Kurs:Alte Dresden-Literatur/Wilhelm von Kügelgens Jugenderinnerungen eines alten Mannes

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Erster Teil[Bearbeiten]

1. Der Anfang[Bearbeiten]

Die neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts waren für das Rheinland verhängnisvoll geworden. Unter den Hammerschlägen der Französischen Revolution begannen die Stützen des alten Staatenbaues zu sinken. Unordnung und wüster Streit erfüllten das schöne Land, und mancher Mann, der dort zu Hause war, entfremdete seiner Heimat.

So auch mein Vater. Von Rom, wo er als Maler seine Studien beendet hatte, zog es ihn nicht zurück nach seinem Vaterlande, vielmehr wandte er sich infolge der Einladung eines Freundes dem Norden zu. Da lernte er in Reval meine Mutter kennen, gewann ihre Hand und zog mit ihr nach Petersburg, wo er viel Arbeit fand.

Aus dieser Ehe bin ich das zweite Kind, da meine Eltern kurz vor meiner Geburt ein älteres Töchterchen verloren hatten. Nach den Erzählungen der Mutter und noch vorhandenen Bildern glich die verstorbene Schwester einem überirdischen kleinen Wesen, wie man das wohl bei Kindern findet, denen ein kurzes Lebensziel gesteckt ist. Sie ist auf dem ländlichen Gottesacker bei Pawlosky begraben, und auf den kleinen Hügel setzten die Eltern ein Kreuz mit dem Namen «Maria».

Doch war ihr Gedächtnis nicht mitbegraben und lebte namentlich in der Erinnerung der Mutter so lebhaft fort, als sei sie nie gestorben. Ja, mehr als ihr Gedächtnis: die selige Schwester selbst soll ab und zu noch segnend in den Kreis der Familie eingetreten sein. Wenigstens erzählte meine Mutter des öftern, wie bald nach der Geburt ihrer jüngeren Kinder eine Lichtgestalt erschienen sei und die neuen Ankömmlinge umleuchtet und begrüßt habe. Diese Erscheinung hatte in der sichtbaren Welt nichts Analoges; dennoch erkannte die Mutter ihr heimgegangenes Kind. Sie hatte sich ja die Selige als Schutzengel erbeten für die Kinder, die durch Gottes Gnade etwa folgen sollten, und zweifelte an der Erhörung ihrer Bitte nicht.

Dem sei nun wie ihm wolle, die Mutter hatte nach der Geburt meiner jüngeren Schwester sogar noch eine Zeugin für dieses liebliche Erlebnis, indem die Wärterin, die allein mit ihr im Zimmer war, dasselbe sah. So war denn oft die Rede von der Dahingeschiedenen, und wohl erinnere ich mich, daß ich als kleiner Junge manche Übertretungen mied, um den Engel nicht zu betrüben, der mir beigegeben war.

Als ein sehr unzulänglicher Ersatz für dieses Himmelskind ward ich am 20. November des Jahres 1802 in Petersburg geboren, und zwar zur Unzeit, indem ich dem Programme meiner Mutter um zwei Monate zuvorkam: ein Umstand, der auf meine spätere Entwicklung nur nachteilig influieren konnte.

Getauft ward ich am 9. Dezember desselben Jahres durch den Dr. Hammelmann, Pastor an der lutherischen St. Petrigemeinde. Zwar war mein Vater Katholik; aber vollständig gleichgültig gegen alle Unterscheidungen in Gebrauch und Lehre der christlichen Welt, hatte er bei seiner Verheiratung keinen Anstand gefunden, zu versprechen, sämtliche Kinder dem Bekenntnisse der Mutter folgen zu lassen. Als nun das geweihte Wasser meinen kleinen Kahlkopf überströmte, faltete ich die Hände wie ein alter Christ, zur Erbauung meiner guten Mutter, die hierin ein Amen für die Bitten sah, welche sie für mich zum Himmel sandte. Ich empfing die Namen Wilhelm Georg Alexander, letzteren zum Gedächtnis jenes jugendlich liebenswürdigen Kaisers, welcher kaum ein Jahr vor meiner Geburt den russischen Thron bestiegen und die Hoffnung aller dortigen Menschenfreunde belebt hatte.

Mein Vater hatte unterdessen, den Aufenthalt in der reichen Stadt sowie die Gunst damaliger Verhältnisse gewissenhaft benutzend, in wenig Jahren ein Vermögen erworben, das ihn zum selbständigen Manne machte. Nun aber auch des Treibens müde und der lästigsten Art künstlerischer Tätigkeit, des Porträtierens, herzlich satt, gedachte er der Früchte seines Fleißes froh zu werden und fürs erste mit den Seinigen an den Rhein zu gehen, um seine Mutter zu besuchen, die dort noch lebte. Wo man sich endlich bleibend niederlassen würde, stand in den Sternen: die Umstände sollten es entscheiden.

Das war ein guter Plan, nicht zu weit und nicht zu enge; doch hatte die Trennung von Petersburg auch ihren Stachel. Mein Vater lebte dort in einem Kreise der vorzüglichsten Menschen, unter denen er nicht wenig wahre Freunde zählte; vor allem aber lag sein Zwillingsbruder ihm am Herzen, der ihm aus brüderlicher Liebe nachgezogen war und jetzt allein zurückbleiben mußte, weil er mittlerweile als Kaiserlicher Kabinettsmaler angestellt und für den Hof beschäftigt war. Man hoffte indessen, wenn erst jener gute Plan zur Reife gekommen, sich auf eine oder die andere Weise wieder zu vereinen, und meine Eltern traten ihre Reise an.

So kam es, daß ich meinen Geburtsort schon nach einigen Monaten wieder verlassen mußte und in einem Alter auf Reisen ging, da andere Kinder etwa erst geboren werden.

Das Harmsche Haus Zu Schlitten kamen wir nach Estland und langten wohlbehalten in Alt-Harm, einem väterlichen Gute meiner Mutter, an. Hier sollte gerastet werden, um bessere Jahreszeit abzuwarten und meiner angegriffenen Mutter, wie auch mir, der ich ein schwächliches Kind war, Zeit zu geben, für die weitere Reise zu erstarken. Dazu war Harm der Ort. Meine Eltern verweilten hier im Kreise zahlreicher und liebenswürdiger Verwandten weit länger, als sie anfangs wollten; ja, mein Vater fühlte sich durch die Eigentümlichkeit des dortigen Landlebens so mächtig angezogen, daß er zur großen Freude meiner Mutter und ihrer ganzen Familie den Entschluß faßte, sich nach seiner Rückkehr von Deutschland in Estland anzukaufen, um hier zu leben und zu sterben.

So schien der Lebensplan nun fertig, und da noch obendrein der Zwillingsbruder meldete, er werde auch bald bei Vermögen sein und sich am Gutskaufe beteiligen, blickte man befriedigt in die Zukunft, den Segen dessen erwartend, der aller Menschen Schicksal leitet.

Im Harmschen Hause sah es übrigens recht einfach aus. Man hatte weiße Kalkwände, grüne Türen, Strohstühle, und von Gardinen wußte man im ganzen Lande nichts. Dafür aber war das Haus geräumig und bot der zahlreichen Familie und Hausgenossenschaft nicht nur jede erwünschte Bequemlichkeit, sondern in seinen Sammlungen und Werkstätten auch die mannigfaltigste Gelegenheit für Beschäftigung und Unterhaltung.

Mein Großvater hatte nämlich, behufs der Ausbildung seiner Kinder, Lehrer der verschiedensten Art an sich gezogen, Handwerker, Künstler und Gelehrte, die alle unter seinem Dache wohnten und dem Hause das Ansehen einer kleinen Akademie gaben. Neben wissenschaftlichen Disziplinen wurden neuere Sprachen getrieben, man malte, modellierte, kupferstecherte, drechselte, tischlerte, klempnerte und machte ganz vortreffliche Musik. Die schönen Quartette, an Winterabenden von der Familie ausgeführt, haben im Andenken der Nachbarschaft noch lange fortgelebt.

Um endlich der kümmerlichen Natur, wenigstens in nächster Nähe, mehr Reize abzunötigen, hatte der Hausherr sein einsames Gehöft mit einem weiten Park umschlossen, in dem man Gärtnerei trieb oder sich mit Wasserfahrten und auf alle Weise zu belustigen pflegte.

Dort hatte er – meine Mutter zu überraschen – auf künstlichem Hügel eine steinerne Urne errichtet, mit der Inschrift «Maria». Junge Tannen standen darum herum. Da saß die Mutter oft mit mir in schöner Jahreszeit, sich der Aussicht auf weite Wiesen und fernen Wald erfreuend. Von diesen Stunden hat sie mir oft erzählt, wie sie sich nach langem Aufenthalte in der Stadt der wiederkehrenden Sonne, der erwachenden Natur und meiner Entwicklung gefreut habe, während ich zu ihren Füßen im trockenen Sande wühlte. Vielleicht daß diese ersten unbewußten Eindrücke Grund zu einer fast idiosynkratischen Vorliebe geworden sind, die mir für Tannen, für Sand und für die einfachste Natur geblieben sind.

Ich war indessen in der besten Pflege, obschon sehr langsam, zu einem leidlich gesunden Jungen erstarkt, als meine Eltern sich nach fünfvierteljährigem Aufenthalte endlich zur Weiterreise anschickten. Man schied mit dem Versprechen baldiger Wiederkehr; zwei Jahre längstens, so war's beschlossen, und ich saß bereits im Reisewagen auf dem Schoße der weinenden Mutter, als mein Großvater noch einmal an den Schlag trat und mir eine kleine Tabakspfeife von Bernstein, die er selbst für mich gearbeitet, in die Hand steckte. «Faß zu, Junge!» – sagte er – «und daß du mir brav rauchen lernst!»

Ich faßte damals krampfhaft zu und hielt die Pfeife fest auf der ganzen weiten Reise; ich biß mir die Zähne daran durch und habe sie auch festgehalten mein lebelang.

Meine Mutter behauptete später, der Großvater habe es mir angetan mit Rauchen; und in der Tat war er ein Mann, der einem wohl was hätte antun können. Nicht daß er das gewesen wäre, was man gewöhnlich liebenswürdig nennt; vielmehr war er schroff und kantig, aber desto siegreicher und bezaubernder, wenn sein gutes Herz einmal hindurchbrach. Gewissermaßen glich er einem Schaltier, das die Knochen auswendig hat, und man mußte ihn genauer kennen, um durch die Herbigkeit und Kälte, womit er sich umgab, nicht verletzt zu werden. Selbst die Liebe zu seinen Kindern war die letzte Eigenschaft, die diese an ihrem Vater zu entdecken pflegten.

Dennoch schien ihm alles zu fehlen, wenn jemand von den Seinigen abwesend war, bis er ihn wieder zurückerwarten konnte. Dann trieb die freudigste Erwartung ihn im Hause um, und er konnte, wenn er nicht bemerkt zu sein glaubte, stundenlang mit dem Fernrohre dem Kommenden entgegensehen; hatte er diesen aber glücklich erspäht, so legte sich die Spannung, die harte Schale klappte wieder zu, und man sah ihn irgend etwas beginnen, das keine Unterbrechung litt. Er goß dann etwa Bleikugeln, nahm irgendeine Kleberei vor oder dergleichen und hatte keine Hand frei, sie dem Eintretenden zu reichen, ja kaum einen Blick für ihn.

Ihn selbst dagegen nach längerer Abwesenheit zurückzuerwarten, hatte die Familie selten das Glück, weil er fast nie verreiste. Er ließ die Leute lieber zu sich kommen und verkehrte im allgemeinen so einsiedlerisch nur mit nächsten Nachbarn und Verwandten, daß, als es ihm einmal einfiel, seinen Sitz im Ritterhause zu Reval einzunehmen, niemand ihn kannte und man sich fragte, wer dieser Italiener sei; denn wider die Art seiner hochblonden Landsleute war er kohlschwarz von Aug' und Haaren mit gelblicher Gesichtsfarbe, und zwar klein von Person, aber doch ein «Teufelskerl», wie er selbst von sich bekannte.

Schon in der Wiege hatte er eine Weihe eigener Art empfangen. Die Kaiserin Elisabeth bereiste nämlich damals ihre Ostseeländer und übernachtete unter anderem auch in Waiküll, dem Gute, da seine Eltern lebten. Da fand die hohe Frau denn solches Wohlgefallen an dem kleinen runden Teufelskerl, daß sie ihn hoch in die Luft hob und ihm einen herzhaften Kuß auf sein derbes Hinterteil versetzte, eine Auszeichnung, auf die er stolz war und deren sich sonst wahrscheinlich niemand im ganzen russischen Reiche rühmen durfte.

Damit ließ es die Kaiserin übrigens nicht bewenden, sondern steckte dem beneidenswerten Säugling außerdem noch ein Patent als Gardefähnrich in die Windeln, so daß er mit achtzehn Jahren gleich als Kapitän bei seinem Regimente eintreten konnte. Er verließ indes den Dienst bald wieder, um die Familiengüter anzutreten, die ihm durch den Tod seines Vaters zugefallen waren. Nun heiratete er meine Großmutter, eine schöne, weiche, kindlich fromme Frau, wirtschaftete mit Einsicht und nahm sich besonders tätig seiner Bauern an. Er besuchte sie fleißig, übersah ihre Wirtschaft und griff ihnen mit Rat und Tat, ja, wo es dienlich schien, nach Peter des Großen glorreichem Vorgang, sogar mit höchsteigenhändiger Handhabung des Stockes unter die Arme, und die Erfolge waren glänzend. Das Harmsche Gebiet zeichnete sich bald vor anderen durch Zucht und Wohlstand aus, und der Gutsherr erfreute sich nicht nur des unbedingten Zutrauens seiner eigenen Leute, sondern stand auch weit und breit bei Edelleuten und Bauern in hoher Achtung. Davon gab der folgende Vorfall Zeugnis:

Zu Anfang der neunziger Jahre waren, aus mir unbekannter Veranlassung, die Bauern in mehreren Kirchspielen aufgestanden, hatten sich zusammengerottet und bereits einige Edelhöfe in Asche gelegt. Da füllte sich das Harmsche Haus mit flüchtigen Nachbarn, die bei dem Ansehen des Gutsherrn Schutz zu finden hofften. Als aber die mordbrennerischen Haufen nun dennoch auch gegen Harm heranzogen, die Auslieferung der Flüchtlinge fordernd, und guter Rat teuer war, warf sich mein Großvater aufs Pferd, ritt allein und unbewaffnet der aufständischen Rotte entgegen, und auf sein Wort – er mußte es ihnen angetan haben – zerstreuten sich die Bauern nach ihren heimischen Dörfern. Das Kosakenregiment, welches nächster Tage eintraf, fand nichts zu tun, als ein paar Rädelsführer einzufangen und auszuklopfen.

Der Schreihals[Bearbeiten]

Die große deutsche Reise ging denn also vor sich, und zwar in einem zweisitzigen, strohgelben Scheibenwagen, den mein Vater aus den Effekten eines abgehenden englischen Gesandten in Petersburg erstanden hatte. Das Reisepersonal bestand aus meinen Eltern, aus mir und meiner Wärterin, einem Harmschen Mädchen, das Leno hieß und auf dem Bock placiert war. Von dieser Reise habe ich natürlich keine Erinnerung mehr, doch mochte sie, wenigstens bis Berlin hin, nicht sehr angenehm gewesen sein, da Gasthäuser und Wege schlecht waren und die Gegend so reizlos, daß meine Mutter nicht begreifen konnte, warum die russischen Verbrecher nach Sibirien geschickt würden und nicht lieber hierher, da Preußen doch so nahe sei. Endlich mochte auch meine jugendliche Wenigkeit nicht allzuviel zu den Agrements der Reise beitragen, da ich viel schrie und weinte und die stete Aufmerksamkeit, die man mir schenken mußte, aller Unbequemlichkeit die Krone aufsetzte.

Wenn ich nicht irre, war's in Landsberg an der Warthe, wo wir eines Abends in ziemlich desolater Verfassung anlangten. Ein böses Wetter tobte auf den öden Fluren, mein Vater war des Fahrens satt, die zarte Mutter sehr erschöpft, Leno in Gefahr, vor Schläfrigkeit vom Bock zu fallen, und ich mußte, trotz meiner Bernsteinpfeife, wohl Zahnweh haben, denn ich heulte wie ein Schakal und wollte mich nicht trösten lassen.

Es schien daher sehr wünschenswert, die Nacht über hier zu rasten, und der Postmeister ward um ein ruhiges Zimmer angegangen. Der aber erklärte bedauernd, daß die einzigen disponiblen Piecen soeben von einem fremden Herrn bezogen seien, sich auch im Orte kein Gasthaus fände, was den bescheidensten Wünschen Genüge leisten könne.

Darüber ward nun hin und her geredet, und meine Mutter war schon halb entschlossen, sich notdürftig im Passagierzimmer einzurichten, als jener Reisende, zufällig unterrichtet, sich persönlich einfand, um auf die zuvorkommendste Weise seine Zimmer anzubieten. Er habe durchaus keine Bedürfnisse, versicherte er, und sei mit jedem Stuhl zufrieden.

Während solcher Rede war meine Mutter aufmerksam geworden, und noch hatte der Fremde nicht geendet, als sie ihm, zum Schrecken meines Vaters, mit dem Ausruf: «Heinrich!» um den Hals flog. Hatte sie doch plötzlich ihren zärtlich geliebten jüngeren Bruder erkannt, der im Auslande seine Studien absolviert hatte, dann längere Zeit gereist war und nun nach langjähriger Abwesenheit ins Vaterland zurückging.

An Schlaf und Ruhe war nun nicht zu denken; aber man bedurfte ihrer auch nicht mehr, da die Freude des Wiedersehens ausreichende Erquickung gab. Man blieb die ganze Nacht im lebhaften Gespräch beisammen, währenddessen mein Vater ein ähnliches, noch in meinem Besitz befindliches Porträt von jenem liebenswürdigen Schwager zustande brachte, den er hier zum ersten und zum letzten Male in seinem Leben sah.

«Wäre Heinrich weniger ritterlich gewesen», schrieb meine Mutter nach Hause, «so wären wir uns vorbeigereist, obgleich wir unter einem und demselben Dache waren.»

Mir freilich wäre das damals gleich gewesen und Leno vielleicht auch, denn wir beide hatten nichts von dieser Begegnung. Ich war unter dem Gesange des treuen Mädchens bald entschlummert, und da die sehr Ermüdete der Natur nun gleichfalls ihren Zoll entrichtete, konnte es geschehen, daß ich gegen Morgen mit schrecklichem Gepolter aus dem Bette fiel. Da war der Teufel wieder los. Ich schrie wie am Spieße, ward auch schreiend in den Wagen getragen und schrie den ganzen folgenden Tag bis nach Berlin, wo uns der später als politischer Schriftsteller so bekannt gewordene und meinem Vater sehr befreundete Friedrich Gentz in seinem Hause gastlich aufnahm. Daß ich ihm ein sehr erwünschter Zuwachs seiner häuslichen Freuden gewesen, muß ich bezweifeln, denn trotz der Ruhe und sorgsamsten Pflege, die man mir angedeihen ließ, schrie ich doch ohne Unterbrechung, daß die Fenster klirrten. Die sehr besorgten Eltern konnten kaum anders denken, als daß ich mir ein Glied zerbrochen hätte, aber der herbeigerufene Hufeland erklärte tröstend, daß dies Schreien nicht vom Fall herrühre, sondern nur vom Zahnen: ein Ausspruch, der sich bald bewahrheitete, da schon andern Tags drei Zähne dicht hintereinander hervorbrachen. Damit hatte denn der Greuel ein Ende, und die Reise konnte fortgesetzt werden.

Die Königspfalz[Bearbeiten]

Wir langten endlich alle wohlbehalten zu Rhense am Rhein bei der Mutter meines Vaters, in der alten Wackelburg an. So nannte man im Volke mein großelterliches Haus, in dessen Mauern vorzeiten deutsche Könige residiert haben sollen und auf dessen Territorium auch noch heute der bekannte Königsstuhl steht. Als ich den Rhein sah, entzückte mich der große Strom dermaßen, daß ich, während die andern sich umarmten, mit ausgebreiteten Armen geradeswegs hineinlief. Die gute Leno aber sprang mir nach bis an den Gürtel und rettete mich mit eigener Gefahr.

Sonst weiß ich herzlich wenig von jener Zeit. Die Großmutter besaß Weinberge, Gärten, Feld und Wald. Da ward herumgezogen mit Geschwistern und Verwandten meines Vaters, gegessen und getrunken, gesungen und geklungen. Man machte Rheinpartien und dehnte solche Exkursionen, um alte Freunde zu besuchen, bis Mainz und Köln aus. Außerdem kopierte mein Vater für sich eine Sammlung von etwa zwanzig alten Familienbildern, die sich im Saal der Wackelburg noch fanden, und meine Mutter widmete sich mit demütig kindlicher Unterordnung der Unterhaltung und Pflege ihrer geliebten alten Schwiegermutter.

Etwa dreiviertel Jahre mochte man auf diese Weise in Rhense verlebt haben, als meine Großmutter auf den Tod erkrankte. Sie war bis dahin immer kerngesund gewesen, und meine Mutter bewunderte die Stille und Ergebung, mit denen sie jetzt dem Tode ins Auge sah. Da sie so schwach und sterbend war, brachte ich ihr Schneeglöcklein auf ihr Bett. Sie reichte mir die Hand und sagte: «Gelt, Wilhelm, im Himmel sehen wir uns wieder?» Da schlug ich unbedenklich ein und sagte: «Ja, Großmama!» Ich hoffe auch, daß mein Erlöser sein Fiat unter diesen Kontrakt gesetzt habe.

Nachdem die Lebenskraft der Sterbenden erloschen, schien sie sanft einschlafen zu wollen. Da schrie der Priester, der nach katholischem Ritus die Sterbegebete verrichtete, ihr zu wiederholten Malen und mit gellender Stimme in die Ohren: «Verstehen Sie mich auch noch, Frau Kammerrätin?» wodurch sie wieder aufgeschreckt und, unfähig zu leben und zu sterben, in so peinliche Unruhe geriet, daß ihr Todeskampf um ganze vierundzwanzig Stunden verlängert schien. An dem Eindrucke dieser bornierten Barbarei hatte meine Mutter ihr lebelang zu tragen, und oft pflegte sie zu sagen, wie man bei Sterbenden sich jedes Geräusches, selbst des lauten Weinens, zu enthalten habe, und wie grausam es sei, den Tod zu stören.

Mein Vater war damals nicht gegenwärtig. Er hatte einen Abstecher nach Paris gemacht, um die von Napoleon zusammengeraubten Kunstschätze in Augenschein zu nehmen, als die Nachricht von dem bedenklichen Erkranken seiner Mutter ihn zurückrief. Bei seiner Ankunft fand er sie tot, und da ihm ohnedies sein Vaterland durch die Franzosenwirtschaft und mehr noch durch die französischen Sympathien seiner Landsleute verleidet war, entschloß er sich, für die noch übrige Zeit seines deutschen Aufenthaltes nach Dresden zu gehen, dessen Kunstschätze ihn anzogen.

Er ordnete noch mit den Geschwistern den Nachlaß der Mutter und machte sich dann mit den Seinigen davon. Man weilte längere Zeit in Schlangenbad, das meiner Mutter gut tat, und auch in Weimar, wo interessante Bekanntschaften angeknüpft wurden. Von alledem weiß ich nichts mehr, erinnere mich aber einer Zeit, da ich von dem Totaleindrucke, den jene Reise auf mich machte, namentlich von dem dumpfen Dröhnen des verschlossenen Wagens, noch Bewußtsein hatte, sowie mir auch ein schwaches, aber sehr liebliches Bild von der seligen Großmutter geblieben war, das sich später verwischt hat.

2. Vor dem Seetore[Bearbeiten]

In Dresden mieteten meine Eltern die erste Etage des Döpmannschen Hauses, das vor dem Seetore in der «halben Gasse» gelegen war. Diese halbe Gasse führt den Namen mit der Tat, denn sie erfreute sich nur einer Reihe Häuser, die eben deswegen freie Aussicht auf die gegenüberliegenden Gärten gewährten, und meine Mutter, die, auf dem Lande aufgewachsen, städtischem Lärm abhold war, fühlte sich wohl in dieser blühenden Umgebung. Die Besitzerin des Hauses, eine Witwe Döpmann, trieb Landwirtschaft, hielt Pferde, Kühe, Schweine und Geflügel, wodurch der Aufenthalt im Hofe für mich genußreich wurde. Aus dem Hofe trat man in den Garten, der von der Katzbach, einem schmalen, aber tiefen Wasser durchschnitten war. Diesseits des Wassers war ein ausgedehntes Gemüsewesen, jenseits Wiesen, Obstbäume und Gebüsch. Über die alte Gartenmauer erhob sich aus Holundersträuchern ein Lusthaus, und daneben führte ein Pförtchen aufs Feld hinaus und weiter nach den Höhen von Recknitz und Plauen.

Noch steht mir das alles in so zauberischem Lichte vor der Seele, als wäre es ein rechtes Paradies gewesen, und das war es auch. Es war der schöne Garten Eden, in welchem ich den Morgentraum der ersten Kindheit träumte.

Meine erste, einigermaßen deutliche Erinnerung beginnt mit dem 20. November 1805, an welchem Tage ich drei Jahre alt wurde. Als ich am Morgen die Augen aufschlug, strahlten mich drei kleine Wachskerzen an, die auf weißgedecktem, mit Immergrün garniertem Tische um einen prachtvollen Kuchen standen. Daneben lagen bunte Sachen, unter denen mir eine Arche Noah und besonders ein Bilderbuch erinnerlich ist, dessen Hauptstück den Onkel Nachtwächter mit Spieß und Laterne zeigte. Das Entzücken, das ich empfand, mag Ursache der Unvergeßlichkeit jenes großen Augenblicks gewesen sein. Meine Mutter gab mir die Hand und sagte, daß mein Geburtstag sei. Dann wusch sie mich, scheitelte mir das Haar mit Sorgfalt und kleidete mich an. Der offenen Weste wurde ein Paar weite Hosen angenestelt, die hinten offen und mit Schleifen versehen waren; darüber kam ein türkischer Spenzer mit kurzen Ärmeln und an die Füße ein Paar Schnallenschuhe. So war der Anzug vollendet, der übrigens im Sommer wie im Winter Hals, Brust und Arme bloß ließ.

Nichts in der Welt ist Kindern schmeichelhafter, als sich bei allem, was Pflege heißt, in der Hand der Mutter zu wissen; mir wenigstens war es ein Hochgenuß, wenn meine Mutter mich selbst anzog oder mich zu Bette brachte, was sie auch in der Regel tat, wenigstens solange ich noch das einzige Kind blieb. Später freilich mußte ich es mir gefallen lassen, daß mir dergleichen Dienste von einer Kinderfrau geleistet wurden, welche Frau Venus hieß. Diesen hochberühmten Namen führte sie übrigens keineswegs wegen irgendeiner Ähnlichkeit mit jener Göttin, sondern bloß deshalb, weil ihr seliger Eheherr «Herr Venus» geheißen hatte.

Frau Venus war eine ehrsame Witwe und wurde bisweilen von ihren beiden Söhnen besucht, welche, obgleich bedeutend älter als ich, doch ganz willig mit mir spielten. «Die anderen Jungens», wie ich sie im Gegensatze zu mir selber nannte, waren meine ersten Freunde. Ich bewunderte ihre Kraft und Unerschrockenheit, und ich liebte es, mich in ihrer Gesellschaft auf der Straße zu zeigen; doch entwuchsen sie mir schnell, und ich verlor sie wieder aus den Augen.

Näher stand mir bald ein anderer Knabe von meinem Alter, mit dem ich fortan täglich spielte. Seine Mutter, die Witwe eines Predigers aus dem Erzgebirge, namens Engelhard, welcher auf einer winterlichen Berufswanderung seinen Tod im Schnee gefunden hatte, war ebenfalls ins Döpmannsche Haus gezogen, wo sie, wie eine rechte Witwe, still und eingezogen lebte und sich und ihren Sohn mit Strohhutflechten ernährte.

Mein Freund Ludwig Engelhard erschien mir in jeder Hinsicht vorzüglicher als ich und als die anderen Jungens, denn meine Mutter stellte mir ihn stets als Beispiel vor. Ich schloß mich ihm daher sehr herzlich an, und wir verkehrten miteinander aufs verträglichste. Nur eines einzigen Streites entsinne ich mich, der auch sogleich in Prügelei ausartete; und allerdings war es empörend, wenn Ludwig behaupten wollte, daß sein Vater den meinigen wie nichts bezwungen haben würde, wenn er noch lebte – meinen Vater! mein Ideal von Kraft und Würde! Frau Venus riß uns auseinander, und Ludwig ging zerzaust zu seiner Mutter. Die meinige aber stellte mir das begangene Unrecht so beweglich vor und wußte mich dermaßen zu erweichen – zumal sie mir zu bedenken gab, wie so gar elendiglich der Vater des armen Jungen im Schnee erstickt sei –, daß ich, von Leno geleitet, reumütig zu Engelhards hinausging und wegen meiner Heftigkeit Abbitte tat. Seit der Zeit waren wir erst rechte Freunde, und überhaupt gibt's keine wahre Freundschaft, die sich nicht erst wund gerissen und wieder ausgeheilt hätte an dem Bewußtsein gesühnter Schuld.

Zur Sommerzeit spielten wir, von Leno und, seit diese in die Küche avanciert war, von Frau Venus beaufsichtigt, in Hof und Garten; im Winter war das Zimmer meiner Mutter oder die angrenzende Kinderstube unser Tummelplatz. Hier stellten wir unsere Tiere auf, kutschten, balgten und, was uns ganz besonders Vergnügen machte, hier «schinderten» wir auch. Dies «Schindern» ist ein Dresdner Ausdruck, den mich, sowie die ganze Sache, Ludwig lehrte, und bedeutet soviel als auf dem Eise hingleiten. Nun war im Kinderzimmer zwar kein Eis; wir hatten aber zum Verdruß der Kinderfrau eine Planke der Diele durch fleißiges Glitschen so abgeglättet und poliert, daß sie von Erwachsenen nur mit Vorsicht betreten werden konnte. Diese Planke nannten wir «die Schinder», und noch sehe ich meinen Freund Ludwig, wie er mit hochgerötetem Gesicht und fliegenden Haaren als Meister darauf hinglitt. Auf diese Weise lernte ich frühzeitig, noch ehe ich aufs Eis kam, mich darauf behaben, ähnlich wie man in französischen Schwimmschulen ohne Wasser schwimmen lernt.

Paradiesespforten[Bearbeiten]

Wenn wir im Garten spielten, schloß sich uns häufig als Dritter im Bunde noch ein kleiner Barfüßler von unserem Alter, der Sohn des Gärtners, an. Er hieß Fritz Pezold und gewann durch folgenden Vorfall für mich Bedeutung.

Eines schönen Morgens nämlich weiß ich nicht, wo Frau Venus hingekommen war, genug, sie ließ uns ohne Aufsicht; wir aber amüsierten uns mit einigen zugelaufenen Nachbarskindern, welkes Laub auszulesen und dieses über das Geländer der kleinen Brücke in die Katzbach zu werfen. Dann liefen wir einige dreißig Schritte abwärts, wo zum Behuf des Wasserschöpfens an tiefer Stelle ein schmales Brett über den Bach gelegt war, um, auf diesem kauernd, die kleinen goldenen Schiffchen wieder aufzufangen. Mit welchem Eifer wir dies trieben und wie wir dabei schrien und uns erhitzten, wird jeder ermessen können, der auch einmal ein kleiner Junge war. Ich war den anderen vorausgeeilt und hockte bereits jubelnd auf dem schwanken Stege, als dieser umschlug und ich kopfüber ins Wasser schoß. Die erschrockenen Freunde stoben auseinander, verschwanden durch Hecken und Zäune, wo sie hergekommen waren, und ich selbst gab mich sogleich verloren.

Nicht so Fritz Pezold. In dem Augenblicke, als ich versank, sprang er entschlossen auf den Steg, griff in die Tiefe, packte meine Haare und schrie, daß ihm die Lungen bersten wollten, nach seinem Vater. Zwar brachte er mich mit dem Kopfe übers Wasser, doch nicht weiter, und ich dachte jeden Augenblick samt meinem Freunde zu ertrinken, denn das kleine Brettchen schwankte hin und wieder wie eine Schaukel.

Dennoch erinnere ich mich sehr deutlich, daß ich keine Angst empfand, mich vielmehr freute, nun alsogleich in den Himmel einzugehen und mit meiner lieblichen Schwester Maria vereint zu werden. Fast glaube ich, daß ich bereits Wasser geschluckt hatte und halb tot war, denn ich verhielt mich völlig leidend und tat selbst nicht das geringste zu meiner Rettung. Aber das weiß ich, daß mir's zumute war wie Kindern, die am Weihnachtsabend in dunkler Kammer an der Türe drängen: gleich wird sie aufgehen und der Baum in seinem Glanze stehen.

Indessen sollten mir die Paradiesespforten noch verschlossen bleiben, und der Cherub, der den Eintritt wehrte, war Fritz Pezold. Sein Mark und Bein durchdringendes Zetergeschrei hatte endlich das Ohr des Vaters erreicht, der nun wie ein angeschossener Kater mit weiten Sätzen über seine Gemüsebeete herbeiflog und mich herauszog. Triefend und mit schwarzem Schlamm überzogen, hing ich wie ein erschlagener kleiner Maulwurf in seinen Händen, als er mich den Eltern brachte.

Ob diese Lebensrettung ein Glück für mich gewesen, muß ich dahingestellt sein lassen, da allerdings Fritz Pezold die Regel meiner Mutter gröblich übertreten hatte; denn nicht nur hatte er überlaut geschrien bei einem Sterbenden, sondern diesen sogar bei den Haaren gerauft. Die Mutter war freilich deshalb nichts weniger als ungehalten, beschenkte vielmehr den guten Jungen nach ihren Kräften, und unsere Kinderherzen blieben lange treu verbunden.

Halluzinationen[Bearbeiten]

In reiferen Jahren sind Altersgenossen die genußreichsten Gefährten; in der Kindheit keineswegs; man gibt und nimmt zu wenig voneinander. Daher schließen sich Kinder auch am liebsten an Erwachsene an, wo sie bei diesen nur einige Neigung finden, sich mit ihnen zu bemengen. Solche Neigung aber zeigten mir zwei treffliche Mitbewohner unseres Hauses.

Es war ein großer Vorteil dieses Hauses, daß unsere besten Freunde gleich mit darin wohnten, und zwar nicht nur kleine Leute, wie Ludwig Engelhard und Fritz Pezold, sondern auch solche, an denen sogar die Eltern aufzusehen hatten. Ich nenne hier zuvörderst den nachmals durch seine Schriften sehr bekannt gewordenen Naturphilosophen Gotthilf Heinrich Schubert, welcher sich als junger Ehemann mit seiner Frau und seinem kleinen Töchterchen Selma damals vorübergehend in Dresden aufhielt. Schubert wohnte gerade über uns, und im täglichen Verkehr der Hausgenossen gestaltete sich eine Freundschaft, welche bis ans Grab gehalten hat und an welcher auch ich mein Teilchen fand. Wer jenen überaus liebenswürdigen Gelehrten, namentlich in jüngeren Jahren, gekannt hat, wird es begreifen, daß ein kleiner Junge mit schwärmerischer Neigung an ihm hängen konnte. Oft saß ich stundenlang mit Selma auf seinen Knien, den wundersamen Geschichten horchend, die er zum besten gab; dann wieder lehrte er mich Purzelbäume schießen, oder ich ritt auf seinen breiten Schultern und schrie Zeter, wenn er mit mir durch den Garten raste.

Ein zweiter, ebenfalls literarischer Hausgenosse, den meine Eltern schon von Petersburg her kannten, wo er sich früher als Erzieher aufgehalten, hieß Onkel Lais. Obgleich noch ein junger Mann, lebte Lais kränklichkeitshalber doch sehr zurückgezogen. In seinem Dachstübchen war er immer anzutreffen, studierend oder für Journale schreibend; in Mußestunden aber oder des Abends suchte er Aufheiterung in unserem Familienkreise und gab sich dann namentlich gern mit mir ab. Er machte Feuerwerk, Papierlaternen, Drachen, lehrte mich Kartenschlösser bauen, mit der Armbrust schießen und dergleichen Kurzweil mehr. Das Beste entstand jedoch an traulichen Winterabenden. Während meine Mutter vorlas und mein Vater kleine Götter- und Heroengestalten aus Wachs modellierte, pappte Lais für mich eine elegante Ritterrüstung, die er mit Silberpapier beklebte und welche sehr viel schöner ausfiel als alles, was man damals für Geld kaufen konnte. Dazu wurden Schwert und Lanze und ein ausgelassenes Steckenpferd gefertigt, das nur mit Mühe zu regieren war.

