideal. Das Ideal steht im Gegensatz zur alltäglichen Wirklichkeit, und ist die eigentliche Ekstase der Zukunft, nämlich das entschlossene Vorlaufen bis zum Tod. „Das Selbst kennzeichnet eine sich selbst negierende Transzendenz, welche die Verbindung der verschiedenen Felder untereinander herstellt. So wird das eigentliche Selbst erst in Negation und Transzendenz sich seiner selbst bewusst, was wiederum eine beständige Vertiefung des Selbst-Bewusstseins zur Folge hat“ (Kôyama, 2011, S. 305). Durch die Verbindung der verschiedenen Felder untereinander ergibt sich ein System der Felder, wobei die verschiedenen Felder den verschiedenen Aspekten des Selbst entsprechen. Beim Transzendieren des Selbst gerät der Selbst-Aspekt eines jeden Feldes zu sich selbst in Widerspruch und konstituiert sich wieder neu im Durchstoßen des Feldes, sodass die Transzendenz des Feldes und die des Selbst einander entsprechen (ebenda). „Die Transzendenz vollzieht sich durch die Negation“ (ebenda), und dabei befreie ich mich selbst immer mehr von allen Identifikationen bzw. Verhaftungen meines Ich, und „dies ist die Grundbedeutung dessen, was wir Freiheit nennen“ (ebenda). Dabei werden die verschiedenen Felder bzw. Welten „miteinander verbunden, die dann lebendige Systeme herauszubilden beginnen“ (ebenda). An dieser Stelle geht Kôyama auf zwei besondere Felder ein, „die den beiden Funktionsweisen der Selbst-Transzendenz entsprechen“ (ebenda, Seite 306). Obwohl Strukturmomente der Wirklichkeit, negieren sie dennoch die Wirklichkeit. Das eine ist „das Feld, in dem sich wissenschaftliches Forschen vollzieht“ (ebenda), das andere ist das Feld der Moral, welches sich immer dann zeigt, „wenn die alltägliche Wirklichkeit hinter sich gelassen und das eigentlich Wahre zum Gegenstand der Untersuchung gemacht wird“ (ebenda). Diese Felder bilden „eine Art Randzone, die in alle Felder der Wirklichkeit hineinreicht bzw. sie durchdringt“ (ebenda). Kôyama bezeichnet sie mit theoretischer und praktischer Vernunft. Vernunft kommt meines Wissens davon, dass ich etwas „vernommen“ habe und darauf entsprechend eingehe, teils theoretisch, teils praktisch. Dem gemeinsamen Begriff Vernunft kann man entnehmen, dass ein enger innerer Zusammenhang besteht „zwischen dem Denken, dem Aspekt der theoretischen Vernunft im Erkenntnisvorgang, und der Negation der Alltäglichkeit, d.h. dem Aspekt der praktischen Vernunft in der Verwirklichung des Ideals“ (ebenda). Das Negieren der Wirklichkeit ist sowohl Wesen der Vernunft als auch ein Strukturmoment von Wirklichkeit. Das Feld der Wissenschaft ist das Feld der Möglichkeiten und ist in diesem Sinne teleologisch, es unterscheidet Vorgang und Ergebnis im Sinne eines Wenn-Dann. Es ist das Feld der reinen Logik, in der alles Wissen bedingt und hypothetisch ist. Es ist die Welt der theoretischen Vernunft. Dagegen ist die Welt der praktischen Vernunft „die Welt des apodiktischen, des kategorischen Imperativs“ (ebenda, Seite 307). (Obwohl Kôyama dies nicht explizit erwähnt, erinnert das alles doch sehr an Kant.) Im Gegensatz zur Welt der theoretischen Vernunft ist die Welt der praktischen Vernunft „unbedingt und kategorisch“ (ebenda, Seite 309).
Das Bewusstsein des eigentlichen, wahren Selbst beinhaltet das Ideal, das sich durch echtes und unmittelbares Verstehen aus den Wünschen und Befürchtungen entwickelt, und damit „das ursprüngliche Bedürfnis, ja Postulat, es unabdingbar auch zu verwirklichen. [...] Diese Welt des eigentlichen Selbst ist in einem höheren Sinne realistisch, als es die Realität der Wirklichkeit ist“ (ebenda, Seite 307 f.). Kôyama bezeichnet diese Realität als intelligibel im Sinne von übersinnlich und überempirisch. Im Feld der alltäglichen Wirklichkeit sind dieses Realitätsgefühl, diese Realitätserfahrung und diese Realitätsgewissheit nicht erfahrbar, dies gelingt nur in der Welt des Bewusstseins vom eigentlichen Selbst. „Ein solches Erlebnis kann [...] bezüglich der Frage nach seiner Existenz bzw. Nichtexistenz nicht bewiesen werden“ (ebenda, Seite 308). Diese Welt ist dann das Allgemeine (die Gattung), das wahre Selbst das Einzelne und die alltägliche Wirklichkeit das Besondere (die Art), was meines Erachtens Geist, Psyche und Materie entspricht, denn die Welt des eigentlichen Selbst hat den Aspekt der Rückkehr des Absoluten bzw. der Liebe zu sich selbst, ist also Geist im Sinne von Tanabe (siehe Kapitel 2), das wahre Selbst beinhaltet die Aufforderung nach Verwirklichung des Ideals, das ist die Dynamik der Liebe, die Psyche, während die alltägliche Wirklichkeit mit ihren Widersprüchlichkeiten die Selbstentfremdung des Absoluten, der Liebe, ist und damit die Materie nach Tanabe (siehe Kapitel 2). Hier scheint es einen Widerspruch zu geben, nämlich dass die Psyche, die in Kapitel 2 das Besondere war, als wahres Selbst auf einmal das Einzelne ist, und die Materie, die oben das Einzelne war, jetzt als die alltägliche Wirklichkeit das Besondere ist. Dieser Widerspruch löst sich auf, wenn wir bedenken, dass dies nur in der Welt des Bewusstseins vom eigentlichen Selbst so ist, denn nur dort ist die Psyche das wahre Selbst und damit ein Einzelnes, und nur von dort aus betrachtet ist die Materie als die alltägliche Wirklichkeit für das wahre Selbst das Besondere, worin es sich selbst unabdingbar verwirklichen wird. Im Negieren der alltäglichen Wirklichkeit verwirklicht sich das wahre Selbst in der alltäglichen Wirklichkeit. Dies ist dieselbe Verrücktheit wie bei Nishitani (Nishitani, Die »Verrücktheit« beim Dichter Bashô, 2011).
In der Welt der theoretischen Vernunft, in der Welt der Möglichkeiten bzw. in der Welt des reinen Wissens sind „Gattung, Art und Einzelnes in ihrem innersten Wesen notwendig graduell und relativ. […] Solange wir uns im Bereich des reinen Wissens bewegen, ist ein Berühren der Realität nicht möglich, denn hier bewegen wir uns ja im Bereich bloßer Möglichkeit. Gattung, Art und Einzelnes werden in Wahrheit bedingt durch das Selbst-Bewusstsein der praktischen Vernunft“ (Kôyama, 2011, S. 309). Je mehr sich das Selbst von seinen Identifikationen und Verhaftungen befreit hat, desto mehr ist es als „das Einzelne das mit freiem Willen begabte, frei seine Entscheidungen treffende Selbst selber“ (ebenda), desto mehr ist die Gattung die Welt des eigentlichen Selbst, „gekennzeichnet durch – übersinnliche [und überempirische] – Intelligibilität“ (ebenda, Seite 309), deren „– nicht-alltägliche – Realität [immer mehr] zur unbezweifelten Gewissheit des Einzelnen“ (ebenda, Seite 309) gehört. Die Art, das Besondere, „konstituiert sich durch die geschichtlich-soziale Wirklichkeit“ (ebenda). ‚Geschichtlichkeit’ bedeutet hier eigentliche Zeitlichkeit im Sinne Heideggers (Heidegger, Sein und Zeit, 2006), und mit ‚sozial’ ist gemeint, dass es sich hierbei um eine Gemeinschaft handelt, also Personen in einem Feld mit Entsprechung bzw. Ortlogik. Damit ist dann auch die eigentliche Räumlichkeit bzw. Auskunft gemeint, insgesamt also die eigentliche Prozesshaftigkeit. „Gattung, Art und Einzelnes sind aber nicht nur graduell verschieden [wie in der Welt der theoretischen Vernunft]. Sie stehen vielmehr in einem durch Diskontinuität gekennzeichneten Gegensatz zueinander“ (Kôyama, 2011, S. 309). Wir haben hier also wieder die absolute Dialektik wie bei Tanabe (siehe Kapitel 2).
Die Zukunft der geschichtlich-sozialen Wirklichkeit „enthält sowohl das Moment des möglichen, hypothetischen Wissens, als auch das des notwendigen, kategorischen Sollens – mithin die Momente der Bedingtheit und der Unbedingtheit, der theoretischen und der praktischen Vernunft. Diese geschichtliche Wirklichkeit als eine Einheit von Wissen, Wirklichkeit und Ideal ist [...] eine durchstrukturierte Einheit“ (ebenda). Im Fall eines Zusammenbruchs dieser Einheit wird das Wissen vage, die Selbst-Bewusstheit des eigentlichen Selbst zerfällt und das Ideal löst sich auf, sodass sich die alltägliche Wirklichkeit ergibt, die weder als geschichtlich noch als gesellschaftlich, also sozial, bezeichnet werden kann. Das Selbst ist verschüttet, und es besteht ein „Mangel an Selbst-Bewusstheit des eigentlichen Selbst“ (ebenda, Seite 310). Die Gegensätze sind neutralisiert, es mangelt an negierender Transzendenz, und es herrscht eine „auf Kompromiss und Halbheit beruhende Unbestimmtheit“ (ebenda). Was die Alltäglichkeit betrifft, so ergeben sich hier einige Parallelen zu Heidegger: In den Paragraphen 35-38 von „Sein und Zeit“ (Heidegger, Sein und Zeit, 2006) untersucht er, wie sich die Merkmale der Befindlichkeit (das entspricht der Psyche, und hierüber ist das wahre Selbst erreichbar), des Verstehens (das entspricht Wissen und Ideal) und der Rede (das ist die ontologische Grundlage des sozialen Austauschs) im Alltäglichen manifestieren. Im Gerede, in der Neugier und in der Zweideutigkeit erläutert Heidegger die verschiedenen Formen des Verfallens bzw. der Verfallenheit des Daseins, also die Auswirkungen des Zusammenbruchs der durchstrukturierten Einheit von Wissen, Wirklichkeit und Ideal. Es sind jeweils die uneigentlichen Formen der Rede (Gerede, hier findet kein echter Austausch mehr statt, sodass man nicht mehr von einer gesellschaftlichen bzw. sozialen Wirklichkeit sprechen kann, und es herrscht eine auf Kompromiss und Halbheit beruhende Unbestimmtheit), des Verstehens (Neugier, im Hin- und Her-Springen werden die Gegensätze verwischt und neutralisiert, sodass die Psyche nicht mehr gehört wird und das wahre Selbst nicht mehr erreichbar ist) und der Befindlichkeit (Zweideutigkeit, hier verliert das Wissen an Präzision und Exaktheit, und der Gewissensruf wird nicht mehr verstanden, das heißt das Selbst-Bewusstsein des eigentlichen, wahren Selbst und des Ideals zerfällt). Es sind die existenzialen Strukturen des Man-Seins nach Heidegger.
Wissen und Moral bilden sich nach Kôyama erst aus, wenn die alltägliche Wirklichkeit negierend transzendiert wird. Die geschichtlich-soziale Wirklichkeit durchzieht verborgen die Negation der Wirklichkeiten und erreicht das Stadium der Selbstbejahung, denn es gibt „keine geschichtlich-soziale Wirklichkeit, die sich nicht der Probe auf Negation der Wirklichkeiten unterzöge. Deshalb sind der geschichtlich-sozialen Wirklichkeit zutiefst sowohl die Untersuchung als auch das Ideal zugehörig. […] Untersuchung heißt hier das Überdenken von verschiedenen Lösungsmöglichkeiten, wobei aber zugleich in ihnen unabdingbar das Bedürfnis nach Realisierung des Ideals mitenthalten sein muss, was dem eigentlichen Selbst gemäß zu geschehen hat. Zwischen Aufgabe, Untersuchung und Lösung, zwischen Wissen, Wirklichkeit und Ideal aber waltet als durchgängiges Prinzip das der Entsprechungsidentität.“ (Kôyama, 2011, S. 310)
Aufgaben entspringen der Wirklichkeit und sind etwas uns Gegebenes. Die Aufgabe ist uns aber nicht nur gegeben, sondern zugleich auch aufgegeben als eine zu lösende. Ersteres wird zum Gegenstand von Verstehen und Erkenntnis, Letzteres heißt, dass wir zur Untersuchung von Lösungsmöglichkeiten gedrängt sind, d.h.: „während die Aufgabe ihrem Wesen nach erkenntnisbezogen ist, ist die Lösung handlungsbezogen. Zudem ist die Aufgabe gemeinschaftsorientiert, auf die Allgemeinheit bezogen, wohingegen die Lösung individuell, d.h. aufs je Einzelne bezogen ist“ (ebenda, Seite 311). Der eigentliche Zweck der Untersuchung ist es, „eine Einheit von Gegebenheit der Aufgabe und Idealität der Lösung herzustellen“ (ebenda, Seite 312), d.h. „in der Untersuchung haben wir es mit einer Verschmelzung von theoretischer und praktischer Vernunft zu tun“ (ebenda, Seite 313). Bei Ideal, Selbst und dem Inhalt der Aufgabe ist das Ideal das Allgemeine, das Selbst das Einzelne und der Inhalt der Aufgabe das Besondere. „Die Untersuchung stellt dann die Tätigkeit dar, auf der Basis des Besonderen dieses und das Allgemeine zur Synthese, zur Einheit zu bringen“ (ebenda). Wie entsteht nun diese Einheit? Kôyama bringt hier à la Kant die Einbildungskraft ins Spiel: Das Ideal als Allgemeines gilt überall und immer und muss daher erst einmal der Besonderheit der Aufgabe unterworfen werden, was mittels der Einbildungskraft erfolgt. Bei Heidegger würde dies befindliches Verstehen lauten. Reines Verstehen wäre nur theoretisch, mit der Befindlichkeit ist das Verstehen sowohl praktisch als auch theoretisch, sodass theoretische und praktische Vernunft miteinander verschmolzen sind. Das befindliche Verstehen ist ja das Verstehen von sich und anderen im jeweiligen Worumwillen, sodass die Lösung einer bestimmten Aufgabe im optimalen Erfüllen des Worumwillens aller Beteiligten besteht. Mit dem befindlichen Verstehen nimmt das allgemeine Ideal des Erfüllens des eigentlichen Worumwillens im Besonderen der Aufgabe konkrete Gestalt an. Die hauptsächliche Schwierigkeit dabei ist die Untersuchung, worin das eigentliche Worumwillen besteht, und dazu muss das befindliche Verstehen des Worumwillens echt und unmittelbar sein. Dazu bedarf es dann des wahren Selbst und der darin eingeschlossenen Liebe als dem Absoluten. Das allgemeine Ideal wird nur durch etwas Besonderes (echtes und unmittelbares Verstehen des eigentlichen Worumwillens) erreicht, es wird nur vom wahren Selbst erkannt und in seiner konkreten Umsetzung in der Besonderheit der Aufgabe keineswegs seiner Allgemeinheit beraubt. „So besitzt und bewahrt das Ideal sowohl den Charakter der Allgemeinheit als auch den der Besonderheit. [...] Real wird die Logik der Entsprechung [von Aufgabe und Ideal bzw. von Ideal und Lösung] einzig durch die direkte Vermittlung der Einbildungskraft [bzw. des echten und unmittelbaren Verstehens des eigentlichen Worumwillens]“ (ebenda, Seite 314). Aber mit der Einbildungskraft bzw. dem befindlichen Verstehen allein sind wir noch nicht in der Wirklichkeit. In seinem Charakter besitzt das Ideal das unabdingbare Postulat, das in der Einbildung bzw. im Verständnis Gegebene auch in Handeln zu verwandeln. „Erst durch das Handeln wird die Lösung zur Wirklichkeit und die Entsprechungsidentität [von Aufgabe und Ideal] wird fruchtbar in wirklichen Dingen. [...] Die Entsprechungsidentität ist schöpferisch, denn in ihr wird das Selbst-Bewusstsein des Einzelnen (die Lösung) zu etwas Wirklichem und das Selbst wird in dieser Wirklichkeit wahrhaft zu einem Einzelnen“ (ebenda, Seite 315).
Kôyama betrachtet nun das Ganze unter dem Aspekt der Zeit, aber ich finde, dass er dabei denselben Fehler wie Heidegger macht und die Räumlichkeit vernachlässigt. Anstelle der Zeit sollte der Prozess betrachtet werden, also nicht nur die Zeitlichkeit sondern auch die Räumlichkeit, insgesamt also die Prozesshaftigkeit von Aufgabe, Ideal und Lösung. Unter dem Aspekt des Prozesses ergibt sich, dass die Aufgabe als etwas Gegebenes etwas bereits Bestehendes ist, das von etwas herkommt. Dies impliziert Vergangenheit bzw. (bezogen auf die Prozesshaftigkeit) die Ekstase der Herkunft. In ihrem Herankommen, ob uns das psychologisch bewusst ist oder nicht, „reift [die Aufgabe als Aufgabe] allmählich heran“ (ebenda) und ruft immer mehr ihre Lösung hervor, indem sie Auskunft darüber gibt, inwieweit das Ideal noch nicht erfüllt ist. Daher ist in ihr auch ein Moment von Idealität enthalten, dem „das Postulat auf Verwirklichung innewohnt [...] als ein Zukünftiges im Sinne eines Noch-Nicht-Gekommenen“ (ebenda, Seite 316), Noch-Nicht-Angekommenen, Noch-Nicht-Gegenwärtigen. Das Ideal selbst mit seinem Postulat auf Verwirklichung ist zukünftig im Sinne von Dieses-Soll-Herauskommen, d.h. es fordert die zukünftige Auskunft, dass es erfüllt worden ist. Hier spielt also die Auskunft als die räumliche Ekstase der Prozesshaftigkeit eine entscheidende Rolle und offenbart noch einmal das Manko in Heideggers „Sein und Zeit“, dass er als Rahmen, in dem Sein verständlich wird, nur die Zeitlichkeit genommen und die Räumlichkeit vernachlässigt hat, sodass es in diesem Rahmen dem Sein an Wirklichkeit mangelt. Frei nach Hisamatsu könnte man es als „Sein des toten Menschen“ bezeichnen, der keine wirklichen Ideale besitzt. Kôyama kommt nun auf diese Weise zum Wesen der Zeit, was meines Erachtens aber das Wesen des Prozesses ist: mit dem Reifwerden der Aufgabe wird der Prozess reif, und mit dem Heranreifen des Prozesses kommt die Aufgabe zu der ihr entsprechenden Lösung. Damit erfüllt sich einerseits der Prozess, andererseits gibt der Prozess aber auch Auskunft darüber, ob die Lösung auch das Ideal erfüllt und eine der Aufgabe entsprechende Lösung darstellt. Insofern müsste es anders als bei Kôyama heißen: der Prozess (statt der Zeit) reift vom bereits Bestehenden her Auskunft gebend zum Zukünftigen hin und erfüllt sich auskunftmäßig vom Zukünftigen her zum bereits Bestehenden hin. Die beiden Ablaufrichtungen des Prozesses sind zwar gegenläufig, durchdringen aber einander. Genau das ist das Wesen des Prozesses. Ohne die Auskunft bzw. die auskunftmäßige Erfüllung bleibt alles unverbindlich und die beiden Ablaufrichtungen können sich nicht wirklich durchdringen, d.h. die Zeit allein ist unverbindlich und kann so gar nicht erfüllt sein oder werden, erst der vollendete Prozess erfüllt das Ideal.
Ich möchte nun Kôyama mit entsprechenden Umformulierungen ab Seite 316 weiter referieren: die Auskunft gebende, vergangenheitsbezogene Aufgabe enthält auch Momente des Zukünftigen und die auskunftsmäßige und zukunftsbezogene Lösung Momente des Vergangenen. Die Untersuchung stellt eine Einheit dar, „welche aus der Konfrontation von Gewesenem und Noch-nicht-Bestehendem“ (ebenda, Seite 316 f.), von Herkunft und Zukunft erwächst. In dieser Konfrontation gehalten und daher sowohl herkunfts- als auch zukunftsbezogen ist diese Einheit die Gegenwart bzw. die Ankunft. Die Ankunft hat noch keine Wirklichkeit entfaltet, sie beruht lediglich auf der Einbildungskraft bzw. dem befindlichen Verständnis. Erst im Lösungsakt wird die Konfrontation von Herkunft und Zukunft aufgelöst, was sich in der Auskunft niederschlägt, dass das Ideal erfüllt ist. Die Auskunft in der Ankunft bzw. die Ankunft in der Auskunft, das Hier-und-Jetzt, enthüllt die Entsprechungsidentität der beiden Ablaufrichtungen des Prozesses von der Auskunft gebenden Herkunft in die Zukunft und von der auskunftsmäßigen Zukunft zurück zur Herkunft. Es ist die Einbildungskraft bzw. das befindliche Verstehen, welche bzw. welches das Hier-und-Jetzt entwirft, aber noch von der Wirklichkeit geschieden ist und sich in einem Feld der Möglichkeiten befindet, d.h. im Feld der theoretischen Vernunft. Erst der Akt der Auskunft durchbricht dieses Feld und eröffnet das Hier-und-Jetzt.