So ausgerüstet pflegte Onkel Lais den jungen Ritter des Abends durch dunkle Zimmer und Gänge nach den entferntesten Regionen der Wohnung auszusenden, um gewisse Ungeheuer, die sich dort aufhalten sollten, zu erlegen. Dann freute er sich an den lebendig dargestellten Erlebnissen des allezeit siegreich Zurückkehrenden und war unerschöpflich in neuen Aufträgen und Erfindungen.

Meine Mutter warnte des öfteren aus mehrfachem Grunde. Ihr waren die kolossalen Lügen, zu denen ich gewissermaßen genötigt wurde, sehr bedenklich; besonders aber fürchtete sie eine zu frühzeitige Überreizung der Phantasie, wie ihr denn überhaupt jede aufregende Unterhaltung für Kinder nachteilig zu sein schien. Lais bestritt ihre Gründe als Pädagog vom Fach. Er wollte ja nur Mut und Nerven stählen und behauptete, daß das Edelste im Menschen, der schaffende Geist, nicht frühzeitig genug und am besten spielend zu wecken sei. So nahmen denn jene abendlichen Unterhaltungen ihren Fortgang, und Lais teilte schließlich das Schicksal der meisten gelehrten Pädagogen seiner Zeit, indem er so ziemlich das Gegenteil von dem erreichte, was er wollte.

Ich ritt allabendlich meine dunklen Wege mit größter Zuversicht, weil ich sehr wohl wußte, daß alles doch nur Spiel war und die Feinde, die ich zu bestehen hatte, nicht existierten; doch wurde meine Phantasie in unnatürliche Spannung gesetzt, und es fehlte fortan nur ein Anstoß, sie vollends krank zu machen. Diesen herbeizuführen, stand auch Lais nicht lange an.

Als ich eines Abends, von meiner abenteuerlichen Fahrt zurückkehrend, ein dunkles Zimmer zu passieren hatte, barst plötzlich jener Mentor aus einem Verstecke vor, grunzend und auf allen vieren laufend wie ein wilder Eber. Er mochte erwartet haben, daß ich sogleich vom Leder ziehen und ihm zu Leibe gehen würde; statt dessen aber bestand ich die Probe schlecht und hatte fast den Tod vor Schreck. Von da an blieb ich lange Zeit ein Hase. Ich traute mich in kein dunkles Zimmer mehr und war unvermögend, des Abends einzuschlafen oder auch nur in meinem Bette auszudauern, wenn nicht jemand bei mir blieb. Ja mehr noch: das Edelste im Menschen, jener schaffende Geist, war wie mit einem Zauberschlage geweckt; die Bilder meiner Phantasie objektivierten sich, und häufig sah ich mich umgeben von Schreck- und Spukgestalten, die mir das lebhafteste Entsetzen einflößten.

Die erste Erscheinung dieser Art mochte ich von einem Spielzeug, einer unschuldigen kleinen Scheibe, entlehnt haben, nach der ich mit der Armbrust schoß. Traf ich ins Schwarze, so sprang, durch eine Feder aufgeschnellt, ein greulicher Rüpel hervor mit fletschenden Zähnen und blutroter Zunge. Diesen nun sah ich bald nach jener Schreckensstunde, als mich Frau Venus auszog, lebensgroß und mit drohender Gebärde hinter den Fensterscheiben des Schlafzimmers aufsteigen. Ich schrie auf und barg mein Gesicht in den Schoß der Wärterin, welche, ihrerseits nicht wissend, was mir fehlte, mich zur Mutter trug. Beide hatten genug zu tun, mich einigermaßen zu beruhigen. Von nun an fürchtete ich mich oft den ganzen Tag vor der Stunde des Zubettgehens, da entsetzliche Phantome mich selbst im Beisein anderer schreckten.

Ganz unvergeßlich in dieser Beziehung ist mir eine Nacht geblieben, deren Eindrücke und Gesichte mir noch heute nach 56 Jahren so lebendig vorschweben, wie wenn alles erst gestern vorgefallen wäre. Mitten in der Nacht erwachte ich und schlug die Augen auf. Das Nachtlicht war erloschen, doch konnte ich die Umrisse der Dinge deutlich sehen. Mir zunächst standen die Betten meiner Eltern, welche, von einem gemeinschaftlichen Vorhange umzogen, ein besonderes Sanktuarium im Schlafzimmer darstellten. Hinter der halb verschobenen Gardine unterschied ich noch die Züge des mir zunächst liegenden Vaters.

Bald aber unterschied ich auch noch etwas ganz anderes. Unter dem Bette der Eltern begann es sich zu regen und zu bewegen – und siehe da! – ein scheußliches Gesicht erschien: das eines Bären. Dann folgte eine ungeheure Tatze, und im Umsehen war die ganze Ungestalt des Raubtieres vorgekrochen. Ihm folgten andere Tiere, und es war unglaublich, was aus dem engen Raume unter den Betten alles vorquoll. Da waren Wölfe, Panther, Löwen, Vielfraße, Ameisenlöwen, Dachse, ja der ganze Inhalt meiner Arche Noä war zu natürlicher Größe angeschwollen.

Das größte Entsetzen flößte mir ein Kalb ein. Es nahte sich meinem Bett auf sehr bedenkliche Weise, und die Schandtat sah ihm aus den Augen. Ich wollte schreien; doch mußte ich fürchten, mich dieser Bestie nicht noch bemerklicher zu machen, und hielt ein Weilchen an mich. Bald aber steigerte sich die Angst dermaßen, daß ich, mit Hintansetzung aller klugen Rücksicht, dennoch laut und vernehmlich in die Lärmtrompete stieß.

Mein guter Vater hatte sich in der Regel während des Tages so weidlich abgearbeitet, daß er einer ungestörten Nachtruhe sehr bedürftig sein mochte; doch schalt er nicht, suchte mich vielmehr sehr freundlich zu beruhigen. Ich hätte geträumt, sagte er, und weiter wäre es nichts.

Das fatale Kalb aber strafte ihn Lügen: es drängte immer näher und glotzte mich jetzt mit mehr als Kalbsaugen an. Da schrie ich laut, und der Vater verließ das Bett, um Licht zu machen. Zu diesem Behufe mußte er aber, weil kein Feuerzeug vorhanden, ins Nebenzimmer gehen, und als ich nun die väterliche Gestalt im kurzen Hemdchen durch das Gedränge der Quadrupeden hinschreiten sah, vergaß ich über der seinigen die eigene Gefahr und bat ihn flehentlich, zurückzukommen.

Da! – hatte ich's der ruchlosen Bestie doch gleich angesehen: das Kalb sprang zu, und in dem Augenblicke, als der teure Vater die Klinke ergriff, um die Türe zu öffnen, schnappte es nach ihm und biß ihn mitten durch. Der ganze Oberkörper, samt Hemd und Nachtmütze, sank lautlos zur Erde nieder, die Beine aber entwischten mit besonderer Behendigkeit durch die sich rasch wieder schließende Türe.

Nun brach der gerechteste Schmerz bei mir erst recht aus, so daß die Mutter, welche mittlerweile ebenfalls aufgestanden war, mich tröstend in die Arme schloß. Aber was konnte das jetzt helfen? Da lag er ja, der unvergleichliche Vater, mitten durchgebissen drei Schritt vor uns am Boden, beschnopert von dem siegreichen Kalbe, das alle Neigung zeigte, ihn vollends zu verschlingen. Die Mutter zwar wollte es in Abrede stellen; aber gegen den Augenschein ist schlecht predigen. Wir stritten lebhaft, bis sich die Türe wieder auftat, und der ganze, vollständigst gegliederte Vater im blendendsten Lichtschein eintrat.

Freudigeres Entzücken erinnere ich mich später niemals wieder empfunden zu haben. Mit dem hellen Glanz des Lichtes war der ganze Spuk verschwunden: ich hatte meinen geliebten Vater wieder und entschlummerte süß an seiner Seite.

Gegen Gespensterglauben pflegen Gouvernanten einzuwenden, daß sinnliches Erkennen nur möglich sei von sinnlichen Objekten, und Geister demnach nicht wahrgenommen werden könnten. Hier aber war ein noch viel größeres Mirakel, da die Geister, die ich mit eigenen Augen zu sehen kriegte, gar nicht einmal existierten.

Welche Bewandtnis es übrigens in Wahrheit mit alledem haben mag, was wir als objektive, das heißt gegenständliche Welt betrachten, das ist noch gar nicht ausgemacht und wird es wahrscheinlich auch niemals werden. Die alte tiefsinnige Philosophie der Inder bezeichnet den gesamten Inbegriff der Äußerlichkeit oder Leiblichkeit mit dem Worte «Maya», welches nichts anderes heißt als Täuschung, und wenn alle Religionen, wie auch die meisten wissenschaftlichen Systeme der Neuzeit, darin übereinstimmen, daß die Welt aus nichts geschaffen sei, so wird das ungefähr dasselbe heißen und die Folgerung ganz richtig sein, daß aus nichts nichts wird, es sei denn etwa eine Maya. So läge denn der Unterschied zwischen dem Kalbe, das dort beim Fleischer aushängt, und jenem nächtlichen Gespenste, das mich erschreckte, wesentlich nur darin, daß ersteres aus einer allgemeinen, das andere nur aus einer speziellen, das heißt hier subjektiven Täuschung resultierte.

Doch dem sei, wie ihm wolle: immerhin mag angenommen werden, daß die schöpferische Tätigkeit des aus Gott emanierten Menschengeistes in Fällen wie der meinige ihre gesetzlichen Schranken momentan durchbrochen habe. Sie arbeitet dann gewissermaßen außerhalb der ihr angewiesenen Werkstatt, eine nichtige, nur von ihr selbst erkannte Welt erzeugend. Andauerndes Verharren in solcher Tätigkeit ist Wahnsinn.

Mich trug indes die Schonung meiner Eltern sanft über jene Klippen, und später bin ich von dergleichen schöpferischen Zufällen gänzlich frei geblieben.

3. Der Komet von 1806[Bearbeiten]

Wenn ich nun im vorigen Kapitel meiner Altersgenossen und väterlichen Freunde gedacht habe, zu denen allen ich mit einiger Bewunderung aufschaute, so wird's nun Zeit, auch von einem jüngeren zu berichten, der seinerseits zu mir aufschaute; und nur deshalb habe ich bis dahin meinen lieben Bruder Gerhard ignoriert, weil ich mich seines Eintrittes in die Familie nicht entsinne. Er taucht vielmehr in meiner Erinnerung ganz ohne Anfang auf, war da, wie auch ich da war, und schien sich ganz von selbst zu verstehen wie ein kategorischer Imperativ.

Proportioniert wie Raffaelische Kindergestalten mit starken Gliedern und vollen roten Backen, war er etwa drittehalb Jahr jünger als ich, entwickelte sich aber bei weitem kräftiger und schneller. Als er zehn Monate alt war, entdeckte man zufällig, daß er laufen konnte, und zwar ohne alles vorhergegangene Studium. Ein Fremder, der ihn seiner Größe wegen für zweijährig hielt, setzte ihn, da er ihm auf dem Schoße beschwerlich ward, ohne weiteres auf die Füße, und die erschrockene Mutter, welche glaubte, daß er fallen würde, war nicht wenig erstaunt, den kleinen Stöpsel ganz selbständig fortpilgern zu sehen.

Die Geburt dieses Bruders war übrigens wie der Aufgang eines kriegbringenden Kometen gewesen. Im Mai des Jahres 1806 hatte er das Licht der Welt erblickt, und schon im Oktober desselben Jahres übten die kriegerischen Ereignisse der Zeit den ersten Stoß auf Dresden.

Es war ein schöner Herbsttag, als mein Vater nach seiner Windbüchse langte und mit mir in den Garten ging, um Sperlinge oder anderes vogelfreie Geflügel zu erlegen, was er des öftern tat. Er war ein großer Schütze, nicht weniger mit der Büchse als mit dem Pinsel, denn ob er gleich nur mit Kugeln schoß, fehlte er sein Vögelchen nur selten.

Heute aber wollte sich keines zeigen, daher beschlossen wurde, den Garten zu verlassen und aufs Feld zu gehen, wo man bisweilen Krähen antraf. Still und wild durchschlichen wir die kleine Pforte in der Mauer und spähten ringsumher. Krähen waren nicht da – aber etwas ganz anderes nahm die Aufmerksamkeit in Anspruch. Mein Vater horchte auf; dann streckte er sich nieder auf den Feldrain und schien, mit dem Ohr am Boden, diesem ein Geheimnis abzufragen. Ich machte natürlich alles nach und empfand mehr, als daß ich's hörte, ein Zittern des Bodens, ein seltsames dumpfes Dröhnen, das sich periodisch wiederholte.

«Das sind Kanonen», sagte der Vater, warf die Büchse auf den Rücken und ging mit mir zur Mutter.

Es war eine große, verhängnisvolle Schlacht, deren fernes Grollen wir vernommen hatten: die Schlacht von Jena. Bald kannte man das Resultat in Dresden, und der erschrockenen Bevölkerung ward Plünderung angesagt durch ein im Anmarsch begriffenes Korps von Bayern.

Da hielten meine Eltern sich in ihrer exponierten Wohnung nicht mehr sicher und beeilten sich, inmitten der Altstadt ein anderes Logis zu mieten, welches an der Kreuzkirche gelegen war. Ich war beim Vater, der im neuen Hause die von der Mutter fortwährend expedierten Sachen empfing und ordnete. Da man indessen bei dem allgemeinen Trubel wenig auf mich acht hatte, so konnte es geschehen, daß ich plötzlich fort war.

Mein Vater glaubte, ich sei nach Hause gelaufen, und als er mich dort nicht vorfand, beauftragte er die Packträger, mich zu suchen, durchrannte in seiner Besorgnis auch selbst die Stadt nach allen Richtungen. In der Tat mag seine Verlegenheit nicht ganz gering gewesen sein. Ich konnte Schaden nehmen, der Umzug geriet ins Stocken, und Hannibal stand vor den Toren. Wenn er daher gesonnen war, mich mit ein paar tüchtigen Ohrfeigen zu begrüßen, so war das wohl erklärlich. Als er mich aber endlich auf dem Neumarkt fand, und zwar laut singend und vor Entzücken über das Durcheinander von Vieh und Menschen in die Hände klatschend, fing er an zu lachen und hatte mir die Desertion verziehen.

Es war indes nichts weniger als ungünstig gewesen, daß unser Umzug sich durch diesen Zwischenfall verzögert hatte, da er überhaupt nun unnütz wurde. Der Kurfürst hatte sich mittlerweile beeilt, in Napoleons Bundesgenossenschaft einzutreten, und die erwartete bayerische Kavallerie zog friedlich ein.

Mir schenkte damals Onkel Lais eine als bayerischen Ulanen kostümierte Puppe, gar vollständig und schön mit der ganzen Armatur. Mein Vater aber erlaubte mir, diesen Balg zu töten als einen Franzosenfreund und lieh mir dazu seinen Stocksäbel, mit dem er auch zerhauen wurde. Unendlich viele Kleie strömte zu meiner Verwunderung aus den Wunden. Solche Begebenheit ist gefeiert worden auf einem lebensgroßen, mich und meinen unvordenklichen Bruder darstellenden Bilde, welches mein Vater in jener Zeit malte und ich noch besitze. Der Bruder ist sitzend auf einem Kissen abgebildet, ein ausgestopftes Lämmchen, das sein Entzücken war, an die Brust drückend. Ich dagegen stehe hinter ihm, entschlossen, den Bayern mit einem ungeheuren Säbel abzutun.

Dienstboten[Bearbeiten]

Es schien, als ob mein guter Vater damals durch doppelt angestrengten Fleiß die Unruhe zu beschwichtigen gesucht hätte, die ihm das Schicksal seines deutschen Vaterlandes machte, denn fast gleichzeitig mit jenem Familienbilde führte er noch mehrere große akademische Stücke aus, deren allgemeine Anerkennung ihn in die erste Reihe der Künstler seiner Zeit stellte. Als Richtmaß und Regulatoren für seinen Geschmack benutzte er die ungewöhnlich reichen Dresdner Sammlungen, in denen er seine Augen häufig stärkte, und wo er Natur brauchte, bediente er sich eines schönen jungen Mannes von den Gardegrenadieren, den ich ebenfalls zu meinen nächsten Freunden zählte. Er hieß Talkenberg, und weil er sich gescheit und anhänglich zeigte, wurde er, soweit sein Dienst es gestattete, auch zu andern Dingen verwendet und gab den Aufwärter in unserem Hause ab.

Mir gefiel dieser Mars sehr wohl wegen seines freundlichen Gesichtes, seiner scharlachroten Uniform und blank geputzten Waffen, so daß ich mich stets freute, wenn ich ihm zum Behufe des Spazierengehens anvertraut ward. Er nahm mich dann gesellig bei der Hand und, neben ihm hertrabend wie eine Bachstelze neben einem Reiher, war ich stolz auf meinen herrlichen Begleiter, der mir lustige Geschichten erzählte, mich Steine werfen lehrte und Sperlinge mit Salz beschleichen. Weniger schmeichelhaft war seine Neigung, sich auf die Finger zu spucken und Katzenwäsche mit mir anzustellen, wenn er mich an Händen oder Gesicht beschmutzt sah. Da ich dies aber Leno klagte, in die er sehr verliebt war, nahm sie ihn dergestalt ins Gebet, daß er in sich schlug und fortan von solchem Laster abstand.

Bald nach dieser mir erwiesenen Wohltat schied das gute Mädchen für Niemalswiedersehen aus unserem Hause. Meine Mutter hatte sie einst von ihrem Vater als Leibeigene zum Geburtsgeschenk erhalten, sie sorgfältig für ihren Stand erzogen und sie immer als zur Familie gehörig betrachtet, wie denn überhaupt in angestammter Leibeigenschaft ein Band zu liegen scheint, das leiblicher Verwandtschaft ähnelt. Es ging ihr wohl bei uns, und gesetzt, dies wäre nicht der Fall gewesen, so war sie in Sachsen immer in der Lage, sich loszuketten, denn sie stand hier unter dem Schutz eines Gesetzes, das von Sklaverei nichts wußte. Auch fehlte es ihr keineswegs an Freunden, die jeden Augenblick geneigt waren, Gut und Blut mit ihr zu teilen, da nicht allein Talkenberg ihr den Hof machte (was wenig sagen wollte), sondern auch ein paar achtbare Handwerker, die für unser Haus arbeiteten, keinen Anstand nahmen, wiederholt um sie zu werben.

Wunderlicherweise aber schlug sie alles aus und hatte nur den einen und einzigsten Gedanken, nach Estland zurückzukehren, wo sie wieder Sklavin geworden wäre und nicht einmal mehr Angehörige hatte, denn sie war als elternlose Waise auf den Harmschen Hof gekommen. Leno war eben heimwehkrank geworden und drohte jener aller Vernunft spottenden Sehnsucht zu erliegen, die um so heftiger ist, je weniger Grund sie hat, indem sie vorzugsweise die Bewohner wilder und unfruchtbarer Gegenden anpackt. Nicht nur Schweizer, auch Finnen, Lappen, Kamtschadalen und Eskimos, das sind die Leute, die bei uns im Mittelpunkte der Zivilisation vor Heimweh sterben, während Deutsche in den rohsten Ländern prosperieren. So zeichnen sich auch die Esten durch eine krankhafte Abhängigkeit von den Einflüssen ihres abgelegenen Landes aus, das, etwa wie Dänemark für die Dänen, für sie die Welt ist oder das All und daher auch gar keinen Namen hat. Der Este nennt sein Land ganz einfach «Me», das heißt überhaupt Land, hier das Land der Länder, so wie die Bibel auch keinen anderen Namen hat als das Buch, weil sie das Buch der Bücher ist.

Nun war mein Vater zwar nur für kurze Zeit nach Deutschland gekommen, und obgleich sein Aufenthalt sich unerwartet verlängert hatte, war doch die Idee, demnächst zurückzukehren, nichts weniger als aufgegeben. Die Eltern lebten in Dresden gewissermaßen auf reisendem Fuße, und von der Rückreise war stets die Rede. Ja, mein Vater hatte sogar schon seinen strohgelben Wagen durch den auf der Seegasse wohnenden – als Astronom wie als Wagenbauer gleichberühmten – Sattlermeister Eule vergrößern und in eine viersitzige Karosse umwandeln lassen, um für die anwachsende Familie Raum zu schaffen. Da nötigte ihn der Krieg in Preußen, die projektierte Reise wieder aufs Ungewisse hinauszuschieben.

Leno, mit dem Bohrwurm ihres Heimwehs am Herzen, hatte eben wie wir anderen den neuen, jetzt dotterfarbigen Wagen in Augenschein genommen und geprüft. Sie hatte sich auf den Bock geschwungen und mit dem ganzen Gesicht geleuchtet, als blicke sie schon ins Land der Länder. Aber als meine Mutter ihr nun ankündigen mußte, daß so bald nichts aus der Reise werden könne, war sie in ihrem Gemüt und Wesen wie zerbrochen und machte ernstlich Sorge. Der armen Mutter selbst mochte es kaum weniger schmerzlich sein, ihren liebsten Wünschen zu entsagen; aber sie schickte sich in die Notwendigkeit und fand für ihre Leno einen Ausweg.

Meine Eltern verkehrten damals häufig mit einer livländischen Familie von Löwenstern, die ein Landhaus in Brießnitz bewohnte. Wenn wir bei ihnen waren, gab es immer allerlei Lustbarkeiten, kleine Elbfahrten, Illumination des Gartens, Feuerwerk und dergleichen Dinge, die ganz meinen Beifall hatten. Meiner nahmen sich dann besonders die Töchter des Hauses an, schöne junge Mädchen, die mich mit Süßigkeiten stopften und mit mir spielten. Mit ihnen entsinne ich mich eines Abends ein seltenes Phänomen gesehen zu haben. Es war schon dunkel, als wir vor der Terrasse des Hauses, tief unter uns auf den Elbwiesen, kleine herumschlüpfende Lichter bemerkten, sechs Flämmchen, die bisweilen paarweise, dann wieder auseinanderfahrend, lustig umherschweiften, und zwar mit einer Schnelligkeit wie laufende Menschen. Das seien Irrlichter, sagten die Mädchen, die sähen sie hier öfter. Sie erklärten mir auch die Sache, so gut sie konnten, und sprachen von «fixer Luft», über welchen Ausdruck ich sehr lachen mußte; doch begriff ich schon, daß fixe Luft etwas Apartes sein müsse. Wenn wir uns nicht täuschten, sind dies die ersten und letzten Irrlichter gewesen, die mir in meinem Leben vorgekommen sind.

Löwensterns nun sahen sich genötigt, trotz Krieg und Kriegsgeschrei nach Wolmarshoff, ihrem Stammsitz in Livland, zurückzugehen, und da Frau von Löwenstern zufälligerweise in Verlegenheit um eine Jungfer war, so lag es nah', ihr Leno anzubieten. Meine Mutter wollte diese jedoch nur als freies Mädchen in fremde Hände geben und überraschte sie daher bei ihrem Abzug mit einem in aller Form Rechtens ausgestellten Freibrief.

Daß es Fälle gibt, wo die Erfüllung unserer heißesten Wünsche uns doch aufs schmerzlichste berührt, hätt' ich hier lernen können, denn das arme Mädchen weinte bitterlich, als es unser Haus verließ, und ich und meine Mutter weinten auch. Talkenberg aber begleitete sie, ihre Effekten tragend, zu ihrer neuen Herrschaft. Hier nahm er Gelegenheit, sie bis zu ihrer Abreise noch ab und zu zu sehen, dann aber ging er hin, betrank sich und schmetterte ingrimmig, wie er war, dem Posten an der Hauptwache eine faule Birne ins Gesicht, wofür er zu meinem Leidwesen Stockprügel und Arrest erhielt. Leno fand übrigens ihr Glück in ihrer Heimat. Sie blieb nur kurze Zeit bei Löwensterns und heiratete dann einen wohlhabenden deutschen Bürgersmann in dem Städtchen Wolmar, mit dem sie ein zufriedenes Leben führte.

Ein Hagestolz[Bearbeiten]

Die gerichtliche Ausfertigung des obengenannten Freibriefs hatte meine Eltern in Berührung mit einem Manne gebracht, der bald nebst seiner ganzen Familie zu den besten Freunden unseres Hauses zählte. Dies war der Hofrat Näke, Chef des Dresdner Justizamtes, ein guter, treuer Mensch und sehr geachteter Beamter. Von ihm erzählte man sich folgendes:

Näke stand in früheren Jahren als Justitiarius in Freiberg, war lange Junggesell geblieben und wegen der amtlichen Erfahrungen, die er in Ehesachen gemacht, bei dem Entschlusse angelangt, auch Junggesell zu bleiben. Wie ist es möglich – mochte er denken –, sich für sein ganzes Leben blindlings an ein Ding zu ketten, das man nicht kennt, genau genommen niemals gesehen hat; denn daß die Liebe blind macht, wußten schon die Heiden. Und bliebe man denn wenigstens noch blind; aber zur Unzeit gehen einem doch die Augen auf, und man findet sein Täubchen als Geier wieder, der einem die Leber abfrißt.

Nun trug sich's zu, daß dieser Ehrenmann an einem Weihnachtsabend aus der Kirche kam. Ein kalter Schneesturm tobte durch die Gassen Freibergs, daß man kaum aus den Augen sehen, kaum atmen konnte, daher sich Näke fest in seinen Pelz gewickelt hatte. Wie er nun dem Unwetter entgegen gedankenlos so vor sich hinkämpfte, mochte es sich zutragen, daß sein Blick für einen Augenblick vom Schnee und Eise frei ward: kurz, er bemerkte ein kleines, notdürftig gekleidetes Mädchen, das, vom Sturm um und um gedreht, sich in hilflosester Lage befand. Das Kind hatte, sein Gesangbüchelchen unterm Arme, die Hände in die Schürze gewickelt und schien sich vergebens anzustrengen, gegen die Gewalt des Wetters standzuhalten. Hunderte von Kirchgängern wirbelten teilnahmslos vorüber; unser Freund aber, der trotz seiner abgeschmackten Ehestandsbegriffe doch ein gutes Herz hatte, griff zu, schlug seinen Pelz um die Kleine und führte sie halb, halb trug er sie nach der entlegenen Wohnung, die sie ihm angab. Das Mägdlein war vom Frost so durchgeschüttelt, daß sie kaum reden konnte, doch fühlte Näke ihren Dank auf seiner Hand, die sie mit Inbrunst küßte.

Das arme Würmchen! am heiligen Abend so zu frieren! – Der menschenfreundliche Beamte schickte ihr auf der Stelle zum Weihnachtsangebinde einen Mantel und einen Stollen. Da kam sie denn am andern Morgen, sich zu bedanken – ein überraschend hübsches Mädchen – und war so zutraulich, so niedlich und bescheiden, daß Näke, der sich in eine längere Unterhaltung mit ihr eingelassen, den Vorsatz faßte, sich der elternlosen Waise, die bei unbemittelten Verwandten an allem Mangel litt, tatkräftig anzunehmen. Er setzte sich mit jenen in Vernehmen, und man gestattete es mit Freuden, daß er sein Pflegetöchterchen in einem anständigen, ihm befreundeten Hause unterbrachte und jede weitere Sorge auf sich nahm. Von jetzt an sah sie Näke täglich, leitete selbst ihren Unterricht und schloß die Kleine, welche mit unbegrenzter Liebe und Verehrung an ihrem Wohltäter hing, dermaßen in sein Herz, daß ihm der Gedanke unerträglich wurde, jemals wieder von ihr getrennt zu werden.

Dazu gab es aber nur ein einziges Mittel, und er ergriff es. Als das Töchterchen herangewachsen war, schlug Näke seine Junggesellenweisheit in die Schanze und machte sie zu seiner Frau. Es hat ihn das auch niemals gereut, denn nun wurde sie erst recht zum Stern seines Lebens und lehrte ihn die Möglichkeit von guten Ehen.

Als meine Eltern mit ihm bekannt wurden, war Näke bereits ein Greis, seine Frau aber in noch rüstigen Jahren und immer noch recht hübsch, obgleich sie fünf zum größeren Teile schon erwachsene Kinder hatte, zwei Töchter und drei Söhne. Der Umstand endlich, daß der zweite, sehr talentvolle Sohn, mit Namen Heinrich, sich zum Maler bildete, vermehrte noch die Beziehungen des Näkeschen Hauses zu dem unseren.

Andere Freunde[Bearbeiten]

Überhaupt mochte die damalige Periode in geselliger Beziehung eine der angenehmsten im Leben meiner Eltern sein. Ohne Zwang und Gene verkehrten sie auf herzliche Weise mit den vorzüglichsten und interessantesten Leuten, meist Fremden, die sich zu jener Zeit in Dresden aufhielten, und wie würdig sie eines solchen Umgangs waren, beweist der Umstand, daß fast alle, mit denen sie in Berührung kamen, ihnen auch fürs Leben Freunde blieben.

Ich nenne hier den bekannten Adam Müller, der damals im Verein mit Schubert und Böttiger die schöne Welt mit tiefsinnigen Vorlesungen erbaute, – den liebenswerten Theologen Köthe, Schuberts intimsten Freund, den geistreichen Rühle von Lilienstern, – die Geologen Moritz von Engelhard und Karl von Raumer und den störrigen Wanderer Seume, der zwar eigentlich in Leipzig wohnte, den Weg von da nach Dresden aber als Spaziergang ansah und schneller als die Post zu Fuß durchschritt.

Außer diesen sehr bekannten Männern erinnere ich mich noch mancherlei anderer, weniger namhafter Freunde aus jener Zeit, unter denen ich hier nur noch zweier gedenken will: des Bildhauers Ulrich, der durch ein sonderbares Abenteuer unvergeßlich wurde, und des durch abenteuerliche Sonderbarkeiten aller Art bemerkenswerten Philosophen Dr. Wetzel.

Ulrich, der des Abends viel in unserem Hause war und gern etwas über die Zeit blieb, hatte die Unart an sich, wenn er zur Nachtzeit durch die öden Straßen ging, sein Liedchen, wie ein Gassenjunge, vor sich hin zu pfeifen, und zwar so vernehmlich, daß die anwohnenden Leute aus dem Schlafe fuhren. Da er nun eines Abends spät von uns nach Hause schlenderte und, nach seiner Gewohnheit überlaut pfeifend, die Schloßgasse passierte, geschah es, daß ihm, sehr unvermutet, eine mondsüchtige Person auf den Kopf fiel, oder vielmehr in seine unwillkürlich ausgebreiteten Arme, und ihn zu Boden riß. Es sei gewesen, erzählte er, als er andern Tages krank lag, als wenn einer von einer Bombe getroffen werde, nur mit dem Unterschiede, daß diese nicht krepiert wäre, und er auch nicht. Das unglückliche Mädchen hatte, ganz harmlos nachtwandelnd, oben an den Dachrinnen herumgespukt und war durch den Lärm, den Ulrich mit seinem Pfeifen machte, erwacht und herabgestürzt.

Was endlich den Philosophen Wetzel anlangt, der, wenn ich nicht irre, durch Schubert eingeführt war, so erregten seine Eigentümlichkeiten meiner guten Mutter mancherlei Bedenken. Das Studium des Altdeutschen war damals sehr in Aufnahme gekommen, und Wetzel hielt es für nötig, unsere moderne Sprache, die er ausgeartet fand, möglichst auf ihre geschichtlichen Anfänge zurückzubiegen. Es sei an der Zeit, fand er, den eigentümlichen Genius des vaterländischen Idioms wieder freizumachen, und hierin müsse jeder anderen mit gutem Beispiel vorgehen. Er drückte sich daher oft so urdeutsch aus als von Tronje Hagen oder der Spielmann Volker und wollte auch anderen die moderne Redeweise nicht leicht gestatten. Da jemand zum Beispiel von der Sonne sprach, fuhr er sogleich dazwischen: dies heroische Gestirn heiße ursprünglich und nach reiner Redeweise «Sunno» und sei männlichen Geschlechtes; es zum Weibe zu machen sei unverantwortlich, und man müsse sagen: der Sunno scheint. – Nicht weniger befremdlich war es der Mutter, daß Wetzel seine würdige Frau nie anders nannte als «Henne» und sein niedliches Töchterchen «Forelle». Er dagegen behauptete, unsere gewöhnlichen Taufnamen seien gar zu albern und hätten nicht die geringste Bedeutung. Unter Amalie, Charlotte, Luise, Franz und Balthasar, und wie die Leute alle hießen, könne sich kein Mensch was denken. Namen müßten das Ding bezeichnen, gewissermaßen abmalen, und wenn er seine Frau nenne, so hätte jedermann damit ein treues Bild ihres Wesens und ihrer Beschäftigungen, wie denn auch seine Tochter eine veritable Forelle sei. Meine Mutter fand das alles, von dem Sunno bis zur Forelle, nicht wenig abgeschmackt und stand deshalb in einem fortwährenden kleinen Kriege mit dem gelehrten Herrn, während es dem duldsameren Vater zweifelhaft blieb, ob man nicht jedem volle Freiheit lassen dürfe, sich nach Belieben auszudrücken und seine Kinder zu benennen, wie ihm es gefiele.

4. Die Mutter[Bearbeiten]

Meine geliebte Mutter, von welcher Wetzel sagte, sie müsse weniger Helene heißen als vielmehr Laterne, weil sie durchsichtig und leuchtend sei, war damals noch gesund und jugendlich. Ich erinnere mich ihrer aus jener Zeit als einer jungen, sehr wohlgebildeten Frau mit edeln Gesichtszügen, hellen, geistvollen Augen und einer großen Fülle des schönsten blonden Haares. Ihre Gestalt war von mittlerer Größe und proportioniert, ihr Wesen und Benehmen einfach und wahrhaftig, ihr Urteil treffend. Sie hatte eine sorgfältige Erziehung genossen, war ungewöhnlich kenntnisreich, und ihre vielseitige Bildung befähigte sie, nicht nur die guten Vorzüge einer guten Gesellschaft zu würdigen, sondern auch das Gespräch der ausgezeichneten Männer, die ihr Haus besuchten, anzuregen und zu beleben.

Letzteres geschah indessen mit so viel weiblicher Zurückhaltung, daß die wenigsten ihrer Gäste die ganze Fülle ihres geistigen Reichtums ahnen mochten; und von ihrer hohen künstlerischen Begabung, deren sie sich als einer vorzugsweise männlichen Eigenschaft fast schämte, wußten kaum die allernächsten Freunde. Ihre schönen Sepiabilder, die sie noch als Mädchen zu eigener Lust und meist nach eigenen Ideen ausgeführt, schmückten die Wände der Schlaf- und Kinderzimmer, die nur von Hausgenossen betreten wurden, und ihre Harfe wie ihr Flügel tönten nur vor Mann und Kindern.

Diese liebe Mutter strebte nach keiner anderen Ehre als der einer guten Frau und Mutter. Mit ihren Kindern beschäftigte sie sich treu und unablässig und war gewissenhaft bemüht, nichts zu versäumen, was zu unserer Menschenbildung dienlich schien. Aus diesem Grunde studierte sie auch fleißig die gepriesensten pädagogischen Werke ihrer Zeit, aus denen sie freilich wenig Nutzen ziehen mochte; denn eine halbwegs gescheite Mutter weiß schon allein, wie sie ihre Kinder zieht – wo nicht, so lernt sie schwerlich, weder von Campe noch von Pestalozzi. Sie mochte vielmehr von dieser unerquicklichen Lektüre den Nachteil einer fast krankhaften Steigerung ihrer ohnedem schon allzu regen Sorglichkeit haben, denn sie lernte alle erdenklichen Jugendfeinde des Leibes und der Seele kennen, eine Legion unablässig anstürmender Teufel, vor denen ihre Kinder zu bewahren die Kraft der besten Mutter doch nie ganz ausreicht.

Was sie indessen konnte, tat sie mit Treue. Sie lehrte uns die Hände falten und beten, leitete uns zu gewissenhaftester Wahrheitsliebe an, belog uns nie, auch nicht im Scherz und Spiele, und ließ uns ganz besonders niemals müßig gehen. Den Reiz des Spieles zu schärfen, mußten wir von frühester Kindheit an sogar schon arbeiten, das heißt täglich einige Stunden mit sogenannten nützlichen Beschäftigungen, nämlich mit Garnwickeln, Schnurenmachen, Läppchenzupfen und dergleichen üblen Dingen hinbringen. Und hier erinnere ich mich mit ganz besonderem Vergnügen noch einer allerliebsten, von meinem Großvater selbst verfertigten Phiole aus Elfenbein, durch die das Garn, damit es nicht beschmutzt werde, beim Wickeln durchlief und deren ich mich zur Belohnung für besondere Artigkeit bedienen durfte, da in der Regel nur eine buchsbaumene verabfolgt wurde.

Diese nützlichen Beschäftigungen nahmen natürlich, je nach dem Grade unserer geistigen Entwickelung, auch einen geistigeren Charakter an. Die Mutter lehrte mich nach der Lautiermethode lesen, und ehe ich das fünfte Jahr erreicht hatte, konnte ich meinen Vater an seinem Geburtstage bereits mit Vorlesung einer Gellertschen Ode überraschen. Desgleichen wurden Schreibübungen beliebt, gezählt, gerechnet und ein kleiner Anfang in der Geographie gemacht.

Hatte ich dann das Meinige getan und die Mutter war zufrieden, so ging sie etwa mit mir an jenen Schrank, der so viel Köstliches enthielt, und langte dies und jenes daraus hervor; am besten ihren schönen englischen Farbenkasten, der das Aussehen eines Buches hatte und die saubersten Utensilien enthielt, elfenbeinerne Palette, silberne Zirkel, Parallellineal, Maßstab und eine Auswahl der appetitlichsten Farben. Von letzteren rieb die Mutter mir das Nötige auf die Palette, während ich mich an sie drängte und mit Lust den Rundlauf der Farbenstückchen auf dem weißen Elfenbein verfolgte. Dann zeichnete sie mit leichter Hand ein Tier, einen Soldaten, eine Landschaft und überließ die Farbengebung mir. Oh, wie entzückte mich namentlich das Gummi-Gutti, schon beim Aufreiben und vollends beim Gebrauch: ich wandte es übermäßig an und erfuhr die tadelnde Kritik der Mutter, die in allem Maß gehalten wissen wollte.

In ihrem Wesen blieb meine Mutter sich immer gleich. Es lag nicht in ihrer Natur, die Zärtlichkeit zu zeigen, die sie im Herzen trug, sie tändelte nie mit mir und ließ mir keine Unart durch; aber sie erschreckte mich auch nie durch Launen und Heftigkeit und gab mir das Bewußtsein, daß niemand in der Welt mich lieber habe als sie. Zum höchsten Lohn für außerordentliche Tugend durfte ich einen Kuß auf die Stirn von ihr erwarten, und dieser war denn auch von so durchgreifender Wirkung, daß mein Vater es mir gleich anzusehen pflegte, wenn er ins Zimmer trat.

Nur selten strafte meine Mutter, suchte mich aber immer zur Einsicht meines Unrechts zu bringen und war ein so geschickter Bußprediger, daß ich mich stets beschämt und ganz geneigt fand, Abbitte zu tun. Für dies Verfahren danke ich ihr noch heute, denn es lehrte mich jene Reste im Gewissen tilgen, die der Offenheit des Charakters so schädlich werden können. Mußte ein Vergehen ernstlicher gesühnt werden, so wurde ich auf ein Stündchen oder darüber an ein Tisch- oder Stuhlbein angekettet, zwar nur mit einem Zwirnsfaden, den ich aber nimmer zu zerreißen wagte, so groß war der Respekt vor meiner Mutter; und selbst dann löste diese solche Fessel nicht, wenn mittlerweile Besuch eintrat. Oder auch sie band mir nach Maßgabe des Vergehens ein Paar lange, aus steifem Notenpapier gefertigte Eselsohren um den Kopf, welche ich auch während des Mittags- und Abendtisches umbehalten mußte.

Kam mein guter Vater dann zum Essen, so sah er mir freilich diese Midasohren noch mit leichterer Mühe als jenen Stirnkuß an und wußte dann seinen edeln Gesichtszügen einen so bekümmerten Ausdruck zu geben, daß es mir immer durch die Seele ging. Namentlich einmal, als er wegen Zahnweh mit verbundenem Kopf erschien, rührte mich jener Ausdruck bis zu Tränen. Der arme Vater! er hatte Schmerzen und mußte obendrein an seinem Sohne solche Schmach erleben. Ich konnte keinen Bissen essen, obgleich es Dampfnudeln nach echtem bayrischem Rezept gab; aber meine Mutter ließ die Ohren sitzen.

Ich falle unter die Mädchen[Bearbeiten]

Geschlagen ward ich nur für gröbliche Widersetzlichkeiten. Doch mochte dies einmal, wenn wirklich die Sache so zusammenhing, wie ich mich ihrer erinnere, ziemlich unzweckmäßig geschehen sein, denn gerade mittels dieser Strafe setzte ich meinen Willen durch.

Aus mir gänzlich unbekannten Gründen hielt es meine Mutter für geraten, mich etwa in meinem fünften Jahre eine öffentliche Schule besuchen zu lassen, und sonderbarerweise zwar eine Mädchenschule. Möglich, daß die genaue Kenntnis von den Lastern kleiner Knaben, die sie aus ihrer Erziehungslektüre schöpfte, diesen sonst so unerklärlichen Gedanken erzeugt hatte; kurz, die Sache war fest beschlossen. Ich wurde weiter nicht befragt und wußte überhaupt nicht recht, was bevorstand, als meine Mutter mir eines schönen Morgens ein wohleingewickeltes Butterbrot mit Gewalt in die zu enge Hosentasche bohrte, mich bei der Hand nahm und mit mir abzog. Sie konnte sich ja auf mich verlassen, da ich wahrscheinlich der gehorsamste Knabe war, der damals in Dresden existierte.

Jene Schule oder Privatanstalt befand sich auf der Seegasse in einem hohen, düsteren Hause und in den Händen einer gewissen Mamsell Claß, die, mit der Hofrätin Näke sehr befreundet, von dieser als geeignete Persönlichkeit empfohlen war. Schon auf der Treppe, die nach Dresdner Art stockdunkel und unsäglich stinkend war, wurde mir das Ding bedenklich, und ich schlug vergeblich vor, ob wir nicht lieber umkehren und in unser schönes helles Haus in der Vorstadt zurückgehen wollten. Als wir nun aber erst in die Zimmer traten und ich die vielen Mädchen sah, die gleich ihrer Lehrerin sämtlich Titusköpfe hatten und mich mit den Augen fast verschlangen, wurde es mir gelb und grün und jämmerlich ums Herz, und ich bat die Mutter flehentlich, mich wieder mitzunehmen. Mamsell Claß nahm mich indessen in die Arme, herzte mich, sprach mir auf sächsisch zu, und währenddessen war meine Mutter weg.

Worauf es nun bei dieser Sache eigentlich abgesehen war, kann ich nicht sagen, genug, die Lehrerin gab mir Spielsachen, und während ich an einem Seitentischchen, meine Tränen verschluckend, einen kleinen Meierhof aufbaute, setzte jene ihren Unterricht mit den Mädchen fort. So weit ging alles leidlich; ich nahm die Sachen, wie sie waren, schickte mich in die Zeit und wurde endlich so vertraut mit meiner Lage, daß ich sogar den Versuch machte, mein Butterbrot hervorzuziehen, was jedoch nicht gelang. In der Freiviertelstunde aber, als Mamsell Claß uns auf kurze Zeit verließ, drangen die kleinen Mädchen mit ihren Pudelköpfen lachend und kreischend auf mich ein, ja, sie fielen recht eigentlich über mich her wie Bacchantinnen über einen Orpheus, rissen sich um mich, und wer mich erwischen konnte, liebkoste mich und küßte mich. Ich spreizte meine Glieder wie ein Mistkäfer, den man in hohler Hand hält, hieb und stieß mit allen vieren um mich, bis die Lehrerin wieder eintrat und der Greuel sich legte.

Man mag hieraus ersehen, daß ich eben noch ein dummer Junge war, ein Idiot, ohne jede Würdigung der großen Güte, die man mir erzeigte, denn ohne Zweifel waren alle diese Mädchen von sehr mütterlichen Gefühlen gegen mich erfüllt. Vergessen habe ich sie freilich nicht; sie hinterließen mir einen so unauslöschlichen Eindruck, daß ich die Physiognomien von mehreren der kleinen Plagegeister noch heute im Gedächtnis habe.

Als mich nun meine Mutter am anderen Morgen wieder in diesen Türkenhimmel versetzen wollte, erklärte ich sehr entschieden, daß ich nicht wolle. Die Mutter redete mir freundlich und mit den überzeugendsten Gründen zu, dann auf sehr ernste Weise und befahl mir schließlich, ihr zu folgen: ich blieb bei meinem Satze. Endlich, bestürzt über so unerhörte Renitenz, führte sie ihre Kerntruppen ins Feuer und fragte mich, was ich lieber wolle, ein Produkt Ruten – wie sie sich ausdrückte – oder in die Schule gehen. Und damit hatte sie das Spiel verloren. Ein Blick im Geiste auf die vielen Mädchen und ihre Zärtlichkeiten ließ mich nicht schwanken – ich wählte das «Produkt». Das mochte zwar gehörig «anziehen» – wie man in Dresden sagt – ja, ich erinnere mich, daß es sogar über Erwarten anzog, doch aber konnte es im Vergleich zu jenem mir so überaus widerwärtigen Mädchenzwinger nicht in Betracht kommen. Ich war nun frei, und meine Mutter stellte mir nie wieder dergleichen Alternative.

Ein Blick auf den Vater[Bearbeiten]

Mein Vater war das gerade Gegenteil von seiner Frau, schon nach der äußeren Erscheinung. Zwar waren sie beide, was man schöne Leute nennt; aber wie die Mutter durchweg den Norden repräsentierte, so er den Süden, denn er war brünett mit schwarzem Haar, mit feurigen, sehr dunkelbraunen Augen, und sein schmales, geistvolles Gesicht erinnerte an Spanien.

Der innere Unterschied war dem entsprechend. Die liebe Mutter, zwar unausgesetzt tätig und mit einem Herzen voll warmer Menschenliebe, war dennoch eine verwaltend kontemplative und kritische Natur, überall ihr Richtmaß anlegend, an sich selbst, an andere und vorzugsweise an ihre Kinder. Der durchweg produktive und wenig wählerische Vater konnte dagegen über eigenem Schaffen die Schattenseiten an Menschen und Dingen leichter übersehen und war in der Regel mit jedermann zufrieden, der ihm nicht gerade auf die Füße trat. So übersah er denn auch meist die Sünden seiner kleinen Kinder und zeigte wenig Neigung, die Abnormitäten unseres Verhaltens ernstlich nach Grund und Folgen zu beachten. Zwar wenn er sich belästigt fühlte, fuhr er wohl einmal dazwischen, doch weniger, um uns zu fördern, als sich selber Ruhe zu verschaffen. Im allgemeinen schien er unsere Ausschreitungen mehr von der lächerlichen Seite aufzufassen, und es mag seinem harmlosen, für das Komische äußerst empfänglichen Sinn oft bitterböse angekommen sein, bloß aus Gefälligkeit für meine Mutter jenes bekümmerte Gesicht zu erzwingen, dessen ich oben gedacht habe. Indessen hatten wir Kinder doch einen heiligen Respekt vor ihm, hüteten uns, ihn zu erzürnen, und gehorchten ihm aufs Wort. Es war eben ein anderes Genre von Edukation.

In der Tat, wenn es möglich wäre, willkürliche Wege bei der Erziehung von Kindern einzuschlagen, so fragte es sich, welches Verfahren den Vorzug verdiene, das der Mutter oder des Vaters. Ich genoß inzwischen beides und hätte demnach jedenfalls recht wohl geraten können; aber es sprechen bei der Erziehung noch ganz andere Faktoren mit, das sind die äußeren Lebensverhältnisse, die man nicht machen kann und die sehr häufig gerade da am nachteiligsten influieren, wo sie vorher am günstigsten erschienen.

Mein Vater war als Künstler hochbegabt, und sein eiserner, durch nichts, selbst nicht durch Krankheit unterbrochener Fleiß hatte ihm schon bei jungen Jahren zu einem hohen Grade öffentlicher Anerkennung verholfen. Dazu war er ein Mann von seltener Herzensgüte und von so überaus einnehmendem Wesen, daß ihm trotz seines leicht aufflammenden Temperaments überall, wo er sich zeigte, die Freunde und Verehrer wie Tau aus der Morgenröte geboren wurden. Den Kurfürsten etwa ausgenommen, erschien mir daher mein Vater als der vornehmste und verehrungswürdigste Mann in der sächsischen Residenz, und wenn's ihm einfiel, sich mit mir abzugeben, fühlt' ich mich hoch erhoben.

So war ich denn auch sehr glücklich, wenn ich ihm ausnahmsweise, zum Beispiel an meinem Geburtstag, im Atelier Gesellschaft leisten durfte. Da gab es so viel Herrlichkeiten, Statuen, Bilder, Kupferstiche, alte Knochen, Gliedergruppen, sonderbare Geräte und Stellagen. Ich sah dann der Arbeit zu und durfte fragen, was ich wollte; oder auch der Vater gab mir irgendwas zu meiner Unterhaltung heraus. Dann setzte ich mich kreuzbeinig auf die Diele wie ein Türke und spielte mit zum Teil sehr wertvollen Sachen, oder ich durchblätterte die schönsten Kupferhefte, am liebsten die Raffaelischen Bogen von Chapron, ein Werk, das mit seinen biblischen Objekten die Ähnlichkeit hat, sowohl Kinder als Weise anzuziehen und zu befriedigen.

Adam und Eva, die Arche Noä, die Geschichten der Erzväter und des Moses, diese uralten, ewig neuen Sachen erfüllten mich mit Teilnahme und mit Staunen. Am merkwürdigsten war mir Gott Vater, über der Erdkugel schwebend, nicht nur wegen dieses beneidenswerten Schwebens, sondern ich war auch bemüht, mir seine Gesichtszüge einzuprägen, damit ich wisse, wie er aussähe, wenn ich mein Gebet hersagte.

Da kam mir einst ein sehr natürlicher Gedanke, den freilich, eben wie das folgende Gespräch, mehr das Gedächtnis meines Vaters als das meinige bewahrt hat. Ich fragte nämlich, woher man es denn wisse, daß Gott die Welt erschaffen habe.

Ob ich denn glaube, erwiderte der Vater, daß das Bild, an dem er male, ebensogut auch von sich selbst entstehen könne.

«Nein», sagte ich, «du mußt es malen.»

«Nun denn, wenn ein so kleines Ding nicht ohne Meister sein kann, wie sollte da die ganze Welt von selbst entstanden sein?»

Ich wandte ein, ob sie nicht jemand anders gemacht haben könne; aber der Vater sagte, der Meister sei allezeit größer als sein Werk; wer aber größer als die ganze Welt wäre, könne niemand anders als der liebe Gott sein.

Ein Blick auf mein Bild bestätigte mir die Wahrheit dieser Worte, denn allerdings war Gott hier größer als der angedeutete Kreisabschnitt der Erde, über der er schwebte.

«Wer aber», fragte ich weiter, «wer hat denn eigentlich den lieben Gott gemacht?»

Da antwortete der Vater, der sei von Ewigkeit, ohne Anfang und ohne Ende, wandte sich herum und malte weiter.

Diese Worte imponierten mir. Ohne Anfang, ohne Ende! – Ich sah mein Bild genau darauf an und war sehr nachdenklich geworden. Endlich sagte ich – «Das wäre aber eine schöne Geschichte, Vater, wenn wir nun sterben und in den Himmel kommen, und am Ende wäre gar kein lieber Gott da!»

Dafür nannte mich mein Vater einen dummen Jungen, jedenfalls das Gescheiteste, was er gesprochen hatte, und die gelehrte Unterhaltung war zu Ende. Später aber, da er durch Gottes Gnade seinen damaligen Standpunkt überwunden hatte, gestand er, wie jener Kindereinfall, so natürlich aus seiner Deduktion hervorgegangen, ihn in Verlegenheit gebracht, da er nichts anderes enthalten habe als seinen eigenen Hintergedanken.

Glücklicherweise beruht auch unser Glaube nicht auf klugen Folgerungen und Schlüssen, die, wenn sie ihn auch oft bestätigen mögen, ihn ebenso oft auch widerlegen und nach Kant nichts anderes sind als Fehlschlüsse. Ein besseres Zeugnis gibt Gott selbst von seinem Namen auf allerlei Weise, und gerade in jener ernsten Zeit, von der ich schreibe, hat er sich in vieler Menschen Herzen offenbart.

5. Zuwachs[Bearbeiten]

Meine Kindheit fällt in eine der mörderischsten Geschichtsperioden. Während unsere kleine Familie auf der halben Gasse ein Friedensbild häuslichen Glücks darstellte, trank die weite Erde das Blut ihrer Kinder in Strömen, und entsetzliche Hekatomben wurden dem Ehrgeiz eines einzelnen hingeopfert, vor dessen Hauche alles Leben welkte wie das Gras vor dem Samum der Wüste. Das alte tausendjährige römische Reich war in Scherben zerfallen, Preußen mit den Mittelstaaten in den Staub getreten oder abhängig geworden, und nur Österreich fristete noch eine Art von kümmerlicher Selbständigkeit.

Meine Eltern litten schwer hierunter, allein wir Kinder empfanden es nicht. Wir saßen warm und wohlig im mütterlichen Nest, und ich erinnere mich, daß jener fürchterliche Krieg mir damals nur als Hindernis unserer Reise nach Rußland beklagenswert erschien. Für diese hatte jedoch der Tilsiter Friede endlich neue Aussicht eröffnet. Mein Vater mochte nicht länger Zeuge der Schmach des deutschen Landes bleiben: er nahm die alten Pläne wieder auf und wollte reisen, sobald es irgend tunlich.

Die Sache schien jetzt bitterer Ernst zu werden. Der Reisewagen ward von neuem nachgesehen und aufmerksam geprüft, mein Vater ließ seine Pistolen instand setzen, und ich putzte mit Kreide meine blecherne Trompete und den Messingknopf an meiner Peitsche, damit das alles späterhin keinen Aufenthalt verursache. Indessen blieb doch immer noch einiges zu bedenken. Die Arbeiten des Vaters, die erst vollendet sein wollten, zogen sich in die Länge; es wurde Winter, und endlich schien es nötig, vor allen Dingen noch ein Ereignis abzuwarten, das von größerer Wichtigkeit als jene Reise war und mir für meine Person eine Bekanntschaft verschaffen sollte, die gleich mit Bruderliebe anfing und als herzliche Freundschaft noch heutigentags besteht.

Ich spielte eines schönen Morgens oben bei Engelhards mit meinem Freunde Ludwig und war eben im Begriff, ein sehr wohlgeborenes Exemplar von Seifenblase zu vollenden, als mein Vater eintrat und mich abrief. Ich konnte mich aber nicht wohl entschließen, die köstliche, sich immer noch steigernde Farbenpracht eines Werkes zu zerstören, das an meinem Atem hing, und bat daher durch Nasentöne und Zeichen mit der linken Hand um Aufschub, bis ich erfuhr, es sei soeben ein Schwesterchen vom Himmel angekommen, was ich begrüßen solle.

Da ließ ich die Seifenblase platzen und ging an der Hand des Vaters hinab zur Mutter, deren Bette ich mich leise mit verhaltenem Atem nahte. Sie strich mir die Haare aus der Stirn und zeigte mir das Angesicht der Schwester, die ich mit Ehrfurcht betrachtete, weil sie so frisch aus Gottes Hand hervorgegangen. Die weiß gewiß noch, dachte ich, wie es im Himmel bei der seligen Maria aussieht.

Danach ward auch mein Bruder hergeführt, die Novität in Augenschein zu nehmen; und da es Nacht ward, stieg vielleicht ein seliger Geist vom Himmel nieder, um bei der Begrüßung der Geschwister nicht zurückzustehen. Oder wäre jene liebliche Erscheinung etwa nur von der phantastischen Natur des oberwähnten Kalbes gewesen?

O nein! wir wollen die alte Geschichte von den Engeln, die bei der Wiege der Kinder sind, für keine Fabel halten. Zwar unser stumpfer und zerstreuter Blick vermag es in der Regel nicht, den Schleier zu durchbrechen, mit welchem die Beschränkung unserer Sinnlichkeit eine obere oder innere Natur verhüllt. Doch mag es immerhin Momente geben, wie deren auch die Heilige Schrift erwähnt, da sich das Dasein einer feineren jenseitigen Leibhaftigkeit dennoch offenbaren und auch an unserem groben Organ erscheinen kann wie ein Silberblick auf träger Schlacke.

Wem aber ausnahmsweise, wie meiner Mutter in jener Nacht, eine solche Wahrnehmung geworden, um dessen Seele ist gewiß ein heiliges Band geschlungen, welches gleich einem stetigen Verlangen das Herz nach der ewigen Heimat hinzieht. Hier wenigstens war dies der Fall, denn meine Mutter fragte fortan noch ernstlicher als vordem dem nach, was aller Menschen Seelen not tut, und fand vorerst durch Herder, auf dessen Schriften Schubert hingewiesen, einiges Verständnis für die unendliche Schönheit des geoffenbarten Gotteswortes. Die Schönheit aber lieben wir, und Liebe lernt leicht glauben. So dankten meine Mutter und durch sie wir alle dem teuren Herder großes Gut.

Die Reise nach dem Norden[Bearbeiten]

Die große Freude, nun auch ein Schwesterchen zu haben, hätte sich uns leicht in Leid verkehren mögen, denn die Mutter erkrankte sehr bedenklich und erholte sich nur langsam. Bei so bewandten Umständen erklärte unser Arzt und treuer Hausfreund, der Dr. Pönitz, die russische Reise vorderhand für unausführbar und verordnete statt dessen den Gebrauch der Radeberger Eisenquelle.

Nun traf es sich, daß meine Eltern in letztvergangener Zeit die Bekanntschaft einer Familie gemacht hatten, welche ein Abdruck der unserigen war. Der Senator Dr. W. Volkmann aus Leipzig (Sohn des bekannten Reisenden in Italien) war in Geschäften seiner Stadt für längere Zeit nach Dresden delegiert und hatte Frau und Kinder mitgebracht, zwei Knaben in meinem und meines Bruders Alter und ein Schwesterchen, das etwa mit dem unserigen zugleich geboren war. Die Mutter Volkmann, mit der meinigen gleich alt, hieß «Tugendreich», und dieser Name war gut angeschlagen, da Frau Tugendreich nicht arm an allen besten Eigenschaften war. Der Vater Volkmann seinerseits war, wie der meinige, ein Zwilling, mit ihm in einem Jahr, in einem Monate und fast auf einen Tag geboren. Sie hatten auch in einem und demselben Jahr geheiratet, und ihre Hochzeitstage lagen sich so nah, daß sie sie miteinander feiern konnten. Zu solchen Ähnlichkeiten kamen endlich noch die wesentlicheren des Geschmackes und der Gesinnung, daher sich zwischen beiden Familien ein genußreicher Umgang gestalten konnte, der bald in treue und ausdauernde Freundschaft überging.

Da nun die Mutter Volkmann, in gleicher Lage wie die meinige, von ihrem Arzt zu gleicher Radeberger Brunnenkur verurteilt ward, so beschloß man, gemeinschaftliche Sache zu machen, und mietete sich nicht im Badeetablissement selbst, sondern im benachbarten Lotzdorf ein. Das gab doch wenigstens eine Reise von anderthalb Meilen, ein gut Stück Weges nach Norden hin, und da es nicht anders sein konnte, immerhin einen annehmbaren Ersatz für die aufgegebene größere.

Unser dottergelber Reisewagen ward nun hoch bepackt mit allem Nötigen, mit Koffern, Waschen und darüber hingeschnallten Bettsäcken; vier Pferde wurden vorgelegt, und die ungeheure Maschine setzte sich in Bewegung, in ihrem Innern die beiden Frauen mit ihren sechs Kindern, die Venus und ein Mädchen auf dem Bocke, der Postillion im Sattel, und die Väter blieben mit dem Versprechen zurück, uns zu besuchen, sooft sie könnten.

Wir Kinder waren selig wie die Götter und segneten den tiefen Sand der Heide, durch welchen der schwere, in seinen hohen Federn schwankende Wagen sich nur mühsam durcharbeitete, denn er verlängerte das außerordentliche Vergnügen des Reisens. Wir fanden uns in einer neuen Welt. Die nordische Landschaft des rechten Elbufers war uns noch fremd, und unsere Spannung steigerte sich, je tiefer wir in die Dunkelheit der Kiefernwälder eindrangen. Das war der rechte Ort für Außergewöhnliches. Was konnte man nicht alles erleben und zu sehen kriegen, vielleicht wilde Schweine, und unter glücklichen Umständen – wer wollte wissen und ermessen, was noch sonst!

Es zeigte sich indessen gar nichts, die Erfahrung etwa abgerechnet, daß keine Rose ohne Dornen ist. Der jüngere Volkmann nämlich war nach und nach verstummt und nachdenklich geworden. Dann bekam er einen fatalen magenverderblichen Ausdruck, legte den Kopf in den Schoß der Mutter, und das übrige wird man sich denken. Es war entsetzlich! Das Schaukeln des Wagens hatte seine Kraft gebrochen, das Übel steckte an, man mußte halten, und der stumme Wald vernahm das Angstgestöhn der Menschenkinder. So war die kleine Reise ein rechtes Lebensbild: mit Übermut begonnen und mit Angst beendet; aber der Himmel folgte.

Das Dörfchen[Bearbeiten]

Das kleine Lotzdorf mochte an und für sich recht wenig Reize haben. Doch hierin urteilt jeder anders. Für Kinder hat nur das Nächste ein Interesse, sie leben vorzugsweise im Vordergrunde. Da unterhält sie jede Kleinigkeit, und die Ferne mag beschaffen sein, wie's Gott gefällt. in Lotzdorf gab's gar keine Ferne: alles, was die Gegend darbot, lag nah und war zu greifen. Ich hatte ein Verständnis für diese einfache Natur und denke noch heute mit wehmütiger Lust des flachen Baches mit seinem Kieselgrunde, der kleinen Waldschlucht, in die er sich geheimnisvoll verlief, des hohen Feldrains mit seinen Brombeersträuchern und der warmen Hänge, an denen wir mit unseren Müttern lagerten. Diese hatten sich am äußersten Ende des Dorfes in benachbarten Häusern eingerichtet. Bei Leineweber Ulbrichs hausten Volkmanns, wir bei Maurer Großmanns, achtungswerten und vermöglichen Leuten, die mit ihrem einzigen Töchterchen, namens Lore, ihr Haus nicht füllten und ein paar Zimmer missen konnten. Meine Mutter bewohnte bei ihnen eine große bäuerliche Stube mit frisch gekalkten Wänden, an welchen eine lange, weißgescheuerte Holzbank rings herumlief. Dielen, Tische, Stühle glänzten von Sauberkeit, und durch die niedrigen, von Blumen und Weinlaub dicht umrankten Fenster stahl sich das Sonnenlicht, zu mancherlei Farben gebrochen. Der Raum aber hinter dem Ofen war doch das Schönste; wie in allen sächsischen Bauernstuben, fand er sich durch ein etwa drei Fuß hohes Podium ausgefüllt, welches «die Hölle» genannt wurde und zum Schmoren des Hausvaters am Feierabend bestimmt war. Diese Hölle ward mir zu meiner Einrichtung überlassen und fand sich an Regentagen wie geboren zur Fabrikation von kleinen Ringen und Ketten aus Pferdehaar, die Lore mich flechten lehrte.

Bei schönem Wetter dagegen kümmerte man sich nicht um Pferdehaare; wir trieben uns dann mit Volkmanns und hinzugesellten Bauernkindern, mit oder ohne Aufsicht, fast den ganzen Tag im Freien umher, und meine sonst so ängstliche Mutter ließ hier geschehen, was ihre Freundin guthieß, erwägend, daß die unschuldige Dorfjugend mit der verderbten Brut der Städte nicht zu vergleichen sei. Auch muß ich meinen ländlichen Freunden aus jener Zeit das Zeugnis geben, daß ich gewiß von ihnen nichts Schlimmeres gelernt habe, als sie von mir. Denn daß sie etwa die kleinen, glatten Schmerlen, die sie mit den Händen haschten, sowie auch die sogenannten Butterkrebse, ja alle Krebse, die sie fingen, roh und lebendig verzehrten, war gewißlich keine sittliche, vielleicht nicht einmal eine Geschmacksverirrung. Sie lehrten auch uns diese Wasserjagd und lachten uns aus, daß wir unsern Fang erst durch den Umweg des Kochtopfes in den Magen brächten, wodurch die beste Kraft verloren ginge. Wenn sie endlich etwas abergläubisch waren, so teilten sie dieses Laster wenigstens mit Julius Cäsar, Wallenstein, Napoleon und anderen großen Herren, die doch zweifelsohne zur besten Gesellschaft gerechnet wurden.

So lag zum Beispiel unfern des Großmannschen Hauses auf einer sandigen, mit Gras bewachsenen Anhöhe eine morsche Hütte, bewohnt von einem alten Ehepaar, mit Namen Burkhard. Diese Leute, vielleicht durch eigene Schuld heruntergekommen, gehörten zu den Parias im Dorfe. Niemand verkehrte mit ihnen, und wegen ihrer mürrischen Gemütsart waren sie der Schreck der Kinder, die sich die sinnlosesten Geschichten von ihrer Grausamkeit erzählten. Auch sahen sie beide wie Krautteufel aus, zur Zeit der Reife in Erbsenfeldern aufgestellt, daher wir ihnen bei zufälligen Begegnungen schon in angemessener Ferne auszuweichen pflegten.

Von der Frau wurde halblaut erzählt, daß sie eine alte Hexe sei – worunter wir uns nichts anderes dachten als etwas ganz Entsetzliches – und daß sie nachts, bisweilen splitternackt, auf Nachbarsäckern Unfug treibe. Was eigentlich? das wußte keiner. Das aber wußten die Kinder, daß niemand anders als sie das große Irrlicht gewesen sei, durch das verlockt die Radeberger Botenfrau vergangenen Herbst den Hals gebrochen. Der Mann aber – sagten sie – würde auch wohl wissen, wie es zugehe, daß er ohne Arbeit ein Wohlleben führen könne. Auf letzteres wurde großes Gewicht gelegt, und ich fand es auch recht übel. Wenn man freilich – so wurde behauptet – eine gewisse Kröte von der Größe eines ledernen Tabaksbeutels, die tief unter dem Hause niste, beseitigen könne, so würden die Leute ihre Kraft verlieren.

Nun weiß ich nicht, ob wir wirklich die Absicht hatten, jene verderbliche Kröte auszugraben, oder was uns sonst bewog – kurz, wir begaben uns mit unseren kleinen Schaufeln frisch ans Werk; die Bauernkinder halfen, und nach mehrtägiger Arbeit hatten wir einen Stollen in jenen Hügel eingetrieben, der groß genug war, uns alle aufzunehmen. Unterdes hatte aber auch der alte Burkhard bemerkt, daß er unterminiert wurde, und seine Vorkehrung getroffen.

Wir, nichts Schlimmes ahnend, hockten in unserer Höhle und sangen ein Liedchen, das unter den Dorfkindern sehr im Schwange war. Noch entsinne ich mich der anziehenden Stelle: «Schöne Dame Kummeran, laß mich sehen deinen Schein.» – «Kummeran» war übrigens kein Name, sondern nur eine Korruption von: Komm herein! – Da plötzlich, als wir so recht con amore sangen, da erschien vor dem Eingang der Höhle der alte Burkhard wie ein schwarzer Höllengeist und machte sich mit seiner Hacke unverweilt daran, den Eingang zu verschütten.

So mochte es dem Häuflein des Ulysses zu Sinn gewesen sein, als Polyphem sich zeigte. Wir waren wie vom Blitz getroffen und hatten keinen Laut mehr in der Kehle, denn es schien uns nur die Wahl zu bleiben, entweder lebendig begraben zu werden oder jenem Mörder unter die Hacke zu laufen. Endlich löste sich der Krampf, und die Höllenangst brach in Geschrei aus.

Da hielt der alte Burkhard inne. «Ja so», sagte er, «seid ihr da drinnen, ihr gottverdammte Höllenbrut? Nun wart', ich will euch!»

In der Tat mag dieser Auftritt dem armen Manne, der es wohl nicht so ernstlich meinte, eine süße Genugtuung für die Nichtachtung gewesen sein, die er von seiten der Jugend erfuhr. Auch tat er uns weiter nichts zuleide, sondern begnügte sich damit, für angebliche Schändung seines Grundstückes von unsern Müttern einige Groschen zu erpressen.

Diese Mütter waren übrigens durch den Gebrauch des Bades und den wohltätigen Einfluß der Landluft zusehends erstarkt und sehr bald imstande, den größten Teil des Tages mit uns und unseren Freunden im Freien zuzubringen. Unter ihrer Führung sammelten wir im nahen Holze große Quantitäten wilder Beeren, die mit einem Aufguß von frischer Milch zum Abendbrot verschmaust wurden. Wir lagerten dann im Grase um einen mächtigen Holztrog und löffelten mit den Bauernkindern unsere kalte Schale ohne Ekel. Dann faßten wir uns alle bei den Händen, drehten uns tanzend in großen Kreisen oder durchzogen in langen Schlangenlinien singend das Dorf, während die alten Bauern mit ihren Tabakspfeifen schmunzelnd vor den Türen saßen.

Kamen aber erst die Väter von Dresden heraus und brachten sie wohl noch Freunde mit, wie zum Beispiel den Landschaftsmaler Friedrich und den allgemeinen Liebling Kraft, einen jungen Estländer, der sich unter meines Vaters Leitung ebenfalls zum Maler bildete, so gab es großartigere Lustbarkeiten, als zum Beispiel Kegelschieben auf der Gänseweide oder Vogelschießen mit trefflichen Schnappern, die Volkmann lieferte. Dazu ward stets auch die Dorfjugend eingeladen, und die gewonnenen Preise, als Taschenmesser, Brummeisen, Sonnenringe und dergleichen, beglückten dergestalt, daß mancher vor Freuden verstummte und sich wegschlich, um des Besitzes sicher zu werden.

Eines schönen Nachmittags schlug Friedrich uns Kindern ein ganz besonderes Vergnügen vor, nämlich mitten im Wasser einen Turm zu errichten. Mit Begeisterung schleppten wir, den flachen Bach durchwatend, die Bausteine herbei, und Friedrich, in einer Art von Fischeraufzug wie ein hochbeiniger Reiher in der Flut stehend, ordnete sie zur Pyramide oder Säule, die bald mannshoch aus dem Wasser aufstieg. Die übrige Gesellschaft war hinzugekommen und schaute, am Ufer gelagert, dem Jubel zu; und hier gedenke ich einer merkwürdigen, unserem Hause schon seit längerer Zeit befreundeten Gestalt, die mir bei dieser Gelegenheit zuerst in die Erinnerung tritt.

Henriette Courtan, in jüngeren Jahren mit der uns ebenfalls befreundeten Familie des Buchhändlers Hartknoch von Königsberg in Dresden eingewandert, lebte hier selbständig von den Zinsen eines kleinen Vermögens und in sehr ausgedehnten Freundeskreisen, in denen sie sich mit Eifer einer großen Humanitätstätigkeit hingab. Wo Hilfe not tat, Unterstützung, Pflege, Fürsprache, Rat und Tat, da war die Courtan bei der Hand mit eigenen oder fremden Mitteln, über welche letztere sie mit seltener Virtuosität zu disponieren wußte.