Aufgabe, Ideal und Lösung sind jeweils Auskunft gebende Herkunft, Auskunft verlangende Zukunft und Auskunft erzeugende Ankunft. Die vier Ekstasen der Prozesshaftigkeit können daher nur aufgrund des Prinzips von Aufgabe, Ideal und Lösung unterschieden werden. Da die Zeit allein unverbindlich ist, kann es mehrere Prinzipien geben, nach denen ihre drei Formen Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart unterschieden werden können. Wir können sie als lediglich verfließende Zeit denken oder sie mit Augustin unter einem psychologischen Aspekt der Erinnerung, der Erwartung und der Anschauung zuordnen. Erst durch die Auskunft, der ein schöpferischer Akt zugrunde liegt, wird die Zeit im Prozess verbindlich und lässt zur Unterscheidung ihrer drei Formen nur noch das Prinzip von Aufgabe, Ideal und Lösung zu. Alle drei Elemente dieses Prinzips beinhalten die jeweils beiden anderen als eigenes Moment. Wenn sie diese Momente verlieren, ist der Prozess kein wirklicher mehr, es gibt keine wirkliche Auskunft mehr, sondern nur noch Unverbindlichkeiten, und wir befinden uns in der alltäglichen Wirklichkeit mit der alltäglichen, gewöhnlichen Zeitvorstellung ohne irgendwelche kreativen Prozesse. Es gibt keine Konfrontation oder Auseinandersetzung zwischen Herkunft und Zukunft und daher auch kein Hier-und-Jetzt im Sinne der Entsprechungsidentität, da Herkunft und Zukunft einander nicht entsprechen. Es fehlt die Auskunft als Basis für Konfrontation oder Auseinandersetzung bzw. Entsprechung. Das Hier-und-Jetzt, die Ankunft in der Auskunft bzw. die Auskunft in der Ankunft, ist ein Prozessmoment, der als Handlungseinheit zu bestimmen ist. Das Feld ist in der Regel der Auskunft gebenden Herkunft zugewandt, das Einzelne ist auf die Auskunft verlangende Zukunft und der Platz als ein auf der Grenzlinie der Entsprechungsidentität von Feld und Einzelnem gelegener ist auf die Auskunft erzeugende Ankunft ausgerichtet.
Nachdem nun das Prinzip der Entsprechung und der Ortlogik grundsätzlich dargelegt wurde, geht Kôyama zum Schluss auf den Begriff der Logik ein und erläutert, dass die Ortlogik neben den üblichen Prinzipien des Wissens und der Formen der Erkenntnis „zusätzlich noch die Funktionen einer Logik als Handlungsprinzip und als einer Form von Praxis“ (ebenda, Seite 319) erfüllt. Die Ortlogik äußert sich „als Logos des Faktischen“ (ebenda), was nichts anderes bedeutet „als den Tatbestand der Entsprechungsidentität“ (ebenda). Wie schon am Anfang von Kapitel 3 dargelegt, bedeutet der Logos des Faktischen, dass Logos und Faktum gegenseitig völlig ungehindert ineinander gehen. Wir haben es hier nicht mehr mit einer Konsequenzlogik zu tun, sondern mit dem Prinzip des hermeneutischen Zirkels. (Es wurde von mir schon dargelegt (Kolb, 2011), dass die Prozesshaftigkeit mit ihren vier Ekstasen dem logischen Prinzip eines hermeneutischen Zirkels folgt.) Mit der Aufgabe ist schon ein gewisses Vorverständnis gegeben, über das die Aufgabe Auskunft gibt. Dieses Vorverständnis gliedert sich zum einen in Erfahrungen, die wir schon vorher haben, nämlich die Feldbereiche außerhalb des Mittelpunkts des Feldes, die Herkunft oder die Vor-Habe, wie Heidegger es nennt (Heidegger, Sein und Zeit, 2006), zum andern gibt die Aufgabe in ihrem Heranreifen immer mehr Auskunft darüber, was nicht zufriedenstellend und in Ordnung ist, aber in Zukunft in Ordnung sein sollte, sie gibt also eine Aussicht vor auf ein zu erfüllendes Ideal, die Aufgabe verlangt, dass ihr bald eine positive Auskunft gegeben wird, dass das Ideal erfüllt ist, wir sollen eine Vor-Sicht (ebenda) walten lassen, die uns leitet, den zufriedenstellenden Zustand zu erreichen. Schließlich erreichen wir im Laufe der Untersuchung ein theoretisches Ergebnis für eine Lösung, das ist die Ankunft, d.h. wir kommen an bei einem Vor-Griff (ebenda), vermittelt durch unsere Einbildungskraft bzw. durch unser befindliches Verstehen. Dieses Vorverständnis setzen wir dann in Handlung um und erhalten eine Auskunft darüber, inwieweit unsere Lösung tatsächlich zufriedenstellend ist. Daraus kann dann eine neue Aufgabe erwachsen, und der hermeneutische Zirkel ist geschlossen bzw. beginnt wieder von vorne. Außerdem zeigen sich, wie oben am Anfang von Kapitel 3 schon dargestellt, die Grenzen des konsequenzlogischen Denkens wie folgt: die Ekstase der Auskunft ist ein Zu-Wort-Bringen von Erfahrungen, und wenn eine Erfahrung „zu Wort gebracht werden [soll], so darf solches Wort weder bloß logisch noch bloß unlogisch sein“ (Ohashi, 2011, S. 240). Dies wurde am Anfang von Kapitel 3 ausführlich begründet, wobei ich eine Parallele zur Quantenphysik gezogen habe, die bei Messungen, das ist ebenfalls eine Art Auskunft, „unscharf“ wird (siehe die Heisenberg’sche Unschärferelation), d.h. ihr Wort bzw. Logos ist auch weder bloß logisch noch bloß unlogisch. Die entscheidende Rolle spielt somit immer die Auskunft als Ekstase der Prozesshaftigkeit.
Die Zirkularität des Prinzips der Entsprechung bzw. der Ortlogik beschreibt Kôyama auf Seite 323 und kommt hier zu dem Schluss, dass das Wissen um Vollkommenheit nur darin besteht, dass wir Unvollkommenheit erkennen können. Daher gibt es für die Entsprechungsidentität auch keine Norm als Grundlage, „die Ortlogik der Entsprechungsidentität [hat] die Bedeutung einer Logik von Handlung und Praxis, […] statt von Logik [sollte man] genauer von der Logik des Faktischen reden“ (ebenda). Bei der reinen Konsequenzlogik bezieht sich das Wissen auf gegebene Tatsachen und damit Vergangenes. Die Aufgaben in diesem Feld beziehen sich auf so genannte rein objektive Gesetzmäßigkeiten, deren Enthüllung das Ideal darstellt. Lösungen sind dann Noch-nicht-Gefundenes, also nichts wirklich Zukünftiges, d.h. wir befinden uns „im Felde der Zeitlosigkeit, […] im Felde des Ewigen“ (ebenda, Seite 320). Alles wirkliche Interesse ist abgelegt, und das „bedeutet nichts anderes als das Postulieren einer theoretischen Vernunft, welche den Zusammenhang mit der praktischen aufgekündigt hat“ (ebenda). In der Wirklichkeit jedoch besteht „ein unaufkündbarer Zusammenhang zwischen theoretischer und praktischer Vernunft“ (ebenda). Bei der Ortlogik und dem Prinzip von Aufgabe und Lösung „geht es nicht um das Bewusstsein von Aufgabe und Lösung, […] sondern es geht um den Tatbestand lebendigen Lebens, welches ja dem Bewusstsein und geistiger Analyse vorausliegt“ (ebenda, Seite 321). Ein kleines Kind ist ja auch schon es selbst, auch wenn es noch nicht die Entwicklungsstufe des repräsentationalen Selbst (siehe Kapitel 1) erreicht hat. Die zwischen Aufgabe und Lösung bestehende Entsprechung kann auch völlig unmittelbar sein, und „die Entsprechung wird [dann] nur noch reaktiv-reflexhaft“ (ebenda) sein. Wenn dann für Denken und Analyse bei einer solchen Entsprechungsidentität kein Raum mehr bleibt, kann man „darunter auch Trieb und Instinkt verstehen“ (ebenda). „So verstanden gilt der ortlogische Schematismus von Aufgabe und Lösung nicht nur für die Phänomene des Lebendigen, sondern auch für die Interpretation physikalischer Phänomene“ (ebenda, Seite 321 f.). Wie im vorigen Absatz erwähnt, versagt die reine Konsequenzlogik auch bei der Handlungspraxis der Quantenphysik, also bei den Auskunft gebenden Messungen. Solange wir bei den Zustandsgleichungen eines physikalischen Systems in der Quantenphysik bleiben, bei denen sich die verschiedenen Möglichkeiten überlagern, können wir die Zeit vorwärts und rückwärts laufen lassen, wir können die Zeit t jederzeit durch -t ersetzen, ohne dass die Gleichungen ihre Richtigkeit verlieren, d.h. es handelt sich um ewige Gesetzmäßigkeiten und wir befinden uns in einem Feld der Zeitlosigkeit. Sobald wir aber zur Praxis übergehen und etwas messen und Auskunft verlangen, versagt die reine Konsequenzlogik.
Die Ortlogik der Entsprechung als Logik von Handlung und Praxis offenbart mit ihrer Zirkularität eine „Vernunft (im Sinne einer Logik des Weges) […] und zugleich eine zu befolgende Richtschnur“ (ebenda, Seite 322), nämlich ein Abbruchkriterium, wann die aufeinander folgenden Zirkel beendet werden oder Pausen eingelegt werden sollen. Vernünftigerweise sollte dann unterbrochen werden, wenn die Verbesserung der neuen Lösung gegenüber der vorigen zu gering ist. Die Entsprechungsidentität von Sein und Sollen mag dann rein theoretisch noch unvollkommen sein, praktisch ist ihre Vollkommenheit zumindest in diesem Moment aber nicht mehr zu verbessern. Damit ist die Praxis der Entsprechungsidentität etwas „Einmaliges und Einzigartiges, d.h. ein Individuelles, das nicht zu einem allgemeinen Gesetz erhoben werden kann“ (ebenda). Trotzdem besteht dabei eine Gesetzmäßigkeit, sodass man von „einem Gesetz der Gesetz-losigkeit“ (ebenda) sprechen kann. Es gibt keine starren Regeln, sondern es wird operativ nach einer Gesetzmäßigkeit gehandelt.
Die Ortlogik der Entsprechungsidentität als Logik von Erkenntnis und Handlung zugleich ist in dem Sinne auslegend, in dem sie die Erkenntnis so auslegt, dass sie in Handlung umgesetzt werden kann. Als auslegende Logik ist sie daher hermeneutisch, was wir auch schon oben am hermeneutischen Zirkel von Aufgabe, Ideal und Lösung sehen konnten. „Wenn wir Logik so [als Logik des Faktischen] verstehen, dann stellt sich das Problem, wie denn die Beziehung zwischen ›Ortlogik‹ und ›Ortethik‹ zu bestimmen ist“ (ebenda, Seite 323). Insofern die Logik sowohl die theoretische als auch die praktischen Vernunft umfasst, während sich die Ethik lediglich auf die praktische Vernunft bezieht, umfasst die Logik die Ethik, die Ethik beschränkt sich auf das Thema der Beziehung von Mensch zu Mensch, aber ohne die Ethik könnte sich die Logik nicht konstituieren. „Beide bedingen und ergänzen einander. Sie sind Bedingungen der Möglichkeit der jeweils anderen“ (ebenda, Seite 324). Im Verhältnis zur Logik versucht das Selbst in der Ethik „die alltägliche Wirklichkeit negierend zu transzendieren“ (ebenda) und strebt zum eigentlichen Selbst hin. „Indem wir uns des eigentlichen Selbst bewusst werden, erfassen, ja ›erfühlen‹ wir das Ideal. Dabei ist die Intention, das Ideal in der Wirklichkeit zu verwirklichen, […] das ideale bzw. idealistische Prinzip […], auf dem die Ortethik beruht“ (ebenda). Diese Ethik bezieht sich immer auf das Feld der Gesellschaft, und ohne sie ist die Ortlogik nicht denkbar. Außer vom wahren Selbst lässt sich diese Ethik nicht herleiten. „Von daher kann man sagen, dass der gemeinsame Bereich, in welchem Ortlogik und Ortethik einander überlagern, der der Individualität ist“ (ebenda). Die Ortlogik erweitert das Prinzip der Entsprechung „auf alles, was sich im Zwischenbereich von Subjekt und Objekt befindet“ (ebenda, Seite 325). Das Prinzip der Entsprechung ist ja wie oben bereits erwähnt die ursprüngliche Weise des Seins des Daseins, nämlich die Sorge. Kôyama geht nun noch einen Schritt weiter und macht „das Prinzip der Entsprechung zur ursprünglichen Weise des Seins“ (ebenda), sodass „Hier die Logik der Entsprechungsidentität in einem sehr weiten Sinne“ (ebenda) erscheint. Von daher reklamiert Kôyama für die Ortlogik der Entsprechungsidentität, dass sie das wahre Wesen der Logik zum Ausdruck bringe. Der Charakter der Logik als Logik des Faktischen, der dieses Wesen der Logik ausdrückt, „kommt von der (allgemeinen) Wissenschaftslogik bis hin zur Logik der Sozialwissenschaften klar zum Ausdruck“ (ebenda), und Kôyama ist der Meinung, „dass sich die philosophische Logik auch dessen bewusst werden sollte“ (ebenda).
Zum Schluss möchte ich noch einmal auf die Unvollkommenheit der Lösung und damit auch auf die der Entsprechungsidentität von Aufgabe und Lösung zurückkommen. Aufgrund von Erfahrungen wissen wir bereits vorher schon von dieser Unvollkommenheit, d.h. wir wissen bereits auch Vollkommenes, jedoch „nur in der Form einer negativen Vorahnung, denn in der Wirklichkeit bestehen immer gewisse Hemmkräfte, welche Vollkommenheit beeinträchtigen“ (ebenda, Seite 323). Bei der Frage danach, woher diese Hemmkräfte kommen und welche Bedeutung sie haben, verweist uns Kôyama an andere Stelle (ebenda). Meines Erachtens kommen diese Hemmkräfte von den Gegensätzen bzw. den Widersprüchlichkeiten der Materie, also von der Selbstentfremdung der Liebe (siehe Kapitel 2 über Tanabe), und dies bedeutet, dass wir aufgefordert sind, sie mit Liebe zu überwinden, indem wir uns strebend darum bemühen, uns selbst und alle anderen Menschen, denen wir begegnen, möglichst echt und unmittelbar im jeweiligen Worumwillen zu verstehen, dieses Verständnis aber auch in die Tat umzusetzen und uns so die Auskunft holen, wie echt und unmittelbar unser Verstehen tatsächlich ist. Die Auskunft war ja die Ekstase der Räumlichkeit (Kolb, 2011), und damit hat sie auch mit dem Ort und der Qualität des Platzes zu tun, so dass wir die Ortlogik der Entsprechungsidentität von Kôyama auch Auskunftlogik und die entsprechende Ethik Auskunftethik nennen können.
Da die Auskunft uns so viele Schwierigkeiten bereitet, weil wir uns ihretwegen mit der Realität auseinandersetzen müssen, sei es in der Physik mit seltsamen Messergebnissen in der Quantenmechanik oder in den Sozialwissenschaften mit widersprüchlichem Verhalten von Menschen, liegt es doch nahe, auf die Auskunft ganz zu verzichten. Dann hätten wir zwar schöne theoretische Gesetzmäßigkeiten und könnten ganz im Feld der Ewigkeit zusammen mit der theoretischen Vernunft aufgehen, aber wir hätten den Zusammenhang mit der praktischen Vernunft bzw. mit der Wirklichkeit aufgekündigt. In der Sozialpsychologie heißt es, wenn jemand sich nicht für die Folgen seines Verhaltens interessiert, dann ist er unsozial. Als Psychotherapeut würde ich sagen, er verhält sich narzisstisch und fordert indirekt dazu auf, dass sich alles um ihn dreht. Philosophisch klingt es etwas neutraler, wenn wir sagen, die betreffende Person habe den Kontakt mit der Wirklichkeit aufgekündigt. (Insofern weist Heideggers Philosophie in „Sein und Zeit“ (Heidegger, Sein und Zeit, 2006) narzisstische Züge auf, denn hier „sorgt“ sich Heidegger nicht um die Ekstase der Auskunft über Umsetzung und Ergebnis der Entwürfe des Daseins in der jeweiligen Situation. Der von ihm gesteckte Rahmen der Zeitlichkeit macht nicht die Bedeutung der Auswirkungen von Sein verstehbar. Der hermeneutische Zirkel wird nicht mit der Auskunft vollendet.) Psychologisch interessant und aufgrund dieser Betrachtungen gut erklärbar ist, dass solche Menschen meistens sehr intelligent sind und im wissenschaftlichen Bereich, also im Theoretischen, große Fähigkeiten besitzen. Da diese Personen sich aber immer mehr von anderen absondern und am Ende meistens ganz isoliert dastehen, spätestens wenn sie andere mit ihren Fähigkeiten nicht mehr beeindrucken können, sind sie in ihrer Welt der wahnhaften Ewigkeit gefangen und erleben auf diese Weise etwas, was man die Hölle nennen könnte, da ihre Befindlichkeit aufgrund der umfassenden Getrenntheit nur noch aus großem Leid bestehen kann. Darin liegt also die große Bedeutung der Auskunft, dass sie uns vor einer derartigen Hölle bewahrt, wenn wir sie ausreichend beachten. Da mit der Aufgabe schon immer von vorneherein eine Auskunft mitgegeben ist, können wir sagen: „Im Anfang war die Auskunft“, sofern es jemals einen Anfang gegeben hat. Dabei meinen Auskunft, Wort und Logos im Grunde genommen alle dasselbe. Die erste Auskunft, die wir bekommen, ist das „Ich-bin“, d.h. wir sind in der Wirklichkeit angekommen, allerdings ohne eine Auskunft über das Woher und das Wohin. In der Wirklichkeit angekommen sein, bedeutet, dass wir von ihr angesprochen werden, dass es Entsprechungen mit uns gibt bzw. dass die ursprüngliche Seinsweise unseres Daseins die Sorge ist, wie Heidegger es ausgedrückt hat (Heidegger, Sein und Zeit, 2006). Indem wir uns dann bemühen, die Sorge bzw. unser jeweiliges Worumwillen immer echter und unmittelbarer zu verstehen – mit Goethe könnten wir diesen Wesenszug auch als das Faustische in uns bezeichnen –, können wir die letzte bzw. äußerste Auskunft erhalten, dass wir schon immer in der Liebe waren, ohne es wirklich zu wissen. Damit ist uns die Auskunft über unser Wohin und Woher gegeben. Diese Auskunft, obwohl ich sie hier benannt habe, ist unaussprechlich, d.h. sie ist mit meinen Worten nur benannt, aber nicht wirklich ausgesprochen, und kann daher nur von dem verstanden werden, der diese Auskunft schon auf andere Art und Weise bekommen hat. Worüber man nicht sprechen kann, darüber sollte man schweigen und, wie ich hinzufügen möchte, nur durch seine eigene Seinsweise darüber Auskunft geben. Ich habe diese letzte und für uns äußerste Auskunft auch nur deswegen benannt, um aufzuzeigen, dass der scheinbare Widerspruch (siehe oben, Seite 51) zwischen den drei biblischen Aussagen des ersten Johannesbriefes („Gott ist Liebe“), der Offenbarung des Johannes („Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott“) und des Johannesevangeliums („Gott ist Licht“) sich durch diese Betrachtungen auflösen lässt. Durch die verschiedenen Ausdrucksweisen, die uns über den Intellekt als dem 6. Sinn verbunden mit dem Gehörsinn (Wort) und dem Gesichtssinn (Licht) erreichen sollen, wird uns die letzte und für uns äußerste Auskunft gegeben über die Liebe als das Absolute. Christen tendieren zumindest von ihrer Tradition her dazu, über das tröstende Wort und den Dialog sich gegenseitig darin zu unterstützen, zur wahren Liebe zu kommen, während Buddhisten dies mehr über die gemeinsam schweigende und dadurch intensive Nähe herstellende Seinsweise anstreben und sich so gegenseitig fördern. In beiden Traditionen ist natürlich die fürsorgende Tat die reale Grundlage. Alle drei Momente, die Seinsweise im Zusammensein als das Allgemeine („Gott ist Liebe“), die fürsorgende Tat als das Einzelne (Genesis 1,1: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“, die Welt als Wiege der Menschheit, sprich Fürsorge für uns Menschen) und der Dialog, die gegenseitige Verständigung, ob verbal („Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott“) oder nonverbal („Gott ist Licht“), als das Besondere stehen einander im Erreichen des Absoluten, der Liebe, gegenüber und bilden eine absolute Dialektik im Sinne von Tanabe (siehe Kapitel 1).