In der Tat brauchten auch Betrübte sie nur anzusehen, um sich augenblicklich aufzuheitern, denn sie strahlte wie die liebe Sonne in gelb- und feuerroten Farben und verdeutlichte sich noch mehr durch höchst phantastische Gewinde von schleierartigen Bandagen um Kopf und Schultern. Da sie nun übrigens ganz verständig und nichts weniger als hübsch war, so blieb es unbegreiflich, was sie zu einem so herausfordernden Kostüm bewegen konnte, an dem die Damen alles auszusetzen, die Herren aber beständig Veranlassung fanden, sich mit ihr herumzunecken. Wir Kinder nannten sie ihrer schwarzen Haare wegen die «schwarze Tante». So hieß sie auch bald allgemein, und es hat lange gedauert, bis ich entdeckte, daß sie auch noch einen anderen Namen hatte.

Heute nun war die schwarze Tante mit den Dresdner Freunden zu uns herausgepilgert, lagerte mit den übrigen am Ufer und schaute mit steigendem Interesse dem babylonischen Turmbau zu. Das Rufen Friedrichs, das Geschrei der Knaben, der Jubel im Wasser ward immer berauschender, und lockend plätscherte die kühle Welle über die bunten Kieselsteine des Baches. Das alles mochte sie gezogen und bewogen haben, kurz, auf einmal war die Tante barfuß, und ehe man sich's versah, ständerte auch sie hochgeschürzt und glückselig wie eine Bachstelze in der Flut umher.

Nun wollten zwar die Frauen schelten, aber sie störte sich nicht daran, weil sie es natürlich finden mochte, daß Fröhliche natürlich würden. Ist aber einer nur erst recht natürlich, so kann man gar nicht wissen, wo es enden wird. Die schwarze Tante war auf den glatten Steinen nicht recht sicher und geriet in immer tieferes Wasser.

Da sprang Friedrich zu, unbarmherzige Wassergüsse um sich sprühend. Er wollte die Nymphe haschen, um sie auf seinen Turm zu setzen, zu ihrer eigenen Sicherheit, wie er behauptete. Sie schrie vernehmlich, suchte zu entrinnen, glitschte, fiel und wurde triefend ans Land gefischt. – Die Frauen enteilten mit der eingeweichten Freundin.

Damit war indes die Freude nicht zu Ende, kam vielmehr nun erst recht zum Ausbruch. Man wollte nämlich weder der Zeit noch bösen Buben die Ehre gönnen, Friedrichs Kunstwerk wieder zu zerstören, dies vielmehr selbst besorgen; und alles stieg ins Wasser. Volkmann zwar, als obrigkeitliche Person und Ratsherr, vergab dem Dekorum nicht so leicht etwas; heute aber zog er dennoch mit den übrigen Rock und Stiefel aus, sprang in den Bach und raffte Steine aus der Tiefe.

Es begann nun eine treffliche Kanonade und ein unsägliches Vergnügen, denn im Zerstören ist große schöpferische Lust für jedermann. Die Geschosse, aus starker Faust entsendet, prallten von allen Seiten gegen das Denkmal, mit abgerissenen Trümmern zurück ins Wasser stürzend. Dies sprühte, mannigfach zerklüftet, um den dunkeln Bau, Staubregen und Kaskaden bildend, in welchen der Strahl der Abendsonne zitterte, bis die Zerstörung vollendet war und ein ländliches Mahl vor Volkmanns Türe die Festlichkeit beschloß.

So lebten wir in Lotzdorf ganz zufrieden und ohne sonderliche Gravität und Gene, nicht nur wir Kleinen, sondern auch die Großen, die sich dadurch von wirklich Großen unterschieden, bis endlich alle mit Bedauern aus dem kleinen Dörfchen schieden.

Der Geburtstag[Bearbeiten]

Wir waren sämtlich nach der Stadt zurückgekehrt, gekräftigt und gebräunt, und meine Mutter fand sich so gebessert, daß sie sich einem unbequemen Werke, das ihrer wartete, gefahrlos unterziehen konnte. Die kleine Schwester nämlich schien mehr Platz zu brauchen als wir andern alle; unsere Wohnung war wenigstens zu eng geworden und man hatte sich nach einer anderen umsehen müssen, was übrigens mit um so leichterem Herzen geschehen konnte, als unsere bisherigen lieben Hausgenossen schon früher ausgeflogen waren. Schuberts waren abgereist, Engelhards umgezogen und Lais seiner Kränklichkeit erlegen. Ich hatte daher beim Abschied nur Fritz Pezold zu umarmen, der mich jedoch des Sonntags noch ab und zu besuchte.

So bezogen wir denn im Spätsommer des Jahres 1808 die zweite Etage des Brelingschen Hauses an der Neustädter Allee, der schönsten und freundlichsten Straße Dresdens. Dies Haus, vor etwa hundert Jahren vom Grafen Zinzendorf erbaut, trug mit großen goldenen Buchstaben die an dem ganzen Sims hinlaufende Inschrift: «An Gottes Segen ist alles gelegen» und wurde kurzweg «der Gottessegen» genannt, den wir auch sämtlich drin gefunden haben.

Wir Kinder waren mit dem Wechsel sehr zufrieden, wir durchrannten mit Geschrei die neuen Räume, und da das Gebäude sich im Viereck um den Hof zusammenschloß, war es ein Staatsvergnügen, so immer zuzulaufen und doch unfehlbar wieder am Ausgangspunkte anzulangen, wie Weltumsegler. Auch bot die schöne Promenade vor den Fenstern willkommenen Raum zum Spielen sowie der wüste, mit Wegerich bewachsene kleine Garten, in dem wir wühlen und machen konnten, was wir wollten. Nicht sehr entfernt am Wiesentore wohnten Volkmanns, und Eltern und Kinder verkehrten täglich miteinander, je mehr und mehr zu einer einzigen Familie verwachsend.

Das alles war nicht übel; in anderer Art aber hätte ich mich beklagen können, wenn ich den Verstand dazu gehabt hätte. Die regelmäßigen Beschäftigungen nämlich, zu denen ich früher angehalten worden, hatten wegen Krankheit der Mutter schon im Döpmannschen Hause eine Unterbrechung erlitten. Vielfache Zerstreuungen waren nachher hinzugekommen, der Badeaufenthalt, neue Bekanntschaften, endlich der Umzug. Da nun die treue Mutter ihren Unterricht wieder beginnen wollte, zeigte es sich, daß ich alles vergessen hatte und überhaupt nicht mehr der alte war. Wieder von vorne anzufangen, machte Unlust, man plagte sich von beiden Seiten, ich lernte nichts, und als die Mutter obendrein von neuem erkrankte, kam ich aus Rand und Band, nahm zu an Torheit und Ungunst bei den Menschen, ganz besonders bei Frau Venus.

Diese arme Kinderfrau mochte damals bittere Tage haben. Die Mutter meist bettlägerig, der Vater von seiner Arbeit absorbiert, sollte sie allein nicht nur die Schwester warten, sondern auch auf mich und meinen kleinen Bruder achten, der ebenfalls den Sündenpfad der Ungezogenheit zu betreten anfing. In der Tat mochte es allein schon eine Aufgabe sein, nur das mit einem Saugschwamm versehene Milchfläschchen zu hüten, aus dem die Schwester genährt ward, denn die gute Frau brauchte eben nur den Rücken zu wenden, so waren wir wie die Kälber drüber her und sogen's aus. Schalt sie, so lachten wir und dachten auf neuen Unfug, versteckten ihre Sachen, brannten Papier und Haare an und prüften ihre Geduld auf jede Weise. Kurz, der alte Adam entfaltete sich dermaßen, daß es mir selbst bisweilen leid tat, doch konnte ich's nicht wohl ändern.

Solcher Leichtsinn ward durch einen Trauerfall gedämpft, der mir zu Herzen ging. Ein Schüler meines Vaters nämlich, der schon genannte Kraft, den ich sehr liebte, war schwer erkrankt. Mein Vater, meine Mutter und alle Freunde taten alles, was sie konnten, ihn zu erhalten; doch starb er schon nach einigen Tagen, und zwar infolge eines Wäschewechsels, den er in einem unbewachten Augenblicke gegen das Gebot des Arztes unternommen hatte. Er wurde in unserem Hause betrauert wie ein Sohn und Bruder.

Einige Tage nach dieser Katastrophe fiel mein Geburtstag. Als ich des Morgens früh erwachte, war mein erster Gedanke an Kraft, der heute begraben werden sollte. Dann bemerkte ich Licht im Zimmer, und wie die Mutter, leise herumwirtschaftend, bereits das Bett verlassen hatte. Nun fiel mir auch der Geburtstag ein, und der Gedanke, daß die mütterliche Liebe für mich ungezogenen Jungen schon so früh bemüht sei, rührte mich nicht wenig. Ich lag mit dem Gesicht gegen die Wand, um aber der geliebten Mutter die Freude der Überraschung nicht zu verderben, kniff ich die Augen noch obendrein gewaltsam zu und hütete mich, mein Wachsein zu verraten.

Endlich rief die Mutter, ich solle aufstehen, es wäre sieben – und von den verschiedenartigsten Gefühlen bewegt, wandte ich mich herum. Aber in der Erwartung geburtstaglichen Glanzes war ich freilich sehr überrascht, nichts als ein heruntergebranntes Talglicht zu finden, bei dem die Mutter sich angekleidet hatte. Vorn Geburtstage schien gar keine Rede sein zu sollen. Ich tröstete mich indessen mit der Wahrscheinlichkeit, daß bei einem alten Knaben von sechs Jahren, wie ich nun einer war, die bisherige Bettbescherung unstatthaft geworden und ich am Frühstückstische beschenkt werden würde wie der Vater. Als ich indes auch dort nichts fand und die Mutter mir statt der Geburtstagsschokolade gleichgültige Milch versetzte, mußte ich mir Gewalt antun, um meinen Schreck nicht zu verraten. Es war ein kummervolles Beieinander; keiner sprach etwas, und genossen wurde wenig.

Endlich ließ die Mutter sich vernehmen: «Du armer Junge! Du hast heute einen traurigen Geburtstag!»

Ach ja wohl! das war es eben. Meine Mutter hatte dem Faß den Boden ausgestoßen, und das Salzwasser schoß mir aus den Augen. Jene fuhr fort, erzählte mir von Kraft, wie er diesen Morgen begraben werde und wie das keine Stunde sei für Lust und Festlichkeit. Übrigens würde ich es ja wohl selbst am besten wissen, ob mein Betragen seit Lotzdorf so gewesen, daß man Freude an mir gehabt und wünschen könne, mir welche zu machen; sie hoffe aber, ich würde von nun an Sorge tragen, mich zu bessern; dann würden auch die Geburtstage wieder besser werden.

Die Mutter sprach sehr ernsthaft und ausführlich, und ich armer Schächer fühlte mein Unrecht äußerst lebhaft, so daß es mir unnatürlich vorgekommen wäre, noch obendrein beschenkt zu werden. Ich faßte aber die trefflichsten Vorsätze, und wenn diese auch mannigfach zu meiner Beschämung ausliefen, so mag doch Hinfallen und Wiederaufstehen uns armen Menschenkindern dienlicher sein als Aufstehen und nicht wieder Hinfallen.

Unterdessen stieg allgemach der Tag auf über die Dächer der gegenüberliegenden Häuser, die Lichter auf dem Frühstückstische verloren ihren Schein, und von der stillen Straße herauf dröhnte das dumpfe Rollen eines sich schwerfällig fortbewegenden Fuhrwerks. Wir traten ans Fenster und sahen eine lange Reihe dunkler Gestalten, den Vater an der Spitze, hinter dem Sarge des Freundes vorüberziehen. Meine Mutter trocknete sich die Augen, und auch ich weinte, denn ich hatte ihn sehr lieb gehabt.

Als am Abend desselben Tages Volkmanns mit noch anderen Freunden kamen und meine Mutter den Tee bereitete, schickte sie mich ins Nebenzimmer nach der vergessenen Zuckerdose. Ich nahm ein Licht und öffnete die Türe. Aber – wie soll ich das Außerordentliche einer Überraschung schildern? Ich stand wie geblendet von der Herrlichkeit der Lichter, der Blumen und Geschenke, die auf weißgedeckter Tafel vor mir ausgebreitet waren. Ich mußte nach Luft schnappen, dann warf ich mich der Mutter in die Arme.

Die gleichfalls überraschte Gesellschaft drängte nun heran, man bewunderte, man freute sich mit mir, untersuchte die einzelnen Gegenstände und amüsierte sich ein Weilchen, ihren Gebrauch zu prüfen – als auf einmal die Stimme meines Bruders laut ward. Er hatte die ganze Zeit über, die Fäuste in den dicken Backen und die Ellbogen auf den Tisch gestemmt, vor dem Kuchen gestanden und seine Blicke in dem Zuckergusse wurzeln lassen, bis er nun endlich in die akzentuierten Worte ausbrach: «Geht denn das Essen noch nicht los?»

Das war allen aus der Seele gesprochen; der Kuchen wurde abgeschlachtet, und uneingedenk der Eindrücke des Morgens, schmauste ich behaglich mit den anderen und wußte nicht, welch ein Komplott die Großen unterdes an ihrem Teetisch machten. Sie waren nämlich übereingekommen, einen Informator anzunehmen, der bei uns wohnen, die kleinen Volkmänner aber mit unterrichten und uns Kinder allesamt in Zucht halten sollte. Den rechten Mann zu solchem Werke glaubte Vater Volkmann in einem jungen Theologen, namens Senff in Leipzig, bereits zu kennen und eröffnete mit ihm sofort die nötige Unterhandlung. Gleich nach Ostern sollte der neue Lehrer bei uns eintreffen, und wir Kinder sahen ihm als etwas Neuem gern entgegen, nicht ahnend, daß dieser Senff auch seine Schärfe haben könne.

6. Das Amthaus[Bearbeiten]

Mein Vater war für den größten Teil des Winters nach Weimar gegangen, um diese Stadt für eine Sammlung auszubeuten, die seine Werkstatt illustrierte. Er hatte nämlich seit Jahren den Aufenthalt namhafter Zeitgenossen in Dresden benutzt, um sie zu malen, und besaß bereits die lebensgroßen Brustbilder von Schubert, Werner, Rühle, Fernow, Böttiger, Lais, Morgenstern, Seume, Oehlenschläger und anderen.

Jetzt sollten die weimarischen Koryphäen die Sammlung krönen. Der treffliche Meister verlebte schöne Tage im kleinen Musenstädtchen an der Ilm und schrieb zufriedene Briefe. Goethe und Wieland saßen bereitwillig in eigener Person; die Bilder Schillers und Herders dagegen konnten, weil beide bereits das Zeitliche gesegnet, nur nach den Totenmasken, nach schon vorhandenen Bildern und nach der Beschreibung nächststehender Freunde gemalt werden, galten jedoch gleichfalls für sehr gelungen. Es waren vier herrliche, überaus charakteristische Gemälde, die der rückkehrende Meister seiner berühmten Sammlung einverleibte.

Inzwischen war gegen Ende der Abwesenheit meines Vaters die Mutter erkrankt, wahrscheinlich infolge verfrühten Wochenbettes. Wir Kinder erfuhren nur, daß sie unpaß sei und größte Schonung nötig habe; wenigstens verlangte der Arzt von uns, wir sollten da sein, als existierten wir nicht, und da das seine Schwierigkeiten hatte, so ward beschlossen, wenigstens mich und meinen Bruder einstweilen ganz aus dem Hause zu tun. Volkmanns, die allerdings das nächste Anrecht zu solcher Belästigung gehabt hätten, waren damals nicht vorhanden, indem sie einen vorübergehenden Aufenthalt in Leipzig machten, aber die Hofrätin Näke nahm uns gern in ihre Hütten auf.

An ihrer Hand zogen die kleinen Exulanten in dem altehrwürdigen Amthause auf der Pirnaischen Gasse ein, wo sie alles anders als zu Hause fanden, nämlich schlechter, wie sie meinten. Der Unterschied lag, abgesehen davon, daß das Amthaus nicht der Gottessegen und Näkes nicht unsere Eltern waren, vorzüglich in der Einrichtung. Meine Mutter bewohnte ihre besten Zimmer selbst, helle, luftige Räume mit einfarbigen Wänden, deren Schmuck sich auf wenige gute Bilder beschränkte. Nichts war bei uns verhangen, verschleiert oder verkramt – keine Vögel, keine Blumen, keine Gerüche und nichts, was bloß des Putzes wegen dagewesen wäre. Sehr einfach waren auch die Möbel, im rechtwinkligen Kastenstil der Zeit, den man griechisch nannte und der mich ganz befriedigte.

Anders war es im Amthaus. Die heiteren, nach der Straße gelegenen Räume der schönen Wohnung wurden nicht bewohnt und schienen nur ihrer selbst wegen da zu sein. Es waren glänzende Putzgemächer, zu schade zum Gebrauch. Die Familie beschränkte sich vielmehr auf einige enge Zimmer, die nach dem düstern, von hohen Gebäuden umstellten Hofe sahen, dessen Ödigkeit sich durch das eintönige Plätschern eines Röhrbrunnens noch bemerklicher machte. Die Fenster gaben daher nur wenig Licht, das überdem noch durch bunte Gardinen gebrochen war. Die gedrängten Möbel, im Zopfstil phantastisch gespreizt und ausgeschweift, waren mit Porzellan, mit Muscheln und allerlei unnützen Nichtswürdigkeiten besetzt. Auf den Fensterbrettern standen Balsaminen, Geranien und Nelken; gelangweilte Goldfische in gläsernen Kugeln zierten die Spiegeltische, abwechselnd mit Potpourris, welche die Zimmeratmosphäre mit starken Gerüchen füllten. Das Hauptstück aber und die Krone aller Langweiligkeit war ein Vogelbauer von Golddraht, dessen Insasse, ein alter Dompfaffe, unablässig den Anfang des Dessauer Marsches pfiff.

Fremdartiges widersteht anfänglich. Doch gewöhnten wir uns bald nach Kinderweise und wurden heimisch bei den guten Menschen, die es sich angelegen sein ließen, uns den Aufenthalt in ihrem Hause so angenehm zu machen, als sie konnten. Jeden einzelnen von ihnen, besonders den alten Vater und die drei Söhne, schloß ich ins Herz und freute mich der heiteren Unterhaltungen am Mittagstische, der die ganze Familie zu vereinen pflegte.

Die Gegenstände des Gesprächs sind fast in jedem Hause andere. Bei uns zum Beispiel war vom Essen nie die Rede. Meine Mutter hatte dafür entweder selbst wenig Sinn oder wollte ihn in uns nicht wecken. Was sie für leicht verdaulich hielt, das schmeckte ihr und mußte uns am besten schmecken, und da in dieser Hinsicht nichts über unschmackhafte Speisen geht, so wurden diese für gewöhnlich vorgezogen. Mein guter Vater hatte zwar seine Vorurteile für Spargel, für Blumenkohl und Krebse, die stillschweigend berücksichtigt wurden; sonst aß er stillschweigend auch alles andere.

Bei Näkes dagegen war das Essen nichts weniger als ein verschwiegenes Kapitel und wurde stets zum Gegenstand lebhafter Unterhaltung. Jedweder hatte da nicht nur sein Lieblingsessen, womit er der Reihe nach bedacht ward, sondern an Fisch und Braten sogar sein Lieblingsstückchen, um das daher kein Streit sein konnte. Die allgemeine Leidenschaft war zarter Karpfen aus den Moritzburger Teichen, eine Schüssel, bei deren Erscheinen die allgemeine Stimmung augenblicklich in Fisch-Moll überging. Ein jeder wußte dann sein Kopf-, Schwanz- oder Mittelstückchen fast mit Rührung zu verspeisen und so herauszustreichen, daß man glauben konnte, es sei die Rede von ganz verschiedenen Gerichten. Uns Kindern legte man, wahrscheinlich wegen der Gräten, bloß Milch und Rogen vor, uns einredend, daß diese wohlschmeckendsten Teile nur Gästen verabfolgt würden. Auch mundeten mir besagte Eingeweide ganz vortrefflich, nur daß ich mich des unverdienten Vorzugs schämte.

Es waren heitere Mittage im Kreise dieser freundlichen Menschen, die es so wohl verstanden, Kleines groß zu machen, ja, wenn nichts anderes dagewesen wäre, ein Butterbrot zum lukullischen Mahle geadelt hätten. Man würde dann nur gestritten haben, ob Rinde oder Krume, dick oder dünn gestrichene Butter den Preis verdiene.

Dieser Fähigkeit der Illusionen, die sich keineswegs nur auf Speisen beschränkte, verdankte die Familie viele gute Stunden, sowie freilich, namentlich in späteren Jahren, auch manchen Schmerz, welcher mitunter ebensowenig begründet sein mochte als die Vorzüglichkeit eines Fischkopfes vor dem Schwanzstück. Damals aber war es ein glückliches Zusammenleben: zwei Töchter und drei erwachsene Söhne von verschiedenem Berufe, alle wohlbegabt und geistvoll, mit den Eltern unter einem Dach, mittags und abends ihre Erlebnisse gegenseitig austauschend.

Besonders liebenswert erschien der Hausvater selbst, wenn er mit seinem gepuderten Kopf, in Kniehosen und Schnallenschuhen aus den Geschäftslokalen unter die Seinigen trat. Redlichkeit und Güte leuchteten aus seinen grauen Augen, sein anspruchsloses Wesen legte keinerlei Zwang auf, und immer stimmte er gern in die gute Laune seiner Kinder ein. Auch gegen uns, die fremden Kinder, die ihre Füße unter seinen Tisch hingen, war er gleichmäßig gut. Bisweilen nahm er uns sogar, vielleicht aus Erbarmen gegen seine Frau, mit sich in sein Arbeitszimmer und duldete unsere lauten Spiele, während er amtliche Erlasse las und unterzeichnete. Die Akten standen da zu Schanzen aufgetürmt. Dahinter versteckte ich meinen Bruder, und wenn ich dann klagte, daß er verloren sei, und der Alte ihn fruchtlos rief und suchte, bis er laut lachend aus seinem Versteck hervorbrach, konnte der würdige Mann so erstaunt aussehen, daß wir immer glaubten, ihn getäuscht zu haben.

Um in jenes abgelegene Arbeitszimmer zu gelangen, hatte man einen winkligen Korridor zu passieren, der zum ausschließlichen Gebrauch der Amtsfamilie eine Nebenverbindung unter den verschiedenen Teilen des labyrinthischen Gebäudes herstellte und dessen mysteriöses Dunkel uns Kindern je nach der Tageszeit mehr oder minder Bangigkeit einflößte. Man hatte uns nämlich davon in Kenntnis gesetzt, daß dort der Niemand hause, dem alle schon begegnet sein wollten.

Nun wäre ich möglicherweise alt genug gewesen, um mich nicht vor niemandem zu fürchten, wenn nicht das Wesen der Gespensterfurcht gerade in der Furcht vor nichts bestände. Man scheut sich, etwas wahrzunehmen, was nicht da ist, und wird sogleich beruhigt, sobald man sich nur überzeugt, daß wirklich etwas da ist. Indem ich nun den Bruder zu fürchten machte, fürchtete ich mich selbst am meisten, und wir spielten gewissermaßen mit der Gefahr, wenn wir uns des Abends damit amüsierten, so lange aus der halbgeöffneten Tür in jenen dunkeln Gang zu blicken und den Niemand anzuschreien, bis uns das Entsetzen überkam und wir die Türe eilig zuschlugen.

Diese Unterhaltung mochte der Mutter Näke wegen einströmender Kälte und des Lärmes, den wir machten, wenig zusagen. Sie gebot uns deshalb häufig Ruhe, hatte sich neuerdings sogar bis zu der Drohung verstiegen, wenn wir bei ihr nicht guttun wollten, uns gänzlich wegzutun, etwa zu Mamsell Claß; dennoch vergaßen wir uns fort und fort und fingen, der Bilderbücher und des Stillsitzens überdrüssig, immer wieder an zu wildern und die Neckereien mit dem Niemand fortzusetzen.

Eines schönen Abends nun, da das Gruseln nicht recht gelingen wollte, trieb ich den Vorwitz so weit, das Zimmer zu verlassen und den unheimlichen Korridor entlang zu wandeln, als wäre das ein Kinderspiel. So recht in der Verfassung, dem Niemand zu begegnen, schritt ich leichtsinnig fürbaß, während mein Bruder mir in vorgebeugter Stellung mit an die Knie gestemmten Händen nachsah, jeden Augenblick bereit, laut aufzubrüllen.

Unweit der Stubentüre machte der Gang ein Knie, von welchem der Schein einer entfernten Lampe sichtbar wurde, die vor dem Arbeitszimmer des Oberamtmanns brannte. Da! – wahrhaftig, da war etwas! Ich unterschied ganz deutlich eine kleine, verteufelte Gestalt, die mir entgegenhuschte. Ich prallte zurück, und, meinen Bruder über den Haufen werfend, stürzte ich ins Zimmer. Der Kleine entwischte schreiend auf allen vieren, während die Hofrätin Näke ihre Brille abnahm und ernstlich scheltend von ihrer Arbeit aufstand. Gleichzeitig war aber auch der Niemand eingedrungen.

Da löste sich der Zauber, denn, bei Licht besehen, war dieser Niemand niemand anders als Mamsell Claß, die ich seit meinem Abenteuer in der Mädchenschule hier zum ersten Male wiedersah. Sie mochte beim Oberamtmann ein Geschäft gehabt und dann, vertraut mit der Gelegenheit des Hauses, jenen Gang benutzt haben, um die befreundete Familie zu besuchen. Daß mir's ganz wohl bei dieser Verwandlung gewesen wäre, kann ich nicht sagen, da es der Mutter Näke jetzt leicht einfallen konnte, ihre Drohung wahrzumachen. Indes, es schien ihr dies doch nicht einzufallen, und alles löste sich in Wohlgefallen auf, bis auf den Umstand, daß Mamsell Claß mich auf den Schoß riß und mich küssen wollte – Strafe genug für meine Unart.

Beim Abendessen traf mich freilich der Spott der Tischgenossen; aber der Hausvater nahm mich in Schutz. Er mochte sich erinnern, daß auch er in früheren Zeiten vor Frauenzimmern geflüchtet war, und es verzeihlich finden, daß ich ein Weib für ein Gespenst gehalten.

Wie lange wir bei Näkes hausten, hab' ich vergessen: den Eindrücken nach, die mir geblieben, ein halbes Jahr; in Wahrheit vielleicht nicht länger als acht Tage; aber die Erinnerung weilt mit dankbarer Liebe und mit Wehmut bei diesen guten Menschen, deren glückliches Familienleben nur zu schnell zu Ende ging. Die Engel des Hauses, die beiden Eltern, starben bald nach jener Zeit kurz hintereinander, das alte trauliche Amthaus, da man so heimisch gewesen, mußte verlassen werden, und die Wege der Geschwister gingen auseinander. Sie waren sämtlich liebenswerte Menschen, die Söhne ausgezeichnet und geachtet in ihrem Beruf, die Töchter jeder Teilnahme der Freunde gewiß; dennoch begann sich mehr oder weniger in ihnen allen ein Gefühl des nicht Zugehörigen und Fremdseins zu entwickeln, das sie vereinsamte und je mehr und mehr von anderen Menschen isolierte. Unverheiratet blieben sie alle und sind nun schon seit einer langen Reihe von Jahren aus einem Leben geschieden, das seinen Glanz für sie verloren hatte.

Das Krankenzimmer[Bearbeiten]

Die Trennung von der Mutter war uns durch Besuche, die wir bisweilen an der Hand der Pflegerinnen machen durften, erleichtert worden. Dennoch zogen wir, als sie genesen, mit Befriedigung wieder in unser altes Nest ein. Auch kam der Vater nun zurück, und unser Leben, das so lange aus dem Geleis gewichen, hätte sich wieder regeln mögen, wenn nicht neue Störung eingetreten wäre.

In Dresden gingen die Spitzblattern um, und wir drei Geschwister erkrankten gleichzeitig daran. Das war nun keine sonderliche Freude, doch hatten gerade wir Patienten die wenigste Unbequemlichkeit davon. Es ging uns in der Tat nichts ab; unsere kleinen Betten, gegen das Herausfallen mit Geländer versehen, standen gesellig nebeneinander in einem freundlichen, mit unterhaltenden Bildern versehenen Zimmer. Die pflegende Mutter war immer bei uns, der Vater ab und zu, und während das Schwesterchen mit seinen eigenen Händen spielte oder an der von Weimar mitgebrachten Kinderklapper kaute, besahen wir andern die vom Vater mit großer Munifizenz gespendeten Kupferwerke, schnitten Papierfiguren aus und kneteten allerlei Blumen und Gestalten aus buntem Wachs, mit denen wir die Ränder unserer Bettstellen beklebten. Unter solchen Umständen läßt sich's schon krank sein, und ich hätte auch heute nichts dagegen, wenn Spitzblattern das einzige Übel wären, was den Menschenleib betreffen könnte.

Die angenehmste Erinnerung aus jener Krankheitsperiode knüpft sich an die Abendstunden, wenn die Rouleaus herabgelassen, die Lichter angezündet waren und die Schwester schlief. Dann fand die Mutter Ruhe, sich mit ihrem Strickstrumpf zwischen uns zu setzen, und wir plauderten von allem, was uns einfiel. Am liebsten war's uns, wenn die Mutter was erzählte, namentlich von ihrer fernen Heimat, die wir auch als die unsrige betrachteten, von jenem abgelegenen Küstenlande mit seinen dunkeln Wäldern und schimmernden Wiesenflächen, mit seinen frischen Quellen und ewigen Morästen, durchirrt von Elentieren, Bären, Wölfen, wo auch die Großeltern hausten und zahlreiche liebe Verwandte unser dachten, und wohin wir selbst auch bald zurück sollten.

Die wilden Bestien waren jedoch das beste, und namentlich wußte meine Mutter von Wölfen sehr effektvoll zu berichten. Ob sie auch Kinder fräßen, fragten wir, und es erfolgte nachstehende wahre oder doch aus wahren Umständen zusammengesetzte Geschichte, denn mit Märchen ließ die Erzählerin sich nie ein.

«Es war einmal ein kleiner Junge, der war vier Jahre alt und hieß Inrik. Seine Eltern waren Bauersleute und wohnten in einem abgelegenen Walddorf. Der Inrik war aber nicht so angezogen wie die Lotzdorfer Bauernjungen; er hatte nichts am Leibe als ein kurzes Hemd von grober Leinwand.

Nun traf sich's, daß die Mutter Piroggen gebacken hatte – das sind kleine runde oder viereckige Kuchen von Brotteig, gefüllt mit Sauerkraut oder auch mit Möhrenbrei, wie sie die Leute dort zu Lande lieben. Von diesen Piroggen band die Mutter welche in ein Tuch, gab es dem kleinen Inrik in die Hand und sagte: ‹Geh, bring's dem Vater auf das Feld; aber eile dich, damit er's warm kriegt!›

Der Kleine faßte den Knoten des Tuches fest und sprang wohlgemut in seinem Hemdchen davon. Er mußte aber durch einen großen Wald laufen, wo viele Erdbeeren standen; doch weil ihm die Mutter gesagt hatte, daß er sich eilen sollte, so rührte er keine an und kam bald zu seinem Vater. Der ruhte im Schatten am Rande des Waldes, an den sein Feld stieß. Er ruhte von der Arbeit und wollte eben sein Vesperbrot, die mitgebrachte saure Milch, verzehren, als Inrik bei ihm anlangte. Da freute sich der Vater über den Kleinen und über die Piroggen, ließ ihn neben sich niedersetzen und gab ihm auch davon.»

«Das war eine hübsche Geschichte», sagte mein Bruder, und er wollte auch Perücken essen. Aber die Mutter bedeutete ihm, die Geschichte sei ja noch nicht zu Ende, und erzählte weiter.

«Als nun die Feldarbeit wieder anging, machte sich der Inrik auf den Rückweg, und da er keine Eile hatte, pflückte er von den schönen roten Erdbeeren, die am Wege standen. Die schmeckten ihm so süß und immer süßer, je mehr er davon aß, daß er endlich an nichts anderes dachte als an die Erdbeeren und, je nachdem sie wuchsen, immer tiefer in den Wald lief. Da er nun satt war, pflückte er auch noch ein Sträußchen für die Mutter und wollte dann zurückgehen auf den Weg. Aber er hatte die Richtung verfehlt und geriet in dichtes Gestrüpp, aus dem er sich nicht wieder herausfinden konnte. Da wurde er ängstlich und irrte mit seinem Erdbeersträußchen kreuz und quer und stundenlang umher, bis seine kleinen nackten Füßchen von Dornen zerrissen und er so müde war, daß er nicht weiter konnte. So setzte er sich denn weinend unter eine alte Fichte, und traurig und erschöpft, wie er war, sangen ihn die Drosseln bald in Schlaf.

Er hatte sich nur etwas ausruhen wollen und dann weitergehen; aber er schlief so fest und lange, daß, als er endlich erwachte, der Nachtwind bereits die Wipfel der Birken wiegte. Da fing der arme Junge bitterlich zu weinen an und rief laut nach seiner Mutter, die ihn freilich nicht hören konnte. Aber ein Paar schärfere Ohren hörten ihn.

Es war ein Morast in der Nähe, in dessen Mitte eine alte Wölfin auf dem Lager lag. Die hörte den Hilferuf des kleinen Inrik, streifte ihre Jungen von sich ab, erhob sich und zog leichten Schrittes mit hohlem Leibe über den bruchigen Boden hin. Plötzlich fühlte der jammernde Knabe sich von einer kräftigen Tatze zu Boden gestreckt und war fast des Todes, als er die glühenden Augen des Raubtieres dicht an den seinigen erblickte. Die Wölfin beschnoperte den Knaben, der in seiner Angst still wie ein Toter dalag. Dann faßte sie ihn mit scharfen Zähnen bei seinem Hemdchen und trat den Rückzug mit ihm an.

Eilig ging's nun fort über Stock und Block, durch dick und dünn. Halb trug die Wölfin den geraubten Knaben, halb trieb sie ihn durch Peitschen mit ihrem dicken Schwanze zum Selberlaufen an. Endlich legte sie ihn zwischen drei kleinen Wölfen mit breiten Köpfen und kurzen Schwänzen auf ihr Lager nieder und leckte seine Füße, während die Kleinen mit ausgelassener Freude kreuz und quer über ihn wegkrochen. Wahrscheinlich sollten sie noch etwas mit ihm spielen, ehe er gefressen würde, aber Inrik hatte dazu wenig Lust, kaum wußte er, was mit ihm vorging.

Da knackte es in den dürren Ästen, die auf dem Morast zerstreut umherlagen, die Wölfin spitzte die Ohren, fuhr auf und schoß einem großen, schwarzen Hund entgegen. Unter Geheul und Bellen entspann sich nun ein fürchterlicher Kampf; Hund und Wolf hatten sich gegenseitig gepackt, rissen sich nieder und wälzten sich blutend im Moraste, daß das Gewässer hoch aufspritzte. Indem wurden Männerstimmen laut, und Bauern mit Äxten eilten herbei.

Inriks Vater war, geängstet über das Verschwinden seines Kindes, mit Nachbarn und Hunden ausgezogen und hatte schon seit Stunden den Wald durchsucht. Jetzt allen übrigen voran, schlug er den Wolf tot.

‹Der muß hier sein Nest haben›, sagten die Männer und begaben sich ans Suchen. Da fand man das halbnackte Kind mit seinem Erdbeersträußchen in der Hand wie tot unter den kleinen Wölfen, die ihre dicken Köpfe ängstlich ineinander geschoben hatten. Der Vater riß sein Söhnchen an sich, schloß ihn ans Herz und fing laut an zu jammern, denn er dachte, daß er tot wäre. Aber Inrik schlug bald die Augen auf, klammerte seine Ärmchen um den Hals des Vaters und sagte weiter nichts als: ‹Ein großer Hund hat Inrik gebissen!› Die jungen Wölfe aber verkaufte man dem Gutsherrn, der seine Freude daran hatte und sie als Kettenhunde groß zog.»

Bei der zweiten Hälfte dieser Erzählung war auch mein Vater eingetreten und hatte sich, die Hände auf dem Rücken, vor dem Kachelofen aufgepflanzt. Jetzt sagte er, er könne vor dem Inrik keinen rechten Respekt haben. Ein Junge, und ganze vier Jahre alt, sollte sich was schämen! Wäre er keck aufgesprungen und hätte den Wolf mit einem fürchterlichen Blicke angesehen, so würde der sich bald aus dem Staube gemacht haben.

Die Mutter bezweifelte, daß der Wolf sich daran gekehrt haben würde; aber der Vater blieb bei seiner Meinung. «Der kleinste Mensch», sagte er, «kann Wunder tun, wenn er nur den Mut dazu hat. Hätte der Wolf ihn aber doch gefressen, so wäre er wenigstens mit Ehren umgekommen.»