Masaaki Kôsaka: Begegnung und Lauf als Geschehen auf dem »Weg«
[Bearbeiten]Kôsaka nimmt als Grundlage seines Denkens in seinem Aufsatz (Kôsaka, 2011) nicht den Ort wie Kôyama, sondern den Weg, der als Logos „der Natur ein Gefüge gibt, ihr eine Struktur gibt, ihr Bewegung gibt“ (ebenda, Seite 330). Kôsaka fragt zuerst nach den besonderen Eigenschaften, um dann die Bedeutung der Logik des Weges zu finden. Um es vorwegzunehmen, ergibt sich für ihn diese Bedeutung aus den beiden Phänomenen Begegnung und Lauf. Ich interpretiere dies weiter unten als Entwicklungsprozess, und beim Verlauf dieser Entwicklung ist die Begegnung mit anderen absolut notwendig, weil insbesondere der Anfang des Weges nur in Begleitung von anderen möglich ist. Die von Kôsaka aufgezählten Eigenschaften des Weges lassen sich gut in Verbindung bringen mit den in Kapitel 1 aufgeführten Entwicklungsebenen: der Weg besitzt etwas Bindendes und „schreibt eine bestimmte Richtung vor“ (ebenda, Seite 333). Wenn diese Richtung nach meinem Geschmack ist, gehe ich aktiv-ergreifend und freudig auf ihm, ansonsten lasse ich mich passiv-aufnehmend bewegen. Wir haben hier also den Gegensatz aktiv-passiv bzw. ergreifen-empfangen, die Befindlichkeit der Freude oder des Spaßes und auf der körperlichen Ebene schließlich den Geschmackssinn, insgesamt also die erste, die physische Entwicklungsebene des Selbst. Meine physische Entwicklung ist auch in gewisser Weise gebunden, und zwar an mein genetisches Erbe. So wie ich den Weg nicht beliebig im Gelände verlaufen lassen kann, so geben die Gene gewisse Grenzen für meine physische Entwicklung vor. Wege sind „Spuren der Begegnungen von Menschen“ (ebenda, Seite 331). „Der Weg ist etwas Öffentliches“ (ebenda). Dies entspricht der zweiten, der sozialen Entwicklungsebene des Selbst. Wir haben hier den Gegensatz subjektiv-objektiv, die Befindlichkeit der Wut oder des Zorns und den Geruchssinn. Es kann nämlich auch sein, dass ich nicht will, dass jemand auf einem bestimmten Weg läuft und dort seine Spuren hinterlässt, bestimmte Dinge, die mir stinken. Durch den Weg wird meine Entwicklung öffentlich, andere finden einen Weg zu mir und ich zu ihnen. „Durch den Weg macht die Welt ihr Selbst sichtbar“ (ebenda), und dasselbe gilt auch für mich. „Der Weg besitzt zwei Richtungen“ (ebenda), vor und zurück, er kann „ein vertrauter Ort“ (ebenda) sein oder ein Ort, „an dem sich Feindseligkeit begegnet“ (ebenda, Seite 332). Darin zeigt sich die dritte, die teleologische Entwicklungsebene des Selbst, wenn Weg und Ziel von mir unterschieden werden können, wenn ich Angst oder Furcht habe, weil ich nicht weiß, was mir auf dem Weg begegnen wird, sodass ich mich auf dem Weg vorsichtig vorantaste (Tastsinn), d.h. wir finden hier den Gegensatz kontinuierlich-diskontinuierlich vor. „Ein Weg weist auch auf die Fixierung auf einen bestimmten Ort hin“ (ebenda), sodass hier eine Intention sichtbar wird. Durch „ein Gebinde von Wegen“ (ebenda) entsteht eine Stadt, die durch Mauern eingezäunt ist. Daraus ergibt sich die vierte, die intentionale Entwicklungsebene des Selbst mit dem Gegensatz linear-zirkulär, wenn mich der Weg geradeaus oder im Kreis führt, mit der Befindlichkeit von Leid oder Trauer, wenn Mauern mich von etwas Ersehntem trennen, wovon ich gehört habe (Gehörsinn). Um nicht mehr getrennt werden zu können, um also Leid oder Trauer zu vermeiden, kann ich ansässig werden – der Weg besitzt auch „die Eigenschaft der Ansässigkeit“ (ebenda). Jede Stadtmauer hat auch ihre Tore. „Das Tor verbindet das Innen mit dem Außen“ (ebenda). Damit weist der Weg auf das Räumliche der konkreten Situation hin. „Verlässt er das Tor, entfernt sich der Weg in eine unendliche Weite“ (ebenda), und „die unendliche Entfernung ist unser eigener »Entwurf«“ (ebenda, Seite 333). Dies weist in die Zukunft bzw. auf das Technisch-Abstrakte hin, sodass uns hier der Gegensatz räumlich-zeitlich bzw. konkret-abstrakt begegnet, welcher mit der fünften, der repräsentationalen Entwicklungsebene verknüpft ist. Das, was eine Stadt durch das Tor verlässt, ist ein Ausdruck bzw. eine Repräsentation von ihr. Auf dem Weg durch das Tor wird auch der Abfall befördert, was die Befindlichkeit von Abscheu oder Ekel auslösen kann. Weil ich mit den Augen sehe, was die Stadt verlässt, ist hier der Gesichtssinn angesprochen. Die Unendlichkeit des Weges kann auch mit der Redewendung ausgedrückt werden: soweit das Auge sieht.
Mit diesen von Kôsaka beschriebenen fünf Charaktereigenschaften des Weges sind alle fünf Entwicklungsebenen des Selbst, alle Modalitäten der Befindlichkeit und alle Widersprüche und Gegensätzlichkeiten der Materie (wie in Kapitel 1 aufgezeigt) angesprochen. In der Entwicklung des Selbst ist der Aspekt der Rückkehr zum Absoluten enthalten, hier begegnet uns also der Geist, und die Befindlichkeit entspricht der Psyche. Somit haben wir aus der Logik des Weges die absolute Dialektik nach Tanabe (siehe Kapitel 2) von Geist, Psyche und Materie entwickeln können. Dadurch entspricht die auf diese Weise hier auf Kôsaka aufbauend ausgearbeitete Logik des Weges auch der Ortlogik der Entsprechungsidentität nach Kôyama (siehe voriges Kapitel), denn aus Geist, Psyche und Materie lassen sich auch Aufgabe, Ideal und Lösung herleiten. Die Psyche gibt Auskunft darüber, dass die Situation nicht dem Ideal entspricht, und stellt so die Aufgabe, der Geist, der dem Aspekt der Rückkehr zum Absoluten entspricht, präsentiert das Ideal und erteilt den Auftrag, das durch ihn befindlich Verstandene umzusetzen, und wenn in der Materie die Gegensätzlichkeiten überwunden sind, ergibt sich daraus die Auskunft, zum Teil auch als psychische Befindlichkeit, dass die Lösung erreicht ist.
Kôsaka stellt nun Öffentlichkeit und Unendlichkeit auf der einen Seite und Ansässigkeit und Bindung auf der anderen Seite einander gegenüber (ebenda, Seite 333). Dies bedeutet die Gegenüberstellung der Eigenschaften objektiv, technisch-abstrakt, linear und aktiv-ergreifend einerseits und deren Gegenstücke subjektiv, räumlich-konkret, zirkulär und passiv-empfangend. Dies entspricht in etwa dem Gegensatz von männlichem und weiblichem Prinzip (siehe Kapitel 1, dem Männlichen fehlt noch das Abenteuerlich-Exotisch-Diskontinuierliche, dem Weiblichen das Anheimelnd-Vertraut-Kontinuierliche). Zwischen beidem vermittelt die Umkehrbarkeit des Weges (ebenda). Ich kann auf dem Weg umkehren und einen anderen Weg einschlagen. Hier zeigt der Weg eine dynamische Charakteristik, die Gegensätze verbinden und somit überwinden kann. Die Dynamik ist letztlich das Kräftespiel zwischen Männlich und Weiblich (Adam und Eva), zwischen Nomadentum und Sesshaftigkeit (Kain und Abel). Damit verläuft der Weg nicht nur horizontal, er kann auch einerseits in die Tiefen des Zerwürfnisses und andererseits in die Höhen der harmonischen Verbindung von männlichem und weiblichem Prinzip führen. Es kommt auf den Lauf der Begegnung an. Je nachdem, ob der Weg in die Höhe oder in die Tiefe führt, kann er einmal als Ausdruck des Himmels und einmal als Ausdruck der Hölle verstanden werden. Mit der Verbindung bzw. Überwindung aller Gegensätze sind das wahre Selbst und die Liebe erreicht.
Die beiden Phänomene Lauf und Begegnung lassen sich auch als Zeitlichkeit und Räumlichkeit des Weges verstehen. Damit wird der Weg zum Entwicklungsprozess. „Auf dem Weg entsteht die Struktur der Beziehungen zwischen Mensch und Mensch. Durch den Weg erhält das Leben zwischen Menschen zum ersten Mal eine bestimmte Struktur. Auf dem Weg steht der Mensch zum ersten Mal in der Welt. Durch den Weg wird der Mensch zum ersten Mal Mensch“ (ebenda, Seite 338). Der Weg vermittelt auch, worum es den Menschen geht, d.h. er vermittelt den Sinn des Seins des Menschen, sein Worumwillen. Wenn ich einen bestimmten Weg gehe, um auf diese Weise ein bestimmtes Ziel zu erreichen, so ist der Weg nicht nur ein Mittel, welches ich benutze, um an dieses Ziel zu kommen, sondern er ist auch Ausdruck meiner selbst, zum Beispiel dass und wie ich dieses Ziel erreichen will. Damit ist der Weg genauso ein Ausdruck von etwas wie das Wort. Wege und Worte werden von Menschen gemeinsam benutzt und sind daher „kollektiver Ausdruck von Menschen“ (ebenda, Seite 339). Genauso wie Sprache niemals etwas von einem Menschen allein sein kann, so ist auch die Gesamtheit aller Wege in einem bestimmten Bereich, zum Beispiel in einer Stadt, nie von einem einzigen Menschen allein. Da Wege in ihren Möglichkeiten durch ihre Umgebung begrenzt sind – ein Weg kann niemals eine steile Felswand empor gehen –, sind Wege Ausdruck des In-der-Welt-Seins. Wörter und Sprache dagegen sind begrenzt durch das, was die jeweilige Gemeinschaft, welche diese Wörter und diese Sprache benutzt, vom In-der-Welt-sein begreift. „Bei Wörtern ist der Mensch Mittelpunkt, bei Wegen ist die Natur Mittelpunkt“ (ebenda). Kôsaka wagt nun als Verallgemeinerung, „die westliche Philosophie sei eine aus dem Logos herrührende Philosophie, und die östliche Philosophie sei eine im Weg wurzelnde Philosophie“ (ebenda). „Jedenfalls ist das Wort ein expliziter Ausdruck, während der Weg der schweigsame Ausdruck ist; er ist Ausdruck, der verborgen ist“ (ebenda). An dieser Stelle bekommt der Weg dieselbe Bedeutung wie die Tat, denn auch diese ist schweigender Ausdruck, dessen Inhalt verborgen bleibt, bis die Betroffenen darüber sprechen oder der Ausdruck verstanden wird. Vom Einzelnen aus betrachtet hat der Ausdruck, der über den Weg erfolgt, den Vorteil, dass ich ihn nachvollziehen kann, indem ich selbst den Weg gehe und auf diese Weise seinen Ausdruck durch eigene Erfahrung begreifen kann nach dem Motto: Probieren geht über Studieren. Es besteht dabei allerdings die Gefahr, dass ich mir beim Probieren einen Schaden zufüge, weil ich über bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten, die zur gefahrlosen Bewältigung des Weges nötig sind, nicht verfüge. Innerhalb einer Gemeinschaft bedeutet die Verlagerung der Verständigung vom Wort bzw. von der Sprache auf den Weg bzw. auf die Handlung eine Verschiebung des Lösens von Aufgaben vom Wortgefecht auf die tätliche Auseinandersetzung. Auch dies kann im Einzelfall von Vorteil sein – es wird nichts zerredet, und es werden keine künstlichen Probleme erzeugt, die in der Praxis keine Bedeutung haben –, es bringt aber auch Gefahren mit sich, wenn durch Handlungen geschaffene Fakten schwere Konflikte zwischen den Beteiligten hervorrufen. Wenn Kôsaka hier eine Unterscheidung zwischen östlich und westlich macht, so wird an dieser Stelle der unterschiedliche Gebrauch von Sprache in der östlichen und in der westlichen Kultur deutlich: wie schon in der Einleitung erwähnt, dient in Japan Sprache in ihrer sozialen Funktion vorrangig dem Gemeinschaftsgefühl, sie definiert nicht, sondern bezeichnet Empfindungen. Daher sind Wortgefechte und anstrengende Erklärungen verpönt. Handlungen beschreibend zu kommentieren („Ich geh mal wohin.“), was hierzulande normal ist, wird dort als lächerlich empfunden (jeder kann doch sehen, dass ich wohin gehe).
Statt nur bei Worten zu bleiben, eröffnet die Betrachtung des Weges neue Dimensionen und erweitert so die Möglichkeiten des Verstehens. Im Weg ist Tanabes Tat-als-Wende enthalten (siehe Kapitel 2). „Im Weg, den wir unbewusst gehen, liegt tief Metaphysisches verborgen. Auch in der Philosophie muss gelten, dass wir das Naheliegende, was uns vor Füßen liegt, betrachten. […] Es gilt, dass man ein Verständnis der »Welt« nur über den Weg erreicht“ (ebenda, Seite 340). Auf dem Weg machen wir Erfahrungen, sodass sich uns ein Feld im Sinne von Kôyama (siehe voriges Kapitel) auftut. Daraus erwachsen dann Aufgaben, sodass wir weitere Wege gehen, um diese Aufgaben zu lösen, wodurch sich immer weitere Felder eröffnen mit neuen Aufgaben usw. Manche Wege gehen wir also ganz bewusst, um Lösungen zu finden, aber ohne wirklich zu wissen, ob wir damit eine Lösung erreichen. Wir gehen den Weg bewusst in eins damit, dass wir ihn unbewusst, also ohne wirkliches Wissen, gehen, wir gehen ihn also „wohl bewusst“, d.h. in einer bestimmten Hinsicht bewusst, und zugleich unbewusst. Dass wir überhaupt Wege gehen, dem liegt der Antrieb durch unsere Psyche zu Grunde. Welchen Weg wir wählen und wie wir ihn gehen, hängt davon ab, wie wir unseren Geist benutzen. Unser Soma, unsere Körperlichkeit, d.h. unsere materielle Grundlage, gibt uns dann früher oder später, also irgendwann im Laufe des Weges, Auskunft darüber, ob und wie weit wir darin vorangekommen sind, das Worumwillen unseres Seins und das von anderen echt und unmittelbar zu verstehen bzw. Gegensätze immer mehr zu überwinden. Weg bedeutet dabei immer auch die Begegnung mit anderen. Insbesondere am Anfang können wir nur in Begleitung von anderen den Weg gehen (siehe die in Kapitel 1 beschriebene Entwicklung des Selbst). Insgesamt könnte man dies als Auskunft-Psycho-Logik des Entwicklungsweges zur Liebe bezeichnen. Wenn wir einen Menschen, der sich seiner Psyche als Objekt zur Verfügung stellt, der also auf sie hört und ihrer Aufforderung folgt, etwas zu verändern – man kann hier durchaus den Begriff „dunkler Drang“ verwenden, weil die Aufforderung in der Hinsicht unklar und damit dunkel bleibt, was zu verändern sei –, der außerdem seinen Geist benutzt, um möglichst angemessen auf seine Psyche zu reagieren und einen geeigneten, also „rechten Weg“ zu finden, und der schließlich die Auskunft seines Soma herbeiführt, indem er auch wirklich handelt und den Weg geht, den er mithilfe seines Geistes ausgewählt hat, wenn wir so jemanden einen „guten Menschen“ nennen, dann gilt für ihn das Goethe-Zitat: „Ein guter Mensch in seinem dunklen Drang ist sich des rechten Weges wohl bewusst.“ (Faust 1, Prolog im Himmel) Ein guter Mensch geht also den Weg, das Sein von sich und anderen in seinem Worumwillen immer echter und unmittelbarer zu verstehen, wodurch er die Widersprüchlichkeit der Materie immer mehr überwindet, d.h. er geht den Weg zur Liebe.
Toratarô Shimomura: Japanische und westliche Denkweisen
[Bearbeiten]Mit Shimomuras Aufsatz (Shimomura, 2011) wird das Thema »Östliche und westliche Philosophie« aufgegriffen und weitergeführt. Das Phänomenale der japanischen Mentalität ist die große Toleranz gegenüber anderen Denkweisen: „Völlig fremde Kulturen und Gedanken werden oft ohne kritische Auseinandersetzung übernommen, aber gleichzeitig bleibt das Überlieferte erhalten. So koexistieren Dinge von unterschiedlichem Charakter miteinander und leben gemischt zusammen“ (ebenda, Seite 345 f.). Ich persönlich habe einmal in einem Bericht über Japan gehört, dass die Summe aller Mitgliederzahlen der religiösen Gemeinschaften in Japan die doppelte Einwohnerzahl des Landes ergibt. Diese Haltung ist oft von westlicher Seite kritisiert worden, aber um sie besser zu verstehen, möchte Shimomura auch ihre positiven Aspekte herausstellen. „Europäische Gedanken haben traditionell eine Struktur, und ihre Eigenschaft ist es, kritisch zu sein. Das japanische Denken akzeptiert diese vollkommen gegensätzlichen Gedanken, indem es die traditionelle Eigenschaft, nämlich »strukturlos« zu sein, nach wie vor erhalten kann. […] Es ist nicht die »Tradition« im europäischen Sinne, sondern vielmehr etwas ohne Tradition. Allerdings genau dies, nämlich keine Tradition zu haben, ist offensichtlich die Tradition des japanischen Denkens“ (ebenda, Seite 349 f.). Die Kategorien des europäischen Denkens können daher vieles in der japanischen Kultur gar nicht sichtbar machen.
Was sind nun die Kategorien bzw. die Grundlage des europäischen Denkens? Laut Shimomura sind dies „die Logik des Satzes vom Widerspruch und der Satz des ausgeschlossenen Dritten“ (ebenda, Seite 351), wobei Letzteres bei unendlichen Größen nicht immer gilt. Damit, dass das japanische Denken nicht einer Logik folgt, die durch den Satz des ausgeschlossenen Dritten bestimmt ist, kann man es nicht von vornherein als primitiv und naiv abtun. „Nun kann man sagen, dass die koordinatenlose Tradition und das strukturlose Denken in der Tat die »Erfahrung« der tausendjährigen japanischen Geschichte und unsere »Weisheit« sind. Dann ist es nicht eine Frage des »Könnens«, sondern eine Frage des »Wollens«“ (ebenda, Seite 352). Wie in Kapitel 1 dargestellt ist die Sprache entscheidend für die letzte Stufe der Entwicklung des Selbst, für die eigentliche Mentalisierung auf der repräsentationalen Ebene (Fonagy, Gergely, Jurist, & Target, 2008), und damit für das Denken. Nach Shimomura gibt es im Japanischen Beschreibungen, „welche die Zeit – das Tempus – ausschalten“ (Shimomura, 2011, S. 352), eine Unmöglichkeit in europäischen Sprachen. Beim Denken findet immer eine Art des Abstrahierens statt, d.h. es wird etwas ausgeschaltet. Im Japanischen kann also die Zeit ausgeschaltet werden. Wenn man sich im Spielraum des Als-ob-Modus (siehe Kapitel 1) mit einer anderen Person identifiziert und dabei die Zeit ausschaltet, dann identifiziert man sich nicht mit den Handlungsweisen dieser Person, sondern mit seiner Seinsweise bzw. seiner Lebensform. Schaltet man dagegen den Raum aus, dann identifiziert man sich nicht mit der betreffenden Lebensform, sondern mit den Handlungsweisen dieser Person. Dies ist meines Erachtens ein ganz wesentlicher und entscheidender Unterschied im Denken. Im japanischen Denken gibt es daher auch keine negative Lebensform, eine Lebensform kann nur an einem bestimmten Ort unangemessen sein. Im westlichen Denken gibt es keine negativen Handlungsweisen, eine Handlungsweise kann nur in einem bestimmten Moment unangemessen sein. So tolerant das japanische Denken allen möglichen Lebensformen gegenüber steht, so intolerant kann es bei bestimmten Handlungsweisen sein, und so tolerant westliches Denken allen möglichen Handlungsweisen gegenüber steht, so intolerant kann es über bestimmte Lebensformen urteilen. Dies betrifft wohl gemerkt natürlich nur das Alltags-Denken, d.h. es gibt sicherlich genug Denker auf beiden Seiten, die eine große Toleranz gegenüber Lebensformen und Handlungsweisen besitzen. Insofern muss ich also Shimomura widersprechen, wenn er behauptet, „Kritik, Unterscheidung und Urteil [sind] nicht unbedingt das Wesen des [japanischen] Denkens“ (ebenda, Seite 353). Dies betrifft nur die Denkweise über Lebensformen, nicht aber die über Handlungsweisen. In der Geschichte Japans wäre sonst ein so strenger Ehrenkodex nicht möglich gewesen, der nach bestimmten Handlungsweisen, die nach allgemeinen Kriterien beurteilt, der Gemeinschaft geschadet hatten, sogar die rituelle Selbsttötung, das Harakiri vorschrieb.
Somit liegen die Vor- und Nachteile von östlichem und westlichem Verstehen des Worumwillens des Seins von sich selbst und anderen auf der Hand: damit dieses Verstehen möglichst echt und unmittelbar ist, ist eine Entwicklung notwendig, bei der wir alle Identifizierungen loslassen und überwinden, nur dann kann dieses Verstehen echt und unmittelbar sein, nur dann können wir alle Gegensätze und Widersprüchlichkeiten der Materie auflösen und überwinden. In der westlichen Kultur gelingt dies wesentlich besser bei allen Identifizierungen, die mit bestimmten Handlungsweisen zu tun haben, für das japanische Denken ist es wesentlich einfacher, diejenigen Identifizierungen loszulassen, die mit bestimmten Lebensformen zusammenhängen. Beide Denkweisen können das ihnen jeweils fehlende Verstehen nur dadurch erreichen, dass sie das, was sie bei ihrem jeweiligen Denken ausgeschaltet haben, wieder einschalten, und dies gelingt in der Regel nur dadurch, dass sie vom Denken weg zum Handeln kommen. Darin liegt Tanabes große Bedeutung, dass er die Tat-als-Wende so stark betonte. Weg vom Denken zu kommen, heißt dann auch, weg von der Art von Sprache zu kommen, die nur Gedanken bildet, aber nicht zum Ausdruck bringt, welche Handlungs- und welche Seinsweisen im Hier und Jetzt erforderlich sind. Bis zu einem gewissen Punkt kann Philosophieren helfen, das Worumwillen des Seins immer echter und unmittelbarer zu verstehen, also sich immer mehr zur Liebe hin zu entwickeln, dann aber muss Philosophie in Protreptik umschlagen, damit sie nicht im „absoluten Nichts“ endet. Diesem „Gedanken, der die Sprache zurückweist und keine Theorie zulässt, eine Sprache zu geben und eine Logik zuzusprechen“ (ebenda, Seite 359), darum hat sich Nishida bemüht, wie Shimomura feststellt (ebenda), und so die Kyôto-Schule gegründet. Dieser Gedanke hat die Logik der Handlungsweise, während die Art von Sprache, die er zurückweist, die Logik der Seinsweise besitzt. Wenn Nishida also den Gedanken des absoluten Nichts ausspricht und zur Grundlage seines Denkens macht, gibt er dem Lebensweg eine Sprache und spricht ihm die Logik der Handlungsweise zu, während er jede Form der Seinsweise und deren Logik zurückweist. Mit der Zurückweisung der Seinsweise hat er aber auch die Besonderheit, das Spezielle der Menschlichkeit, nämlich die Zeitlichkeit zurückgewiesen, und damit konnte Tanabe nicht einverstanden sein. Mit der Tat-als-Wende holte er das Spezielle und die Zeitlichkeit wieder zurück aus der Verbannung, in die das typisch japanische Denken Nishidas sie geschickt hat.
Um die Unterschiede noch einmal zu veranschaulichen: Für Heidegger ist die zentrale Seinsweise des Daseins die, dass es ihm um seine Existenz geht. Weil das Dasein vernünftig ist, d.h. weil es auf Vernommenes eingeht (Vernunft kommt von Vernehmen) und aufgrund gemachter Erfahrungen reagiert, sieht es ein, dass es auf andere angewiesen ist, und handelt daher auch altruistisch, also mit Rücksicht auf andere. Von seiner Seinsweise bleibt das Dasein aber auf sich selbst bezogen, d.h. individualistisch, es denkt in erster Linie an die Zeitlichkeit seiner eigenen Existenz und nicht an die räumliche Begegnung mit anderen. Diese Denkweise erscheint dem japanischen Denken äußerst fremd. Im Unterschied zum Europäer identifiziert sich der Japaner im Alltag nicht mit seiner Seinsweise, sondern mit seinem Lebensweg, also mit seiner Handlungsweise. Auf diesem Lebensweg steht die räumliche Begegnung mit anderen im Vordergrund und nicht die Zeitlichkeit seiner Existenz. Daher ist es für ihn die vordringliche Sorge, dass die räumliche Begegnung möglichst harmonisch verläuft, Gedanken an die Zeitlichkeit seiner Existenz sind ausgeblendet. Die Handlungsweise bleibt immer auf andere bezogen, d.h. sie ist kollektivistisch. Dies schlägt sich auch in der Grammatik der Sprache nieder: „Es ist wohl eine wirklich wesentliche Eigenschaft, dass das Subjekt hinsichtlich der Grammatik im Japanischen im Unterschied zu den europäischen Sprachen nicht unbedingt notwendig ist. […] Zumindest unterscheidet sich Japanisch in struktureller Hinsicht von den europäischen Sprachen, die das Subjekt als Gegenstand bestimmen und prädizieren“ (ebenda, Seite 357) Während sich beim westlichen Denken also die Abstraktion auf das Zeitlich-Technische bezieht und das Räumliche ausschaltet, konzentriert sich die Abstraktion des japanischen Denkens auf das Räumlich-Soziale und blendet das Zeitliche aus. Das Selbst in der westlichen Kultur hat eine feste individualistische Form, und die Formlosigkeit der Handlungsweise bzw. des Lebenswegs wird als Freiheit heftig verteidigt. Das Religiöse begegnet dieser Freiheit mit einer repressiven Toleranz: jeder Mensch hat die Freiheit, zu handeln, wie er will, aber je nachdem, wie er handelt, kommt er entweder in den Himmel oder in die Hölle. Im Gegensatz dazu hat das Selbst in der japanischen Kultur keine feste Form, das eigentliche Selbst wird hier als formlos bezeichnet, sodass ganz unterschiedliche Lebensformen parallel nebeneinander gelebt werden können. Diese Formlosigkeit aufzugeben, würde im japanischen Denken bedeuten, seine Anpassungsfähigkeit aufzugeben. Dementsprechend begegnet das Religiöse dieser Angst um die eigene Anpassungsfähigkeit dadurch, dass es jedem Menschen freistellt, so zu sein, wie er will, aber je nachdem, wie er ist, schadet oder nützt er seiner Gemeinschaft. Damit ist es dann auf einmal eine Seinsweise, eine bestimmte religiöse Haltung, die eine sehr alltägliche Handlungsweise, zum Beispiel das Teetrinken, veredelt, sodass „das Niedrigste und das Höchste zusammenfließen“ (ebenda, Seite 356). Die Liebe, umschrieben als echtes und unmittelbares Verstehen des Worumwillens des Seins von allem Seienden, ist formlos und ist sowohl Handlungs- als auch Seinsweise: im echten Verstehen ist es eine Handlungsweise, denn ein Verstehen, welches nicht auch zugleich Handlung ist, ist nicht echt, und in seiner Unmittelbarkeit eine Seinsweise. Sowohl als Handlung als auch als Sein ist Liebe aber formlos, denn sonst wäre sie durch die entsprechende Form vermittelt und nicht unmittelbar. Im westlichen Denken ist die christliche Aufforderung „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ typischerweise nur als Handlungsregel aufgefasst worden, während sie doch gleich gesetzt wurde mit einer Seinsregel, nämlich „Du sollst lieben Gott, deinen HERRN, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte.“ (Matthäus, 22:37). Beide Regeln sind meines Erachtens sowohl als Handlungs- als auch als Seinsregeln aufzufassen. Diesen christlichen Aufforderungen entspricht meiner Meinung nach die Zen-buddhistische Empfehlung „die (eigene) Natur schauen und Buddha werden“, die vom typisch japanischen Denken meist nur als Seinsregel verstanden wird, weswegen im Zen immer wieder betont wird und wegen dieser japanischen Denkweise wahrscheinlich auch immer wieder betont werden muss, dass dies auch eine Handlungsregel ist, damit Zen nicht zum „Zen des toten Menschen“ (Hisamatsu, Eine Erläuterung des Lin-chi-(=Rinzai)-Zen, 2011, S. 220) entartet. An diesen beiden Beispielen lässt sich aufzeigen, dass weder die japanische noch die westliche Denktradition eine „bloß »säkulare Anwendung der buddhistischen Philosophie«“ (Shimomura, 2011, S. 350) bzw. einer christlichen ist. Die westliche Tradition des Denkens geht auf die vorchristlichen griechischen Philosophen zurück, und auch die japanische Tradition bestand schon vor der Einführung des Buddhismus, der erst im zwölften Jahrhundert n. Chr. nach Japan kam.
Die Unterschiede zwischen japanischer und westlicher Denkweise beruhen letzten Endes also auf dem Gegensatz räumlich-zeitlich. Dieser zeigte sich hier als Gegensatz sozial-technisch bzw. kollektivistisch-individualistisch. Wie in Kapitel 1 beschrieben wurde, wird diese Widersprüchlichkeit zum ersten Mal auf der repräsentationalen Entwicklungsebene des Selbst bearbeitet, bei der die Sprache ein notwendiges Mittel ist, um Repräsentationen des Selbst bei anderen zu erkennen und bei sich selbst auszubilden und auszudrücken. Wichtig war dabei die Interaktion mit der Mutter im Als-ob-Modus, die einen entsprechenden Spielraum ermöglicht, in welchem das Kind mit allen möglichen Vorstellungen gefahrlos experimentieren kann. In diesem Zusammenhang wäre es meines Erachtens einmal interessant zu untersuchen, ob und worin sich derartige Als-ob-Spiele unterscheiden in japanischen und westlichen Mutter-Kind-Dyaden.
Shigetaka Suzuki: Europäische Weltgeschichte und Denken
[Bearbeiten]Shigetaka Suzuki ist nicht zu verwechseln mit dem weltberühmten Zen-Gelehrten Daisetsu T. Suzuki. Shigetaka Suzuki ist kein Philosoph, sondern Historiker. Ohashi hat ihn deswegen in seinem Band (Ohashi, 2011) aufgenommen, weil dem Grundbegriff der Kyôto-Schule, dem absoluten Nichts, ein anderer Grundbegriff zugeordnet ist, nämlich der Begriff der Weltgeschichte. „Suzukis historische Betrachtungsweise und das geschichtsphilosophische Denken der Kyôto-Schule sind […] untrennbar miteinander verbunden“ (ebenda, Seite 363). Bei dem vorgestellten Aufsatz von Suzuki (Suzuki, 2011) handelt es sich um eine programmatische Schrift, in welcher sein Konzept der „»Historie der Weltgeschichte« als »Zwischenbereich zwischen der Geschichtswissenschaft als einer Einzelwissenschaft und der Geschichtsphilosophie«, die dem Allgemeinen den Vorrang gibt“ (Ohashi, 2011, S. 364) schon zu erkennen ist. Dies ist der Hauptgrund für Ohashi, Suzukis Aufsatz in seinem Sammelband aufzunehmen.
Europa ist für Suzuki ein Begriff, der seine Bedeutung zusammen mit den Epochen ständig verändert habe (Suzuki, 2011, S. 368), dabei sei Europa aber dennoch stets es selbst gewesen und habe immer „den alle Veränderungen durchziehenden selben Geist besessen“ (ebenda). Er findet in der europäischen Entwicklung zwei gegensätzliche Tendenzen, die sich immer wieder abgewechselt haben, und zwar einmal die Tendenz des Rückzugs, der „Schrumpfung und Regression“ (ebenda, Seite 373), und zum anderen die Tendenz der Expansion (ebenda, Seite 375). Als es im 13. Jahrhundert erneut zu einer Tendenz europäischer Expansion gekommen sei „mit dem Aufkommen der Städte und mit der Entwicklung des Kapitalismus“ (ebenda), habe dies „in einem Zusammenhang mit einem Wendepunkt des Geistes“ (ebenda) gestanden. Meines Erachtens gab es immer einen Wendepunkt des Geistes, wenn es zu einem Wechsel der Tendenz kam. Typisch für die Tendenz des Rückzugs ist der „Charakter einer geschlossenen und eingegrenzten Regionalität“ (ebenda, Seite 373), wobei auch die Kultur jeweils eine geschlossene „Binnenlandskultur“ (ebenda) war. Im Gegensatz dazu war die Kultur bei der Tendenz der Expansion eine offene „Meereskultur“ (ebenda), und es entwickelten sich Wirtschaft und Technik deutlich weiter in solchen Phasen des Wachstums. Was den Geist betrifft, so liegen ihm die beiden Hauptströmungen des griechischen Denkens und des Christentums zu Grunde, und Wendepunkt des Geistes kann meines Erachtens dann nur bedeuten, dass sich jeweils eine der beiden Hauptströmungen in den Vordergrund geschoben und die andere in den Hintergrund gedrängt hat. Nun würde ich dem griechischen Denken eher die Tendenz der Expansion und eine offene Kultur zuordnen, in der sich Wirtschaft und Technik freier entwickeln können. In diesem Denken ist das Räumliche ausgeschaltet, dieses Denken ist individualistisch und technisch-zeitlich. Wenn Reichtum investiert wird, um Gewinne zum Beispiel durch Handel, Produktion oder Zinsen zu gewinnen, dann spielt hier nur die Zeit eine Rolle, wenn aber der Reichtum etwa dazu benutzt wird, um ihn durch Prunk zur Schau zu stellen, dann spielt nur der Raum eine Rolle und nicht die Zeit, der Prunk soll ja in der Regel für die Ewigkeit sein. Dem griechischen Denken gegenüber ist das christliche sozial-räumlich und kollektivistisch, und das Zeitliche ist ausgeschaltet. Alles was man tut, ist letztlich für die Ewigkeit, so auch beispielsweise das Bauen von prächtigen Kathedralen und anderen Prunkbauten. Mit der Räumlichkeit geht auch der Charakter einer geschlossenen und eingegrenzten Regionalität einher, d.h. die Tendenz des Rückzugs, man konzentriert sich nicht auf Expansion und Gewinne im Diesseits, sondern trachtet danach, „das Reich Gottes“ im Jenseits zu gewinnen. Im Moment scheinen wir uns in Europa an einer Stelle zu befinden, in der noch das griechisch-individualistische Denken im Vordergrund steht, in der sich aber immer mehr die Einstellung durchsetzt, dass wir mehr Rücksicht auf andere und auf unsere Umwelt nehmen und mehr Verständnis haben sollten als bisher. Ansonsten können wir die Aufgaben und Probleme, vor die wir gestellt sind, nicht lösen und gehen unter. Wir sind also aufgefordert, uns zur Liebe hin zu entwickeln, sonst stehen wir bald vor dem absoluten Nichts in einem anderen Sinne, als dies von der Kyôto-Schule jemals gemeint war.
Yoshinori Takeuchi: Das Schweigen des Buddha als Einladung zur Liebe
[Bearbeiten]Yoshinori Takeuchi war gelehrter Fachbuddhologe und Philosoph. Religion und Philosophie haben für ihn im Buddhismus dieselbe Wurzel. Wie für die meisten, wenn auch nicht für alle, Philosophen der Kyôto-Schule charakteristisch, geht für ihn die Philosophie vom Buddhismus aus, und der Buddhismus entfaltet sich durch die Philosophie. Wegen der Überwindung der Metaphysik bezeichnet er seine Philosophie als „buddhistischen Existenzialismus“ (Takeuchi, 2011, S. 393). Meine im Folgenden ausgeführten philosophischen Interpretationen des Buddhismus, die sich an den Ausführungen von Takeuchi orientieren, gehen von der Entwicklungstheorie von Fonagy et al. (Fonagy, Gergely, Jurist, & Target, 2008) aus und zeigen – aufbauend auf den Erörterungen in Kapitel 1 und den Betrachtungen in Kapitel 2 über Psyche, Geist und Materie in ihrem Verhältnis zum Absoluten, zur Liebe – eine Parallele auf zwischen dieser Entwicklungstheorie und der buddhistischen Lehre.
Takeuchi geht von dem Problem des Buddhismus aus, dass Buddha zu metaphysischen Fragen wie die, ob die Welt ewig oder zeitlich, unendlich oder endlich sei, ob etwas nach dem Tode bestehe oder nicht, oder ob es einen Gott gebe oder nicht, immer geschwiegen hat. Dieses Schweigen Buddhas kann in verschiedener Weise gedeutet werden. „Die älteste ist schon im Pâli-Kanon selbst aufgestellt worden: »[…] Weil es euch, ihr Jünger, keinen Gewinn bringt …«“ (Takeuchi, 2011, S. 395). „Gewinn“ hört sich erst einmal pragmatisch und berechnend an, aber es geht Buddha nicht um „das Verhältnis von Mittel und Zweck“ (ebenda, Seite 397) im Endlichen – das wäre pragmatisch (Pragma bedeutet Umgang) –, sondern um das Heilsziel des Absoluten, um das Nirwana. Letzteres sollte weder als Atheismus noch als „Nihilismus im gewöhnlichen Sinne“ (ebenda) missverstanden werden, es ist eher als die Negation der Negation zu verstehen, denn: „Der Buddhismus versucht das Jenseits des Jenseits zu erreichen und findet dies im »Hier und Jetzt« der wahren menschlichen Existenz“ (ebenda, Seite 398). Ich kenne einen Ausspruch, der auf dasselbe hinweist, weiß aber leider nicht, woher er stammt. Er lautet in etwa: „Wenn du wissen willst, was im Tod niemals stirbt, dann erkenne, was im Leben niemals stirbt.“
Eine andere Herangehensweise an die Problematik des Schweigens Buddhas ist folgende: Die Kardinalfrage, die sich mit dem Heilsziel beschäftigt, und weswegen Gautama Buddha in seiner Jugend der Welt entsagte, ist: „Wann wird man denn doch einen Ausweg finden aus diesem Leiden, aus Alter und Tod?“ (ebenda, Seite 404) Um diese existenzielle Frage zu beantworten, habe er nach Meinung von Watsuji (ebenda, Seite 401) eine Grundeinstellung entwickelt, die „nicht nur kritisch gewesen [sei] (im Sinne der Ablehnung der dogmatischen Behauptungen) sowohl gegenüber der traditionellen autoritären Spekulation der upanischadischen Mystik als auch gegenüber dem damals neu sich geltend machenden Empirismus, Materialismus und Skeptizismus, sondern […] völlig durchdrungen von der erkenntnistheoretischen Methode“ (ebenda) gewesen sei. Als existenzielle verlangt diese Kardinalfrage für ihre Beantwortung die Kenntnis des menschlichen Daseins in seiner Alltäglichkeit. Dieses analysiert Buddha in seiner „Theorie von den »fünf Gruppen des Ergreifens«“ (ebenda): „alles, was allgemein als »Persönlichkeit« angesehen wird“ (ebenda, Fußnote auf Seite 399), wird konstituiert durch „Körperlichkeit, Empfindung, Wahrnehmung, psychische Formkräfte, Bewusstsein“ (ebenda). Dies entspricht meines Erachtens genau den fünf Entwicklungsstufen des Selbst nach Fonagy et al. (Fonagy, Gergely, Jurist, & Target, 2008), und zwar auch genau in der entsprechenden Reihenfolge physisches Selbst, soziales Selbst, teleologisches Selbst, intentionales Selbst, repräsentationales Selbst, wie oben in Kapitel 1 dargestellt. Wie dort beschrieben, habe ich jeder der fünf Entwicklungsstufen des Selbst ein Gegensatzpaar zugeordnet, wobei die beiden Teile von jedem Gegensatz einander wechselseitig bedingen. Daraus kann ich nun den buddhistischen Lehrsatz vom abhängigen Entstehen (Pratītyasamutpâda) herleiten. Im folgenden Text sind die zwölf Glieder dieses Lehrsatzes (Takeuchi, 2011, S. 403) fett markiert hervorgehoben. Zuerst kommt immer der weibliche und dann der männliche Teil des Gegensatzpaares der jeweiligen Entwicklungsebene.