Mit dieser Spitzblattergeschichte schließt die Periode der ersten ungeschulten Maitage meiner Jugend ab, und das Kennzeichen des Knabenalters, die Plage regelmäßigen Unterrichtes in dem, was niemand zu wissen begehrt, in den abstrakten Formen der ersten Elemente, ließ mich fortan einen leisen Vorgeschmack vom Ernst des Lebens gewinnen.


Zweiter Teil[Bearbeiten]

1. Die Kaiserlichen[Bearbeiten]

Wenn man Erinnerungen aus früherer Zeit fixieren will, um sie aufzuzeichnen, ermißt man erst, wie sie chaotisch sind, wie schwer zu ordnen, und wie wenig des Erlebten man behalten hat. Mir wenigstens ist bei Abfassung dieser Blätter oft zumute, als durchschiffte ich ein Nebelmeer, nur hin und wieder einzelne hervorragende Wipfel gewahrend, die als feste Punkte Dazwischenliegendes erraten lassen.

So finde ich mich auch jetzt, da ich von der Ankunft des langerwarteten Lehrers berichten möchte, gar sehr im dunkeln, denn ich weiß nichts mehr davon, ebensowenig als von seiner Abreise, die etwa drittehalb Jahr später erfolgt sein mag. Im Bilderbuch alter Erinnerung erscheint er mir wie eine Wolke, die am blauen Himmel aus nichts entstanden und wieder in nichts zerronnen ist, doch aber Spuren ihres Segens auf der Flur zurückließ.

Das Bild meines lieben Lehrers Senff tritt mir zum ersten Male bei Gelegenheit eines abendlichen Spazierganges entgegen, den er mit uns und den kleinen Volkmännern am Elbufer machte. Es war ein schöner Juniabend des Jahres 1809. Wir hatten unter Anleitung des Lehrers einen Steindamm in den Strom hinausgebaut, auf dessen Spitze von zusammengetragenen Reisern ein Feuer angezündet wurde. Das flammte hoch auf, und wir hatten unsere Freude daran, bis wir durch einen vom anderen Ufer heranrudernden Schiffer mit harten Worten angeherrscht und weggewiesen wurden.

Zwar hatten wir Knaben, der Kraft unseres Mentors vertrauend, vorgeschlagen, den Wüterich mit einem Steinhagel zu begrüßen; Senff aber meinte, der Mann sei ohne Zweifel in seinem Recht, wo nicht, so pflege bei Streitigkeiten der Klügere nachzugeben. Wir zogen uns also zurück, noch ehe jener das Land erreichte, aber von Schmähungen verfolgt, die nicht zu schmeichelhaft klangen und mich besonders in Senffs Seele kränkten, denn man vernahm da Worte wie: «Großer Bengel» und «Dummheiten machen» und «Komm nur wieder, du Tausendschockschwerenöter, daß ich dir ans Schafsleder lange!»

Wir taten indessen, als ob wir taubstumm wären, schritten eilig weiter und waren bald dem Bereiche jenes Störenfrieds entronnen, freilich nur, um einem anderen Feind ins Garn zu gehen. Wir fanden nämlich, als wir die Stadt erreichten, zu unserer größten Überraschung das Tor gesperrt. Zwei fremdartige Reiter, ein kohlschwarzer und ein strohgelber, hielten da mit blanker Waffe und wiesen jedermann zurück. Die Stadt war offenbar in irgendeine Hand gefallen, ob in Freundes oder Feindes Hand, war vorläufig einerlei und erwies sich so auch später. Genug, wir waren ausgesperrt, und Senff mochte sich abermals in einiger Verlegenheit befinden. Für uns Kinder hatte jedoch dies Abenteuer auch seine schmeichelhaften Seiten, denn immerhin war's doch ein tüchtiges Erlebnis, so mitten in den Krieg geraten und ordentlich exiliert zu sein.

Was nun werden sollte, wohin wir uns zu wenden hätten und auf welche Weise wir die Nacht verbringen würden, vielleicht in einer Dorfschenke oder bloß im Wald unter Kieferbüschen, das waren interessante Fragen, die wir untereinander diskutierten, während Senff seine Beredsamkeit fruchtlos erschöpfte, um die Passage freizukriegen, bis dies endlich uns und anderen durch die Dazwischenkunft eines höheren Offiziers gelang und wir ohne weitere Fährlichkeiten nach Hause kamen.

Der Krieg von 1809 mochte der populärste sein, den Österreich jemals führte. Zwar hatte der hartbedrängte Kaiserstaat die Waffen fast des ganzen Weltteiles wider sich, die Sympathien aber für sich, und namentlich in Deutschland begrüßte man die anfänglichen Fortschritte der österreichischen oder der «kaiserlichen» Kriegsheere mit hoher Freude. So war es auch in dem politisch mit Napoleon verbündeten Sachsen. Auch hier freute man sich der Fortschritte des Feindes und schenkte der gerechten Sache, für die er kämpfte, die wärmste Teilnahme.

Als daher jetzt der österreichische General am Ende, ganz unerwartet von Böhmen ausbrechend, das unbewachte Dresden überrumpelt hatte und besetzt hielt, erwies man diesen ungebetenen Gästen von seiten des Publikums die ungeheucheltste Feindesliebe. Ganz besonders interessierte der edle, seiner Erbländer beraubte Herzog von Braunschweig, der sich mit seinem Freikorps den Kaiserlichen angeschlossen hatte. Ihn und seine schwarzen Husaren umleuchtete ganz vorzugsweise der Nimbus patriotischer Opferfreudigkeit, und es fehlte auch in Dresden nicht an begeisterten jungen Leuten, die sich unter seine Fahne stellten.

Auf dem freien Platze zwischen Wiesentor und Jägerhofe wurde die Dresdener Mannschaft eingeritten, unter welcher ich zu meiner Freude bald ein paar wohlbekannte Gesichter entdeckte, die sogenannten anderen Jungens, die ich sehr lange nicht gesehen hatte und die bereits vollständig eingekleidet, mit dem silbernen Totenkopf am Hute, auf feurigen Rossen einherbrausten. Da sie mich bemerkten, hob mich der eine auf sein Pferd und verschaffte mir dadurch das stolze Bewußtsein, mit den berühmten Totenköpfen auch einen Ritt gemacht zu haben.

Als er mich abgesetzt, wollte er sich zeigen und trieb sein Pferd durch Peitschenhiebe zu solchem Rasen an, daß es mit ihm stürzte und der arme Junge wie tot vom Platze getragen ward. Bald darauf verließ der Herzog Dresden, sich mit seiner Heldenschar nach Franken wendend, und ich habe von dem Schicksal jener beiden jungen Leute, deren Mutter uns schon damals verlassen hatte, etwas Weiteres nie mehr gehört.

Nun aber rückte österreichische Landwehr ein, schmuckloses und vierschrötiges Volk in grauen Waffenröcken und grüne Zweige an den Mützen. Diese Leute exerzierten Tag für Tag vor unseren Fenstern, und ich trieb mich gern unter ihnen herum, indem ich mich besonders für einen einzelnen interessierte, der eigentlich gar nicht zu ihnen gehörte und seiner Kompagnie als ein recht unverdauter Bissen im Magen liegen mochte. Dieser Mensch war ein richtiger Franzose, der als Kriegsgefangener den österreichischen Fahnen nur gezwungen folgte. Er saß gewöhnlich allein für sich auf einer der Bänke unter den Linden, trug den Arm in der Binde und sah entsetzlich elend aus. Als ich mich an ihn machte, ließ er mich das grobe filzartige Tuch seines Waffenrocks fühlen und sagte: « Français fein – kaiserlik Art i slekt», und da wir Zeugen von der Art und Weise wurden, mit der die österreichischen Unteroffiziere ihre Leute behandelten, bemerkte er: « Corporal français, sie ist öflik, aber Autrichien viel große Stock.»

In der Tat war es wohl anerkennenswert, mit welcher Geduld die damaligen Franzosen ihre Rekruten übten, was wir später im Jahre dreizehn, da in Dresden viele junge Mannschaft lag, oft zu beobachten Gelegenheit hatten, und an so anständige Behandlung gewöhnt, mochte jener arme Kerl sich allerdings in deutschen Händen nicht zum wohlsten fühlen. Ich erzählte meiner Mutter von ihm und ward durch sie in den Stand gesetzt, ihm zuweilen etwas Geld und Nahrung zuzustecken, wodurch er so gerührt ward, daß er im Eifer seines Dankes den wenigen deutschen Worten, die er kannte, vollends den Hals brach.

Inzwischen machte der Waffenstillstand von Znaim diesem Umgang bald ein Ende, und mein armer Franzose räumte mit seiner österreichischen Gesellschaft das gastliche Dresden. Dafür aber rückte nun Talkenberg mit dem sächsischen Kontingente ein und trat wieder seinen Dienst in unserem Haus an. Er war siegreich zurückgekehrt und wußte Haarsträubendes zu erzählen, namentlich von der Wagramer Schlacht. Doch war es nicht das, was ihm das Herz meines Vaters gewann, sondern daß er seines Sieges nicht recht froh war, vielmehr versicherte, wie jede Patrone, die er für die Franzosen abgebissen, ihm noch jetzt im Leibe kollere.

Bei uns fand Talkenberg mancherlei verändert. Frau Venus zwar, die während seiner Abwesenheit weggekommen, vermißte er wenig und nahm's nicht übel, statt ihrer ein jüngeres Wesen anzutreffen; aber Senffs Erscheinen stand ihm nicht zu Sinn. «Dein Vater», sagte er mir, «hätte dir ein Pack Bücher unter den Arm schieben und dich in die Schule schicken sollen, das wäre gescheiter gewesen. Dann wären wir so wie sonst miteinander spazierengegangen, und es hätte ein rechter Kerl aus dir werden können.»

2. Ob Herr Senff ein Heiliger gewesen[Bearbeiten]

Mein Umgang mit dem alten Freunde Talkenberg war freilich jetzt so ziemlich auf nichts reduziert, denn für Feier- wie für Arbeitsstunden war ich dem Lehrer übergeben, wohnte mit auf seinem Zimmer, ging mit ihm aus und ein und spielte auch gewöhnlich unter seiner Aufsicht. Das alles war kein Nachteil, denn Senff war ein trefflicher und frischer Mensch, und nichts konnte verfehlter sein als Talkenbergs Annahme, daß ich unter seiner Zucht verprinzeln und die Anwartschaft auf einen rechten Kerl verlieren würde. Senff hatte vielmehr ganz entschiedenen Widerwillen gegen jede Art von Verweichlichung, gegen alles verschrobene und gemachte Wesen wie gegen Affektation und angelernte Manieren. Er wollte, daß wir uns zeigen sollten, wie wir eben waren, gewöhnte uns an strenge Wahrheit unserer Ausdrucksweise und duldete keine Äußerung, die nicht im Einklange mit unserer Empfindung und Einsicht gewesen wäre. Fiel dergleichen bei anderen Kindern vor, so machte er uns aufmerksam und lachte darüber. Freilich wurden bei solchen Wahrheitsbestrebungen so manche hergebrachte Formen konventioneller Höflichkeit mit anderen Affektationen in einen Topf geworfen, und ich wuchs unvermerkt in eine Richtung hinein, die mir im späteren Verkehr mit Menschen hinderlich geworden; denn die Gesellschaft will nichts weniger als Wahrheit, mit der sie nicht bestehen kann. Dafür blieben wir aber auch allesamt von jenem gemachten Wesen frei, das, bei Männern wie bei Frauen widerwärtig, jede freundschaftliche Annäherung unmöglich macht.

In solcher Natürlichkeit verstanden wir Kinder uns vollkommen mit unserem Lehrer und machten es ihm daher auch ganz vollkommen zu Dank. In anderer Hinsicht mußte namentlich ich mich erst gewöhnen lernen. Zwar daß Senff beim Unterricht auf Ordnung halten, mich meistern und durch Besserwissen molestieren würde, hatte ich anders nicht erwartet, daß er aber auch die Anmaßung haben würde, meine Spiele zu beherrschen, das war mir überraschend und außerordentlich zuwider. Doch mochte er gerade damit den besten Einfluß üben, indem er nicht nur eine mir angebotene unstete Leidenschaftlichkeit in meinen Liebhabereien zu zügeln und mir durch sein tätliches Eingreifen allerlei praktische Kenntnisse und manuelle Geschicklichkeiten beizubringen wußte, sondern mich auch nötigte, bei allem, was ich tat, mir meines Tuns bewußt zu werden und mit der gewissenhaftesten Akkuratesse zu verfahren.

Inzwischen war mir die Unbequemlichkeit solches Zwangs einleuchtender als dessen Nutzen. Ich fühlte mich in der gewohnten Freiheit allzusehr beschränkt, und da Senff noch obendrein seiner Neigung, mich bei den Ohren zu zausen, nicht immer Einhalt tat, mich auch hin und wieder mit Püffen und Kopfnüssen regulierte, so vereinigten sich alle diese Umstände, mich irre an ihm zu machen, und ich fing nachgerade an, ihn in meinem Herzen für einen Bösewicht zu halten.

Diese Annahme wurde jedoch beizeiten durch eine seltsame Erscheinung paralysiert. Es traf sich nämlich, da ich meinem Lehrer in der Rechenstunde gerade gegenübersaß, daß ich einen wunderbaren Schein um seinen Kopf bemerkte. Vielleicht, daß der Kontrast seiner dunkelbraunen Locken zu dem hellerleuchteten Hintergrunde einer gelben Wand an der Grenze beider den Anschein einer Lichtverstärkung bewirkte, oder was es sonst sein mochte, genug, ich sah eine Glorie wie um gemalte Heiligenbilder und geriet darüber in die eigentümlichsten Vermutungen.

Die besten Menschen waren bei ihren Lebzeiten für Bösewichter gehalten und hingerichtet worden, das wußte ich aus einem die Martern der Heiligen darstellenden Kupferwerke meines Vaters, und war es daher nicht denkbar, daß auch Herr Senff ein Heiliger und nur von mir verkannt sei, wie jene von ihren Zeitgenossen? Heute wenigstens war doch ein Glanz durch seinen Hirnschädel gebrochen, der solche Deutung zu rechtfertigen schien.

Diese Vermutung teilte ich meiner Mutter mit. Sie erwiderte, man könne das so nicht wissen; indessen hätten Kinder ihre Lehrer immer als geheiligte Personen anzusehen, sie als solche zu verehren und ihnen zu gehorchen. Ich wandte bescheiden ein, Herr Senff raufe mich freilich sehr bei den Ohren; aber die Mutter erwiderte, das würde sich schon geben. Meine Aufgabe sei jetzt die, daß ich mich untadelhaft gegen ihn betrüge, dann würde er zuverlässig auch freundlicher mit mir umgehen.

Nun kann ich mir das ehrende Zeugnis nicht versagen, daß ich von dieser Zeit an wirklich bemüht war, den Weisungen der Mutter nachzukommen, und so gelang es mir denn auch, mich einigermaßen mit der Art und Weise meines Lehrers auszusöhnen. Ich lernte einsehen, daß er es gut mit mir meinte, gewann ihn lieber und halte ihn noch heute wert in meinem Herzen.

Unterricht[Bearbeiten]

Ich weiß es nicht, ob Senff gleich mit der Absicht und vielleicht gerade deshalb in unser Haus gekommen war, um sich fortan der Malerei zu widmen, oder ob er, durch das lebhafte Kunstgetriebe, in das er sich versetzt fand, angesteckt, erst zu solchem Entschluß gelangte – kurz, er wollte nun auch Maler werden, zeichnete und malte fortwährend, und indem er uns unterrichtete, genoß er gleichzeitig die Unterweisung meines Vaters. Mit bewundernswürdigem Eifer arbeitete er den ganzen Tag, zugleich lehrend und lernend unter uns Kindern, und sein langer Malstock, mit welchem er, hinter der Staffelei vorlangend, jeden erreichen konnte, erinnerte die Träumer ans Aufmerken.

Senffs Unterrichtsmethode war, soweit ich mich ihrer entsinne, die Pestalozzi-Krugsche, wobei es weniger darauf ankommen sollte, daß man was lernte, als vielmehr auf die Art und Weise, wie dies geschah. Das Lernen war zu seinem eigenen Gegenstand geworden, und die formale Kopfbildung sollte den Fachkenntnissen voraus oder doch wenigstens Hand in Hand mit ihnen gehen. Man hatte den Weg der älteren Schule, von der Praxis zur Theorie, vom Glauben zur Einsicht verlassen und experimentierte nun einmal zur Abwechslung von der verkehrten Seite; denn nichts schien rationeller, als vorerst das Gefäß zu formen, ehe der Inhalt eingeschüttet wurde.

Wie naturwidrig diese Methode und wie gefährlich sie in ihren Konsequenzen sei, mochten damals nur wenige begreifen, weil es an Erfahrungen fehlte. Es huldigten ihr die besten Köpfe, und nach alter Weise zu unterrichten, wäre philiströs gewesen. So hatte ich denn nun damit zu beginnen, vorerst das schon Gewußte zu vergessen und es mir unter der Zucht der neuen Methode von neuem anzueignen. Denn daß einer etwa lesen konnte, schien unstatthaft, bevor er das Sprechen begriffen hätte, und selbst das Sprechen wertlos ohne die nötige Kunde von der Entstehung der einzelnen Sprachlaute.

Es gab daher nicht wenig zu beschaffen und zu begreifen, ehe es möglich wurde, den eigentlichen Leseunterricht zu beginnen. Lehrer und Schüler sperrten gegenseitig die Mäuler auf, ersterer, um anschaulich zu machen, wie und auf welche Weise er schnurrend, zischend, säuselnd oder schnalzend die Zunge lege, letztere, um dem prüfenden Auge des Lehrers die nötige Einsicht in ihre respektiven Sprachwerkstätten zu gestatten. Je nachdem nun Zunge, Zähne, Lippen oder Gaumen tätig waren, wurden die produzierten Konsonanten auch benannt als «Zisch-, Schnurr- und Säusellaut, Lippen-, Zahn-, Gaumenschluß» usw.

So schnurrten, säuselten und zischten wir denn einander an wie Schlangen und waren so eingenommen von dieser Sache, daß uns nichts abgeschmackter und altmodischer vorkam als das Buchstabieren der älteren Schule. Ich prahlte daher auch gegen meine Freunde, die in ordinären Schulen waren, mit Schnurrlauten und Gaumenschlüssen und achtete es wenig, wenn Ludwig Engelhard und Fritz Pezold mich damit auslachten.

Wenn nun freilich auf diese Weise mancherlei begriffen wurde, ohne Buchstabieren und Syllabieren jedoch ein fester Grund in der Rechtschreibung nicht gelegt werden konnte, so schien die neue Lehrweise doch ganz besonders beim Rechnen angebracht, das seiner Natur nach jeden Dogmatismus ausschließt. Wir rechneten bloß im Kopf. Schriftliches Rechnen war als undurchsichtiger Schematismus fürs erste ausgeschlossen. Nichts wurde angenommen, bevor es eingesehen war, und selbst das Einmaleins lernten wir nicht eher auswendig, als bis wir's ausgerechnet und uns überzeugt hatten, daß es sich wirklich so verhalte.

Wo wir der Anschauung bedurften, bediente Senff sich sehr zweckmäßiger, von ihm selbst erfundener Rechenklötze, welche, zu verschiedenen Größen abgeteilt, die nötigen Beweise lieferten. Auch spielten und bauten wir in Freistunden mit solchen Rechensteinen, so daß die arithmetischen Proportionen sich uns auf alle Weise einprägten. Unter ihrem Bilde, und nicht der Ziffern, schwebten mir denn auch immer die Zahlengrößen vor. Ich rechnete nach gedachten Klötzen, eine treffliche Methode, die mich bald in den Stand setzte, ziemlich verwickelte Aufgaben mit Schnelligkeit zu lösen und für meine Jahre Ungewöhnliches zu leisten. Dies war indessen nur ein Resultat zweckmäßiger Unterweisung, denn die natürliche Befähigung zum Rechnen fehlte mir; sie war mir eben nur eingepflanzt und verschwand wieder, wie ein Pilz, der über Nacht gewachsen ist.

Ich weiß es nicht, ob es zu rasch gesteigerte Anforderungen waren, an denen ich erlahmte, oder ob meine Natur eine Tätigkeit, die ihr nicht adäquat war, nur bis zu einem gewissen Grade ertragen konnte – kurz, nach einem heftigen Auftritt in der Rechenstunde schleppte unser Informator mich beim Kragen in das Atelier des Vaters, laut klagend, daß der dumme Junge nun plötzlich nicht mehr wisse, wieviel einmal eins sei.

Das war nur allzu wahr. Ich hatte mich in einer schwierigen Aufgabe dergestalt verwickelt und verfangen, daß ich mich plötzlich in den allereinfachsten Zahlenverhältnissen nicht mehr zu orientieren vermochte. Und so blieb es; ich faßte gegen das Kopfrechnen einen unüberwindlichen Abscheu, wurde damit nicht weiter gequält und zu der Mechanik des Zifferrechnens übergeführt, worin ich jedoch nur sehr geringe Fortschritte machte.

Inzwischen wurde auch das Lateinische angefangen, Geschichte, Geographie und Naturgeschichte betrieben. Doch muß ich zu meiner Schande bekennen, daß es mir damals ziemlich einerlei war, wie die Römer ihre Tische benannt hatten, ob mensa oder anders, ob Sardanapal ein Weichling oder ein Held gewesen, ob die Erde eine Scheibe, eine Kugel oder ein Triangel sei, und ob die Fische ihre Jungen säugten oder mit Kuhmilch auferzögen. Mit einem Wort, es fehlte mir an Wißbegierde, und am liebsten hätte ich den ganzen Tag gezeichnet oder andere praktische Dinge getrieben, bei denen doch etwas herauskam.

Belustigungen[Bearbeiten]

Mein lieber Schulgenosse und Freund Alfred Volkmann, ein hübscher und braver Junge, war mir bald der liebste unter den Gespielen meiner Kindheit geworden, wie er denn auch der ausgezeichnetste und begabteste war. Etwas älter, aber zugleich verständiger als ich und mir in allem überlegen, zeigte er schon damals Eigenschaften, die für sein Fortkommen in der Welt Erfreuliches erwarten ließen. Namentlich verband er mit einem klug aufmerkenden Sinn in allem, was er trieb, gewissenhafte Ausdauer und viel Energie des Fleißes; daher er mir denn auch nicht selten als Muster vorgehalten wurde. Nachdrücklicher noch mochte indes sein Beispiel wirken, wie ich mich unter anderem eines Falles erinnere, da er mich zwar nicht durch Fleiß und Einsicht, wohl aber durch eine allerliebste Aufmerksamkeit gegen seine Mutter sehr in Schatten stellte.

Wir hatten nämlich, ich weiß es nicht durch welchen besonderen Glücksfall, ein jeder einige Groschen klingender Münze in unseren Besitz bekommen. Was ich für meine Person damit machen sollte, war mir nicht zweifelhaft. Ich ließ mich in der Portechaise über die Brücke tragen und wieder zurück, voraussetzend, daß Alfred sich sein Leibessen, nämlich warmen Quarkkuchen, vom Bäcker kaufen würde. Statt dessen aber hatte er, um seine damals etwas leidende Mutter zu erquicken, vom Konditor aus der sogenannten grünen Bude ein Glas Eis geholt, das sie besonders liebte. Oh, wie mich das beschämte! Hatte ich nicht auch eine kränkelnde Mutter? Und es war mir noch niemals eingefallen, zu ihrer Erquickung etwas beizutragen.

Die Achtung, die mein Freund mir abnötigte, hinderte mich indessen nicht, ihm gelegentlich auch einmal die Faust zu zeigen. Alfred, der freilich das meiste besser wußte als ich, war rechthaberisch und konnte, wenn er Widerspruch erfuhr, sehr maliziös werden; ich aber war so empfindlich wie eine Spinne, und beide waren wir heftig. Aber an Veranlassung zum Streite fehlt es ja bekanntlich unter Kindern ebensowenig als unter Potentaten, und so geschah es denn, daß wir uns im besten Spiele plötzlich an den Kragen fuhren und uns so lange prügelten und zerrten, bis wir aus Erschöpfung wieder Friede machten. Mit keinem meiner Freunde habe ich mich öfter und ernstlicher entzweit als gerade mit diesem Alfred; doch aber wüßte ich nicht, daß wir je als Feinde auseinandergegangen wären. War die Balgerei vorüber, so war es auch die Feindschaft, und in Liebe und Haß blieben wir uns unentbehrlich, solange wir beieinander waren.

Auch Alfreds Lieblingsbeschäftigung war das Zeichnen. Er exzellierte sogar in dieser Kunst, und ich bestrebte mich, es ihm darin in Sauberkeit und Akkuratesse gleichzutun. Gewöhnlich kopierten wir gemeinschaftlich einen und denselben Reiter oder sonst eine Figur aus den damals erschienenen Kriegsszenen von Sauerweid, und ich erinnere mich, daß es mir dabei weniger darum zu tun war, das Original zu erreichen, als vielmehr den Reiz wiederzugeben, den die Kopien meines Freundes gleich bei der ersten Anlage für mich hatten.

Unsere künstlerische Tätigkeit beschränkte sich übrigens nicht bloß aufs Zeichnen, wir schnitzten auch aus Holz und kneteten allerlei Gelungenes aus buntem Wachs, zum Beispiel kleine nackte Neger mit Palmbäumen und Kochfeuern, welche letztere aus brandgelbem Wachse dargestellt wurden. Endlich machten wir auch Papparbeiten und verfertigten überhaupt fast alle unsere Spielsachen nach Anleitung des Lehrers, der sehr richtig urteilte, daß eben dieses Anfertigen das Beste bei der Sache sei.

Das Genußreichste, was Senff uns lehrte, war die Kunst, gewisse kleine trianguläre Gestalten, sonst «Krähen» genannt, aus Papier zu falten, bei deren Anfertigung jedoch der letzte vollendende Bruch so schwierig war, daß er gar nicht gelehrt werden konnte; es mußte einem vielmehr wie zum Verständnis der Schellingschen Identitätsphilosophie erst eine glückliche intellektuelle Anschauung kommen oder mit anderen Worten ein großer Seifensieder aufgehen, ehe man es vermochte, die sorgfältigst vorbereitete Krähe durch jene letzte schöpferische Quetschung zu vollenden. Diese Vollendung pflegten wir daher geraume Zeit hindurch dem Altmeister Senff zu überlassen, bis wir endlich selbst, einer nach dem anderen, hinter die Schliche kamen. «Kannst du schon den letzten Bruch machen?» – Das war lange die brennende Tagesfrage unter uns, während es uns doch ganz einerlei war, ob einer schon die fünfte Deklination konnte oder nicht.

Inzwischen sollten jene Papierfiguren nach Senffs Willen nichts weniger als Krähen darstellen, mit denen sich nichts anfangen läßt, sondern vielmehr Soldaten, als welche unsere gehorsame Phantasie sie denn auch willig gelten ließ, da ihre völlig indifferente Form jedwede Deutung zuließ. Ja, unser guter Wille verbiß sich dergestalt in diese kleinen, kantigen Gestalten, daß sie uns bei weitem natürlicher erschienen als jene bleiernen Flachköpfe, die das Ansehen haben, als seien sie aus Herbarien entronnen.

Durch verschiedene Papierfarbe und kleine Veränderungen im Bruch stellten wir nun alle Waffengattungen, selbst Reiter dar, da Senff die Erfindung gemacht hatte, jene Soldaten durch eine höchst geniale allerletzte Manipulation dergestalt zu verändern und auszudehnen, daß sie ein fast transzendentales Aussehen gewannen und Pferden reichlich so ähnlich sahen als früher Menschen. Man brauchte eben nur das Fußvolk daraufzusetzen. Endlich wurden aus Federposen und Fischbeinbügeln kleine Wurfgeschütze gemacht, die für Kanonen galten und ihre Geschosse mit Vehemenz durchs Zimmer trieben.

Kaum wüßte ich, daß mir jemals irgend etwas in der Welt mehr Vergnügen gemacht hätte als die Ausrüstung dieser Papierarmee und das Spiel damit. Wir brachten es nach und nach ein jeder auf die ungeheure Zahl von achthundert bis tausend Mann, für deren Aufstellung wir Risse und Spezialkarten mit Kreide auf die Diele zeichneten. Wer nach zehn Schüssen die meisten Leichen hatte, verlor an seinen Grenzen, und stündlich veränderte sich die Landkarte in unserem Zimmer wie draußen in der weiten Welt.

So arbeiteten und spielten wir uns in den Spätherbst und Winter hinein, bis die Weihnachtszeit sich mit ihrem wunderbaren Treiben nahte und auch unsere Beschäftigungen mit dem Stempel des Geheimnisses bezeichnete. Das gemeinschaftliche Spielen hatte nun ein Ende, jeder kramte und kleisterte für sich, und keiner durfte hinsehen, was der andere machte. Zu letzterem verpflichtete man sich durch Eide, die sehr leicht zu halten waren, da jeder, genugsam von seinem eigenen Werk erfüllt, wenig Neigung hatte, von dem des anderen Notiz zu nehmen oder etwas davon zu erwarten. Auch mag sich der alte Satz, daß Geben seliger als Nehmen sei, am meisten in den gegenseitigem Geschenken bewahrheiten, die sich Kinder machen, deren Gaben, außer dem sogenannten pretium affectionis, was jedoch nur der Geber damit verbindet, nicht den geringsten Wert zu haben pflegen, wie denn auch der Empfänger immer sicher ist, daß jener sich das Ding gewißlich nicht vom Herzen gerissen hat, sondern selber nicht gebrauchen konnte.

Wo nun die eigene Kunstfertigkeit nicht ausreichte oder es an Material fehlte, kauften wir das Fehlende auf dem Weihnachtsmarkt, der in Dresden nach einem eigentümlichen Backwerke der Striezelmarkt genannt wird. Acht Tage vor dem Feste pflegte sich der Dresdner Altmarkt mit einem ganzen Gewimmel höchst interessanter Buden zu bedecken, die abends erleuchtet waren und große Augenlust gewährten. Das Glitzern der mit Rauschgold, mit bunten Papierschnitzeln und goldenen Früchten dekorierten Weihnachtsbäume, die hellerleuchteten kleinen Krippen mit dem Christuskinde, die gespenstischen Knechte Ruprechts, die Schornsteinfeger von gebackenen Pflaumen, die eigentümlich weihnachtlichen Wachsstockpyramiden in allen Größen, endlich das Gewühl der Käufer und höfliche Locken der Verkäufer, das alles regte festlich auf.

Hier drängten auch wir uns des Abends gar zu gern umher, schwelgend in dem ahnungsreichen Dufte der Tannen, der Wachsstöcke, Pfefferkuchen und Striezeln, die in einer den Wickelkindern entlehnten Gestalt, reichlich mit Zucker bestreut, vor allen zahlreichen Bäckerbuden auslagen und Löwenappetit erregten. Nach genauesten Prüfung alles Vorhandenen kauften wir dann einige kleine grüne oder rote Wachsstockpyramiden, auf Kartenblätter gewickelt, das Stück zu einem Pfennig, sogenannte Pfefferkuchenzungen zu demselben Preis oder ein paar Bogen bunten Papiers, um unsere Privatbescherung damit auszustatten.

Inzwischen konnten wir in unserem Eifer den vom Kalender angegebenen Zeitpunkt nie ganz erwarten und fingen schon an vorhergehenden Abenden an, in Alkoven oder anderen verdachtlosen Winkeln unseren Kram geschmacklos aufzustellen, zündeten einige Wachsstockschnittchen dabei an und überraschten uns dann gegenseitig unaufhörlich, bis der wahre heilige Abend herankam und uns alle überraschte.

Kurioses Zeug[Bearbeiten]

In dem geräumigen Wohnzimmer meiner Mutter stand ein schönes Bild, das, auf einigen Stufen erhöht, den mittleren Teil der Hauptwand fast bis zur Decke füllte. Es war dies eine Kopie des berühmten Dresdner Raffael, die mein Vater unlängst vollendet und der Mutter geschenkt hatte. Diese Kopie wurde damals dem Originale gleichgestellt. Es schien dasselbe, nur ohne die Mängel, welche Zeit und frühere Verwahrlosung hinzugetan hatten. Große Summen waren schon vor der Vollendung dafür geboten worden, allein mein Vater wollte sich nicht davon trennen; es sollte das Palladium seines Hauses werden, und unter dem himmelreinen Auge dieser Mutter Gottes sollten seine Kinder heranwachsen. Auch knüpfen sich sehr selige Kindererinnerungen an dieses Bild, unter dem wir saßen und das ich anzublicken pflegte, wenn die Mutter am Sonntagmorgen aus der Heiligen Schrift vorlas und uns aufmerken lehrte auf die Worte unseres Erlösers. Seinen vollen Zauber entfaltete es indessen erst am Weihnachtsabend, wenn die vielen Kerzen brannten und das magisch beleuchtete, wie von innerem Licht durchglühte Bild zu leben schien.

Dieses herrlichen Anblicks erfreuten wir uns zuerst im Jahre 1809, da Volkmanns und Senff den ersten Weihnachten mit uns verfeierten. Die ganze kleine Gesellschaft schien die Augen nicht wieder abwenden zu wollen, und fast hätte es notgetan, uns Kinder zu erinnern, daß es heute noch andere Interessen für uns gab.

Unterdessen wir uns nun unseren Tischen nahten und die Herrlichkeiten in Augenschein nahmen, mit denen man uns beschenkt hatte, wurde Senff vermißt. Man hörte aber, daß er gebeten habe, ihm nicht zu folgen, und siehe da! – als die Kerzen des Lichterbaumes im Ersterben waren – da flogen plötzlich die Flügeltüren auseinander, und ein Lichtmeer strahlte uns entgegen. Senff hatte den Fußboden des großen Vorsaales dicht besetzt mit Hunderten von kleinen Lampen, die er aus Nußschalen gebildet und zu einem riesigen Halbmond vereinigt hatte. In die Höhlung dieses Türkensterns, der wie Pontius ins Kredo in unseren Weihnachtsabend paßte, hatte er die kunstvoll gefertigten Geschenke aufgestellt, die er für uns Kinder gearbeitet hatte: für mich einen Prachtschild mit silbernem Adler, für Alfred einen nicht minder schönen Löwenschild. Der Effekt den Ganzen war sehr überraschend, doch noch nicht genügend für Senffs Erfindungsgabe.

Als man sich satt gesehen, schlug der ideenreiche Künstler der Gesellschaft vor, ihm nach dem Hinterhause zu folgen. Dort befand sich ein zweiter Vorsaal, der zu den Gemächern meines Vaters führte, und hier hatte Senff auf der Diele aus kleinen von Papier gemachten Häusern, Palästen und Moscheen die Stadt Konstantinopel aufgebaut. Man konnte nichts Saubereres sehen als diese Papierstadt. Dichtgestreuter weißer Sand bezeichnete das Land, blauer das Meer, das von kleinen Schiffen belebt war.

Nachdem nun Senff eine skizzenhafte Erklärung der hervorragendsten Punkte gegeben, bemerkte er, daß Konstantinopel häufig abzubrennen pflege, und damit legte er einen Zunder unter das erste Haus der Vorstadt Pera. Bald brach die Flamme aus, ergriff das nächste Gebäude und die ganze Straße, verzweigte sich nach anderen Straßen, sprang in die Brunnen; die mit Spiritus gefüllt waren, und verbreitete sich über die ganze Stadt. Zuletzt wurde das Serail ergriffen, dessen zahlreiche Türmchen als Miniaturfeuerwerk aufsprühten, die Vorstellung mit Knalleffekt beschließend.

Auf solche Weise wußte unser Lehrer uns stets neuen Stoff zuzuführen, denn natürlich waren wir begierig, alles nachzumachen, von den kleinen Nußlampen an bis zu den kleinen Schiffen und Papiergebäuden. Die Festungen und Städte, die wir für unsere Kriegsspiele bis dahin nur als Grundrisse verzeichnet hatten, erhoben sich jetzt zu allen Dimensionen des Raumes, und wir nahmen zu an mancherlei Kenntnis und Geschicklichkeit.