Dem physischen Selbst entspricht auf der einen Seite die Passivität, die Stagnation, und damit Alter und Tod, was damit verbunden ist, dass das Dasein verzweifelt, dass es ihm unheimlich ist, untröstlich und elend. Dies ist wechselseitig abhängig von der Aktivität, aus der etwas Neues geboren wird, also so etwas wie eine Geburt stattfindet, was mit entsprechender Freude des Daseins verbunden ist, aber auch mit entsprechenden Geburtswehen. Dem sozialen Selbst entspricht auf der einen Seite die Objektivität, bei der das Dasein seine Wirkung auf andere betrachtet, also die Entwicklung bzw. das Werden seines Einflusses auf andere, und dies ist wechselseitig abhängig von der Subjektivität, wobei das Dasein nur von sich ausgeht und ergreift, was ihm in den Sinn kommt, wovon es ergriffen ist, die Subjektivität entspricht also dem Ergreifen des ergriffenen Daseins. Dem teleologischen Selbst entspricht auf der einen Seite die Kontinuität, wobei das Dasein wie beim Wandern in der Wüste dafür sorgen muss, dass es immer Wasser zum Trinken hat, d.h. Kontinuität ist wichtig bei jeder Art von Durst, auch im übertragenen Sinne, und dies ist wechselseitig abhängig von der Diskontinuität, bei der das Dasein je nach seiner Empfindung sprunghaft alles Mögliche ausprobiert. Dem intentionalen Selbst entspricht auf der einen Seite die Zirkularität, bei der das Dasein wiederholt dasselbe von verschiedenen Seiten aus erkundet und berührt, aber auch selbst davon berührt ist – wir haben es hier also mit der Berührung zu tun –, und dies ist wechselseitig abhängig von der Linearität, bei der das Dasein alle sechs Sinne, also die fünf leiblichen Sinne und den Sinn des Intellekts (siehe Kapitel 1), einsetzt, um geradlinig an sein Ziel zu kommen, d.h. die Linearität hat mit dem zu tun, was im Buddhismus der sechsfache Bereich genannt wird. Dem repräsentationalen Selbst schließlich entspricht auf der einen Seite die Räumlichkeit, dem Sich-Einlassen, wobei das Dasein sich mit anderen den Raum teilt und sich austauscht, und zwar persönlich mit Namen und in einer bestimmten Form, und dies ist wechselseitig abhängig von der Zeitlichkeit, wobei das Dasein dadurch immer mehr erkennt, wie es die Technik seines Handelns immer mehr verbessern kann, d.h. die Zeitlichkeit ist mit dem Erkennen verknüpft. Zuletzt erreicht das Selbst eine Entwicklungsstufe, die ich bisher nur in Kapitel 2 angedeutet habe mit der Zweischichtigkeit des Individuums, d.h. das Dasein versteht sich einerseits als Objekt der Psyche, wobei es die Materie verneint und dem weiblichen Prinzip folgt, indem es die Pole Passivität, Objektivität, Kontinuität, Zirkularität und Räumlichkeit der fünf verschiedenen Gegensatzpaare kombiniert, und andererseits als geistiges Subjekt, wobei es den Geist zu beherrschen sucht und damit das männliche Prinzip verwirklicht, indem es die Pole Aktivität, Subjektivität, Diskontinuität, Linearität und Zeitlichkeit kombiniert. Man könnte dies die Entwicklungsstufe des geschlechtlichen Selbst nennen mit dem zugeordneten Gegensatz weiblich-männlich, sowie mit der zugehörigen Befindlichkeit der Begeisterung vom In-der-Welt-sein als deren eigentlicher Modus und der Leidenschaft für etwas bestimmtes Seiendes als deren uneigentlicher Modus. Der entsprechende Sinn ist der sechste Sinn des Intellekts (siehe oben). Dem geschlechtlichen Selbst also entspricht auf der einen Seite die Weiblichkeit, bei der das Dasein als Objekt der Psyche entsprechend eigene Willensregungen bekommt, wenn es sich mit Leidenschaft gegen Geist oder Psyche wendet, und dies ist wechselseitig abhängig von seiner Männlichkeit, bei der das Dasein als geistiges Subjekt sich im Zustand des Nichtwissens hält, solange es voller Zweifel Psyche oder Geist beherrschen will und so immer tiefer in die Welt der Materie eintauchend dort seine Erfahrungen machen muss und dabei die Gelegenheit erhält, aus dem Zustand des Nichtwissens immer mehr herauszukommen.
In Abhängigkeit vom Nichtwissen des leidenschaftlichen oder zweifelnden geschlechtlichen Selbst entstehen entsprechende Willensregungen, da die Psyche dazu auffordert, den Geist mit Wissen zu benutzen, sodass das Individuum in seinem Nichtwissen entweder an der Psyche oder am Geist zweifelt und sich mit eigenen Willensregungen leidenschaftlich dagegen stellt. In Abhängigkeit von den eigenen Willensregungen versucht das Dasein immer besser zu erkennen, wie es die Technik seines Handelns gegen Psyche bzw. Geist optimieren kann. In Abhängigkeit von der Erkenntnis, dass es von anderen profitieren und sie ausnutzen kann, tauscht es sich immer mehr mit anderen aus, was ja vor allem in Form von Namen und sprachlichen Benennungen erfolgt, und in Abhängigkeit davon schaltet es immer mehr seine sechs Sinne ein (siehe oben), um das von anderen Mitgeteilte oder von ihnen Weggenommene zu überprüfen und zu benutzen, und in Abhängigkeit von seinen sechs Sinnen lässt es sich von den Dingen berühren. In Abhängigkeit von der Berührung entstehen im Individuum Empfindungen, die es sprunghaft von einer Sache zur anderen bringen. Abhängig von dieser Unstetigkeit seiner Empfindungen entsteht beim Dasein ein Durst nach Kontinuität, und es greift nach allem, um diesen Durst zu stillen. Abhängig von diesem Ergreifen entstehen bestimmte eigene Fähigkeiten bzw. sind bestimmte eigene Fähigkeiten im Werden begriffen, sodass schließlich in ihm etwas Neues geboren wird. Da aber alles Neue irgendwann altert und den Tod erleidet, endet das Dasein schließlich in Verzweiflung, Unheimlichkeit, Untröstlichkeit und Elend. Im Buddhismus wird dies die Leidensmasse genannt.
Wenn man diese ziemlich abstrakte philosophische Betrachtung in ein anschauliches Gleichnis umwandeln möchte, dann bietet sich hier meines Erachtens die biblische Geschichte vom Sündenfall an, die man nur noch mit ein paar Details ausschmücken muss: Adam und Eva, also Mann und Frau, sind die Hauptpersonen dieser Geschichte, wodurch klar wird, dass es sich anfangs um eine Problematik auf der Ebene des geschlechtlichen Selbst handelt. Sie leben ganz naiv und unschuldig im Paradies und wissen gar nicht, welche Gefahren hier lauern bzw. wodurch sie sich ins Unglück stürzen könnten. Es gibt zwar Verhaltensregeln, dass sie die Früchte von einem bestimmten Baum, dem Baum der Erkenntnis, nicht essen sollen, aber sie wissen nichts von dem Sinn, den diese Regel haben soll. Damit haben wir also schon einmal das Nichtwissen. Weil sie es nicht wissen, ist nur eine Frage der Zeit, dass sie gegen diese Regel verstoßen. In der Geschichte taucht nun die Schlange auf, die Eva zum Regelverstoß verführt. Ich würde die Geschichte folgendermaßen modifizieren: Die eigentliche Verhaltensregel kommt daher, dass es nicht gut ist, „dass der Mensch allein sei“ (Genesis 2, 18). Darin liegt die Aufforderung, zusammenzuhalten und sich zu verstehen, letztlich also sich zu lieben und nicht etwas Böses zu tun, was sie zu der bitteren Erkenntnis führen würde, dass sie Böses und nicht Gutes getan haben. Adam und Eva wissen beide nicht, was gut und böse ist und wozu das Füreinander-da-sein gut sein soll. Im Laufe der Zeit gehen sie jeweils immer mehr eigene Wege und leben sich auseinander, weil sie für unterschiedliche Dinge eine Leidenschaft entwickeln. Leidenschaft ist ja im Unterschied zur Begeisterung der uneigentliche Modus dieser Befindlichkeit, der zur geschlechtlichen Entwicklungsebene des Selbst gehört. Eva ist vielleicht die erste, die sich dabei unwohl fühlt – es entspricht ja dem weiblichen Prinzip, Situationen auf sich wirken zu lassen und als Objekt der Psyche die jeweilige Befindlichkeit wahrzunehmen –, sie zweifelt an ihrer Liebesfähigkeit, also am Geist, dass sie mit Liebe die Situation ändern kann, ihr Geist verdunkelt sich deshalb und es entsteht in ihr eine fatale leidenschaftliche Willensregung, die Aufmerksamkeit Adams wieder auf sich zu ziehen und für ihn eine Göttin zu sein. Dabei hört sie zwar auf ihre Psyche, die sie auf den Missstand der fehlenden Liebe aufmerksam gemacht hat, zweifelt aber an ihrer Fähigkeit, den Geist als Liebesfähigkeit zur Lösung dieses Problems verwenden zu können, und benutzt ihre Schönheit, ihre schönen Haare, die sich lieblich um ihr Antlitz schlängeln, also etwas aus dem Bereich der Materie – hier haben wir die Schlange als Symbol für weibliche Schönheit als sich schlängelnde Haare –, um Adam zu verführen. In Adam entsteht dadurch, dass er auf Evas Schönheit aufmerksam wird, ebenfalls eine fatale leidenschaftliche Willensregung. Aber er zweifelt an seiner Psyche und ihrer entsprechenden Warnung, nichts Böses zu tun, da er deren Sinn nicht versteht (Nichtwissen), und ihn durchzuckt in seinem verdunkelten Geist der Gedankenblitz, dass er jetzt vielleicht die Gelegenheit hat, Eva zu beherrschen – im Chinesischen wird der Gedankenblitz durch den Drachen symbolisiert, wobei der chinesische Drache Ähnlichkeit mit einer Schlange besitzt, und eine Schlange kann auch den männlichen Penis symbolisieren und somit als Symbol für männliche Potenz dienen, also auch etwas aus dem Bereich der Materie, gegenüber der Schlange als Symbol für weibliche Schönheit –, und Adam lässt sich auf dieses böse Spiel ein. Es ist böse, weil es nichts mehr mit gegenseitigem Verstehen und mit Liebe zu tun hat. Böse heißt auf lateinisch „malum“, und weil ein mittelalterlicher Mönch stattdessen einmal „mallum“ geschrieben hat, was Apfel bedeutet, gibt Eva Adam einen Apfel und verführt ihn somit dazu, bei diesem bösen Spiel der Leidenschaften mitzumachen. Dass Adam mitmacht, beruht aber auch bei ihm auf Nichtwissen und einer fatalen leidenschaftlichen Willensregung, denn auch er will von Eva als Gott verehrt werden. Beide versuchen jeweils den anderen zu benutzen, um egoistisch ihre eigene Lust und Leidenschaft zu stillen und ihre Selbstzweifel zu beseitigen. Ich finde es an dieser Stelle wichtig, einmal festzuhalten, dass die Schuld bzw. die Verantwortung für den Sündenfall nicht bei Eva allein liegt, sie konnte aufgrund ihres Nichtwissens dem Bösen, symbolisiert durch die Schlange, nicht widerstehen und hat an ihrem Geist gezweifelt, während Adam aufgrund seines Nichtwissens dem Bösen, symbolisiert durch den Drachen, ebenfalls nicht widerstehen konnte und an seiner Psyche gezweifelt hat. Wie oben in Kapitel 2 aufgezeigt, sind dies die beiden Formen, wie Böses entsteht. Nach einer Weile aber erkennen sie, dass sie in diesem Spiel nicht das bekommen, was sie wirklich brauchen, nämlich Liebe. Eva hatte sich eingebildet, dass Adam sie wegen ihrer Schönheit wie eine Göttin anbeten würde, und Adam hatte geglaubt, dass Eva ihn wegen seiner Potenz wie einen Gott anhimmeln würde, was ihm sein Geistesblitz suggeriert hatte. Beide hatten also geglaubt, sie würden durch dieses unselige Spiel „sein wie Gott“ (Genesis 3, 5). Nachdem ihnen aber die Erkenntnis dämmerte, dass sie sich beide jeweils nur auf ein falsches Spiel eingelassen hatten, empfanden sie Scham und Schuld, d.h. sie befanden sich jetzt auf der Ebene des repräsentationalen Selbst. Ihr böses Tun hatte ihnen diese Erkenntnis gegeben, und daraus wurde dann durch den oben erwähnten Mönch der Apfel vom Baum der Erkenntnis. Sie spielten sich gegenseitig etwas vor, versuchten zu verschleiern, dass sie ohne Liebe gehandelt hatten, sie gaben ihrem Tun falsche Namen wie „Liebe“, obwohl sie tatsächlich von ihrer Leidenschaft beherrscht waren, und versteckten sich selbst hinter Formen und Förmlichkeiten wie hinter einem Feigenblatt. (Bis hierher entspricht die Geschichte in etwa einer Interpretation des Sündenfalls, und man könnte annehmen, dass die ursprüngliche biblische Fassung eine dramatisierende Anekdote und Umgestaltung der doch recht trockenen Philosophie des Buddhismus ist. In meinen folgenden Ausführungen finden sich noch weitere Anspielungen auf die Fortsetzung der Geschichte im Alten Testament.) Bei allem aber merkten sie, dass ihnen die wirkliche Liebe, das eigentliche Paradies, fehlte, und so setzten sie alle ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten ein, um geliebt zu werden. Dabei verstanden sie die Aufforderung »Macht euch die Erde untertan« (Genesis 1,28) falsch, indem sie nicht danach trachten, die Gegensätze der Materie (Erde) zu überwinden, sondern sie hafteten an schönen Umgangsformen und versteckten sich hinter Namen und Titeln, sodass sie die Gegensätze und Widersprüchlichkeiten der Materie dadurch nur noch vertieften, so wie dies auch ihre beiden Söhne Kain und Abel taten, als sie ihre Erträge aus Ackerbau und Viehzucht jeweils als Opfer präsentierten, um Anerkennung statt Liebe zu bekommen. Damit befanden sie sich auf der Ebene des intentionalen Selbst. Sie setzten alle ihre Sinne ein (die sechs Bereiche) und ließen sich von den materiellen Dingen viel zu sehr berühren, um dieses Ziel, geliebt zu werden, zu erreichen. In ihrem dadurch angestachelten verzweifelten Empfinden probierten sie alles aus, suchten sprunghaft überall, wo sie nur konnten, und setzen sich so vielen Gefahren aus, weil sie nicht wussten, wohin ihre jeweilige Suche sie führte. So befanden sie sich auf der Ebene des teleologischen Selbst. Aufgrund der vielen Fehler, die sie auf diese Weise machten, gerieten sie immer mehr in Not, sie entfernten sich immer mehr von der Liebe, von ihrer Lebensquelle, und bekamen immer mehr Durst nach Liebe. Jeder kümmerte sich immer weniger um den anderen, wurde immer egoistischer und griff raffgierig nach allem, was nur zu erreichen und zu ergreifen war. Damit befanden sie sich auf der Ebene des sozialen Selbst. Sie kämpften immer rücksichtsloser gegeneinander, und jeder trachtete nur danach, dass aus ihm bzw. ihr etwas wurde. Jeder wollte der oder die Beste werden, man verglich sich immer mehr miteinander, war neidisch aufeinander, jeder wollte sich beweisen, die Konkurrenz wurde immer schlimmer. Wer Sieger wurde, strengte sich noch mehr an, um weiter zu siegen, und viele Verlierer gaben auf und wurden lethargisch, oder wenn sie auf diese Weise nicht selbstdestruktiv wurden, trachteten sie voller Neid danach, anderen zu schaden – Kain brachte schließlich Abel um. Damit war nun die unterste Entwicklungsebene, nämlich die des physischen Selbst erreicht. Wenn es jemand nach oben geschafft hatte, dann war ein Star geboren, aber niemand konnte sich für immer dort halten, am Ende bzw. im Alter und im Tod spätestens sank jeder in den Staub zurück, aus dem er gekommen war. Alles in allem hatten Adam und Eva und ihre Nachkommen schließlich eine Welt geschaffen, in der sich niemand zuhause fühlen konnte, weil es keine Liebe mehr gab, und weil nur noch Wut und Verzweiflung, Angst und Grauen, Leid und Trostlosigkeit, Abscheu und Elend herrschte. In dieser Geschichte sind alle zwölf Stufen bzw. Glieder des buddhistischen Lehrsatzes vom abhängigen Entstehen enthalten (jeweils fett markiert), und auf jeder Stufe wird ersichtlich, dass es an Liebe fehlt, und zwar an echtem und unmittelbarem Verstehen des Worumwillens des Seins des Daseins.
Wenn man sich jetzt nur auf das Böse konzentriert, was in dieser Geschichte durch die Schlange bzw. durch den Drachen symbolisiert ist, dann könnte man auf die Idee kommen, man müsse nur Evas Schönheit und ihre Haare verhüllen, also sie ein Kopftuch tragen lassen, wie dies teilweise im Islam gefordert wird. Dann müsste man aber auch konsequenterweise fordern, dass Männer sämtliche Status- und Potenzsymbole bescheiden verstecken oder verhüllen. Derartige Ideen sind zwar verständlich und von der guten Absicht geleitet, das Böse aus der Welt zu schaffen, sie greifen aber insofern zu kurz, weil sie nichts am Nichtwissen ändern, von dem es ja abhängig ist, dass eine leidenschaftliche Willensregungen entsteht, sodass Psyche oder Geist angezweifelt werden und so das Böse sich in der Materie manifestiert. Eine derartige Manifestation kann nicht durch Verdrängen oder Verleugnen verhindert werden.
Wenn das Dasein aber in die Liebe kommt, wenn es das Worumwillen seines eigenen Seins und das der anderen echt und unmittelbar versteht, dann hat es die „Einsicht, die den letzten Grund des Menschseins zu Tage fördert“ (Takeuchi, 2011, S. 402), die alle Gegensätze aufhebt und „dadurch die menschliche Alltäglichkeit zu-Grunde-gehen lasse“ (ebenda), also das Dasein „auf den Weg der Transzendierung“ (ebenda) führt, d.h. von allem Elend erlöst. Die Liebe hebt „infolge völliger Leidenschaftslosigkeit“ (ebenda, Seite 403), aber mit großer Begeisterung, das Nichtwissen auf, da es den Gegensatz männlich-weiblich aufhebt. Dadurch werden die Willensregungen aufgehoben usw., bis auch der Schrecken von Alter und Tod aufgehoben ist, und schließlich „kommt die Aufhebung dieser ganzen Leidensmasse zustande“ (ebenda). Damit haben wir auf die existenzielle Kardinalfrage des Buddhismus eine philosophische Antwort gegeben. In unserer Antwort mussten wir nicht die Seelenwanderung bemühen, wie dies bei Interpretationen der Lehre vom abhängigen Entstehen in manchen buddhistischen Schulen der Fall ist, und was Takeuchi als „verfallende d.h. existenzlos objektivierende Fassung der Lehre“ (ebenda, Seite 405) bezeichnet. Dazu hat Buddha ja auch geschwiegen.
Durch das Negieren aller Identifikationen meines Selbst – und dies geschieht durch die Echtheit und Unmittelbarkeit des Verstehens bzw. der Liebe, da alle Identifikationen unecht und ein Mittel sind – vertiefe ich das Selbstbewusstsein meines eigentlichen Selbst, überwinde bzw. hebe damit alle Gegensätze auf, löse mich also immer mehr von der Alltäglichkeit und erreiche so immer mehr die Selbsttranszendenz, sodass ich immer mehr mit meinem wahren Selbst im Hier und Jetzt des Alltags (im Jenseits des Jenseits) ankomme. Damit lässt sich zum Schweigen Buddhas auch folgendes sagen: Alles Nicht-Schweigen lässt Gegensätze entstehen und damit etwas Materielles als Selbstentfremdung des Absoluten bzw. der Liebe, wohingegen das Schweigen die Umkehr zum Absoluten bzw. zur Liebe darstellt. Das Schweigen des Buddha weist auf die Liebe hin, in der sich „eine höhere Weisheit manifestiert, die nicht diesen auf der Antinomie der theoretischen Vernunft beruhenden Irrweg geht“ (ebenda, Seite 401).
Das Negieren aller Identifikationen des Selbst, welches das Selbstbewusstsein des eigentlichen Selbst vertieft, kann man auch als Versenkung bezeichnen. Erst durch diese Versenkung also kann man das Schweigen des Buddha echt und unmittelbar verstehen. Dieses Verstehen bzw. die Liebe wird im Buddhismus häufig durch ein Lächeln ausgedrückt. So auch in der kurzen Zen-Geschichte am Ende des Vortrags (der Vortrag wurde später als Aufsatz veröffentlicht und so von Ohashi (Ohashi, 2011) aufgenommen.) von Takeuchi:
„Eines Tages saß Buddha mit seinen Schülern zusammen. Er pflückte eine Lotusblüte und sah sie an, und ein Lächeln spielte um seinen Mund. Keiner der Schüler begriff sein Geheimnis. Nur Kassapa lächelte wie er. Buddha aber bemerkte dies und sprach: Von nun an sollst du mein »geborgenes Wesen des Buddhismus« tragen.“ (ebenda, Seite 412)
Das Lächeln und das Schweigen sind beides jeweils Ausdruck der Liebe und eine liebevolle Einladung, zur Liebe umzukehren, zum echten und unmittelbaren Verstehen des Worumwillens von allem Sein. Mit dieser Einladung endet auch Takeuchis Vortrag: „[Die Lotusblüte] grüßt auch Sie im sanften Wind und wartet auf Ihr stilles heiliges Lächeln.“ (ebenda)
Kôichi Tsujimura: Wahrheit bei Heidegger und im Zen, sowie die mögliche Annäherung an die Liebe durch die Kunst
[Bearbeiten]Kôichi Tsujimura vergleicht in seinem Aufsatz (Tsujimura, Die Wahrheit des Seins und das absolute Nichts, 2011) die Wahrheit des Seins bei Heidegger mit der Wahrheit des Zen. Als erstes stellt er als eine Gemeinsamkeit fest, dass beide verschieden von der Metaphysik sind. Dann führt er aus, dass die Wahrheit des Zen „mit keinem Denken erreicht werden kann und an sich selbst mit keiner Sprache zur Sprache gebracht werden kann. […] Notgedrungen sagt man provisorisch »das absolute Nichts« […], es ist die Wahrheit, die vor dem Sprechen immer schon anwesend gewesen ist“ (ebenda, Seite 414). Die Wahrheit des Seins bei Heidegger dagegen fordert, „durch und durch »gedacht« und »zur Sprache gebracht« zu werden“ (ebenda). Wenn sie „in ihrem Tiefsten durchdrungen ist“ (ebenda), ist sie die Wahrheit, „darein sowohl das »Sein« entschwindet als auch gleichzeitig das »Nichts« zunichte wird“ (ebenda, Seite 415). Damit ähneln sich die beiden Wahrheiten sehr. Schließlich kommt Tsujimura zu folgender Formulierung: „die »Wahrheit des Seins« west im Zwischenbereich des »Denkens« und des Ursprungs des Denkens als das »Gespräch« der beiden an, und die »Wahrheit des Zen« kann auch als »Mondô« (Frage-Antwort im Zen zwischen Meister und Schüler) aus dem Ursprung des Denkens anwesen. Der Ursprung des Denkens als Sitz der »Wahrheit des Zen« verneint nicht lediglich »Denken« und »Sprache«, sondern kann diese in sich entstehen lassen, ohne von ihnen gefasst zu werden; er ist jenseits von ihnen.“ (ebenda, Seite 416) Um den Unterschied der beiden Wahrheiten näher zu erörtern, geht es nun um „den Unterschied der Art des Verhältnisses, das »Denken« und der Ursprung des Denkens zueinander haben, sowohl in der »Wahrheit des Seins« als auch in der »Wahrheit des Zen«“ (ebenda, Seite 417).
Wenn man von Heideggers „Sein und Zeit“ (Heidegger, Sein und Zeit, 2006) ausgeht – und Heidegger hat dies stets als Grundlage auch seines späteren Denkens bezeichnet –, so wird hier aus dem eigentlichen Verstehen, wenn es nur gründlich, konsequent und bis zum äußersten betrieben wird, das eigentliche Sein des Daseins. Die von Descartes postulierte Gleichheit von Denken und dem Wesen des Menschen und dessen Grund ist hier immer noch nicht ganz ausgerottet. Der Ursprung des Denkens, der ja im Wesen und Grund des Menschen liegt, wird so in die Dimension des Denkens versetzt. Bei meiner Modifikation von Heidegger (Kolb, 2011) geht es bei der Beschreibung von Liebe nicht mehr um eigentliches Verstehen, sondern um echtes und unmittelbares, ohne Mittel, ohne Identifikationen. Durch ständige Disidentifikation gibt das Dasein schließlich sein Leben hin, seine Beziehung zum Sein überhaupt, und erhält so sein wahres Leben, seine wahre Beziehung zum Sein überhaupt (ebenda, Seite 154). Wie beim Zen gelangt so die Seinsfrage im so genannten „»Großen Tod«, den dasjenige »Denken« einmal stirbt“ (Tsujimura, Die Wahrheit des Seins und das absolute Nichts, 2011, S. 417), welches das Dasein mit dem Sein identifiziert, in den Ursprung des Denkens. Damit „ist die »Wahrheit des Seins« sozusagen ein Schatten der »Wahrheit des Zen« und ist nicht die »Wahrheit des Zen« selbst“ (ebenda, Seite 418). „Eigentlich“ bei Heidegger ist immer noch ein gedachter Begriff, während „echt und unmittelbar“ kein Begriff ist, sondern eine Handlungsanweisung bzw. –empfehlung, nämlich alle Identifikationen zu überprüfen und loszulassen und so sein Leben, seine Beziehung zum Sein überhaupt, hinzugeben. Das Ergebnis, die Auskunft, die das Dasein als Antwort auf diese Hingabe seines Lebens bekommt, ist sein wahres Selbst, wovon Heideggers eigentliches Selbst nur ein Schatten ist, der ihm gegenübersteht. An diesem Punkt wird wieder einmal deutlich, wie wichtig die Räumlichkeit bzw. die Ekstase der Auskunft dafür ist, zu seinem wahren Selbst zu kommen. Dass Heidegger dies außer Acht gelassen hat, ist meines Erachtens das größte Manko seines Denkens.
Auch in Heideggers späterem Denken mit dem „»Ereignis« als […] »Einblick in das, was ist«“ (ebenda, Seite 420), „die Situation, die sich mit einem »Wirbel« illustrieren lässt, aus dem sowohl »Sein« (die »Wahrheit des Seins«) als auch »Denken« entspringen“ (ebenda), begegnen wir denselben Schwierigkeiten, dass er nicht zum wahren Anfang, zum wahren Ursprung des Denkens gelangt. Denn mit dem »Ereignis« ereignet sich das Auftauchen einer Identifikation, die nicht unbedingt losgelassen wird, bei der es also kein „zugleich ins Zentrum »zurückkehrendes Verlöschen«“ (ebenda) in der Disidentifikation gibt. Aus dem Zentrum des Wirbels heraus ereignen sich Sein und Denken, aber Heidegger erreicht nicht das Zentrum des Wirbels, den wahren Anfang der Welt-Geschichte, da er die andere Seite des Ereignisses, nämlich das zurückkehrende Verlöschen, die Überprüfung und Disidentifikation, nicht aus ihrer Verborgenheit herausholt. Er holt sich keine Auskunft darüber, worin sich erneut seine Vernachlässigung der Räumlichkeit zeigt.
Anstatt wie Heidegger die Seinsfrage vom »eigentlichen Verstehen« her immer tiefer zu durchdenken, möchte ich von der Handlungsanweisung bzw. -empfehlung des »echten und unmittelbaren Verstehens« her aufzeigen, wie dieses Problem der Seinsfrage, die eigentlich die Weltfrage ist, angegangen werden kann. Ausgehend vom Alltäglichen entfalte ich dazu die Seinsfrage in folgende drei Detailfragen: Wer bin ich? Was ist Leben? Wer oder was ist ein anderer?
Wenn ich mich mit der ersten Frage, wer ich bin, konfrontiere, tauchen alle möglichen Gedanken auf, dass ich so oder so bin und auf diese oder jene Art und Weise handle, also Gedanken über alle möglichen Seins- und Handlungsweisen. Wenn ich nun echt und unmittelbar verstehen will, wer ich bin, dann überprüfe und lasse ich jeden dieser Gedanken wieder los, ich lasse ihn verlöschen und zurückkehren zu seinem Ursprung mit der Absicht, eine echte und unmittelbare Erfahrung, ein echtes und unmittelbares Verstehen von mir selbst dabei zu erlangen, mich also in das Zentrum jenes »Wirbels« zu bringen, aus dem »Sein« und »Denken« entspringen und in dem beides zurückkehrend jeweils wieder verlischt. Wenn dies gelingt, bin ich in einem ekstatischen Zustand, einem Außer-mir-Sein, denn ich habe eine echte und unmittelbare Erfahrung von meinem wahren Selbst gemacht, was ich unter anderem auch daran merke, dass ich keine Angst mehr vor dem Tod habe. Meine Ekstase hat mich an den Horizont meiner Zukunft gebracht, es ist die Ekstase der Zukunft, in der ich weder Angst vor meinem Sein noch vor meinem Nicht-Sein habe. Der Tod ist dann insofern ein Ratgeber (Kolb, 2011) für mich, weil er mir Auskunft darüber gibt, ob ich eine echte und unmittelbare Erfahrung von mir selbst gemacht habe oder nicht, je nach dem ob ich noch Angst vor ihm habe.
Wenn ich mich mit der zweiten Frage, was Leben ist, konfrontiere, tauchen in der Regel alle möglichen Gedanken über das Leben auf. Wenn ich nun echt und unmittelbar verstehen will, was Leben ist, dann überprüfe und lasse ich jeden dieser Gedanken wieder los, ich lasse ihn verlöschen und zurückkehren zu seinem Ursprung mit der Absicht, eine echte und unmittelbare Erfahrung, ein echtes und unmittelbares Verstehen vom Leben dabei zu erlangen, mich also in das Zentrum jenes »Wirbels« zu bringen, aus dem »Sein« und »Denken« entspringen und in dem beides zurückkehrend jeweils wieder verlischt. Wenn dies gelingt, bin ich in einem ekstatischen Zustand, einem Außer-mir-Sein, denn ich habe eine echte und unmittelbare Erfahrung vom Leben gemacht, was ich unter anderem auch daran merke, dass ich keine Wut mehr wegen meiner »Geworfenheit« ins Leben habe. Meine Ekstase hat mich an den Horizont meiner Herkunft gebracht, es ist die Ekstase der Herkunft, in der ich weder Wut wegen meines Seins noch wegen meines Nicht-Seins habe. Die Geworfenheit ist dann insofern ein Ratgeber (ebenda, Seite 95) für mich, weil sie mir Auskunft darüber gibt, ob ich eine echte und unmittelbare Erfahrung meiner Beziehung zum Sein überhaupt gemacht habe oder nicht, je nach dem ob ich noch Wut auf sie habe.
Wenn ich mich mit der dritten Frage, wer oder was ein anderer ist, konfrontiere, dann tauchen in der Regel alle möglichen Gedanken über die Andersheit von anderen auf, zum Beispiel auch ob sie verschieden von oder gleich mit mir sind. Wenn ich nun echt und unmittelbar verstehen will, wer oder was ein anderer ist, dann überprüfe und lasse ich jeden dieser Gedanken wieder los, ich lasse ihn verlöschen und zurückkehren zu seinem Ursprung mit der Absicht, eine echte und unmittelbare Erfahrung, ein echtes und unmittelbares Verstehen der Andersheit des anderen dabei zu erlangen, mich also in das Zentrum jenes »Wirbels« zu bringen, aus dem »Sein« und »Denken« entspringen und in dem beides zurückkehrend jeweils wieder verlischt. Wenn dies gelingt, bin ich in einem ekstatischen Zustand, einem Außer-mir-Sein, denn ich habe eine echte und unmittelbare Erfahrung der Andersheit des anderen gemacht, was ich unter anderem auch daran merke, dass ich kein Leid mehr wegen der Andersheit von anderen verspüre. Meine Ekstase hat mich an den Horizont meiner Ankunft in der Welt mit anderen gebracht, es ist die Ekstase der Ankunft, in der ich weder Leid wegen meines Getrennt-Seins noch wegen meines Nicht-Getrennt-Seins von anderen verspüre. Die Andersheit von anderen ist dann insofern ein Ratgeber für mich, weil sie mir Auskunft darüber gibt, ob ich eine echte und unmittelbare Erfahrung der Andersheit von anderen gemacht habe oder nicht, je nach dem ob ich noch Leid deswegen empfinde oder die Andersheit von anderen ohne Leid tolerieren kann.
Die bisherigen ekstatischen Erfahrungen, wenn ich sie mit einiger Geduld und Übung denn gemacht habe, konnten mir natürlich nur punktuell ein echtes und unmittelbares Verständnis der Wahrheit des Seins und des Nichts, also des absoluten Nichts, vermitteln und nicht den ganzen Raum der Wahrheit. Dafür ist es notwendig, den oben beschriebenen Handlungsanweisungen bzw. –empfehlungen immer wieder zu folgen und daraus einen Übungs-, Lern- und Lebensweg zu machen, den Weg des echten und unmittelbaren Verstehens. Da das wahre Selbst, das wahre Leben und die wahre Andersheit des anderen nur in der Wahrheit des absoluten Nichts, also in der Liebe erfahren werden können, kann ich die oben aufgeführten drei Detailfragen, in die ich die Seinsfrage entfaltet habe, wieder zusammenfassen zu der Frage: Was ist Lieben? Damit ist die Seinsfrage neu gefasst, und es wird noch deutlicher erkennbar, dass es sich tatsächlich um die Weltfrage handelt, mit deren Antwort „jene Fragen der Gegenwart der Welt-Geschichte, die in Heideggers [Seins-]Frage zum Erscheinen gekommen sind – vor allem das Problem des Wesens der Technologie –“ (Tsujimura, Die Wahrheit des Seins und das absolute Nichts, 2011, S. 425) gelöst werden können.
Wenn ich mich nunmehr mit dieser Frage, was Lieben ist, konfrontiere, dann tauchen in der Regel alle möglichen Gedanken über das Lieben auf, zum Beispiel ob ich lieben kann oder geliebt werde. Wenn ich nun echt und unmittelbar verstehen will, was Lieben ist, dann überprüfe und lasse ich jeden dieser Gedanken wieder los, ich lasse ihn verlöschen und zurückkehren zu seinem Ursprung mit der Absicht, eine echte und unmittelbare Erfahrung, ein echtes und unmittelbares Verstehen vom Lieben dabei zu erlangen, mich also in das Zentrum jenes »Wirbels« zu bringen, aus dem »Sein« und »Denken« entspringen und in dem beides zurückkehrend jeweils wieder verlischt. Wenn dies gelingt, bin ich in einem ekstatischen Zustand, einem Außer-mir-Sein, denn ich habe eine echte und unmittelbare Erfahrung vom Lieben gemacht, was ich unter anderem auch daran merke, dass ich große Begeisterung verspüre. Meine Ekstase hat mich an den Horizont der Auskunft über mein alltägliches In-der-Welt-sein gebracht, es ist die Ekstase der Auskunft, in der ich Begeisterung für alles Sein und für alles Nicht-Sein verspüre. Das Alltägliche ist dann insofern ein Ratgeber für mich, weil es mir Auskunft darüber gibt, ob ich eine echte und unmittelbare Erfahrung vom Lieben gemacht habe oder nicht, je nach dem ob ich Begeisterung oder Abscheu gegenüber meinem alltäglichen In-der-Welt-sein empfinde.
Mit dieser spezifischen Umsetzung, also diesem Weg, der Handlungsanweisung bzw. -empfehlung zum echten und unmittelbaren Verstehen erreiche ich mit der Zeit eine Befindlichkeit, d.h. einen psychischen Zustand, in welchem der Tod keinen Schrecken mehr hat, ich ohne Wut mit meiner Geworfenheit einverstanden bin, Toleranz gegenüber anderen habe, ohne Leid wegen ihrer Andersheit zu empfinden, sodass ich unter Umständen geneigt wäre, sie zu ändern oder zu missionieren, und keine Abscheu habe gegenüber meinem Alltag, für den ich mich immer wieder sogar begeistern kann. Meine Psyche, d.h. die Dynamik der Liebe, ist in einem Gleichgewicht, denn ich habe die Widersprüchlichkeiten der Materie, der Selbstentfremdung der Liebe, überwunden: den Gegensatz aktiv-passiv, solange ich nach wie vor auf dem Weg bin und innehalte und nicht innehalte mit dem echten und unmittelbaren Verstehen, den Gegensatz subjektiv-objektiv, solange ich mit meiner Geworfenheit einverstanden bin, den Gegensatz kontinuierlich-diskontinuierlich, solange ich keine Angst vor dem Tod habe, den Gegensatz linear-zirkulär, solange ich andere in ihrer Andersheit tolerieren kann, und den Gegensatz zeitlich-räumlich, solange ich mich immer wieder für meinen Alltag begeistern kann. Da es von meiner Psyche keine Aufforderungen gibt, ist auch mein Geist, der Aspekt der Rückkehr zur Liebe, in Ruhe, solange ich in der Liebe bin. Die Handlungsanweisung bzw. –empfehlung des echten und unmittelbaren Verstehens ist auf eine gewisse Weise negativ, auf eine andere Weise positiv und in einer dritten Hinsicht indifferent, also weder positiv noch negativ: Sie ist in der Weise negativ, weil es keine Anweisung zu einem bestimmten Verhalten ist, sondern nur aussagt, welche Art von Verstehen es nicht ist, nämlich jede Art von Verstehen, welches unecht oder durch irgendetwas vermittelt ist. Sie ist in der Weise positiv, weil sie ein positives Kriterium dafür angibt, wann ein echtes und unmittelbares Verstehen erreicht ist, denn nur dann verstehe ich echt und unmittelbar, wenn ich keine Angst mehr vor dem Tod habe, keine Wut mehr wegen meiner Geworfenheit, kein Leid mehr wegen der Andersheit von anderen, die ich dann gut tolerieren kann, und keine Abscheu gegenüber meinem Alltag, für den ich mich immer wieder begeistern kann. Dieses Kriterium ist eine notwendige Bedingung, denn wenn es nicht erfüllt ist, fordert mich die Psyche auf umzukehren. Es ist aber auch eine hinreichende Bedingung, weil alle Gegensätzlichkeiten in der Materie dann überwunden sind. Die Handlungsanweisung bzw. -empfehlung des echten und unmittelbaren Verstehens ist in der Hinsicht indifferent, als dass sie keinen Weg bzw. keine spezifische Umsetzung bevorzugt.
Der von mir vorgeschlagene Weg, um zur Wahrheit bzw. zum wahren Ursprung des Denkens und damit letztlich zur Liebe zu gelangen, ist nur einer von vielen, ein konkretes Beispiel zur Veranschaulichung und in keiner Weise durch irgendetwas bevorzugt. Typisch für die Philosophie der Kyôto-Schule sind von Beginn an Wege über die Kunst, sei es bei Nishida (Nishida, Das künstlerische Schaffen als Gestaltungsakt der Geschichte, 2011), Tanabe (Tanabe, Valérys Kunstphilosophie, 2011), Hisamatsu (Hisamatsu, Kunst und Kunstwerke im Zen-Buddhismus, 2011) und Nishitani (Nishitani, Die »Verrücktheit« beim Dichter Bashô, 2011), worüber ich in den vergangenen Kapiteln schon jeweils referiert habe. Auch Tsujimura beschäftigt sich mit diesem Weg und fragt in seinem Aufsatz (Tsujimura, Über Yü-chiens Landschaftsbild »In die ferne Bucht kommen Segelboote zurück«, 2011), „wie uns sein (gemeint ist Yü-chien) Landschaftsbild […] zu einer Neuorientierung des Denkens veranlassen oder zumindest dazu anregen kann“ (ebenda, Seite 427). Wie schon im Kapitel 1 ausgeführt, sollte Kunst dazu führen, dass unser Verstehen immer echter und unmittelbarer wird, d.h. dass das oben erwähnte Kriterium immer mehr erfüllt ist, dass wir also immer weniger Angst vor dem Tod haben, immer weniger Wut über unsere Geworfenheit, immer mehr Toleranz gegenüber anderen und immer mehr Begeisterung auch in unserem Alltag. Es sollte also bei der Kunst nicht einfach nur zu einer Neuorientierung des Denkens kommen, sondern diese neue Orientierung sollte eine entsprechende Weiterentwicklung unseres Verstehens immer mehr in Richtung Liebe bewirken. Dieses »immer mehr« bedeutet, dass wir Kunst nur in einem bestimmten Kontext entsprechend beurteilen können. Tsujimura vergleicht dazu das im 13. Jahrhundert in China entstandene Landschaftsbild Yü-chiens mit europäischen Landschaftsbildern der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts.
Der erste Unterschied, mit dem Tsujimura sich befasst, ist der, dass in der holländischen Malerei „die Landschaft in der Perspektive, die von dem außerhalb des Bildes stehenden Maler ausgeht, mehr oder weniger realistisch“ (ebenda, Seite 434) abgebildet wird, während Yü-chien „nicht in der Perspektive einer Richtung gemalt [hat], sondern in der Circumspektive vieler Richtungen“ (ebenda, Seite 435). Das perspektivische Malen in Holland ist daher „subjektiv in dem Sinne, dass es alle Dinge als Objekte setzt und sie objektiv betrachtet“ (ebenda, Seite 434) und hat somit dieselbe Wesensstruktur wie „das auf die Außendinge gerichtete Denken des Descartes“ (ebenda). „Wenn der neuzeitliche Mensch als Subjekt alles Seienden dieses in der von ihm selbst ausgehenden Perspektive objektiv erkennen will, muss seine Erkenntnisleistung wegen der einseitigen Endlichkeit der Perspektive zu einer endlosen Progression und einem grenzenlosen Progressionszwang werden, der den Grundzug der modernen Technik ausmacht. Obwohl sich der Mensch als das Subjekt reflexiv wie im Spiegel erkennen kann, bleibt doch in seiner Subjektivität, im reflektierenden Selbst, immer etwas Dunkles zurück, was nie durch die Reflexion geklärt werden kann. In diesem Dunkel der menschlichen Subjektivität gibt es immer Raum für einbrechende Willkür“ (ebenda, Seite 435). In diesem Dunkel kann sich Angst entwickeln, und die einbrechende Willkür ist letzten Endes der nicht vorhersehbare Tod, d.h. der Progressionszwang verdrängt oder überdeckt nur die Angst vor dem Tod. In der Circumspektive dagegen befindet sich der Mensch inmitten aller Dinge, es ist ein In-der-Welt-sein im Sinne Heideggers, der Mensch muss „nicht nur von sich aus die Umwelt sehen und denken, sondern zugleich sich selbst von der Umwelt her“ (ebenda). Damit findet ein Umdenken des perspektivischen Denkens statt, und zwar im »Umblick«, der insbesondere auch in Richtung des Vorblickens geht und damit den Tod nicht leugnet. Die Auseinandersetzung des Denkens mit dem Tod ist daher schon einmal ein Fortschritt in Richtung Liebe, denn um die Angst vor dem Tod zu überwinden ist zumindest die Auseinandersetzung damit eine notwendige Bedingung.