Die Töpfer[Bearbeiten]

Auch im Freien wurden wir zu zweckmäßigen Übungen angehalten. Unsere Spaziergänge mit Senff waren weglose Entdeckungsreisen durch die Wälder, welche den Ortssinn übten, wir badeten, kletterten, liefen Schlittschuh und Stelzen. Freilich geht es mit manchen dieser Dinge wie mit den Näkeschen Fischgerichten, ja wie mit allem in der Welt, das schmackhaft gemacht werden soll: es muß aus eigenem Vermögen etwas Salz, das heißt etwas Täuschung, hinzugetan werden. So zum Beispiel stelzten wir nicht schlechthin wie die Marschbauern, sondern unsere Stelzen waren Pferde und wurden als solche ordentlich abgewartet, in die Schwemme geritten, gestriegelt und geliebt. Daß dergleichen Pferde aus zwei unzusammenhängenden Hälften bestanden, störte nicht im geringsten. Wir selbst waren auch nichts weniger als Knaben, sondern große Herren und Ritter, die gegeneinander turnierten. Auf einzelner Stelze hüpfend, gebrauchten wir die andere als Lanze und suchten uns damit gegenseitig umzustoßen. Überhaupt erlangten wir große Geschicklichkeit, wir liefen, sprangen und tanzten auf unseren Stelzen fast so flink und sicher wie zu Fuße. Aber der beste Schwimmer ertrinkt, sagt man, und der beste Fechter wird erstochen. So konnte es denn geschehen, daß auch ich mit meiner Stelzerei beinah den Hals brach.

Die Straßenjugend hatte auf der winterlichen Promenade vor unserem Hause eine Glitschbahn eingefahren, oder – mit dem technischen Ausdruck – eine Schinder ausgerissen, die mich natürlich auf den Einfall brachte, meinem Gaul das Schindern beizubringen. Einen Anlauf nehmend, sprang ich frisch auf die Bahn; aber anstatt gleichmäßig fortzugleiten, fuhren die langen Stelzenbeine nach verschiedenen Weltgegenden auseinander, das Gerüst schlug unter mir zusammen und ich dermaßen aufs Eis, daß die Besinnung augenblicklich weg war.

Die Frau des benachbarten Töpfermeisters Thomas hatte im Fenster gesessen und mich stürzen sehen; sie eilte heraus, nahm mich in die Arme und trug mich der nicht wenig erschrockenen Mutter zu; denn ob ich tot oder lebendig sei, war auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Ich erholte mich indessen schnell und war bald so weit genesen, daß ich der Frau Nachbarin persönlich meinen Dank abstatten konnte. Da wurde denn gleich große Freundschaft geschlossen, und von dieser Zeit an verfehlte ich nicht, die Töpfersleute häufig zu besuchen. Es waren freundliche Menschen; aber mehr noch zog mich die Werkstatt an, wo keineswegs bloß Töpfe, sondern auch Köpfe und mannigfaltige andere Kunstwerke gefertigt wurden. Die schönen, aus weichem Ton geformten Arabesken, Löwen, Greife, Sphinxe und niedlichen Gewandfiguren nach antiken Mustern gefielen mir fast besser als die Bilder meines Vaters, wenn sie so überraschend fertig und wohlgeboren, wie die Minerva aus dem Haupt des Jupiter, aus ihrer klumpigen Form hervorgingen.

Daß mein Bruder, sobald er von diesen Wundern hörte, mich zu begleiten pflegte, ist selbstverständlich. Wir gingen wie andere ernste Arbeitsleute in der Werkstatt ein und aus, und während die Töpfer töpferten, kneteten wir nicht minder allerlei Kuriosa aus ihrem Ton, wobei wir nicht allein ihre Mienen und Gebärden nachzuahmen strebten, sondern auch alle Werkzeuge beanspruchten, deren jene sich bedienten. Für solche Teilnahme luden uns die guten Leute denn auch wohl sonntags zu ihrer Mahlzeit ein. Dann war im Töpferhause alles neu und anders, die Werkstatt geschlossen, in Flur und Zimmer weißer Sand gestreut, und selbst der Meister Thomas – an Werkeltagen von seinen Tonklumpen wenig unterschieden – erschien im veilchenblauen Frack mit buntgeblümter Weste und weißer Binde. Er war ein korpulenter, etwas schnaufender Mann, der mir in seinem Staate den vollkommensten Respekt einflößte.

Es mochte sein, daß die Obersachsen damals das gebildetste Volk in Europa waren, wenigstens hielten sie sich selbst dafür, und wirklich zeichnete sich der Bürgerstand, vorzugsweise der Dresdner, durch angeerbte Urbanität und eine Höflichkeit aus, die, sooft sie auch von den Barbaren verlacht ward, im Grunde doch jedermann wohl tat. Unsere Töpfersleute aber konnten in jeder Beziehung als Sachsenspiegel gelten, daher meine Mutter uns ohne Sorge mit ihnen verkehren ließ. Nicht nur mit Fremden, sondern auch untereinander benahmen sie sich aufs wohlanständigste; nie hörte man ein unbemessenes Wort, und der ganze Hausstand zeugte nicht nur von Wohlstand, sondern auch von althergebrachter, guter Zucht und Ordnung.

Vor jeder Mahlzeit wurde von der Hausmutter laut gebetet. Dann erst setzte man sich, und verspeiste zwar die meisten Gerichte auf nächstem Wege, gleich aus der Schüssel, aber doch mit solcher Sauberkeit, daß mich kein Ekel ankam. Dazu sah man's den Leuten an, daß ihnen der Bissen, den sie in den Mund schoben, nichts weniger als selbstverständlich war, sie ihn vielmehr als Gottes Gnadengabe respektierten. Besondere Ehrfurcht wurde dem Brote gezollt, welchem man eine Art von Heiligkeit beizulegen geneigt schien. Kugeln daraus zu drehen oder es sonst zur Belustigung zu kneten, galt für den heillosesten Frevel, daher mir, als ich gelegentlich in diese Sünde verfiel, eine ernste Rüge zuteil ward. Zum Kneten, sagte mir Frau Thomas, wäre der Ton; das liebe Brot aber sei eine Gabe Gottes, nicht zum Spielen, sondern zur Notdurft und Nahrung des Leibes. Wer es nicht achte, zeige, daß er satt sei; den Satten aber werde Gott auch andere Speise entziehen und sie den Hungrigen geben.

Diese Rede beschämte mich nicht wenig und machte auf mich daher so tiefen Eindruck, daß ich sie nicht vergessen habe. Frau Thomas würde zwar nicht gescholten haben, wenn ich die Kugeln aus Wachs gedreht und hernach weggeworfen hätte, obgleich man mehr Geld für Wachs zahlt als für Brot; auch hatte sie nichts dagegen, daß ich meine Knallbüchse mit Stücken roher Kartoffeln lud, die sie mir zu diesem Zweck selbst lieferte, obgleich Kartoffeln doch auch zur Notdurft und Nahrung des Leibes dienen. Es ist aber weder der Geldwert noch die Genießbarkeit, die dem Brote diesen Nimbus gibt, sondern die Idee, die wir, seitdem man das Vaterunser betet, damit verbinden, die hohe Idee nämlich des Inbegriffs aller von Gott zu erbittenden leiblichen Bedürfnisse, zu welchem Brote Luther sogar «fromm Gemahl, gut Regiment und gute Nachbarn» zählt.

Jahrelang bin ich bei meinen lieben Thomaschristen ein und aus gegangen, bis der Tod auch ihr Familienleben sprengte. Ich habe dort nur Dankenswertes genossen und fühle mich daher auch jenem Stelzensturz verpflichtet, der mich zu ihnen führte, wie ich denn überhaupt die Erfahrung gemacht habe, daß sogenannte Unfälle häufig weiter nichts sind als die Eintrittspreise zu großen Freuden. Zunächst war es ein anderer, nicht minder halsbrechender Sturz, dem ich das Vergnügen meiner ersten Fußreise verdankte.

Der Sprachlose[Bearbeiten]

Unser Hauswirt mußte Gelegenheit gehabt haben, sehr wohlfeil Holz zu kaufen, denn in dem Gärtchen hinter seinem Hause stand ein reicher Vorrat für viele Jahre aufgeklaftert. Dies öde Gärtchen, ohnedem schon ein Bild des verfluchten Ackers, hatte damit den höchst denkbaren Grad von Ödigkeit erreicht. Aber Kinder und Wahnsinnige fragen wenig nach dem Aussehen der Wirklichkeit, die ihrer schöpferischen Phantasie doch nur zur Unterlage dient, unwirkliche Luftschlösser daran aufzubauen. So vertrug auch ich mich prächtig mit jenen Holzstößen, die ich nicht hätte missen mögen und die mir unendlich mehr Genuß gewährten als elegante Blumenrabatten und alles, was man sonst zum Schmuck der Gärten rechnet. Ich kletterte daran herum, überstieg sie wie Gebirge oder sah sie für Schlösser und Kastelle an, die man stürmen und verteidigen konnte.

Von der höchsten dieser Burgen hatte ich förmlichen Besitz ergriffen. Sie lehnte sich an die Gartenmauer und reichte bis unter die Kronen der alten Linden des Nachbargartens, die ihr Laubdach darüber breiteten. Unter diesem Blätterdache, vor aller Welt versteckt, verträumte ich die genußreichsten Stunden, hörte aus nächster Nähe die Maikäfer im Gezweige brummen und roch den süßen Duft der jungen Lindenblüten.

Als ich nun eines schönen Nachmittags, dort oben im labendsten Laubschatten sitzend, mir aus der reichlich vorhandenen Kiefernrinde ein Schiffchen schnitzte, bemerkte ich über mir etwas, das einem Neste glich. Um besser sehen zu können, schob ich mich weiter rückwärts, und immer weiter, bis ich, in völligem Vergessen meiner Situation, dem Rande des Holzstoßes so nahe kam, daß der Schimmel plötzlich alle war. In einer Hand das offene Messer, in der anderen das angefangene Rindenschiffchen, schlug ich hintenüber und stürzte etwa sieben Fuß tief gerade auf den Rücken.

Durch Gottes gnädige Bewahrung hatte ich nicht den Hals gebrochen. Ich sprang sogleich wieder auf und wollte auf den Schreck tief aufatmen – aber die Respirationswerkzeuge versagten ihren Dienst. Nach mehrmaligen vergeblichen Anstrengungen, Luft zu schöpfen, erfaßte mich eine Höllenangst. Ich lief zu meinem Bruder, der im verfallenen Lusthäuschen hockte und Maikäfer aufmarschieren ließ, ihm meine Not zu klagen; aber ich vermochte keinen Laut hervorzubringen und mühte mich mit verzweifelten Gestikulationen fruchtlos ab, nur einigermaßen verständlich zu werden. Darüber war der Kleine, der keine Ahnung von meinem Unfall hatte und alles für Narrenteiding hielt, dermaßen aufgeheitert, daß er sich fast überschlug vor Lachen. Um ihn zum Ernst zu zwingen, war ich in meiner Todesangst schon nahe daran, ihm in die Haare zu fahren, als endlich das Hindernis zu weichen schien und ich mit Mühe einige Luft bekam. Oh! besser hat mir nie ein Labetrunk geschmeckt als dieser halbe Kubikzoll Lebensluft, für den ich ja gern alle meine Papiersoldaten hingegeben hätte.

«Ich bin von der Burg gefallen», sagte ich. Da merkte der Kleine auf und wurde nun ebenso teilnehmend, als er vorher lustig gewesen war, rieb mir auf mein Verlangen auch den Rücken aus Leibeskräften, bis die Respiration sich wenigstens insoweit hergestellt hatte, daß der Gang ins Haus und die Treppen hinauf unternommen werden konnte.

Der herbeigerufene Arzt verlangte fortgesetzte Bewegung in freier Luft, und schon am nächsten Morgen machte Senff sich mit uns und den Volkmannschen Kindern auf den Weg nach dem etwa drei Meilen entfernten Tharandt. Von dieser kleinen Reise ist mir wenig und doch sehr viel geblieben, die Erinnerung nämlich einer ungewöhnlichen Glückseligkeit. In der Tharandter Gegend wanderten wir unausgesetzt umher, zwischendurch an schönen Punkten lagernd, bis meine Beklemmung nach vier bis fünf sonnigen Frühlingstagen ziemlich spurlos verschwunden war und wir zu unserer gewohnten Lebensordnung nach Dresden zurückkehrten.

3. Abermals eine Lustreise[Bearbeiten]

In der politischen Welt gab's ausnahmsweise Frieden, aber wie Napoleon ihn zu machen pflegte, einen Frieden, der die Keime neuen Krieges in sich trug. Die beiden Machthaber jener Zeit, Napoleon und Alexander, hatten sich zwar zu Erfurt mit brüderlicher Liberalität um den Weltteil vertragen, aber die Folgen dieses Vertrages schienen beiden bald nicht mehr erträglich. Schon im folgenden Jahre entfremdete man sich wieder, denn weder hatte Rußland während des österreichischen Krieges von 1809 den französischen Erwartungen genuggetan, noch entsprach der Wiener Frieden den russischen. Die darauf folgenden Übergriffe Frankreichs in Norddeutschland endlich sowie die fortgesetzte Umgehung der Kontinentalsperre von seiten Rußlands waren nicht geeignet, das gegenseitige Vernehmen wieder herzustellen. Zwischen beiden Mächten erfolgte ein unfruchtbarer Notenwechsel, und unsere estländischen Verwandten mahnten schon im Sommer 1810 ernstlich zur Rückkehr, damit mein Vater von seinen Kapitalien, die in Rußland standen, nicht abgeschnitten würde.

So geschah es denn, daß die alten Pläne wieder auftauchten. Der gelbe Wagen wurde abermals aus seiner Remise gezogen, genau geprüft und dem Sattler behufs einiger noch anzubringenden Bequemlichkeiten übergeben. Man sprach davon, das Mobiliar samt allem Entbehrlichen unter dem Hammer zu verkaufen, und wegen der Spedition der Bilder und anderer Sachen, von denen man sich nicht trennen wollte, ward mit Sachverständigen beraten. Daß die Reise mit nächstem Frühjahr fortgehen werde, konnten wir Kinder daher kaum bezweifeln, und unsere Phantasie entzündete sich im voraus an den Freuden und Gefahren weiter Wanderung.

Indessen lag es in der Eigentümlichkeit des Vaters, daß er, durch augenblickliche Eindrücke angeregt, Pläne entwerfen und bis ins Detail verfolgen konnte, die sich nachher ganz von selbst verzettelten und vergessen wurden. So entsinne ich mich, daß etwa im Jahre 1808 mit großer Entschiedenheit von einer Übersiedelung nach Rom geplant und alle Freunde dadurch alarmiert wurden; ja, sogar von Konstantinopel war die Rede, als von dem schönsten Fleck der Erde, wo man wohnen müsse, nur daß man warten wollte, bis die Russen es erobert hätten.

Mein Vater war ein selbständiger Mann; er konnte wohnen, wo er wollte, und es mochte ihn erquicken, sich dieser seiner Freiheit von Zeit zu Zeit bewußt zu werden. Im Grunde aber war er doch mit seinem dermaligen Aufenthalte so zufrieden, daß er sogar einen sehr vorteilhaften Ruf an die Berliner Akademie ausschlug, es vorziehend, in Dresden Titularprofessor ohne Gehalt zu werden. So waren denn auch die russischen Pläne, als die Zeit herankam, wieder verdampft, diesmal vielleicht, wie immer, aus sehr vernünftigen Gründen, denn bei näherer Erwägung mochte es einleuchten, daß der Aufenthalt in einer voraussichtlich friedlich bleibenden Stadt einer Ansiedelung auf dem Kriegsschauplatze mit Kind und Kegel vorzuziehen sei.

Ich freilich, in den bereits die Unruhe des Wandervogels gefahren war, dachte anders. Die Lust nach einer Ortsveränderung war mir in Saft und Blut gedrungen, und das gewohnte Leben hatte ich bereits so ausdrücklich zu Grabe getragen, daß mir diese wiederauflebende Leiche fast entsetzlich war. Ich griff daher mit Freude nach einer kleinen Schadloshaltung, die mir die Gunst der Umstände gewährte. Mein Lehrer Senff wollte nämlich seine Eltern besuchen, die in Halle lebten, und hatte sich's erbeten, mich mitzunehmen. Das gab doch wenigstens eine Reise, und wie ich heute glaube, war es die genußreichste, die ich in meinem Leben machte.

Wohl mancher geht zu seinem Vergnügen nach Paris und London und kehrt enttäuscht zurück, weil er, wie Nicolai in Italien, wohl Hitze, Unbequemlichkeit und Flöhe, aber nicht das gefunden hatte, was er suchte, nämlich das Vergnügen. Ich dagegen fand davon viel mehr, als ich erwartet hatte. Halle ist zwar eigentlich ein Ort, den keiner zum Vergnügen aufsucht. Wenn man die berühmten Namen einiger Lehrer der Hochschule abzieht, möchte wenig Nennenswertes übrigbleiben, und Lehrer sind kein Gegenstand des Verlangens für Knaben meines Alters. Die Güte und Freundlichkeit aber, welche ich damals dort erfahren, hat mir die düstere Braunkohlenstadt so lieb gemacht, daß mir das Herz noch heute warm wird, wenn mein Weg mich durchführt.

In einem leichten Korbwägelchen, das Senff selbst regierte, verließen wir Dresden an einem schönen Sommermorgen des Jahres 1811. Wir rollten vergnügt zum weißen Tore hinaus, die Elbe entlang bis Meißen, wo wir Mittag machten und den berühmten Dom besuchten, dessen Inneres mir, trotz meines Unverstandes, ja vielleicht auch gerade wegen dieser Eigenschaft, den lebhaftesten Eindruck machte. Ganz besonders nämlich interessierte mich ein Gegenstand, der von Kennern sonst nicht sonderlich beachtet wird und auch uns nur im Vorübergehen gezeigt ward. Es war dies ein altes Tabernakel des hohen Chors, dessen Schmucklosigkeit sich von einem gewöhnlichen kleinen Wandschränkchen, um Brot und Käse zu verwahren, in gar nichts unterschied. Aber sehr deutlich vernahm das Ohr zu jeder Zeit in seiner Höhlung einen sonderbaren Ton, sehr ähnlich dem Wogen und Wallen gewaltiger Feuerflammen. In katholischen Zeiten, erzählte der Küster, habe man geglaubt, es sei dies ein vermauerter Zugang zum Fegefeuer, während man jetzt nicht wisse, wie jener Ton entstehe. Nun behauptete zwar Senff, daß alles ganz natürlich sei. Es könne angenommen werden, meinte er, daß sich hinter der Rückwand dieses Schränkchens ein unterirdischer Gang hinziehe, der einen Luftzug ermögliche, durch welchen der flackernde Ton veranlaßt würde, vielleicht eine Vorrichtung aus alter Zeit, das abergläubige Volk zu schrecken. Aber die erbaulichen Eindrücke des alten Doms, unter deren Einflüssen ich stand, schienen mir so profane Deutung nicht wohl zuzulassen, und weil ich überdies meinte, Luftzüge von Feuerflammen unterscheiden zu können, neigte ich mich still für mich jener katholischen Ansicht zu und entsinne mich kaum, daß mir in meinem späteren Leben je eine Bußpredigt tieferen Eindruck gemacht hätte als diese demonstratio ad aures, die alle Zweifel über den Haufen warf. Fegefeuer und Hölle verwechselte ich freilich, und warum, dachte ich, sollte es nicht möglich sein, daß die Alten einen Zugang zur Hölle gefunden? Und warum auch hätten sie sonst den Schlund vermauert, der sich nach Senffs Meinung hinter der Nische befand?

Ich war nicht wegzubringen von dem Loche. In vorgebeugter Stellung, mit verhaltenem Atem, mit runden Augen und offenem Munde horchte ich in die rätselhafte Höhlung hinein, dem gespenstischen Lodern unsichtbarer Flammen lauschend, bis Senff mich bei der Hand ergriff und wegzog. Aber wie ein Träumender durchwanderte ich fortan die weiten Räume, indem meine Gedanken einzig bei jenem schauerlichen Orte weilten, da keine Liebe mehr ist, kein Glaube und keine Hoffnung.

Der Pfarrgarten[Bearbeiten]

Nach drei Tagen, die sehr heiß und staubig waren, langten wir mit unserem Pferdchen in Halle bei Senffs Eltern an, die mich freundlich bei sich aufnahmen. Senffs Vater war der erste Pastor, den ich Gelegenheit hatte, von nahem zu besehen, und der erste und älteste einer langen Reihe guter Männer, die ich später in diesem Stande kennen lernte. Die heitere Würde seines Wesens wie die sorgfältige Güte seiner Frau ließen mich so schnell heimisch werden, daß ich die beiden lieben Alten nach ihrem Wunsche schon am ersten Abend Großvater und Großmutter nennen konnte.

Nicht minder gefiel mir ein drittes Figürchen, ein niedlicher Backfisch von etwa dreizehn Jahren, namens Lorchen, wenn ich nicht irre, eine verwaiste Verwandte des Senffschen Hauses, an der die treue Sorgfalt der Großmutter Senff sich für spätere Jahre Trost und Stütze erzog. Lorchen nahm mich bald bei der Hand und führte mich durch die Hintertür des Hauses in den Garten, dessen Schönheit mich höchlich überraschte. Die abendliche Kühle, die einem hier entgegenduftete, durchwürzt vom Wohlgeruch der weißen Lilien, die in niegesehener Fülle zwischen Zentifolien blühten, war nach der heißen Fahrt auf staubigen Chausseen so erquicklich, daß man denken konnte, ins Himmelreich versetzt zu sein. «Hier wollen wir alle Tage spielen», sagte Lorchen, «und ich will dir alles zeigen.»

Der Garten mochte in der Tat recht schön sein, wenigstens war er im Vergleich zu unserem Dresdner Holzstall ein Paradies. Von hohen Mauern eingefriedigt, glich er jenen kleinen, traulichen Klostergärtchen, deren Hauptreiz in ihrer Heimlichkeit besteht. Im Rücken hatte man das Pfarrhaus mit seinen Nebengebäuden. Rechts lief eine Langwand der altersgrauen Moritzkirche hin mit ihren Spitzfenstern und Strebepfeilern, deren tiefe Winkel mit Syringen und anderen Gesträuchen ausgepflanzt waren. Dem gegenüber erhoben sich ein paar mit Efeu verkleidete Brandmauern benachbarter Gebäude, und geradeaus war es ein Teil der alten krenelierten Stadtmauer, der das Ganze von der vorübergehenden Saale abschloß. Das Innere des Gärtchens war seiner altertümlichen Einfassung ganz angemessen. Rechtwinklige, mit Buchsbaum eingefaßte Kieswege, an die sich blumige Rabatten schlossen, durchschnitten die üppigen, hier und da mit Zwergbäumen bestandenen Erdbeer- und Gemüsequartiere, und um das Lusthäuschen, das sich an die obberegte Stadtmauer lehnte, standen in Kübeln Myrten, Oleander und Lorbeerbäumchen. So wenigstens schwebt mir die Örtlichkeit noch vor.

Wir gingen den breiten Hauptweg hinunter und traten in das Gartenhäuschen. Ein süßer Blumenduft erfüllte das kleine Gemach, und auf dem Tische stand ein Tellerchen mit Erdbeeren, die Lorchen vorsorglich für mich gepflückt hatte. Sie lehrte mich auch, die zarten Früchte mit steifem Grashalm spießen und zierlich verspeisen, und half selbst dabei getreulich. Dann erkletterten wir miteinander die Stadtmauer, uns umzublicken. Wir nahmen Platz in einer alten, halbverfallenen Schießscharte, aus deren Gestein eine Fülle wilder Blumen, Kamillen, Kampanulen und wilder Salbei hervorwucherten, und waren bald die besten Freunde. Lorchen erklärte mir die Aussicht auf Strom und Vorstadt, deren wir uns hier erfreuten, und wußte von den Halloren Erstaunliches zu erzählen, bis mein Auge und meine Fragen endlich an der alten Kirche hafteten. Die wollte sie mir auch noch zeigen, und wir durchschritten abermals den Garten, im Vorübergehen die dicken Stachelbeeren prüfend, die eben zu reifen begannen. Durch ein kleines Seitenpförtchen, welches Lorchen öffnete, traten wir in die Kirche ein.

Gelehrtes über die Moritzkirche[Bearbeiten]

Ob die Moritzkirche, die ich seit jener Zeit nicht wiedersah, dem Bilde gleicht, das mir von ihr geblieben, weiß ich nicht zu sagen; sie imponierte mir aber damals sehr. Das Halbdunkel des weiten Raumes, die hohen Gewölbe, der Hall unserer Tritte, die alten Fahnen und Epitaphien wie das rote Licht der scheidenden Abendsonne, das hin und wieder am Gestein der alten Pfeiler spielte, das alles erfüllte mich mit ehrfurchtsvollem Staunen, so daß ich unwillkürlich meine Mütze zog und schweigend neben der hellen Gestalt der Führerin hinschritt, die meine Empfindung nicht zu teilen schien und, als wäre sie hier zu Hause, von einem Gegenstand zum anderen eilend, mich mit lauter Stimme auf alles Bemerkenswerte aufmerksam machte. Da fiel mir eine in Mannshöhe an einem Pfeiler befestigte dunkle Figur auf, ein schwarzer Ritter, schwer gewappnet vom Kopf bis zu den Füßen, der mit seinem bestäubten Antlitz gleichgültig in den Raum hinausstierte. An dem ausgezackten Saume seines Waffenrockes hingen nach dem Geschmack des Mittelalters viele kleine Glöckchen oder Schellen. Lorchen erhob die Hand und sagte, das sei der Ritter Moritz; der habe die Moritzkirche erbauen lassen.

Ich fand, daß er ein schlechtes Gesicht habe, und Lorchen wollte wissen, daß er auch gar kein guter Mann gewesen sei. «Aber warum», fragte ich, «hatte er denn die vielen Klingeln an seinem Rock?» Lorchen erwiderte, das wäre nötig gewesen, damit man sich vor ihm habe hüten können, und das wolle sie mir erzählen. Zu diesem gegenseitigem Genusse des Erzählens und Sicherzählenlassens machten wir es uns so bequem als möglich; wir ließen uns nebeneinander in einem Kirchstuhl nieder, gerade vor dem bösen Ritter, den ich mir mit Muße ansah, während meine liebenswürdige Begleiterin sich etwa folgendermaßen vernehmen ließ:

«Der Ritter Moritz wohnte drüben auf der Moritzburg, einem alten Schlosse, das wir uns auch besehen wollen. Er war ein störriger Mann, der in der Gegend hier herum viel Unfug trieb und mit jedermann in Feindschaft lebte. Er hatte aber eine fromme Schwester, namens Elsbeth, die ging umher, beschenkte die Armen, heilte die Kranken, und wenn der böse Bruder einen beschädigt hatte, suchte sie es wieder gutzumachen.

Nun traf es sich, daß der Ritter einst bei Tafel mit seinem Burgkaplan in Streit geriet. Der war nicht weniger störrig als der Ritter, aber ein alter, gebrechlicher Mann, und da sie nun beide vollauf gegessen und getrunken hatten, fing der Ritter an, über Pfaffen und Kirche zu spotten und zu lachen. Der Alte entgegnete mit harter Rede. Da gab ein Wort das andere, bis beide wie wütende Truthähne aussahen und Fräulein Elsbeth vor Angst und Schrecken bleich ward. Endlich schlug der Ritter mit seiner Eisenfaust auf den Tisch, daß die Becher umstürzten, nannte den Pfaffen einen Schlauch und schrie ihn an, daß, wenn er je wieder Klöße essen wolle und einen Trunk dazu tun, so solle er zusehen, wo der Zimmermann das Loch gelassen. Der Pfaffe aber fürchtete sich weder vor Gott noch Menschen; vielmehr verachtete er den Ritter, weil der weder lesen noch schreiben konnte und in der Beichte vor ihm knien mußte, richtete sich auf, so hoch er es vermochte, streckte dem Burgherrn seine kralligen Finger entgegen und sprach einen Fluch über ihn aus, der so schrecklich gewesen sein soll, daß Fräulein Elsbeth fast den Tod davon hatte. Da warf der Ritter den ganzen Tisch um, ergriff den Pfaffen, hob ihn in die Luft und schleuderte ihn mit solcher Macht gegen eines der Saalfenster, daß Fensterrahmen, Glasscheiben, Pfaffe und alles miteinander hinunter in den Burggraben polterten. Als er das getan hatte, blieb er, ohne sich zu rühren, wie versteinert mitten im Saale stehen.

Da stand er wie eine Rolandssäule, bis die gute Elsbeth, die hinuntergeeilt war, wieder eintrat. ‹Der Pfaff ist tot›, sagte sie. Dann brach sie in einen Strom von Tränen aus, rang die Hände und beschwor den Bruder, er solle eilig seinen Frieden mit der Kirche machen, sonst werde man ihn von Land und Leuten bringen, noch ehe der Wind über die Haferstoppel gehe.

Als das der Ritter hörte, schüttelte er sich, daß die Ringe an seinem Panzerhemde klirrten, ließ seinen Rappen satteln und ritt hinauf nach dem Petersberge, wo sonst ein großes Kloster stand. Da lebte ein alter, heiliger Abt, dem beichtete er alles und verlangte die Absolution von ihm. Der Abt entsetzte sich und schwur bei seinem Schutzpatron, dem heiligen Petrus, daß der Ritter gebannt sein solle und ausgeschlossen von aller christlichen Gemeinschaft für Zeit und Ewigkeit, bevor er nicht zu Gottes und des heiligen Moritz Ehren eine Kirche aufgerichtet hätte, so lang und so breit, daß sie weder im Thüringer noch im Meißner Lande ihresgleichen hätte.

Fortan wurden die Bauern aus allen Dorfschaften des Ritters aufgeboten und mußten Steine schleppen mit ihrem Fuhrwerk; die Maurer und Steinmetzen schwangen ihre Hämmer, die Zimmerleute ihre Äxte, und der große Bau stieg wie ein Wunder in die Höhe. Der Ritter aber stellte sich zu allen Stunden auf dem Bauplatze ein und trieb die Arbeiter zur Eile an, denn er hatte keine Ruhe in seiner Seele und konnte es nicht erwarten, daß die erste Messe in der neuen Kirche abgesungen und der Bann von ihm genommen würde. Wenn er dann die Leute nicht beim Werke oder auch nur lässig fand, so warf er einen nach dem anderen nieder und prügelte sie windelweich.

Da sann die gute Elsbeth auf eine List, wie die armen Bauleute schützen möge. Sie nähte dem Ritter kleine Glöckchen an seinen Harnisch, und weil sie ihm sagte, das klinge kriegerisch und schön, so ließ er sich's gefallen. Wenn er nun aus seiner Moritzburg heraustrat, konnte man's auf dem Bauplatze gleich hören, und alles war in voller Arbeit, wenn er angeklingelt kam. Aber trotz der größeren Ruhe rückte die Arbeit jetzt schneller fort als vordem, wo die Arbeiter vor lauter Angst zu keiner Überlegung kommen konnten, und nach drei Jahren war der große Bau vollendet. Darauf hielt der Ritter eine Rede und belobte den Baumeister über alle Maßen; in der Nacht aber ließ er ihn heimlich aufgreifen und im hohen Chor vermauern, so daß man lange Zeit nicht wußte, wo er geblieben war.»

Die Geschichte schien hiermit zu Ende, denn Lorchen stand auf und führte mich ins Chor, wo ich den leichenhaften Kopf eines Menschen mit einer viereckigen kleinen Mütze aus der Mauer herausstarren sah. «Hier steckt er drin», sagte sie. Auf meine Frage, was denn der Baumeister getan habe, erwiderte sie, daß sie's nicht wisse; aber möglicherweise habe der Ritter besorgt, daß der geschickte Meister irgendwo anders noch eine schönere Kirche bauen könne, die größer und breiter als die Moritzkirche sei. Übrigens sei dies das letzte Verbrechen gewesen, das er begangen habe, nicht wegen eingetretener Besserung, sondern während der Einweihungsfeierlichkeit der neuen Kirche habe er so viel Wein getrunken, daß ihn der Schlag gerührt und er der Länge nach tot hingeschlagen sei.

Ich sah nun auch den Leichenstein des Ritters Moritz, und die langgestreckte Figur eines geharnischten Mannes in halberhabener Arbeit schien mir die Worte meiner Führerin: «der Länge lang hingeschlagen», zu bestätigen. Auf einem benachbarten Steine lag die vermummte Gestalt der guten Elsbeth, die ebenfalls ein ziemlich schlaggerührtes Aussehen hatte, und dann verließen wir die dunkelnde Kirche.

Lorchen[Bearbeiten]

Die Tage in Halle verflossen angenehm und schnell. Mit Arbeit pflegte mein Lehrer mich nicht zu übernehmen, zu meiner und wohl auch seiner Schonung. Ich schrieb des Morgens mit halbzölligen Buchstaben an meinem Tagebuch, welches von Zeit zu Zeit unter Senffs witziger Aufschrift: «Meister Wilhelms Wanderjahre» an meine Eltern abging. Das war alles; und übrigens tat ich, was ich wollte, wenn ich's nicht vorzog, zu tun, was Lorchen wollte, die sich gern mit mir befaßte und deren sanftem Kommando ich willig unterlag.

Unter diesen Umständen geschah es, daß ich eines schönen Nachmittags beim Kaffee, den ich nicht trinken durfte, und gelangweilt vom Gespräch der Großen, das ich nicht verstand, mit der Hand in meine Tasche fuhr und darin ein Stück Bindfaden fand. Das gab sogleich Ideen. Ich verlief mich in den Garten, zäumte eine zerbrochene Bohnenstange als Reitpferd auf und wandelte ein Nelkenstäbchen mittels angehefteter Parierstange zum Schwert um. Für die Koppel wollte der Faden nicht mehr reichen. Ich steckte daher die Waffe bloß durchs Knopfloch, und so ausgerüstet, sprengte ich meiner Freundin ritterlich entgegen.

Lorchen besah mein Schwert, lobte es und schenkte mir ein schönes himmelblaues Band, das sie mir als Wehrgehenke um die Achsel schlang. Dann brach sie einen Lilienstengel voll duftend weißer Glocken und gab ihn mir mit dem Bemerken, daß Ritter Lilien in der Hand haben müßten. Übrigens – sagte sie – wohne sie dort im Gartenhäuschen, und wenn ich mich müde geritten, sollt' ich sie besuchen.

Ich warf mein Pferd herum, tummelte es durch alle Wege, ließ es über die Rabatten springen und war noch gar nicht müde, als ich schon zum Gartenhäuschen einschwenkte. Lorchen saß mit einem Buche auf der Schwelle. Ihre frischen Farben und ihr dunkles Haar, in das sie mittlerweile ein weißes Röschen eingeflochten, harmonierten lieblich mit ihrem himmelblauen Kleide, und ich sah zum ersten Male, daß meine Freundin schön war.

Sie habe da eine herrliche Geschichte, rief sie mir entgegen, die wolle sie mir vorlesen; wenn ich's möchte. Wohl mochte ich das und ließ mich gern an ihrer Seite nieder, während sie mit heller Stimme den «Handschuh» von Schiller vortrug und mich damit die erste Bekanntschaft des großen Dichters machen ließ. Oh, wie umhüpften diese wohlklingenden Verse mein Ohr, so leicht und lieblich, und umgaukelten die Phantasie mit buntem Wechsel der lieblichsten Bilder. Etwas Schöneres glaubte ich nie gehört zu haben und täuschte mich auch schwerlich.

Lorchen fragte, wie mir's gefallen. «Hübsch», sagte ich, schwang mich auf die Bohnenstange und jagte wieder durch den Garten. Ich war natürlich der Ritter Delorges, Lorchen die Kunigunde; aber ich dachte: verlassen werd' ich sie deswegen doch nicht. Als ich zurückkam, sollte das Lesen zur Abwechslung an mir sein. Ich nahm das Buch und las standhaft wie ein Kantor, während Lorchen gefaßt gen Himmel blickte und den Lilienstengel, den sie mir abgenommen, auf und nieder wiegte. So ging es Tour um Tour, und ich fand Wohlgefallen an so gelehrter Unterhaltung.