Das zweite Charakteristikum der Landschaftsbilder von Yü-chien ist, „dass in ihnen nur das Allernotwendigste gemalt ist. Das heißt: Yü-chien hat einen Stil gefunden, in dem sich das Grenzenlose oder das Unendliche fassen lässt“ (ebenda, Seite 436). Im Unterschied zu Tsujimura sehe ich hierin das Moment der Geworfenheit, denn in ihrer Skizzenhaftigkeit wirken diese Bilder wie dahingeworfene Entwürfe. Auch uns kommt es oft so vor, als seien wir nur mit dem Allernotwendigsten in diese Welt geworfen und müssten hier unseren Weg finden. Damit ist die Wut über unsere Geworfenheit thematisiert, sie ist nicht hinter den vielen realistischen Details der holländischen Malerei versteckt, sodass ich auch hierin einen Fortschritt in Richtung Liebe entdecken kann.
Als Drittes führt Tsujimura an, dass im Landschaftsbild von Yü-chien ein Gedicht integriert ist und so das Malen mit dem Dichten übereinstimmt, aber nicht als Gemisch, sondern dass das Malen dichterisch und das Dichten malerisch ist. Malen und Dichten stehen sich in ihrer Andersheit gegenüber, können sich aber gegenseitig tolerieren. Damit ist auch unsere Toleranz gegenüber anderen thematisiert und nicht übertüncht durch allzu viel Harmonie in den Landschaftsbildern der holländischen Maler, sodass ich auch hierin einen Fortschritt in Richtung Liebe entdecken kann.
Schließlich charakterisiert Tsujimura Yü-chiens Kunst „als ostasiatischen Ausdruck des Herzens“ (ebenda, Seite 437), wobei er damit meint, „dass derjenige Mensch sich selbst ausdrückt, der aller Formen und Inhalte, ja sogar des Menschlichen, ledig geworden ist und gerade deswegen alle Formen und Inhalte als die je seinen annehmen kann“ (ebenda, Seite 437 f.). Damit versucht Yü-chien das „Jenseits des Jenseits zu erreichen und findet dies im »Hier und Jetzt« der wahren menschlichen Existenz“ (Takeuchi, 2011, S. 398) und damit im Alltäglichen, d.h. er versucht die Begeisterung am und im Alltag zu wecken. Im Gegensatz dazu suchen die holländischen Maler in ihren Landschaftsbildern mehr das Besondere und Außergewöhnliche darzustellen, sodass ich auch hierin einen Fortschritt in Richtung Liebe entdecken kann.
Somit konnte ich anhand der von Tsujimura angeführten Charakteristika der Malerei Yü-chiens aufzeigen, dass dessen Kunst im Vergleich zur holländischen des 17. Jahrhunderts uns näher an ein echtes und unmittelbares Verstehen und damit an die Liebe heranführen kann.
Shizuteru Ueda: Das absolute Nichts und die abendländische Philosophie
[Bearbeiten]Anhand der Zen-Geschichte »Der Ochs und sein Hirte. Eine altchinesische Zen-Geschichte« (Ueda, 2011), die „den Vorgang der Selbstrealisierung des Menschen in zehn Stationen“ (ebenda, Seite 440) darstellt, beschreibt Ueda mithilfe der letzten drei Stationen das absolute Nichts im Zen. Ueda meint dabei, der Ochse sei ein vorläufiges Symbol für das gesuchte wahre Selbst, wohingegen ich der Meinung bin, dass dies ein Symbol für den menschlichen Körper ist. In der mittelalterlichen Symbolik ist »Bruder Esel« ein häufiges Symbol hierfür, und wenn Jesus auf einem Esel in Jerusalem einreitet, so wird dies auch häufig interpretiert als die Inkarnation des Gottessohnes. Allein nach den Titeln, ohne den genauen Inhalt der Zen-Geschichte zu kennen, würde ich die ersten sechs Stationen jeweils auslegen als die Entwicklung des physischen, des sozialen, des teleologischen, des intentionalen, des repräsentationalen und des geschlechtlichen Selbst. Mit der siebten Station hat der Mensch einen stabilen Stand in der Welt erreicht, wobei das körperliche Selbst im In-der-Welt-sein integriert ist und sich dort aufgelöst hat. Während in der siebten Station alle körperlichen Abhängigkeiten überwunden werden (»Der Ochse ist vergessen«), geschieht dies in der achten Station auch mit allen anderen Abhängigkeiten (»Doppelte Vergessenheit«), und diese Station ist durch die Leere bzw. durch die absolute Negation gekennzeichnet. Hiermit ist sozusagen die erste Stufe des absoluten Nichts erreicht. Es ist die Befreiung „vom substanzialisierenden Denken und vom substanzialisierenden Selbstergreifen“ (ebenda, Seite 441), und entspricht damit der Antwort auf die Frage aus dem vorigen Kapitel: Wer bin ich? Auf der Suche nach einer echten und unmittelbaren Erfahrung von mir selbst bekomme ich zuerst einen immer tieferen Einblick in das, was ist, es ist dieses »Ich bin Ich«, und wenn ich diesen Gedanken wieder loslasse, ihn verlöschen und zurückkehren lasse zu seinem Ursprung, in welchem Denken und Sein verschwinden – das ist dieses »Ich bin Nicht-Ich« –, dann bin ich vom substanzialisierenden Denken und Sein zumindest für den Augenblick befreit, in dem ich eine echte und unmittelbare Erfahrung von mir selbst mache. Wenn ich bei dem »Ich bin Ich« stehen bleibe, dann kann sich „Hass gegen Andere, Grundblindheit über sich selbst und Habgier“ (ebenda, Seite 442) entwickeln, die „dreifache Selbstvergiftung [...] als die Grundverkehrtheit und der Unheilsgrund des Menschen“ (ebenda). Substanzialisierend ist ja im Grunde auch dasselbe wie identifizierend, sodass jede Disidentifikation zur Befreiung vom substanzialisierenden Denken und Sein beiträgt. »Echt und unmittelbar« besagt daher ebenfalls, dass „die entsubstanzialisierende Bewegung des absoluten Nichts [...] eine reine Bewegung des Nichts in zusammenhängender Doppelrichtung“ (ebenda, Seite 442 f.) ist. »Unmittelbar und echt« ist „Negation der Negation im Sinne der weiteren Verneinung der Negation, ohne zur Bejagung umzukehren, weit ins unendliche offene Nichts“ (ebenda, Seite 443), und »unmittelbar und echt« ist zugleich „Negation der Negation im Sinne der Umkehr zur Bejahung ohne jede Spur der Vermittlung“ (ebenda), denn ich bin nicht immer, überall und in jeder Hinsicht mittelbar oder unecht. „So ereignet sich in diesem Nichts als dem Nichts des Nichts dann eine Grundwendung und völlige Umkehr wie in »Stirb und Werde« oder im »Tod und Auferstehung«“ (ebenda). Damit ist also die Ekstase der Zukunft angesprochen.
Bei der 9. Station steht geschrieben: »Die Blumen blühen, wie sie von sich selbst blühen; der Fluss fließt, wie er von sich selbst fließt.« Dies entspricht der Frage aus dem vorigen Kapitel: Was ist Leben? Auf der Suche nach einer echten und unmittelbaren Erfahrung vom Leben bekomme ich zuerst einen immer tieferen Einblick in das, was ist, es ist dieses »Leben fließt und blüht von sich selbst, Leben lebt aus sich selbst heraus, Leben ist Leben«, und wenn ich diesen Gedanken wieder loslasse, ihn verlöschen und zurückkehren lasse zu seinem Ursprung, in welchem Denken und Sein verschwinden – das ist dieses »Leben ist Nicht-Leben« –, dann bin ich vom substanzialisierenden Denken und Sein zumindest für den Augenblick befreit, in dem ich eine echte und unmittelbare Erfahrung vom Leben selbst mache. Wenn ich bei dem »Leben ist Leben« stehen bleibe, dann kann sich wie oben ebenfalls „Hass gegen Andere, Grundblindheit über sich selbst und Habgier“ (ebenda, Seite 442) entwickeln, die „dreifache Selbstvergiftung [...] als die Grundverkehrtheit und der Unheilsgrund des Menschen“ (ebenda). Bei dieser Erfahrung vom Leben handelt es sich „um eine völlig neue Realität als eine Vergegenwärtigung des selbstlosen Selbst“ (ebenda, Seite 443) aus seiner wahren Herkunft heraus. Damit ist also die Ekstase der Herkunft angesprochen. Es handelt sich um die Herkunft bzw. „die Auferstehung aus dem Nichts, um die radikale Wendung von der absoluten Negation zum großen »Ja«“ (ebenda). »Leben« „ist hier also, so wie es sich ereignet, zugleich ein Spielen der selbstlosen Freiheit des Selbst. Die Natur [...] ist der erste Auferstehungsleib des selbstlosen Selbst aus dem Nichts“ (ebenda). Das wahre Selbst als die Vergegenwärtigung der wahren Zukunft in der 8. und das wahre Leben als die Vergegenwärtigung der wahren Herkunft in der 9. Station bilden also eine „zusammengehörige, ineinander-durchdrungene Doppelperspektive“ (ebenda, Seite 444). Als Vergegenwärtigung sind sie formhaft, als wahre Zukunft bzw. wahre Herkunft sind sie leer. Damit haben wir die umkehrbare klassische Doppelaussage des Buddhismus: »Das Formhafte ist das Leere, das Leere ist das Formhafte.«
In der 10. und letzten Station stellt die zugehörige Zeichnung dar, wie sich ein Greis und ein Junge auf der Weltstraße begegnen. Dies entspricht der Frage aus dem vorigen Kapitel: Wer oder was ist ein anderer? Auf der Suche nach einer echten und unmittelbaren Erfahrung der zwischenmenschlichen Begegnung bekomme ich zuerst einen immer tieferen Einblick in das, was ist, es ist dieses »ein anderer ist anders«, und wenn ich diesen Gedanken wieder loslasse, ihn verlöschen und zurückkehren lasse zu seinem Ursprung, in welchem Denken und Sein verschwinden – das ist dieses »ein anderer ist nicht anders« –, dann bin ich vom substanzialisierenden Denken und Sein zumindest für den Augenblick befreit, in dem ich eine echte und unmittelbare Erfahrung der Andersheit des anderen bzw. vom Geheimnis der zwischenmenschlichen Begegnung mache. Wenn ich bei dem »ein anderer ist anders« stehen bleibe, dann kann sich wie oben ebenfalls „Hass gegen Andere, Grundblindheit über sich selbst und Habgier“ (ebenda, Seite 442) entwickeln, die „dreifache Selbstvergiftung [...] als die Grundverkehrtheit und der Unheilsgrund des Menschen“ (ebenda). Bei dieser Erfahrung vom Geheimnis des anderen „wirkt und spielt das wahre Selbst, vom Nichts auferstanden, zwischen Mensch und Mensch als selbstlose Dynamik des »Zwischen« [...], oder auch: das Selbst, durch das absolute Nichts aufgeschnitten, geöffnet, entfaltet sich als das »Zwischen«“ (ebenda, Seite 444). Damit ist also die Ekstase der Ankunft angesprochen. Es handelt sich beim Greis und dem Jungen „nicht um zwei verschiedene Menschen, die sich dann zufällig treffen“ (ebenda), sondern um die Ankunft, die gehalten ist in einer „selbst-lose(n) Selbstentfaltung des Greises selbst“ (ebenda), also in der Herkunft, und in der „Sache des Jungen, wie sie ist, [... als] die eigene Sache des Greises, der seinerseits für sich keine Sache hat“ (ebenda, Seite 445), also in der Zukunft. »Begegnung« ist hier also, so wie sie sich ereignet, zugleich „der eigene Spielraum, Spielinnenraum des Selbst“ (ebenda, Seite 444). „Die communio des gemeinsamen Lebens ist der zweite Auferstehungsleib des selbst-losen Selbst“ (ebenda, Seite 445). Das wahre Selbst als die Vergegenwärtigung der wahren Zukunft in der 8., das wahre Leben als die Vergegenwärtigung der wahren Herkunft in der 9. und die wahre Begegnung als die Konkretisierung der wahren Ankunft in der 10. Station bilden also eine zusammengehörige, ineinander-durchdrungene Dreifachperspektive des absoluten Nichts.
Im Begleittext zur letzten Station heißt es unter anderem: »Wie es ihm (dem Greis) gerade gefällt, besucht er Weinkneipen und Fischbuden, wo die anderen im Umgang mit ihm zu sich selbst erwachen.« Das wahre Selbst wohnt „nicht im sogenannten »Nirvâna«, sondern“ (ebenda) wie bei der »Verrücktheit« des Dichters Bashô ist es „ein Nicht in der alltäglichen Welt Leben (Wohnen) und dennoch in ihr Leben (Wohnen), ein Wohnen und dennoch Nicht-Wohnen und schließlich ein Leben (Wohnen) in Ausgeglichenheit im Nirgends-Wohnen“ (Nishitani, Die »Verrücktheit« beim Dichter Bashô, 2011, S. 266). So kann es dem wahren Selbst auch immer wieder gefallen, es kann sich immer wieder auch dafür begeistern, in der Alltäglichkeit der Welt zu sein und Weinkneipen oder Fischbuden zu besuchen. Dies entspricht der Antwort auf die Frage aus dem vorigen Kapitel: Was ist Lieben? Auf der Suche nach einer echten und unmittelbaren Erfahrung vom Lieben bekomme ich zuerst einen immer tieferen Einblick in das, was ist, es ist dieses »Verstehen ist Verstehen, Akzeptieren ist akzeptieren, Lieben ist Lieben«, und wenn ich diesen Gedanken wieder loslasse, ihn verlöschen und zurückkehren lasse zu seinem Ursprung, in welchem Denken und Sein verschwinden – das ist dieses »Lieben ist Nicht-Lieben« –, dann bin ich vom substanzialisierenden Denken und Sein zumindest für den Augenblick befreit, in dem ich eine echte und unmittelbare Erfahrung vom Lieben mache. Wenn ich bei dem »Lieben ist Lieben« stehen bleibe, dann kann sich ein Selbstbewusstsein etablieren, andere geliebt und womöglich sogar dadurch noch gerettet zu haben, was innerlich schon wieder alles verderben würde, und es kann sich wie oben ebenfalls „Hass gegen Andere (, die sich womöglich von mir nicht lieben lassen wollen), Grundblindheit über sich selbst und Habgier“ (Ueda, 2011, S. 442) entwickeln, die „dreifache Selbstvergiftung [...] als die Grundverkehrtheit und der Unheilsgrund des Menschen“ (ebenda). Diese Erfahrung vom Lieben „bewährt sich darin, einen anderen erwachen zu lassen, und zwar so, dass dieser selber erwacht“ (ebenda, Seite 445). Damit ist also die Ekstase der Auskunft angesprochen. „Der Greis predigt nicht, belehrt nicht, sondern stellt in der Begegnung wie auch beim Zusammensein einfach Fragen: »Woher bist du?« »Was ist dein Name?« »Wie geht's dir?« »Hast du schon gegessen?« »Siehst du diese Blumen?«“ (ebenda, Seite 445 f.). Er bittet also nur um ganz einfache Auskünfte, „und bei dem Anderen wird die Frage nach sich selbst, nach dem wahren Selbst erweckt: »Wer bin ich eigentlich?« Der Andere fängt an, selber »nach dem Ochsen zu suchen«. So haben wir von neuem die erste Station. Die 10. Station ist also nicht der Abschluss, sondern der Anfang der 1. Station für einen Anderen, für einen Jungen, dem der Greis in seinem offenen »Zwischen« begegnet und bei dem dadurch die Frage nach dem wahren Selbst erweckt wird“ (ebenda, Seite 446). Beim absoluten Nichts bzw. bei der Liebe geht es „um die Überlieferung des Selbst, von Selbst zu Selbst“ (ebenda). Die Überlieferung von Selbst zu Selbst ist meines Erachtens der dritte Auferstehungsleib des selbst-losen Selbst. Diese selbstlose Überlieferung ist meines Erachtens wahre Transzendenz in eins mit wahrer Immanenz.
In den folgenden beiden Abschnitten vergleicht Ueda das absolute Nichts mit Gedanken bei Eckhart und Nietzsche, um es weiter zu erläutern. „Zunächst darf wohl das »Nichts der Gottheit« bei Eckhart, dem Hauptgipfel der deutschen Mystik des Mittelalters, als der Gedanke betrachtet werden, der dem leeren Kreis des absoluten Nichts in der 8. Station am ehesten entspricht“ (ebenda, Seite 446). Die erste Gemeinsamkeit zwischen Eckhart und dem Buddhismus liegt darin, dass er Christus nicht als Vermittler zur Erlösung versteht, sondern dass die Seele, die sich ganz in Liebe hingegeben hat und so „der Ich-heit gestorben ist“ (ebenda), als Leben Gottes in Gott wiedererweckt wird. „Indem jeder einzelne Mensch so in der Wiedergeburt als Gottes einziger Sohn mit Christus gleich wird, ereignet sich in jedem einzelnen Menschen direkt und ursprünglich die Erlösung“ (ebenda, Seite 446 f.). Auch im Mâhâyana-Buddhismus vereinigt „das Erwachen des einzelnen Menschen Buddha und das Selbstgewahrwerden“ (ebenda, Seite 447). Die so erlöste Seele „kann nicht anders, als den »Gottesgrund« als ihren letzten Grund erforschen. [...] Dieses Drängen der Seele bei Eckhart das bis in den letzten Grund ihrer selbst [...] durchstößt, hat mit der »Selbsterforschung« im Zen eine tiefe Gemeinsamkeit. [...] Die Worte Eckharts, der den »Gottesgrund« sive »Seelengrund« aufzeigt, indem er den Bereich der radikalen negativen Theologie »durch«-schreitet, erscheinen manchmal wie direkte Übersetzungen aus Zentexten“ (ebenda, Seite 448 f.). Eine weitere Gemeinsamkeit mit dem Zen-Buddhismus liegt darin, dass Eckhart nicht „den in der raum-zeitlichen Wirklichkeitswelt real lebenden, leibhaftig-konkreten Menschen vergisst. Eckhart sieht [...] nicht in Maria, die vor Jesus sitzend, sich hörend in die Worte Gottes einlässt, sondern in ihrer Schwester Martha, die sich emsig um den Empfang Jesu und seiner Jünger abmüht, Vollkommenheit. Er sieht [...] in Martha [...] die Rückkehr in das reale Leben der aktuellen Welt, welche »in eins« mit dieser Rückkehr das Durchstoßen in das Nichts der Gottheit ist. [...] Im »Gott lassen« wird auf diese Weise der aufsteigende Durchbruch ins Nichts der Gottheit und die absteigende Rückkehr in die reale Welt durch und durch eins“ (ebenda, Seite 451 f.). Der Gedanke Eckharts, „dass Gott in seinem Grunde »absolutes Nichts« sei, und dass dieses »absolute Nichts« zugleich der Grund der Seele selbst sei“ (ebenda, Seite 452), zeigt eine enge Verwandtschaft mit dem Gedanken des absoluten Nichts in der Ochsen-Geschichte des Zen-Buddhismus. Es gibt allerdings nach Ueda einen subtilen und entscheidenden Unterschied: „bei Eckhart wird Gott [...] Nichts genannt. [...] Die äußerste Negativität des »Nichts« im »Gott ist Nichts« wird nicht auf das Sein Gottes als solches gerichtet, sondern greift in Wirklichkeit die menschliche Seinsweise an, die das Sein Gottes zu bestimmen sucht. [...] »Gott ist Nichts« besagt, dass Gott ist, aber für den Menschen [...] nicht im Wort bestimmt werden kann. [...] Sofern dieses »Nichts« das Sein nicht entreißt, sondern und endlich »das Sein erhöht«, trägt es zwar eine gewisse Absolutheit in sich, aber von dem Standort aus, auf dem vom »absoluten Nichts« gesprochen wird, muss es doch als ein relatives »absolutes Nichts« angesehen werden. Das, was auf diesem Standort letztlich als absolut betrachtet wird, ist nicht das »Nichts«, sondern das Sein Gottes, d.h. das Sein selbst“ (ebenda, Seite 453 f.). Während das Nichts Eckharts „ein Adjektiv, ein Prädikat zur hauptwörtlichen Substanz“ (ebenda, Seite 454) bleibt, ist es im Zen „nicht ein Adjektiv für das »Eins« als Substanz, sondern muss Verbum sein“ (ebenda, Seite 454 f.). Während Eckhart noch von Gott und Gottheit spricht, schweigt Buddha an dieser Stelle, und dieses Schweigen ist sein Ausdruck der Liebe bzw. des absoluten Nichts (siehe Kapitel 9). „Das Nichts als die Tätigkeit, die Substantialität in die Leere aufzulösen, negiert zugleich auch jede Festlegung des Nichts als Negation des Seins“ (ebenda, Seite 455). Auch die Negation der Substanz als Minus-Substanz wird aufgelöst in Leere als »Nichts des Nichts«. „Das »Nichts des Nichts« ist einerseits die das Nichts wiederum negierende, unendlich unauslotbare Verneinung, die durch und durch die unendliche Offenheit in Leere eröffnet. Andererseits schlägt es zugleich um ins Sein“ (ebenda). Als Tätigkeit ist das Nichts die reine Prozesshaftigkeit, die in einem unendlichen Kreislauf jegliche Substanz ständig austauscht, d.h. die Prozesshaftigkeit ist substanzlos mit einem stetigen und ständigen Bezug zu Substanz. Insofern könnte man das absolute Nichts auch als reine Prozesshaftigkeit bezeichnen, und nur darin ist Sein und Nicht-Sein verstehbar. Damit ist auch Leben reine Prozesshaftigkeit und so die Antwort auf die Frage: Was ist das Nichts bzw. worin ist das Nichts verstehbar? Insofern war auch Heidegger mit seiner Zeitlichkeit als Sinn des Seins, d.h. als Rahmen, in dem Sein verständlich wird, in einer großen Nähe zum Buddhismus und dessen absolutem Nichts. Denn nur im Rahmen des absoluten Nichts wird im Buddhismus Sein und Nichts verstehbar.