Ähnliche Spiele wiederholten sich fortan fast täglich. Ich raste durch den Garten mit einer Hast, als hätte ich meilenweite Strecken zurückzulegen, um zu dem Pavillon zu kommen, wo Lorchen mich empfing, mich mit Erdbeeren, Stachelbeeren, Pflaumen stärkte und wir dann miteinander in den Zauberhain der Dichtung traten. Wir lasen Schillersche und Bürgersche Balladen und anderes, was ich vergessen habe. In der Tat weiß ich es nicht, wo jenes gute Mädchen die Geduld hernahm, so ausdauernd mit mir dummem Jungen zu verkehren. Freilich stand sie selbst damals den träumerischen Phantasien der Kindheit wohl noch näher als den Interessen reiferer Jahre, und in der Einsamkeit ihres zurückgezogenen Lebens mit zwei alten Leuten mochte meine Gesellschaft ihr lieber sein als keine. Ohne sie wäre ich damals schwerlich vom Heimweh freigeblieben, zu dem ich immer neigte; sie aber gab jenen Tagen in der Fremde Blumenduft und Schimmer und war so allerliebst und gut mit mir, daß ich ihrer freundlichen Gestalt noch heute nicht ohne Rührung denken kann.

Der Eßschlaf und die erste Leiche[Bearbeiten]

Unter den aushäusigen Vergnügungen, die mir in Halle zuteil wurden, stand eine Exkursion nach Friedeburg am Fuß des Petersberges obenan, wo ein älterer Bruder meines Lehrers Pastor war. Die Großeltern und Lorchen waren mit, und es fehlte nicht an jeder ländlichen Kurzweil, das heißt, man ging spazieren, speiste im Freien, machte und empfing Besuche usw.

Am besten gefiel es mir im Pfarrgärtchen bei den Stachelbeeren, in deren Dickicht ich und Lorchen auch meist anzutreffen waren. Da zehrten wir ärger als die bösartigsten Raupen. Als wir uns nun einmal bei diesem Geschäft der Geißblattlaube nahten, wo die Alten Kaffee tranken, rauchten und unserer nicht achten mochten, kam es vor, daß ich mit Essen feierte und auf die sonderbaren Geschichten horchte, die der ältere Bruder Senff und seine Frau zum besten gaben.

Diese Mitteilungen galten einer Erscheinung, die dazumal das allgemeinste Interesse erregte, weil man sie als endlichen Erfahrungsbeweis für die Selbständigkeit der Menschenseele begrüßen zu dürfen glaubte, und von der ich hier zum ersten Male Kenntnis nahm.

Daß die Friedeburger Senffs eine Tochter hatten, welche in jüngster Zeit langwierig krank gewesen und endlich auf rätselhafte Weise genesen war, wußte ich zwar schon aus Lorchens Munde. Sie wäre nämlich, erzählte diese, von ihrer Mutter so lange gestreichelt worden, bis sie geweissagt und selbst die Mittel zu ihrer Heilung angegeben hätte, und das wäre eine neue Methode. Hier unter dem Stachelbeerbusche erfuhr ich nun das Nähere.

Die Kranke nämlich, ein junges Mädchen von Lorchens Alter oder vielleicht auch ein paar Jahr älter, war ganz von selbst in jenen rätselhaften Zustand verfallen, da die Seele ohne sinnliche Vermittlung eine deutliche, stoffdurchdringende Wahrnehmung der objektiven Welt haben soll, und hatte sich selbst während dieser Clairvoyence eine fortgesetzte magnetische Kur verordnet, welche übrigens nicht der Arzt ausführte, sondern die eigens von jener angewiesene Mutter. Der Rapport, welcher sich infolgedessen zwischen Mutter und Kind gebildet hatte, war überaus lieblich, und wurde davon viel erzählt. Beide führten fortan unter gegenseitig gesteigerter Zuneigung ein gewissermaßen gemeinschaftliches Seelenleben, und schlafend sah die Kranke ihren mütterlichen Engel in so leuchtend herrlicher Gestalt, daß sie keine Worte fand, sie zu beschreiben. Wohl aber beschrieb sie klar und deutlich die Mittel zu ihrer Genesung und bestimmte Tag und Stunde, da sie wieder geweckt sein wollte. Unter diesem «Wecken» verstand sie aber das, was man im gemeinen Leben besser «Einschläfern» nennen würde, denn merkwürdigerweise bezeichnete sie den todähnlichen, magnetischen Schlaf mit dem Worte «Wachsein», während sie den normalen wachen Lebenszustand «Eßschlaf» nannte. Als sie nun, schon in der Besserung, zum letztenmal in ihrer Weise wach war, wußte sie dies und beklagte es bitter, daß ihr von nun an der Anblick der verklärten mütterlichen Gestalt entzogen sein sollte. «Erst im Himmel, Mutter», hatte sie weinend gesagt, «werde ich dich wiedersehen wie heute, so schön, so herrlich schön!»

Die Kranke war nun schnell und vollständig genesen, und als wir nach Friedeburg kamen, befand sie sich – vielleicht zu einer Nachkur – bei einer befreundeten auswärtigen Familie im ununterbrochensten Eßschlaf, daher ich sie nicht sah.

Das war es, was ich damals aus dem Gespräch der Großen auffing und mir später, bei reiferen Jahren, von Senff bestätigt ward – immerhin genug, in dem Gehirne eines phantastischen Knaben die mannigfachsten Gedanken anzuregen. Namentlich glaubte ich jetzt den Schlüssel zu jener Glorie zu haben, die ich unlängst um meines Lehrers Haupt gesehen hatte. Ich konnte damals wohl ein wenig somnambul gewesen sein und durfte mich in diesem Falle einer Fähigkeit erfreuen, die ich gern einmal zur Perfektion gebracht hätte, namentlich um meine Mutter in ihrer himmlischen Gestalt zu sehen. Die Eindrücke jener Zeit drängten und verdrängten sich indes so rasch, daß ich am einzelnen nicht lange haften konnte.

So brachten wir, nach Halle zurückgekehrt, unter anderem einen Abend bei Senffs zweitem Bruder zu, welcher Anatom und Professor an der Klinik war. Was mir zuerst auffiel, war ein gewisses süßlich widerliches jenesaisquoi, das mir schon auf der Treppe auffiel und alle Räume der Wohnung durchwehte. Die Ursache lag übrigens zutage, denn an den Wänden des Vorsaales prangte eine reiche Sammlung anatomischer Präparate, die in wasserhellem Spiritus alle Gattungen und Arten des Unaussprechlichsten enthielt.

Kinder haben bei ihren Sammlungen kaum andere Zwecke als ästhetische, sie pflegen ihre Schmetterlinge und Siegel nur zur Augenweide aufzustellen; was aber einen erwachsenen Mann bewogen haben konnte, dergleichen ekelhafte Mißgeburten, Geschwülste und Geschwüre nicht nur sorgfältig zu bewahren, sondern obendrein noch damit zu prunken, wie das hier der Fall schien, war mir unverständlich. Inzwischen mußte diese Sammlung dennoch ihren Reiz haben; vielleicht war es der französischer Romane, der Reiz des Gräßlichen, denn während die Großen sich im Nebenzimmer lachend unterhielten, stand ich noch lange allein vor jenen Gläsern und schaute mit genußvollem Abscheu an, was mir so sehr mißfiel. Schon etwas übelig, ward ich zum Essen gerufen, wo meiner eine neue Prüfung wartete. Man war glücklicherweise schon beim Nachtisch, als ein Bürgersmann hereintrat und dem Professor ein ansehnliches Paket in blauem Zuckerpapier überreichte. Dieser schien darüber in so hohem Grade erfreut, daß ich auf einen tüchtigen Pfefferkuchen oder Stollen schloß, den vielleicht ein dankbarer Bäcker für empfangenen ärztlichen Beistand spende. Statt dessen lag nach Entfernung aller Emballagen ein kleiner nackter Kinderleichnam auf dem Tische, mit grünem, hochaufgetriebenem Bauche. Sichtlich befriedigt befühlte und bestreichelte der Gelehrte diesen ohne Zweifel nicht wenig instruktiven Leib, gab dem Manne Geld und sprach zur Magd: «Trag's in den Keller!»

Ob nun noch andere Gründe hinzukamen, weiß ich nicht, kurz, in der Nacht fand in meinem Bette eine Eruption statt, die das ganze Haus alarmierte.

Mein Geheimnis[Bearbeiten]

Daß Halle ein Ort ist, wo junge Leute was profitieren und zu neuen Anschauungen gelangen können, muß schon aus dem Vorhergehenden erhellen, und dennoch bin ich mit dem Wichtigsten noch im Rückstand.

Meine Mutter, die in ihrer Kindheit mit abstraktem Religionsunterrichte, den eine alte Gouvernante erteilte, schrecklich gelangweilt worden, mochte wünschen, uns vor gleicher Belästigung zu bewahren. Im Einverständnis mit dem Vater und unseren Miteltern Volkmanns war die Religion daher von unserem Schulplan abgesetzt. Das Heilige sollte nicht wie lateinische Grammatik traktiert werden; es durfte nicht zur Schulplage werden, sollte uns vielmehr Herzenssache, Erhebung, Trost und Freude bleiben – und allerdings, wenn die Mutter gelegentlich in stillen Feierstunden mit uns Kindern von göttlichen Dingen sprach, so war dabei kein Leiden, nur herzerhebende Erbauung. Daß diese Unterhaltungen, die wir alle liebten, nichts anderes als die Religion zum Gegenstande hatten, ahnten wir nicht im geringsten. Unter Religion dachten wir uns vielmehr etwas ganz Apartes, für Kinder Unzugängliches, wovon nur zu reden unsererseits die äußerste Affektation verraten würde. Als daher Ludwig Engelhard einmal unter den Lehrgegenständen seiner Schule auch der Religion gedachte, so schien uns dies für seine Jahre ebenso unpassend, als wenn er in der Astrologie oder Kabbala unterrichtet würde, und wir befragten unseren Lehrer, ob es wohl wahr sein könne.

Um uns also die Religion nicht zu verleiden, verschonte man uns mit ihrer schulgerechten Unterweisung, und aus ähnlichen Gründen mochten wir denn auch in keine Kirche kommen, mit Ausnahme der katholischen, die Senff der geistlichen Konzerte wegen, welche dort gegeben wurden, ab und zu mit uns besuchte. Der mit den Eltern ganz einverstandene Lehrer mochte denken, daß wir von der Predigt doch nichts verstehen, uns langweilen und endlich einen Widerwillen vor öffentlichen Gottesdiensten in unsere reiferen Jahre mit hinübernehmen würden, vor welchem Nachteil man uns bewahren wollte. Daß gerade das Gegenteil damit erreicht wurde, lehrte später die Erfahrung.

Obgleich ich nun in Halle mitten in einem Pfarrhause lebte und dieses wie ein Sperlingsnest am Gotteshause angeheftet war, wurde ich hier dennoch nach denselben unkirchlichen Grundsätzen behandelt; und als am ersten Sonntagmorgen, den ich hier verlebte, die anderen alle zur Kirche gingen, schien es mir ganz selbstverständlich, daß ich zu Hause blieb. Ich wußte es nicht anders und hatte kein Verlangen nach einer Sache, die ich nicht kannte. Allein gelassen, schrieb ich vorerst einige Zeilen an meinem Tagebuche und schlenderte dann aus Langerweile im Hause herum, bis ich zufällig die offene Bodentreppe fand.

Rumpelkammern und Bodenräume haben für Kinder ein bedeutendes antiquarisches Interesse. Ich machte mich sogleich ans Werk, den alten Trödel des Hauses zu durchstöbern, als meine Aufmerksamkeit sich plötzlich einem anderen Gegenstande zuwandte. Mir war's, als hörte ich sprechen. Ich horchte auf: da schwieg die Stimme, aber es umschwebte mich ein wundervoller Klang, immer mächtiger anschwellend gleich den Orgeltönen, die ich zu Dresden in der katholischen Kirche gehört hatte. Darauf ging es in Harmonien über, und bald durchbrauste ein mächtiger, vollstimmiger Gesang aus Hunderten von Kehlen den einsamen Boden – ich aber stand da mit offenem Mund und Ohren wie ein Behexter. Doch bald erwachte der von Senff gepflegte Forschungstrieb: ich mußte der Sache auf den Grund gehen und examinierte die Lokalität so lange, bis ich dort oben an der Giebelwand eine viereckige Öffnung gewahrte, die nicht ins Freie zu gehen schien.

Von dort drang offenbar der Tönestrom herein. Ich baute mir ein Treppchen von ein paar Kisten, kletterte hinauf und schmiegte meinen kleinen, biegsamen Körper in die tiefe Fensterbrüstung, die ich fast gänzlich ausfüllte. Da hockte ich wohlgeborgen wie eine junge Mauerschwalbe und blickte in den oberen Raum der Moritzkirche, sogar bis auf die Kanzel, wenn ich mich vorbog, was übrigens des Hinunterfallens wegen vermieden wurde.

Ich war bis dahin, wie gesagt, ein Fremdling im Hause meines Gottes gewesen, ich hatte keine Idee von einem öffentlichen Gottesdienst gehabt und wußte weder, was ein Choral, noch was eine Predigt war. Von alledem ward ich heute zum ersten Male Zeuge, und was ich dabei empfand, ist unaussprechlich. Kinder sind eines hohen Aufschwungs ihrer Gefühle fähig, und möglich, daß ich bei aller meiner Religionslosigkeit in meinem Mauerloche andächtiger war als irgendeiner der exzentrischen Schreier, die da drinnen Gott mit lauter Stimme priesen. Hätte ich mitten in der Gemeinde gesessen, so wäre ich vielleicht weniger gerührt gewesen, aber dieser Gottesdienst hatte für mich zugleich den Reiz der Heimlichkeit, die von Salomo gepriesene Niedlichkeit des gestohlenen Brotes, und «keine Kohle, kein Feuer kann brennen so heiß, als heimliche Liebe, von der niemand nichts weiß», welche Liebe man auch in Andacht transportieren kann.

Da schwieg die Orgel, und es begann die Predigt. Ich beugte mich neugierig vor und stürzte zwar nicht hinunter, wohl aber erblickte ich die ehrwürdige Gestalt des alten Senff in seinem schwarzen Chorrock. Ich konnte alle seine Worte hören, und sie dünkten mich sehr fromm und gut, obgleich ich schwerlich verstand, wovon die Rede war; doch ist das Nebensache, wenn man sich nur erbaut.

Als das Amen gesprochen wurde und die Kirchengebete begannen, fühlte ich übrigens, daß es genug sei. Ich schob mich aus meinem harten Neste heraus und kletterte herab, dehnte und streckte mich mit Behagen und gelobte mir, mein köstliches Geheimnis für mich zu behalten. Dies gelang auch bis zum nächsten Sonntag, wo Lorchen mich hier entdeckte und es nicht leiden wollte, daß ich ferner in das Loch kroch. Sie saß noch mit mir auf der Kiste, bis der Gesang zu Ende war; dann kam ich niemals wieder her.

Die Harzreise[Bearbeiten]

Nach etwa vierzehntägigem Aufenthalt in Halle sollte unsere Wanderschaft mit einer Tour in die Berge beschlossen werden, auf welcher Senffs alter fünfundsiebzigjähriger Vater wie auch der Bruder Professor uns begleiteten, so daß wir gerade einen Wagen füllten.

Professor Senff war ein ziemlich wohlbeleibter, etwas pockennarbiger, jovialer Mensch mit breiter Brust und kurzem Halse, einer von denen, die gerne in Hemdärmeln sind und niemals ein Halstuch umlegen und den Hut auf dem Stocke tragen, ein guter Schwimmer und rüstiger Fußgänger. Er war voll Witz und guter Laune und hatte mich so in der Gewalt, daß ein Blick genügte, mich zum Ausplatzen zu bringen. Wenn er wollte, konnte er entsetzlich dumm aussehen, und diese Dummheitsflagge steckte er auf, wenn die Gesellschaft im Wagen stumm und faul ward; dann brach alles in Lachen aus. Auch konnte er zwei Schock Kirschen essen, ohne die Kerne auszuspucken; dann aber zählte er diese wieder aus dem Munde, und siehe da, es fehlte keiner. Dieses Kunststück nachzumachen, bemühte ich mich die ganze Reise, brachte es aber nicht weiter als bis auf zwanzig, und hintennach taten einem noch die Backen weh.

Wir fuhren über Mansfeld und machten Mittag auf dem alten Grafenschlosse, wo damals, in westfälischen Zeiten freilich, nur ein Gastwirt hauste. Von der geschichtlichen Bedeutung der Mansfelder Grafen hatte mir Senff das Nötige gesagt, so daß ich nicht ganz unvorbereitet die einfachen, halbverfallenen Räume ihrer ehemaligen Residenz durchwanderte. Ganz besonders interessierten mich die Souterrains, die weitläufigen Keller und Gänge, in denen wir bei Lampenlicht umherirrten. In dem großen Gewölbe unter der Kirche, wenn ich nicht irre, der ehemaligen Grabstätte der Grafen, hatte ich mich, den anderen voraneilend, etwas zu weit vorgewagt, als mich ein «Halt, junger Herr!» des Führers andonnerte, und noch zu rechter Zeit erwischte mich Professor Senff beim Kragen, sonst wäre ich wie Hamlets Geist versunken und in einen Schacht gestürzt, der dicht vor meinen Füßen steilrecht in die Tiefe ging.

Dergleichen Löcher sollte es, nach Aussage des Führers, in diesen Kellern viele geben, um tieferliegenden Gängen, deren Ende man nicht kenne, Luft zuzuführen, und die Vorstellung einer so endlosen unterirdischen Welt, die selbst den Bewohnern des Schlosses unbekanntes Land war, erfüllte mich mit ehrerbietigem Staunen. Überhaupt war mir's auf dem Mansfelder Schlosse, der ersten alten Burg, die ich zu sehen bekam, gar wundersam zumute, als sei ich der Gegenwart entrückt, als berühre mich eine längst verflossene, aber große Zeit mit geisterhaftem Flügelschlage und schlösse mich in träumerische Umarmung. Mit einer mir bis dahin unbekannten, nach dem, was unwiderruflich vergangen war, zurückgerichteten Sehnsucht verließ ich zögernd, noch oft mich umblickend, die altersgrauen Mauern des berühmten Schlosses.

Nicht minder haben sich mir, wenn nicht die Begebenheiten, doch die Gemütseindrücke der übrigen Reise eingeprägt. Ich sah das erste Gebirge, stand hoch auf dem Brocken, weit aufatmend über Nebel und Wolken, und stieg, durchrieselt von den Schauern der Unterwelt, hinab in die kristallenen Eingeweide der Erde.

Wie lebhaft Kinder doch empfinden mögen! Ich habe das später alles ohne sonderliche Emotion wiedergesehen und namentlich kaum begreifen können, wie das feuchte, dunkle Loch der Baumannshöhle mir damals einen so mächtigen Eindruck machen konnte. Aber freilich war das alles auch unendlich schöner und charakteristischer als jetzt. Der Harz war noch ein abgelegenes Waldgebirge mit umgebauten Wegen, die sich malerisch durch die Täler zogen. Geradlinige Chausseen mit schattenlosen Obstalleen oder gar, wie heutzutage, Schienenwege gab's noch nicht. Im Bodetale sah man weder Kellner noch Hotels, man hörte dort noch nichts vom Lärm der Kegelbahnen, und kein Konditor hatte sich unter jenen Felsenhängen angesiedelt. Unverziert und unverschnörkelt stand der Falkenstein noch in seiner ursprünglichen Einfalt da, und die Tropfsteinwände der Höhlen, jetzt geschwärzt vom Dampf der Feuerwerke, waren rein und weiß wie Zucker. Man reiste freilich unbequemer, aber ebendeswegen mit reichlicherem Genuß; denn mit dem Preise, den wir dafür zahlen, steigt der Wert der Dinge.

Der letzte Ort am Harz, den wir berührten, war Ballenstedt. Gleichgültig sah ich das weiße Schloß mit seinen Gärten an, nicht ahnend, daß ich als Flüchtling bald hierher zurückkehren sollte, und noch weniger, welche tief einschneidende Bedeutung dieser kleine Ort einst für mein späteres Leben haben würde.

Von Halle aus ging's dann weiter und ohne Aufenthalt zurück nach Dresden.

4. Der Komet und Margarete[Bearbeiten]

In Dresden wollte es mir anfangs nicht gefallen; nicht etwa, weil ich nun die Welt gesehen, Halle, Ballenstedt, Brocken und Baumannshöhle, sondern weil ich die gewohnte Häuslichkeit nicht vorfand. Schmerzlich vermißte ich meine Mutter. Sie hatte nach beendigter Kur im Radeberger Bade, das sie jährlich brauchte, auf Verlangen des Arztes noch einen Weinberg bezogen, um dort mit meiner Schwester den Rest des Sommers zu verleben. Der Vater leistete ihr meist Gesellschaft, und da auch Volkmanns von einem Aufenthalte auf ihrem Gute Tschorta bei Leipzig noch nicht zurück waren, blieben mein Bruder und ich vorerst allein in Dresden am Senffschen Schultisch übrig.

So verödet, wie wir waren, hatten weder Studien noch Spiele Reiz. In steter Sehnsucht nach Eltern, Genuß und Freiheit, zählten wir die Wochentage als bloße Nullen ab, den Zähler Sonntag vollzumachen, den wir gemeinschaftlich in Loschwitz auf dem Weinberge zu verfeiern pflegten. Und in der Tat war es kein Hund – wie die Studenten sagen –, nach sechstägiger, heißer, mühsam durchgeplagter Schulzeit am Sonntagmorgen auf freier Bergeshöhe im Paradiese Gottes zu erwachen. Da fuhr man ungeweckt in aller Frühe schon vor 5 Uhr aus dem Bette, während man sich doch in Dresden, trotz Senffs Geschrei und Rütteln, kaum um 7 Uhr ermuntern konnte.

Mein erstes war dann, wie ich war und aus den Federn fuhr, hinaus ins Freie zu treten, wo mich in der Regel schon der Winzerjunge, Gottlieb Braun, ein derber Junge meines Alters, erwartete. Auch er pflegte in dieser frühen Stunde nicht anders als im Negligé, nämlich im bloßen Hemde, zu erscheinen. Wir gingen dann mit nackten Füßen behaglich durch das tauige Gras zum Röhrbrunnen hin, in dessen frischem Wasser wir uns wuschen. Hierin war Gottlieb Meister. Er lehrte mich den Mund voll Wasser ziehen und dieses geräuschvoll in starken Strahlen gegen die ausgebreiteten Hände blasen, von denen es ins Gesicht rikoschettierte. Ich übertraf indes den Meister bald, indem ich mit ganzem Leibe in den Trog sprang, was jener mir nicht nachtun konnte, weil er von seinem Hemde unzertrennlich war. Seine Mutter pflegte ihm nämlich am Johannistage jedes Jahres ein ganz neues Hemd auf den Leib zu nähen, welches er zwölf Monate lang tragen mußte, um es dann als abgenutzten Lumpen über den Zaun zu werfen.

Wenn wir gebadet hatten, drängte eine Lust die andere, und man konnte es radikal vergessen, daß es auch noch Rechenstunde und lateinische Grammatik in der Welt gebe. Um die Mutter freilich, auf die ich mich doch zumeist gefreut, bekümmerte ich mich wenig. Wenn wir Kinder uns herumtrieben, den Abfluß des Röhrbrunnens abdämmten und Überschwemmungen machten oder Höhlen in den Sand des Weinbergs gruben, in denen uns kein Burkhard schrecken durfte, war sie beim Vater und den Freunden, die sie sonntags zu besuchen pflegten; doch aber war es wesentlich das Bewußtsein der mütterlichen Nähe, das mir jene Tage so verklärte, Spiel und Speisen würzte und das Scheiden schwer machte. Wenn dann der spätere Abend herankam und sie mir beim Abschied noch den verwüsteten Hemdkragen glattstrich und mich auf die Stirne küßte, dann fühlte ich's erst recht, wie lieb ich meine Mutter hatte, und schonte meinen Kragen auf dem ganzen Wege, damit er möglichst lange bliebe, wie er von ihrer Hand gelegt war.

Bei diesen nächtlichen Wanderungen in die Stadt, die wir teils zu Fuße machten oder auch in größerer Gesellschaft zu Wasser, erschien dann regelmäßig am Himmel unter tausend und abertausend kleinen Sternen die Feuerrute des riesigen Kometen von 1811.

Gottlieb hatte mir gesagt, daß das Krieg bedeute, und weder Senff noch die übrigen aufgeklärten Freunde unseres Hauses widersprachen, denn leider war der einsame Segler dort oben nicht der einzige Prophet, der damals Unheil und schwere Zeit verkündete. Das mächtige Kaiserreich Napoleons rüstete jetzt offenbar in allen seinen Teilen, und auch Rußland raffte sich auf und wies die Zähne. Es rief die Reichswehr zu den Waffen und konzentrierte imposante Kräfte an den Grenzen. Durch Allianzen suchten beide Mächte sich zu stärken, und im Spätherbst 1811 mochte wohl niemand mehr ernstlich an die Erhaltung des Friedens glauben. Große und kleine Leute fühlten sich beängstigt und zürnten dem Blutmenschen Napoleon und seiner ruhelosen Nation, die in ihrer Tobsucht nimmer müde wurde, die erschöpften Völker in immer neue Händel zu verwickeln.

Da geschah es, daß um jene Zeit des bittersten Franzosenhasses eine blutjunge Pariserin von kaum 17 Jahren nicht nur in unser Haus verschlagen ward, sondern auch festen Fuß bei uns faßte. Wir Kinder, die wir einen eigentlichen Unterschied zwischen Spitzbuben und Franzosen nicht anzunehmen vermochten, sahen dies neue Familienglied mit scheelen Blicken an und mußten unseres ungefügen Benehmens wegen zu mehrerer Artigkeit ernstlich vermahnt werden. Bald aber faßten wir Zutrauen zu dem heiteren Mädchen und überzeugten uns, daß Marguerite Neff, oder Margarete, wie wir sie mit deutscher Betonung nannten, an allen Übeltaten ihres Volkes ebenso unschuldig war als unsere kleine Schwester.

Margarete hatte eine harte Jugendzeit durchlebt. In den Schreckenstagen der Revolution geboren, war sie erst im dritten Jahre, und zwar heimlich im Keller unter Weinfässern, getauft und somit ihr eigener Taufzeuge geworden. Dann hatte sie ihre Eltern verloren, war von unbemittelten Verwandten lieblos erzogen und endlich ins Ausland gejagt worden, um sich mittels ihrer Sprache selbständig zu erhalten. Rat- und freundlos kam sie nach Dresden und, Gott weiß wie, in unser Haus, wo meine Mutter sie aus Erbarmen mit ihrer Jugend zurückhielt, bis sich eine bessere Stelle für sie gefunden hätte. Da ging es denn an ein tüchtiges Parlieren mit Großen und mit Kleinen, und wir Kinder legten, wenigstens in der Aussprache guten Grund zu ferneren Studien.

In unserer Feindschaft gegen Napoleon störte Margarete uns übrigens mit keinem Blick. In ihrem Reiseköfferchen verwahrte sie unter anderem Plunder, den sie uns gern vorwies, auch ein gleich einer Omelette zusammengerolltes Ölbild, ein männliches Porträt mit rotem Kragen, bloß mit Lokalfarben angestrichen und ganz geeignet, die Sperlinge damit zu schrecken. Nichts destoweniger pflegte Margarete diesen Götzen mit zerstörenden Küssen zu bedecken, denn er stellte ihren einzigen Bruder vor, der in Spanien von fanatischen Bauern wie ein Schwein geschlachtet worden war. Er sei so gut und brav gewesen, sagte sie mit heißen Tränen, und habe doch so ganz entsetzlich enden müssen.

Dann wieder hielt sie uns die Fratze neckend vor die Augen, daß wir entsetzt zurückfuhren, und fragte, ob wir nicht fänden, daß man sich davor fürchten könne. Es sei entsetzlich häßlich ausgefallen und gar nicht ähnlich. Aber der Bruder sei zu arm gewesen, einen Maler zu bezahlen, und ein Kamerad hätte es nur aus Gefälligkeit gemacht.

Die traurige Katastrophe des geliebten Bruders gab Margarete übrigens weniger den Mördern als Napoleon schuld. Frankreich, sagte sie, sei schön und groß genug, und man hätte jene spanischen Kannibalen in Frieden lassen mögen; aber der Kaiser bezwecke nicht das Glück der Franzosen, sondern den Ruin der ganzen Welt, und sie hasse ihn de tout son cœur. Das taten wir denn auch so weit als kindermöglich und gewannen Margarete dabei immer lieber, die bald wie eine ältere Schwester unter uns waltete und während der Kriegsdrangsale, die unser warteten, durch ihre Sprache und Landsmannschaft mit dem Feinde dem ganzen Hause von mancherlei Nutzen war. Sie war ein prächtiges Mädchen, französische Beweglichkeit mit deutscher Solidität verbindend, und hat es meine Eltern nie bereuen lassen, daß sie sich ihrer angenommen.

Napoleon[Bearbeiten]

Da wir nun unsere kleine Sauvegarde im Hause hatten, so dauerte es auch nicht lange, als im Westen schwere Wetterwolken aufstiegen, und schon im Frühjahr 1812 wälzten sich die Heersäulen der krieggeübten französischen Armeen nach Norden. Durch Dresden zogen sie in dichtgedrängten Massen. Noch schweben mir die langen, dunkeln Züge der alten Garde mit ihren stolzen Adlern, hohen Bärenmützen und martialischen Gesichtern wie düstere Traumgebilde vor; vorweg der kriegerische Lärm der Trommeln und Pfeifen, dann die gespenstischen Gestalten der Sappeure mit blinkenden Äxten und langen schwarzen Bärten, und hintennach endlose Reihen von Trossen.

So ging es täglich unter unseren Fenstern durch, Mann an Mann und Brigade an Brigade. Ich bekam fast alle Waffengattungen des großen Heeres zu sehen, die hohen Kürassiere mit beschweiften Helmen und goldenen Panzern, die leichtberittenen Chasseurs, Ulanen, Dragoner, Husaren, Voltigeurs, alle Gattungen von Infanterie und Artillerie mit guter Bespannung, endlich lange Züge von Pontons und Kriegsgerät. Es war eine gar treffliche Armee, wie sie die Welt noch nicht gesehen, wohlversorgt und ausgerüstet mit allem Nötigen; sogar an Winterschuhe hatte man gedacht und an grüne Brillen gegen die Blendungen des Schnees. Endlich sahen wir noch ein ganzes Geschwader von jungen Nähterinnen auf kleinen Pferden folgen, vielleicht um die Soldaten im rohen Rußland vor Verwilderung zu bewahren.

Aber auch die deutschen, spanischen und italienischen Truppen, die dem Machtgebot des Zwingherrn folgten, sahen kriegerisch und trotzig drein. Sie hatten seine Siege mit erfochten, teilten die Ehren seiner Armee und sollten mit dieser auch die letzte Katastrophe teilen.

Zu Anfang Mai erschien Napoleon selbst und empfing, von zahlreichen anderen Vasallenfürsten umgeben, auch die Besuche seiner hohen Verbündeten, des Kaisers Franz und Königs Friedrich Wilhelm. Letzterem begegnete ich bei Gelegenheit eines Spaziergangs auf der Brühlschen Terrasse und schloß ihn gleich ins Herz, weil er so würdig aussah und so traurig und Senff mir sagte, er sei ein guter königlicher Herr.

Es gab überhaupt damals recht viel zu sehen in Dresden. Die Anwesenheit so vieler Kriegsheere erfüllte die Stadt mit kriegerischem Pomp; Glocken und Kanonen spielten zum Empfang der Fürsten auf, großartige Paraden und Manöver unterhielten sie, und bei Nacht erstrahlte die Stadt im Zauberglanze tausendfältiger Lampen. Ich weiß es nicht, ob es bei dieser oder einer anderen napoleonischen Gelegenheit war, daß sich ein von bunten Papierlaternen komponierter breiter Regenbogen in allen Farben des Lichtes vom Elbspiegel aus hoch über die Brücke spannte – das Reizendste, was man von nächtlichen Lichteffekten sehen konnte. Auch Feuerwerk durchprasselte die Luft, Tempel und Namenszüge flammten in Brillantfeuer, und jedenfalls mochte man klug tun, im voraus zu triumphieren, da sich nachher keine Veranlassung mehr dazu finden wollte.

Dabei lagen alle Häuser voll Militär, das fast in allen Zungen Europas durcheinander lachte, sprach und fluchte. Auch wir, obgleich nur Mietsleute, hatten einen General im Quartier, der mit seinem Gefolge fast die Hälfte unserer Räume einnahm, und die bedrängte Mutter erschrak nicht wenig, als sich eines schönen Morgens zum Überfluß auch noch ein Flügeladjutant des neben uns residierenden Königs von Neapel einfand. Während ein Arrangement getroffen wurde, ihn unterzubringen, entspann sich zwischen ihm und meiner Mutter die folgende Unterhaltung.

Wenn Madame vielleicht den Kaiser sehen wolle, sagte der Fremde, so möge sie nur ans Fenster treten, er werde gleich vorbereiten.

Vielmehr werde sie sich, erwiderte meine Mutter, mit Erlaubnis ihres Gastes in die Hofzimmer zurückziehen, da sie wenig Neigung fühle, den Mann zu sehen, der im Begriffe sei, ein armes Volk zu zertreten, das ihm nichts getan habe.

Jener lachte und sagte, es würde auch zu nichts führen, als die Augen wieder abzuwenden. Darauf fügte er vertraulich hinzu: «Glauben Sie mir, Madame, ich teile Ihren Geschmack und könnte Sie um solche Hofzimmer wohl beneiden.» Dies Bekenntnis war etwas unerwartet von einem Offizier der großen Armee, und meine Mutter brach das Gespräch ab. Bei näherer Bekanntschaft zeigte sich indessen, daß der vermeintliche Franzose ein Italiener und als solcher vielleicht nicht ganz unberechtigt war, sich den Beglücker seines Vaterlandes aus dem Wege zu wünschen. Mit meinem Vater, der Italienisch mit ihm sprach, wurde er schnell vertraut und wußte beim Glase Wein als Augenzeuge schauerliche Dinge zu berichten. Er nannte Napoleon einen Geist der Finsternis, der im Himmel und auf Erden nichts respektiere als sich selbst. Am besten wüßten das, die ihm am nächsten ständen, seine Marschälle und Verwandten, welche oft versucht sein möchten, sich in Hofhinterzimmer zu wünschen, wenn sie sich für ihre Fürstentitel buchstäblich mit Füßen müßten treten lassen. Bei seinem endlichen Abmarsch sagte er meiner Mutter: «Ich wünsche Ihnen Glück, Madame, zu diesem klugen Kriege, der Ihre Feinde aufessen wird. Sie sehen schwerlich viele von uns wieder.»

Was meine Wenigkeit anlangt, so teilte ich zwar aufrichtig den Widerwillen meiner guten Mutter gegen den Helden des Jahrhunderts, doch hatte mich das nicht abgehalten, mich an jenem Morgen auf die Straße zu begeben, um mir den hochgewaltigen Mann, dessen Name auf allen Lippen war, möglichst von nahem zu besehen. Auch war es mir gelungen, in einem Augenblicke, da er anhielt, um eine Meldung anzuhören, nicht weit von seinem Pferde Fuß zu fassen. Da blickte ich ihm lange in sein gelblich fahles, damals schon gedunsenes Gesicht, das mir den Eindruck eines Leichenfeldes machte. Seine festen, imperatorischen Züge waren kalt und ruhig, sein Auge tot, und gleichgültig ruhte sein trüber Blick ein Weilchen auch auf dem kleinen, ihn neugierig anstarrenden Knaben. Dann ritt er langsam weiter, von seinem glänzenden Stabe gefolgt.

Neben ihm war Murat, der König von Neapel. Er sah phantastisch aus, wie ein Theaterprinz, trug ein Barett mit Straußenfedern, gestickte Schnürstiefel und einen kurzen, reich mit Gold belegten Waffenrock. Aber neben der einfachen Gestalt des Kaisers entschwand er dem Blicke schnell. Jenem blickte ich lange nach, dem kleinen, unscheinbaren, großen Manne in seinem schlichten Überröckchen. Das also war er! dacht' ich.