Im dritten Teil betrachtet Ueda eine noch radikalere Form des Nichts, die im Unterschied zu Eckhart auch das »Gott ist« als solches verneint. Die Substantialität würde nicht einfach aufgelöst, sondern die Nichtigkeit Gottes wäre ein alles beherrschendes Vakuum, es wäre Nietzsches »Gott ist tot«. Dieses nihilum nennt Ueda das minus »absolute Nichts«, das »absolute Nichts« bei Eckhart dagegen das plus »absolute Nichts«. So wie das eine, ist auch das andere ewig, d.h. „»das Nichts (das ›Sinnlose‹) ewig!«“ (ebenda, Seite 457) Nietzsche versucht auch nicht nach dem Tod Gottes, ihn durch irgendwelche Pseudogötter zu ersetzen, er durchlebt das Leid des Verlustes Gottes. Fragen nach dem Warum und Wozu wurden früher letztlich immer mit Gott beantwortet. Im Nihilismus von Nietzsche entfällt das nun alles.
In die Ochsen-Geschichte eingefügt würde dies bedeuten, dass der Hirte der 7. Station als sein eigener Herr Gott zum Kampf herausgefordert und ihn getötet hat und nun vor dem leeren Kreis, dem »Gott ist tot«, der 8. Station steht. Nietzsche selbst bezeichnet »das Nichts (das ›Sinnlose‹) ewig!« als »Europäische Form des Buddhismus« (ebenda, Seite 460). Die Zen-Geschichte geht nun aber über diese Station hinaus, und in der 8. Station wird auch eine Warnung ausgesprochen: »An diesem Ort muss der Hirte rasch vorübergehen.« Die Natur, die communio und die Überlieferung als die drei Auferstehungsleiber bilden in einem dynamischen Zusammenhang das absolute Nichts und zeigen so den Weg, „eine ursprüngliche Möglichkeit, den Nihilismus zu übersteigen“ (ebenda), „es überschreitet das Nichts in der Weise des Nichts des Nichts“ (ebenda). „Auch Nietzsche sagt, indem er »den Nihilismus selbst schon in sich zu Ende gelebt hat«, habe er den Nihilismus »hinter sich, unter sich, außer sich«“ (ebenda, Seite 461). Dieser Punkt wird von Ueda folgendermaßen diskutiert: „Der Weg, den Nietzsche selbst tatsächlich als die Überwindung des Nihilismus lehrte, war in Wirklichkeit nicht dieser Weg (Überschreiten des Nichts in der Weise des Nichts des Nichts). Es gibt aber bei Nietzsche tatsächlich verschiedene Ansätze, die auf diesen Weg gerichtet sind“ (ebenda, Seite 462). Der Weg, den er lehrte, war der »Wille zur Macht«, um mit ihm als die treibende Kraft des aktiven und positiven Nihilismus den Nihilismus zu überwinden. Wenn bei Nietzsche aber „der »Wille zur Macht« als »Essenz der Welt«, als »das innerste Wesen des Seins« und als »der äußerste Grund aller Veränderungen« gefasst“ (ebenda, Seite 463) wird, dann trifft Nishitanis Kritik zu: „»Sofern es ein Wille ist, entledigt es sich noch nicht des Charakters eines Seienden.«“ (ebenda).
Als Ansätze, in denen Nietzsche den Nihilismus in der Weise des Nichts des Nichts überschreitet, führt Ueda auf, dass „bei Nietzsche das Lachen und der Tanz als die ausdrücklichste Bejahung des Lebens bezeichnet“ (ebenda, Seite 464) wird, dass „von Vergessen gesprochen [wird], mit dem im Grunde ein Ausfallen des Willens überhaupt angedeutet wird: der »Wille zur Macht« wird im Zentrum seiner Macht sozusagen fallen gelassen; damit verbunden wird dann das »Spiel« als die höchste Seinsweise angesprochen“ (ebenda). Sodann geht Ueda beispielhaft auf die erste Predigt Zarathustras ein. Dort wird der Geist erst zum Kamel, das „in Ehrfurcht und Gehorsam spontan schwere Lasten trägt […], seine Kraft genießend“ (ebenda, Seite 465), und „lernt mit dem Leib alles, was in der Überlieferung einen Wert hat“ (ebenda). Da die Lasten immer schwerer werden, eilt es „in die Wüste und verwandelt sich tief im Inneren der Wüste in den Löwen. Die im Schleppen der schweren Last trainierte Kraft schleudert die Last ab und verwandelt sich in die Kraft des Löwen, in die Kraft des »ich will«. Der Löwe, der »ich will« sagt will Freier Herrscher in der Wüste werden. Er fordert den bisherigen Herrscher, Gott, den Drachen, der »du sollst« sagt, zu einem letzten Kampf heraus und schlägt ihn mit einem heiligen »Nein« nieder“ (ebenda). Ich finde, dass das Kamel dem Ochsen in der Zen-Geschichte entspricht, der Löwe und sein »Wille zur Macht« ist mit dem Hirten in der 7. Station vergleichbar, und nach dem Töten des Drachen (»Gott ist tot«), wenn „die Wüste zur noch wüstenhafteren, einsamen Weite“ (ebenda) geworden ist, ist die 8. Station erreicht. Nachdem der Löwe das nihilum der Wüste bis zum Ende ertragen hat, verwandelt er sich plötzlich in das Kind. Die extremste Form des Nihilismus schlägt in die Form der höchsten Bejahung um, und zwar mit dem Kind als »ein aus sich rollendes Rad«, und damit ist meines Erachtens die 9. Station erreicht. Ich würde dieses Kind als das »natürliche Kind« bezeichnen, womit wir den ersten Auferstehungsleib, die Natur, vorliegen haben. Die Natur und das natürliche Kind leben im »ohne Warum«. Sie sind auf diese Weise reine Prozesshaftigkeit und können auch nur in diesem Rahmen verstanden werden. Die Warum-Frage lenkt nämlich nur vom Prozess ab. Deswegen wird sie beispielsweise in der Gestalttherapie nach Fritz Perls konsequent vermieden.
Was bei Nietzsche auf jeden Fall aber noch fehlt, sind die beiden anderen Auferstehungsleiber, die communio und die selbstlose Überlieferung des Selbst von Selbst zu Selbst. Durch die communio bekommt das natürliche Kind seinen Schutz, und dadurch gefestigt kann es als Greis den anderen etwas wiedergeben in der selbstlosen Überlieferung des Selbst von Selbst zu Selbst. Wenn Nietzsche schreibt: »Wer zum Kinde werden will, muss auch noch seine Jugend überwinden«, so passt das insofern zur 9. Station, als dass ich diese mit der Frage »Was ist Leben?« verbunden habe, die sich mit dem wahren Leben als die Vergegenwärtigung der wahren Herkunft befasst, also insbesondere auch mit der Jugend. Was Nietzsche im Besonderen betrifft, so hat es mit diesem Ausspruch von ihm noch eine andere Bewandtnis: da Nietzsche in seiner Jugend von seinen beiden Tanten mit der Pferdepeitsche grausam misshandelt worden ist, bedeutet für ihn, die Jugend zu überwinden, diese traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten. Dies ist jedoch nur möglich in einer Gemeinschaft, die dem Betreffenden ausreichenden Schutz gewährt, es bedarf also einer entsprechenden communio. Nietzsche hat sein Trauma nicht verarbeitet, sonst wäre er nicht wahnsinnig geworden, als er in Mailand sah, wie ein Kutscher ein Pferd ausgepeitscht hat. Er hat also seine Jugend nicht überwunden und ist nicht richtig zum Kind geworden, aber er hatte wenigstens diese Vision vom natürlichen Kind. Im Unterschied dazu ist Hitler, der von seinem Vater ebenfalls grausam misshandelt wurde, beim »Willen zur Macht« hängen geblieben und hat tatsächlich versucht, die Erde zu einer »noch wüstenhafteren, einsamen Weite« zu machen.
Wenn ich nun noch einmal rückblickend die von Ueda dargestellte Position von Meister Eckhart betrachte, dann fällt mir im Vergleich zu Nietzsche auf, dass Eckhart zwar den Drachen herausgefordert, aber nicht getötet hat. Der Drache mit dem »du sollst« war in diesem Fall die Kirche mit ihren Dogmen. Um nicht als Ketzer verbrannt zu werden, durfte er sein »Nichts« nicht auf das Sein Gottes als solches richten, sondern nur die menschliche Seinsweise angreifen, die das Sein Gottes zu bestimmen sucht. Aber selbst damit geriet er schon in den Verdacht der Häresie, denn sein Nichts konnte ja als Antidogmatismus aufgefasst werden. Auf der anderen Seite muss man bedenken, dass Eckharts Texte Predigten waren, mit denen er seine Zuhörer erreichen und nicht überfordern wollte. Sein Nichts konnte er immer mit dem 1. Gebot begründen (»Du sollst dir kein Gottesbild machen«, Exodus 20,4). Den Auferstehungsleib der Natur gibt es ebenfalls im Christentum (»Werdet wie die Kinder«, Matthäus, 18,3), genauso wie die communio (Abendmahl) und zumindest bei Eckhart die selbstlose Überlieferung des Selbst von Selbst zu Selbst. Weil nach Eckhart der Gottes-Sohn in jedem wiedergeboren wird, der sich ganz in Liebe hingegeben hat und so der Ich-heit gestorben ist, ist der Kreuzestod Jesu ein Beispiel für diese selbstlose Überlieferung des Selbst von Selbst zu Selbst.
Abweichend von Ueda kann Eckhart aber auch ganz anders interpretiert werden: Im Grunde genommen sagt Eckart weder, dass Gott ist, noch dass er nicht ist. Und selbst wenn er Gott als unendlich erhöhtes Sein bezeichnet, dann ist diese Bezeichnung trotzdem nichtig, denn Eckharts »Gott ist nichts« greift ja auch jede seiner eigenen Bestimmungsweisen Gottes an und macht sie nichtig. Im Begrifflichen, d.h. im Bereich der Worte, kommen wir nicht weiter. Ich denke in dieser Hinsicht wie Tanabe, dass nur die Tat als Wende und nicht irgendwelche Worte weiterhelfen. Deshalb hat ja auch Buddha in solchen Dingen immer geschwiegen (siehe Kapitel 9). Wenn ich nun bei Eckhart die Handlungsanweisungen bzw. -empfehlungen betrachte, so geht es bei ihm darum, dass die Seele des Menschen sich selbst aufgibt, der Ich-heit stirbt, und dann schließlich auch noch ihren Seelengrund durchstößt und so vernichtet. Da dieser aber zugleich auch der Gottesgrund ist, wird in dieser Handlungsanweisung bzw. -empfehlung auch Gott getötet, obwohl Eckhart das so niemals ausgedrückt hätte. Im Unterschied zu Nietzsche geschieht dies aber nicht mit dem „heiligen“ Zorn Nietzsches über eine erlittene ungerechte und menschenunwürdige Misshandlung, sondern mit Hingabe, d.h. mit echtem und unmittelbarem Verstehen, also mit Liebe. Worte und Begriffe als solche sind nutzlos, damit kann man nach Goethe zwar trefflich streiten, aber ansonsten sind sie Schall und Rauch. Nur als Handlungsanweisungen bzw. -empfehlungen können sie etwas bewegen.
Kunst als Handlungsanweisung bzw. -empfehlung am Beispiel der Fuge
[Bearbeiten]Den letzten Gedanken des vorigen Kapitels aufgreifend kann auch Kunst nur dann wirklich etwas bewegen, wenn sie als Handlungsanweisung bzw. -empfehlung aufgefasst wird. Analog zu den vier Fragen aus Kapitel 10 könnte eine allgemeine Handlungsanweisung bzw. -empfehlung etwa so aussehen: „Wenn du dieses Kunstwerk mit deinen Sinnen wahrnimmst und auf dich wirken lässt, was für eine echte und unmittelbare Erfahrung machst du dann mit dir selbst, mit dem Leben, mit anderen und mit dem Lieben?“
Im Unterschied zu den bisher dargestellten Betrachtungen der Kyôto-Schule über Kunst, die sich vor allem mit der Malerei und der Dichtkunst beschäftigt haben, möchte ich mich der Musik widmen, und zwar speziell der Fuge. Im Begriff Fuge stecken ja einerseits die Fügung und die ruhende Gestalt, andererseits kann das Aneinanderfügen desselben Themas durchaus auch ein pulsierendes Drängen in einem fließenden Verlauf vermitteln. Der Gegensatz dynamisch-statisch bzw. aktiv-passiv sticht hier schon einmal ins Auge. Dadurch, dass die Melodie sowohl Leitungs- als auch Begleitungsfunktion besitzt, ist in ihr der Gegensatz subjektiv-objektiv vereint. Außerdem wird auch das Spiegelbild des Grundthemas verwendet, so dass in der Fuge sowohl Kontinuität als auch Diskontinuität herrscht. Im Unterschied zum Kanon, der rein zirkulär die Melodie stetig wiederholt, hat die Fuge auch lineare Elemente, indem das Grundthema zum Beispiel in eine andere Tonart transponiert wird. Wir haben hier also den Gegensatz linear-zirkulär. Schließlich begegnet uns auch der Gegensatz zeitlich-räumlich, wenn das Grundthema nur noch mit halber Geschwindigkeit gespielt wird und dadurch doppelt so viel Platz einnimmt, oder wenn das Grundthema bei einer so genannten Engführung kurz hintereinander mit verschiedenen Anfangstönen, also an jeweils anderer Stelle einsetzt. So betrachtet kann eine Fuge mich durch sämtliche Gegensätze der Materie führen. Je nachdem wie die Überwindung dieser Gegensätze in der Fuge ausgedrückt wird, kann sie den Zuhörer dazu einladen, diese Gegensätze für sich selbst immer besser zu überwinden und so immer mehr zur Liebe zu kommen.
Indem ich die vielfach verschlungenen Wege der Melodie auf mich wirken lasse, kann ich dabei versuchen, eine unmittelbare und echte Erfahrung von mir selbst zu machen, denn die Melodie weist in die Zukunft und kann daher eine Anregung für mich sein, mein wahres selbstloses Selbst als Vergegenwärtigung der wahren Zukunft echt und unmittelbar zu entdecken. Entsprechend kann die in die Herkunft weisende Harmonie mich dazu anregen, mein wahres Leben als Vergegenwärtigung der wahren Herkunft echt und unmittelbar zu verstehen. Das auf die Ankunft weisende momentane Klangbild kann mir eine Richtlinie sein, die wahre Begegnung als die Konkretisierung der wahren Ankunft echt und unmittelbar zu erfassen.
Da bei einer Fuge das Grundthema ständig wiederholt wird, drückt sie mit vielen Variationen „vom Selben das Selbe“ aus. Dies erinnert an die Geschichte von Sokrates, zu dem ein Sophist gesagt haben soll, ob er noch immer dasselbe sage, und er würde sich die Sache aber leicht machen. Sokrates soll darauf geantwortet haben: „Nein, ihr Sophisten macht es euch leicht, denn ihr sagt immer das Neueste und Allerneueste und immer etwas anderes. Das Schwere aber ist, das Selbe zu sagen und das allerschwerste: vom Selben das Selbe zu sagen.“ (Heidegger, Zollikoner Seminare, 2006) Wenn man aber trotz allem wie Sokrates begeistert das Allerschwerste macht und vom Selben das Selbe ausdrückt, dann muss oder wird man es immer echter und unmittelbarer verstehen, d.h. man muss oder wird es immer mehr lieben. Denn die Begeisterung für das Selbe vom Selben ist die Begeisterung für das Alltägliche, für die Rhythmik der Wiederkehr des Selben, die von Nietzsche (siehe voriges Kapitel) noch negativ als sinnlose ewige Wiederkehr empfunden worden ist. An dieser Stelle möchte ich auch auf meine Ausführungen zu dem Thema »Im Anfang war der Rhythmus« (Kolb, 2011) hinweisen. Insofern kann mich eine Fuge dorthin bringen, dass ich schließlich auch eine echte und unmittelbare Erfahrung vom Lieben mache, denn wie in Kapitel 10 ausgeführt, ist die immer wieder mögliche Begeisterung für das Alltägliche ein Kriterium dafür, eine unmittelbare und echte Erfahrung vom Lieben gemacht zu haben. Damit erweist sich die Kunstform der Fuge als eine gute Möglichkeit, mit einer entsprechenden Handlungsanweisung bzw. -empfehlung eine echte und unmittelbare Erfahrung von sich selbst, vom Leben, von einem anderen und vom Lieben zu machen. Zugleich führt sie durch die Widersprüchlichkeit der Materie und kann helfen, diese zu überwinden und auf diese Weise zur Liebe zu gelangen.
Tabellen und Schaubilder
[Bearbeiten]Tabelle zum Zusammenhang von Prozesshaftigkeit (Kolb, 2011), Entwicklungsebene (Fonagy, Gergely, Jurist, & Target, 2008, Seite 212), Befindlichkeit (Kolb, 2011), den grundlegenden Gegensätzen, die ich bei Nishida (Nishida, Selbstidentität und Kontinuität der Welt, 2011) gefunden habe, und den leiblichen Sinnen:
Prozesshaftigkeit | Entwicklungsebene | Befindlichkeit | Gegensatz | Leibliche Sinne |
---|---|---|---|---|
Leibliche Entwicklung | physische | Freude | aktiv-passiv, dynamisch-statisch | Geschmackssinn |
Gewesenheit, Herkunft | soziale | Wut | subjektiv-objektiv | Geruchssinn |
Zukunft | teleologische | Angst | kontinuierlich-diskontinuierlich | Tastsinn |
Gegenwart, Ankunft | intentionale | Leid | linear-zirkulär | Gehörsinn |
Räumlichkeit, Auskunft | repräsentationale | Abscheu | zeitlich-räumlich | Gesichtssinn |
Gesamte Entwicklung | geschlechtliche | Begeisterung | weiblich-männlich | (6.) Sinn des Intellekts |
Tabelle zum Zusammenhang von Hegels idealistischem Schema des Geistes, Tanabes Logik der Spezies, die ich in den Klammern zur Psychologik erweitert habe, und meiner Psychologik der Liebe:
Dialektik (Hegel) | Modi des Daseins | Aspekte des Absoluten bzw. der Liebe |
---|---|---|
Einzelnes | Individuum (Objekt der Psyche, geistiges Subjekt, Bürde, Würde) | Materie als Selbstentfremdung der Liebe, in der die Tat-als-Wende möglich ist, Leiblichkeit und Sinnlichkeit |
Besonderes | Spezies (Objekt der geistigen Ideen, materielles Subjekt) | Psyche als immanente, lebendige und Leben vermittelnde Dynamik der Liebe |
Allgemeines | Genus (sinnliche Wahrnehmung der Materie, psychische Bewertung des Ganzen) | Geist als transzendierende Fähigkeit zu lieben, Aspekt der Rückkehr der Liebe zu sich selbst |
Die Psycho-Logik der Liebe: Veranschaulichung der Modi und Aspekte des Daseins bei dessen Entwicklungsprozess
Literaturverzeichnis
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