Napoleon ritt seitdem noch oft vorüber, doch meine Mutter sah ihn nie. Wie nachteilige Speisen ihr nicht schmeckten, auch nicht die delikatesten, so mochte sie auch nichts sehen, was ihr verderblich schien, wenn es auch noch so interessant war. In ihren Augen war jener große Mann nichts anderes als eine dem Abgrunde der Hölle entstiegene Schreckgestalt, ein Dieb, ein Räuber, ein Mörder, ein Vielfraß an Ländern, Blut und eitler Ehre. Seine Größe bewunderte sie am wenigsten. Was sie davon erkannte, schrieb sie lediglich dem Zorne Gottes zu, der ihn als einen giftigen Skorpion vom Staube aufgerafft, die Welt mit ihm zu geißeln. Man kann sich daher ihr Befremden denken, als sie erfuhr, daß eine Dame unserer Bekanntschaft voll Begeisterung ausgerufen habe: «Oh, daß ich ihm die Füße küssen dürfte – und dann sterben!»

«Veder Neapoli – e poi morir!» parodierte mein Vater. Er seinerseits hatte übrigens jede Gelegenheit wahrgenommen, den großen Mann zu sehen, sooft er konnte, nicht, um daran zu sterben, sondern nur, sich seine Züge einzuprägen. Dann malte er ein schönes, düsteres Bild, das er seiner Sammlung von Zeitgenossen einverleibte.

5. Von den kleineren Größen[Bearbeiten]

Die Franzosen waren abgezogen, und hinter ihnen wirbelte der Staub auf, wenigstens in unserem Hause. Es ward mit Besen gefegt, gescheuert und gelüftet; dann erfreute man sich wieder der altgewohnten Lebensordnung und des ungestörten Verkehrs mit zahlreichen Freunden und Bekannten, deren Gemeinschaft die Last der Zeit erleichterte.

Konventionellen Umgang waren meine Eltern so glücklich, nicht zu kennen, und doch auch waren sie so wenig als irgendjemand in der Lage, sich ihre Gesellschaft ganz willkürlich zu wählen; was ihnen aber davon zufiel, war meistens von der Art, daß sie Genuß daran hatten, den zum großen Teil sogar wir Kinder mitempfanden. Unter den künstlerischen Freunden unseres Hauses aber stand uns Kleinen jedenfalls der Landschaftsmaler Professor Friedrich obenan, vielleicht weil er sich am meisten mit uns einließ und, was mich anbelangt, seine Eigentümlichkeit mir schon damals nichts weniger als unverständlich war und mich ganz besonders anzog.

Friedrich war ein sehr aparter Mensch. Mit seinem ungeheuren Kosakenbarte und großen, düsteren Augen hatte er ein treffliches Modell zu einem Bilde meines Vaters abgegeben, das den König Saul darstellte, über den der böse Geist vom Herrn kommt. Doch wohnte in ihm vielmehr ein Geist, der keine Fliege kränken, viel weniger geneigt sein konnte, den frommen Harfenisten David zu erlegen, ein sehr zarter, kindlicher Sinn, den Kinder und kindliche Naturen leicht erkannten, mit denen er daher auch gern und zutraulich verkehrte. Im allgemeinen war er menschenscheu, zog sich auf sich selbst zurück und hatte sich der Einsamkeit ergeben, die je länger, je mehr seine Vertraute ward und deren Reize er in seinen Bildern zu verherrlichen suchte.

Dergleichen Bilder waren früher nicht gewesen und werden schwerlich wiederkommen, denn Friedrich war ein Einundeinzigster in seiner Art wie alle wirklichen Genies. Es ist schade, daß man Kunstwerke nicht beschreiben kann; man kann eben nur ihren Stoff andeuten, und es war sonderbares Zeug, was Friedrich malte. Nicht paradiesische Gegenden voll Reichtum und lachender Pracht, wie Claude sie liebte und alle diejenigen gern sehen, die nur Stoff und Machwerk ansehen. Sehr einfach, ärmlich, ernst und schwermutsvoll, glichen Friedrichs Phantasien vielmehr den Liedern jenes alten Keltensängers, deren Stoff nichts ist als Nebel, Bergeshöhe und Heide. Ein Nebelmeer, aus dem eine einsame Felsenkoppe ins Sonnenlicht aufragt, ein öder Dünenstrand im Mondschein, die Trümmer eines Grönlandfahrers im Polareise – so und ähnlich waren die Gegenstände, die Friedrich malte und denen er ein eigentümliches Leben einzuhauchen wußte.

Mein besonderer Liebling unter diesen Bildern war ein junges Kiefernbäumchen im wirbelnden Schneewetter. Dichter Schnee lag oben darauf und fußhoch darum herum. Darunter aber, im Schutz des Nadeldaches, war es sehr heimlich, da war der Schnee nicht hingelangt, da schliefen die Kinder des vergangenen Sommers, Heidekraut und welke Halme und ein paar zusammengekrochene Schneckenhäuschen, im tiefsten Frieden. Das war das ganze Bild.

Mit so einfachen Mitteln große Wirkungen zu machen, vermag nicht jeder, und doch liegt es so nahe, Einfaches und Bekanntes darzustellen, wenn man verstanden sein will. Ein Kiefernbäumchen ist uns jedenfalls verständlicher als ein Palmbaum, den wir nie gesehen. Inzwischen hatte Friedrich doch immer nur ein kleines Publikum, weil er, wennschon mittels bekannter Formen, dennoch etwas zur Anschauung brachte, was die meisten Menschen fliehen, nämlich die Einsamkeit. Hätte mein Vater die Fremden, die seine Werkstatt besuchten, nicht regelmäßig auf Friedrich verwiesen und überall Lärm für ihn geschlagen, so würde der bedeutendste Landschaftsmaler seiner Zeit gehungert haben.

Dieser originelle Meister entstammte traditionell einem alten Grafengeschlecht, das, evangelischen Bekenntnisses wegen, vorzeiten aus seinem Stammsitz Friedrichsdorf in Schlesien ausgewiesen, sich nach Pommern gewandt und dort der Seifensiederei ergeben hatte. Auch unser Friedrich war der Sohn eines Greifswalder Seifensieders, und von den Eigenschaften seiner Ahnen hatten sich nur die inneren Werte tapferer Wahrheitsliebe, stolzen Freiheitssinnes und einer hohen moralischen Selbständigkeit auf ihn vererbt. Im übrigen war er so arm wie Kepler, von dem der Dichter singt: «Er wußte nur die Geister zu vergnügen, drum ließen ihn die Leiber ohne Brot.» Auch Friedrich kam aus seiner bedrängten Lage nie heraus, weil er zu menschenscheu und unbeholfen, vielleicht zu gut für diese Welt war. Namentlich nach dem Tode meines Vaters gestaltete sich sein Leben immer trüber, aber der Adel seiner Seele blieb ungebrochen. Die Felsenkoppe, die aus Nebeln nach der Sonne schaut, das war sein Bild.

Näher noch als Friedrich, mit dem er nicht allzuviel Berührungspunkte hatte, stand meinem Vater ein anderer namhafter Maler, der geist- und kenntnisreiche Professor Hartmann, derzeit Direktor der Akademie, um die er große Verdienste hatte. Wie Friedrich und wie fast alle Menschen, stammte auch Hartmann aus einem Hause, das seine Adelstitel abgelegt hatte, nämlich von dem alten, durch Leier und Schwert berühmten schwäbischen Geschlecht der Hartmann von der Aue. Hoch und stattlich gewachsen, von freier Haltung und feinen Manieren, gewandt und liebenswürdig, ehrenhaft in allen Beziehungen und sehr wohlgeordnet in seinen Finanzen, trug er von Kopf bis auf die Füße das Gepräge eines vornehmen Mannes. Er war auf der Karlsschule zu Stuttgart erzogen, für den Staatsdienst vorgebildet und besaß einen Schatz gelehrter Kenntnisse, den er fortwährend mehrte. Als Künstler hatte er sich einen Namen gemacht, und obgleich seine Bilder mehr meditiert als erfunden waren, so hielt mein Vater ihn doch sehr hoch als gründlich durchgebildeten Historienmaler und bediente sich gern seines Rates. Ebenso schätzte er ihn als tüchtigen Menschen und liebenswürdigen Gesellschafter, kam fast täglich mit ihm zusammen und freute sich seines sprudelnden Witzes. Hartmann gehörte zu den treuesten Freunden unseres Hauses, übernahm nach meines Vaters Tode die Vormundschaft über uns Kinder und hat uns, solange er lebte, seine Teilnahme nicht entzogen.

Außer den beiden Obengenannten sprachen auch noch andere Kunstgenossen im «Gottessegen» ein und wurden wert gehalten. So der bekannte Sepiazeichner und Erfinder dieser Manier, Professor Seidelmann, und seine geistvolle Frau, eine Venezianerin, die ebenfalls malte, ein schwarzes Schnurrbärtchen und sogar auch den Professortitel hatte, den irgendeine Akademie ihr aus Courtoisie verliehen haben mochte. Dann der bekannte Schlachtenmaler Sauerweid, der namentlich des Abends auf dem Weinberge als geschickter Feuerwerker sehr geschätzt war, die talentvolle Therese aus dem Winkel, der bescheidene Bildhauer Kühne, Friedrichs Spezialfreund, und der Galerieinspektor von Demiani, ein Ungar, der sich indessen mehr durch Sachkenntnis und Gefälligkeit in seiner amtlichen Stellung als durch eigene künstlerische Leistung hervortat. Ein größeres Bild sollte er jedoch gemalt und auch ausgestellt haben, welches im Kataloge als eine Hagar in der Wüste bezeichnet worden. Es war eine öde, mannigfach zerklüftete Berglandschaft, so wie man etwa geneigt ist, sich die sinaitische Wüste vorzustellen; im Hintergrunde aber sonnte sich auf moosigem Felsen ein auffallend dickes Hippopotamus. Auf die Frage, wo denn die Hagar wäre, wurde man auf jenes ferne Ungeheuer verwiesen, welches sich denn auch bei näherer Besichtigung als die Gruppe einer Frau mit einem Kinde auswies.

Unter den Künstlern habe ich hier noch des berühmten Kupferstechers Professor Müller zu gedenken, der gerade damals mit Ausarbeitung seines bekanntesten Blattes, der Sixtinischen Madonna, beschäftigt war. Mein Vater hatte den Umriß dazu selbst gezeichnet; er interessierte sich sehr für diese Arbeit, besuchte Müller fleißig und nahm auch mich bisweilen mit. Da konnte ich mich denn nicht satt sehen an den edlen Gestalten jenes Bildes, das ich zwar zu Hause täglich vor Augen hatte, das mir aber hier aus hell poliertem Kupfergrunde mit ganz neuem Reiz, wie aus einem Lichtmeer, entgegentrat. Der Abdruck auch des besten Stiches hat mehr oder minder immer etwas von dem kalten und sterilen Charakter der Federzeichnungen; auf der Platte aber ist Wärme, Licht und Leben, man vermißt die Farbe nicht und empfindet einen Zauber, der wenigstens in meinen Augen die Wirkung bunter Bilder noch übertrifft oder doch nur ausnahmsweise und nur von den größten Koloristen erreicht worden ist.

Bei einem dieser Besuche schenkte mir Müller eine kleine Kreidezeichnung, die er in Rom nach Raffael gemacht hatte. Es war dies ein jugendlicher Kopf aus der «Schule von Athen», mit wenigen Strichen meisterhaft aufs Papier geworfen und vollendet. Die Zeichnung sah so leicht und selbstverständlich aus, daß ich dachte, es könne dergleichen keine Hexerei sein, und mich ans Kopieren gab. Aber wohl zwanzigmal, zuletzt mit Tränen, habe ich das schöne Köpfchen nachgezeichnet und es in allerlei Fratzen verwandelt, die weder mit dem Original noch untereinander die geringste Ähnlichkeit hatten, bis ich endlich erkannte, daß es doch eine Hexerei war, und mich mit der gewonnenen Einsicht meines Unvermögens begnügen mußte. Das Müllersche Original aber verwahre ich noch heute als ein teures Andenken an den Geber und bewundere es jetzt mehr als damals.

Unter den wissenschaftlichen Zelebritäten Dresdens mochte meinem Vater der als einer der ersten Archäologen seiner Zeit bekannte Hofrat Böttiger am nächsten stehen, ein Mann, dessen hervorragendste Eigenschaften nächst einer überaus großen Gelehrsamkeit seine Freigebigkeit mit derselben und eine Dienstfertigkeit waren, die alle Vorstellung überstieg. Es sei ganz unmöglich, wurde gesagt, auch nur fünf Minuten lang mit Böttiger zu verkehren, ohne irgend etwas gelernt oder einen dankenswerten Dienst von ihm empfangen zu haben.

Andere gelehrte oder literarische Freunde waren: der alte, freundliche Bibliothekar Dasdorf, der meine Mutter mit jeder gewünschten Lektüre aus der Königlichen Bibliothek zu versorgen pflegte, der Professor Hasse, nochmaliger Biograph meines Vaters, der Graf von Loeben, in seinen Poesien Isidorus orientalis geheißen, der Minister von Nostitz, der sich Artur von Nordstern nannte, der Hofrat Winkler, Herausgeber der «Abendzeitung», der nachmalige Dichter des «Freischütz», Hofrat Kind, und der durch seine Erfindung künstlicher Mineralwasser sehr bekannt gewordene Apotheker Dr. Struve.

Letzterer beschäftigte sich damals mit Versuchen einer Zuckerbereitung aus Kartoffeln, um den immer teurer werdenden Rohrzucker zu ersetzen. Eines Abends brachte er uns ein Pröbchen davon mit. Da aber der Hals des Fläschchens zu eng war, den dicken Sirup zu entlassen, war man genötigt, eine Rabenfeder hineinzutauchen, die wir der Reihe nach ableckten, erst die Großen, dann die Kinder. Die Mutter zwar zog es vor, davonzubleiben; alle anderen aber waren sehr befriedigt und nicht weniger verwundert, wie es möglich gewesen, der herben Knolle eine solche, wenn auch etwas brenzlige Süßigkeit zu entlocken.

Weniger bekannte Namen als die vorgenannten übergehe ich hier und will in folgendem nur einzelner gedenken, die auf die innere Entwickelung meiner Eltern und durch diese auch auf uns Kinder einen für alle Zukunft maßgebenden Einfluß übten.

Christliche Influenzen[Bearbeiten]

Die durch Geist und Herz, wie durch jeden persönlichen Wert gleich ausgezeichneten Brüder Joseph und Karl von Zezschwitz, beide im höheren Staatsdienst und etwa um jene Zeit durch Amt und Beruf nach Dresden geführt, hatten sich meinen Eltern schnell befreundet. Sie sowohl als ihre liebenswürdigen Frauen gehörten nach Geburt und Neigung der Brüdergemeinde an, welche damals vorzugsweise eine Trägerin reiner und gesunder Gotteserkenntnis war, und nach dieser Richtung hin erschlossen sie jetzt auch unserem Hause ganz neue Kreise von Ideen und Menschen. Durch sie wurden die Eltern mit einer Klasse von Personen bekannt, welche die Welt zu allen Zeiten mit den unliebsamsten Bezeichnungen, als Heuchler, Frömmler usw., zu brandmarken und zu kreuzigen pflegt, und namentlich war meine Mutter aufs freudigste überrascht, gerade unter solchen die trefflichsten Menschen zu finden, einem Geschlechte angehörig, nach welchem sie bis dahin in unbestimmter Herzensahnung vergeblich ausgesehen hatte.

Die hervorragendste Erscheinung unter diesen neu gewonnenen Freunden und Bekannten war eine hochgestellte Dame, eine Burggräfin zu Dohna, geborene Gräfin zu Stollberg-Wernigerode, in welcher meine Mutter die Realisierung ihres höchsten Ideals von weiblicher Anmut und Würde zu erkennen glaubte und die sie daher bald und zumeist vor allen Frauen ihrer Bekanntschaft liebte und verehrte. Wir Kinder blickten zu ihr auf wie zu einem höheren Wesen, und mein Vater wünschte sie katholisch, damit der Papst sie kanonisieren könne.

Auf dem schönen Gute Hermsdorf, zwischen Dresden und Königsbrück, lebte die Gräfin in häuslicher Stille und Zurückgezogenheit mit ihrem gleichgesinnten, streng kirchlichen Gemahl, mit welchem sie nur selten in die Stadt kam, dann aber immer bei uns vorsprach. Sie war eine Frau in ihren besten Jahren, von einnehmendstem Äußeren, mit weichen, dunkeln Augen, etwas bräunlichem Teint und einem Gesichtsausdruck so still und würdig, wie etwa Perugino ihn seinen heiligen Frauen zu geben wußte. Auf ihrer ganzen Erscheinung lag eine Weihe, die mehr oder weniger alle berührte, die sich ihr nahten, und wer von ihr ging, nahm sicherlich auch einen Segen mit.

Nicht daß diese teuere Gräfin gepredigt hätte wie ihre berühmte Zeitgenossin, die Frau von Krüdener, aber die wunderbare Hoheit ihres durchaus demütigen Wesens, die herzliche Teilnahme im Ausdruck ihres schönen Auges, die Treuherzigkeit im Ton der Stimme und am rechten Fleck ein gutes Wort der Aufmunterung, des Trostes, der Anerkennung oder Bitte, sowie auch eine stets sich gleichbleibende Heiterkeit des Geistes, das waren ebenso unabsichtliche als starke Zeugnisse von der Kraft und Herrlichkeit des Glaubens, der in ihr lebte und Gestalt gewonnen hatte. Die Leiden und selbst die Sünden anderer, auch die an ihr begangenen, fühlte sie als ihre eigenen. Sie hatte daher Entschuldigung für alles und herzliches Erbarmen für jeden Irrenden, insonderheit auch für die Feinde des Namens Jesu, deren Feindschaft sie doch auch selbst nicht selten traf. Denn so hoch die Gräfin von denen verehrt ward, die das Glück hatten, ihr persönlich nahen zu dürfen, so traf dennoch auch sie die Schmach Christi von seiten so mancher, die sie nicht kannten, und die Verleumdung ward nicht müde, recht bösartige Gerüchte über sie in Umlauf zu setzen. Sie war aber darüber weder verwundert noch erbittert, da es ja ihrem heiligen Herrn und Meister nicht anders ergangen und ihr, als seiner Jüngerin, nichts Besseres verheißen war. Dergleichen Persönlichkeiten aber predigen durch ihr bloßes Dasein eindringlicher und besser als alle Eloquenz der Kanzeln; doch wußte die Gräfin auch zu reden, wo sich's paßte, und Rechenschaft zu geben von ihrem Glauben. Zu ihren Freunden sprach sie gern von dem, was ihr das Herz erfüllte, und meiner Mutter öffnete sie den Blick in eine selige Welt trostreichen Erkennens.

Es ist mancherlei geredet und gestritten worden über den Begriff und Wert der Tradition in christlicher Kirche. Man hat einerseits eine Kette von Menschensatzungen als Zeugnisse des Heiligen Geistes dem Worte Gottes gleichgestellt, andererseits ebenso irrtümlich angenommen, daß die Heilige Schrift an sich schon genügsam zu ihrem Verständnisse ausreiche, für solche wenigstens, die den guten Willen zu verstehen hätten. Doch habe ich mehrfältig erfahren, wie der Sinn des geschriebenen Wortes selbst dem reinsten Willen verborgen bleiben konnte, bis das lebendige Zeugnis der gläubigen Gemeinde dem Verständnisse zu Hilfe kam.

Dieses persönliche Zeugnis lebendiger Menschen von ihrem Erkennen, Glauben, Lieben und Hoffen möchte ich mir erlauben, die rechte, zum Verständnisse der Schrift unerläßliche Tradition zu nennen. Sie ist nicht bei dieser oder jener Konfession, wenigstens nicht zu allen Zeiten und nicht immer in gleicher Reinheit: sie ist bei der ganzen gläubigen Christenheit aller Konfessionen, mit anderen Worten, bei der allgemeinen christlichen Kirche. Sie ist das Licht und das Zeugnis des Heiligen Geistes, der bei der Gemeinde bleiben und durch sie zeugen wird bis an das Ende aller Tage.

Meine Mutter war eine jener glücklichen Naturen, die eine natürliche Affinität zum Worte Gottes haben. Von ihrer Kindheit an hatte sie sich mit wunderbarer Liebe zu der heiligen Person des Kinderfreundes Jesu hingezogen gefühlt, dessen Vorbild und Geboten sie nachzuleben strebte, so gut sie konnte. Obschon sie im väterlichen Hause unter Einflüssen hatte leben müssen, die ihrem Verlangen nach geistlichem Wachstum die Nahrung möglichst entzogen, hatte sie dennoch die vereinzelten Strahlen christlicher Wahrheit, die an sie herandrangen, immer ohne Widerstreben in sich aufgenommen. Sie glich einer harmonischen Saite, die mitklingt, wenn verwandte Töne angeschlagen werden, hatte ein sehendes Auge und hörendes Ohr und lernte in der Regel, wo sie gute Lehren fand.

Demungeachtet aber, und obgleich meine liebe Mutter die Quelle in der Hand hielt und die Bibel fleißig las, besonders seit ihr diese durch manches, was sie von Herder gelesen, lieb und wert geworden, hatte sie doch bis dahin gerade die beseligendsten Aussprüche derselben kaum bemerkt, und erst jetzt im persönlichen Verkehr mit gereifteren Christen, und durch diese hingewiesen auf eine spezifisch christliche Literatur, begann ihr allgemach die Decke von den Augen zu fallen. Sie wurde angesteckt durch das Kontagium einer ewigen Heilung und trat ein in die Vorhallen des auf Golgatha erbauten Heiligtums, da Jesus Christus selbst das Hochamt hält.

Wesentlich aus der Hand jener unvergeßlichen Gräfin nahm meine Mutter den Schlüssel zu dem offenkundigen Geheimnis der Erlösung, und nun erst fing sie an, die Heilige Schrift auch zu verstehen, sie als Wort Gottes zu begreifen und zu glauben. Nicht daß sie damals gleich von vornherein zu einer fertig abgeschlossenen theologischen Ansicht gelangt wäre, zu der sie es überhaupt nie brachte: es waren eben nur Anfänge christlichen Anschauens und Erkennens, das seiner Natur nach niemals abschließt.

Inwiefern nun meine liebe Mutter bei solcher Bereicherung ihres inneren Lebens einer Selbsttäuschung erlegen oder nicht, darüber mochten die Ansichten ihrer älteren Freunde auseinandergehen. Ich kenne es aber nicht anders, und zwar nach einer langen Reihe von Erfahrungen, als daß alle diejenigen, denen es durch Gottes Gnade gelang, den Christenglauben zu ergreifen, eine köstliche Perle gefunden zu haben meinten, in deren Besitz sie sich beseligt und versöhnt mit Gott und Menschen fühlten. Umgekehrt aber habe ich es auch stets erfahren, daß Gläubige, die in ihrem Glaubensleben gestört werden, dies immer auch in ihrem Seelenfrieden waren. Was meine Mutter anbelangt, so bekannte sie selbst von sich, nicht etwa, daß sie besser und vollkommener geworden, sondern daß sie in ein Element geraten, in welchem es ihr wohl war und da sie volles Genügen fand. War das Täuschung, so möchte ich allen Menschen solche Täuschung wünschen.

Die stillen Sonntagmorgen, die wir Kinder bei der Mutter zu verbringen pflegten, wurden jetzt immer segensreicher für uns. Wir saßen dann um den runden Tisch, wir Brüder zeichnend, die Schwester mühsam Strümpfe strickend für ihre Puppe, während die Mutter uns irgend etwas Erbauliches vorlas, etwa aus den damals erscheinenden Krummacherschen Kinderschriften, dem «Sonntage», dem «Festbüchlein» und anderen, oder auch Geschichten aus der Heiligen Schrift. Dann unterhielt sie sich mit uns über das Gelesene auf eine Weise, die wir wohl verstehen konnten, und in solchen Stunden schlang sich um die natürliche Liebe der Familie noch ein anderes, heiligeres Band, das unser aller Herzen trotz mannigfaltiger späterer Verirrung nicht nur untereinander, sondern, wie ich hoffe, auch mit unserer ewigen Heimat auf immer fest verknüpft hat.

Auch der Vater fand sich jetzt bisweilen, namentlich wenn wir auf dem Lande waren, mit irgendeiner leichten Arbeit zu diesen kleinen Hausgottesdiensten ein. Er hatte keinen Widerspruch in seiner Seele und hörte freundlich zu, sich anfänglich wohl nur des ruhigen Beisammenseins mit den Seinen freuend. Da kam es auch über ihn, und allgemach ward auch er von jener wunderbaren Ansteckung ergriffen, die aus tugendhaften Leuten arme Sünder macht und das Herz zu einer Liebe entzündet, die nicht von dieser Welt ist. Doch es mögen dies aber auch nur die ersten Lockungen der Gnade, die ersten Anfänge himmlischer Berufung gewesen sein. Das entschiedene Eingreifen der geoffenbarten Wahrheit blieb einem späteren Lebensabschnitt vorbehalten.

6. Die Neuigkeit des Stiefelputzers[Bearbeiten]

Die politischen Ereignisse gingen ihren Gang und wurden in unserem Hause aufs lebhafteste besprochen. Zwar las mein Vater keine Zeitung, weil er keine Zeit dazu zu haben meinte; unser Hausarzt aber und treuer Freund, der Dr. Pönitz, las dafür jede. Er war, wie viele seiner Fachgenossen, ein lebendiges Tageblatt und kam zur Zeit und Unzeit, das Haus mit Nagelneuestem zu alarmieren.

Meine Eltern hatten die kolossalen französischen Armeen, geführt von den größten Feldherren der Zeit, nicht ohne Besorgnis nach Rußland ziehen sehen; daß aber dies riesige Reich so rasch und fast im Umsehen erobert werden würde, hatten sie sich nicht träumen lassen. In der Dresdener Hofkirche ward ein Tedeum nach dem anderen abgesungen zur Verherrlichung der siegreichen Fortschritte des großen Kaisers, bis endlich der Sturz des altehrwürdigen Moskau die Alleinherrschaft Napoleons über den Kontinent zu begründen schien.

Nichtsdestoweniger baute meine Mutter noch auf Alexanders kaiserliches Wort, daß er nicht Frieden schließen werde, solange sich ein feindliches Bajonett auf russischer Erde zeige. Allein der Vater meinte, Napoleon sei jetzt Herr in Rußland, und der Friede werde sich ganz von selber schließen, eine Aussicht, die trostloser als jeder Krieg schien.

Da brachte der getreue Pönitz, anfänglich zwar nur als unverbürgtes Gerücht, die sich bald bestätigende Nachricht von dem schauerlichen Brande Moskaus. Man kannte den Hergang jedoch nicht und wußte nicht, ob man dies Ereignis zum Vorteil oder Nachteil deuten solle, bis ein Brief aus der fernen Heimat meiner Mutter den Weg zu uns gefunden und von dem Aufschwunge der öffentlichen Meinung wie von der Siegeszuversicht erzählte, welche infolge jenes Brandes ganz Rußland belebe und alle Stände zu jedem Opfer begeistere.

So durfte man denn wieder hoffen. Es war nicht unwahrscheinlich, daß solche Entschlossenheit Erfolge haben müsse, und diese Hoffnung schien sich denn auch bald in allerlei Gerüchten zu realisieren, die sich mit Eintritt des Winters häuften und rasch von Mund zu Munde flogen. Jetzt wußte Pönitz viel zu sagen von ernstlichen Verlegenheiten der großen Armee, von Hunger, Frost und Blöße, von schrecklicher Bedrängnis, unglücklichen Gefechten, Rückzug und Flucht, und immer lauter und kecker wurden die Gerüchte, obschon die offiziellen Berichte noch längere Zeit zu täuschen suchten. Gewisses war nicht zu erfahren, und die Spannung steigerte sich ins Ungeheure.

«Was gibt es Neues?» Das war die herrschende Phrase jener Zeit und die gangbare Rede, mit der sich jedermann begrüßte. «Was gibt's Neues, Blanke?» so pflegte mein Vater auch seinen Stiefelputzer anzureden, einen alten verdrossenen Mann, der für den abermals zu Felde liegenden Talkenberg vikarierte und, wenn es ihm überhaupt zu antworten beliebte, sich wohl herbeiließ, etwas von den Neuigkeiten mitzuteilen, die er auf seinen Gängen in die Stadt erfuhr. Nun mochte es etwa gegen die Weihnachtszeit sein, als der Alte sich auf obige Frage hinter den Ohren kratzte und gleichgültig erwiderte, er wisse nischt – außer etwa nur das, daß der Napoleon in der Nacht eingepassiert wäre.

«Wer sagt das?» rief mein Vater, indem er aufsprang und den alten Brummbär bei den Schultern packte.

«Nu, nu!» erwiderte der, «wer soll's denn sagen? Die Leute sprechen's.»

Der Vater ließ alles stehen und liegen, eilte in die Stadt und kam bald mit der Bestätigung der großen Novität zurück. Napoleon war wirklich angekommen, unangemeldet, allein und ohne alte oder junge Garde. Ganz überraschend war er halberfroren bei seinem Gesandten vorgefahren, hatte diesen aus den Federn geschreckt, sich in sein warmes Bett gelegt und war vor Tagesanbruch schon wieder abgereist. Der Hiobspost von dem Untergange der Armee vorauseilend, hatte er Norddeutschland wie ein Blitz durchzuckt, um in ein Dresdener Bett zu schlagen; dann zuckte er weiter bis Paris.

Der alte Blanke bekam für seine Nachricht einen Taler, und die zahlreich vorsprechenden Freunde tranken vom besten Rheinwein, den wir im Keller hatten. So wackere Gesichter hatte man lange nicht gesehen, denn wenn Napoleon als sein eigener Kurier die Armee verlassen hatte, so mußte ihm das Wasser reichlich an die Kehle gehen.

Die Explosion[Bearbeiten]

Nun folgte eine Neuigkeit der anderen; die früheren Gerüchte bestätigten sich und wurden von der Wahrheit noch überboten. Wir hörten jetzt offiziell von dem grauenhaftesten aller Rückzüge, ja von der völligen Vernichtung der unüberwindlichen Armee. General York ging über. Russische Heere drangen unaufhaltsam vor. Das niedergetretene Preußen erhob sich mit jugendlicher Kraft, und immer näher rückte auch uns die langersehnte Befreiung. Schon zu Anfang März ward der Wintzingerodesche Vortrab an der Elbe erwartet; der König von Sachsen verließ seine Residenz, und das schwache französische Kommando, das unter Regnier Dresden noch besetzt hielt, zog sich in die Altstadt mit der offenkundigen Absicht, die Brücke hinter sich zu sprengen. Die schöne Brücke, den Stolz des ganzen Landes, wollte man zerstören, und mit ihr vielleicht die halbe Stadt!

Es ist begreiflich, daß die Aufregung der ohnehin franzosenfeindlichen Einwohnerschaft durch solchen Vandalismus aufs äußerste gesteigert ward. Als daher das Pflaster aufgerissen wurde, um die Mine anzulegen, rottete sich das Volk zusammen und hinderte die Fortsetzung der Arbeiten mit Gewalt. Wie heute erinnere ich mich eines lauten tumultuarischen Geschreis auf den Straßen. Man rief nach Hilfe wider die Franzosen, und da wir gerade beim Abendessen saßen, griff mein Vater in der Eile nach dem Tranchiermesser, barg es unter seinem Rock und rannte mit Sturmeseile fort. Die Mutter rief und blickte ihm schwer geängstigt nach; aber glücklicherweise hatten die Franzosen, dem Andrang weichend, ihr Zerstörungswerk bereits sistiert. Bewaffnete Bürgerhaufen bewachten die Brücke.

Da zog am anderen Morgen der Marschall Davout von Meißen her mit einer imposanten Macht von 12 000 Mann, die das Gerücht auf 20000 steigerte, in Dresden ein und stellte sich drohend à cheval der Brücke auf. Der Altstädter Schloßplatz mit den angrenzenden Straßen sowie der Neustädter Markt und die Lindenallee vor unseren Fenstern füllten sich mit Militär, das, vom Eilmarsch ermüdet, die Gewehre zusammenstellte und sich zum Biwak auf offener Straße anließ.

Ich lag mit meinem Bruder im Fenster, auf das Gewimmel blickend. Da zog leise, fast unbemerkt, ein schweres, zu dieser Jahreszeit sehr ungewöhnliches Gewitter die Elbe herauf, und plötzlich rollte ein majestätischer Donner über die Stadt hin. Die überraschten Franzosen reckten die Köpfe in die Höhe, sperrten die Mäuler auf, und wie auf ein verabredetes Zeichen äfften Tausende von Stimmen den Donner des Himmels nach. Aber in demselben Augenblicke schlug ihnen auch ein so energischer Sturzregen in die Zähne, daß sie fluchend unter ihre Mäntel krochen und sich zu bergen suchten, wie sie konnten. Die armen Menschen könnten ihr fast leid tun, sagte meine Mutter, wenn sie nicht allzusehr gelästert hätten, denn sie gehörte noch zur alten Schule, die im Donner Gottes Stimme vernahm.

Unterdes erfuhr man, daß die Vorstellungen des Magistrates den Marschall bewogen hatten, die Anlegung der Pulvermine in der Brücke sachverständigen Bergleuten zu vertrauen, was einigermaßen beruhigend wirkte. Doch aber ward der gesamten Einwohnerschaft aufs strengste anbefohlen, sich am nächsten Morgen weder auf der Straße noch in den Fenstern betreffen zu lassen. Letztere öffnen, wurde angeraten, damit sie nicht zersprängen.

Wir Kinder freuten uns dieser eigentümlichen Situation ganz kindisch. Wir hatten andere Interessen als die Großen, und auf einen Schaden mehr oder weniger kam es uns auch nicht an. Wir hofften, daß die katholische Kirche und das Schloß einstürzten, unsere Wohnung wenigstens wanken werde, und freuten uns unsäglich darauf, sämtliche Fenster auf die Straße fliegen zu sehen. Die Mehrzahl der Hausbesitzer mochte fürchten, was wir hofften.

Nun dämmerte der verhängnisvolle Morgen über die wohlbekannten Dächer der gegenüberliegenden Häuser herauf. Die Straßen waren öde und verlassen, und in banger Erwartung einer großen Katastrophe ruhte alle Arbeit. Man hörte keinen Laut in der weiten Stadt. Die Fenster standen offen trotz des frischen Morgens, doch ließ sich niemand blicken, und nur der aufsteigende Rauch aus den Feueressen bezeugte, daß die Einwohnerschaft nicht ausgestorben sei.

Wir hatten uns sämtlich in einen Alkoven zurückgezogen, der an das Wohnzimmer der Mutter stieß, um uns vor den Quadersteinen der Brücke zu sichern, von denen man annehmen zu dürfen glaubte, daß sie wie Vögel durch die Luft fliegen und in die Außenwände der Häuser schlagen würden. Es waren Augenblicke der höchsten Spannung, denn die nächste Minute konnte über Tod und Leben entscheiden, und wir Kinder fingen an, dem vernünftigen Wunsche Raum zu geben, daß doch alles recht gut ablaufen möchte.

Da geschah ein dumpfer Schlag. Die Mutter faßte nach uns Kindern – doch waren mein Bruder und ich bereits beim Vater am Fenster und sahen eine dicke Rauchsäule über der Brücke aufwirbeln. Gleichzeitig flogen alle Haustüren auf, und die Bewohner drängten auf die Straße, den Schaden zu besehen. Aber siehe da! zwei Bogen und ein Pfeiler fehlten freilich an der Brücke, sonst war diese unbeschädigt, und auch die umliegenden Gebäude hatten nicht gelitten. Die Franzosen waren drüben in der Altstadt abgesperrt und nur eine kleine Abteilung sächsischer Infanterie bei uns zurückgeblieben. Mein Vater rieb sich die Hände. «Gottlob!» sagte er, «nun sind die Affen fort, und hoffentlich für immer!»

Die Russen[Bearbeiten]

Der «Gottessegen» war ein hohes Haus, außer dem Erdgeschoß noch vier Etagen übereinander; dann folgte erst der Dachboden, an welchem alle Mietsleute ihren Anteil und Verschluß hatten. Hier oben war eine romantische Welt, ein Labyrinth von dunklen, winkligen Gängen, Verschlägen und Rumpelkammern voll alten, weggesetzten Hausrates und voll Reiz für Kinder. Überdem erfreute man sich aus den Dachluken einer weiten Aussicht auf die Meißener Gegend, wie auch nach Norden über das Schwarze Tor hinaus bis auf die waldigen Höhen der Radeberger Heide.

Indem mein Bruder und ich nun eines Morgens hier unser Wesen hatten, fiel es uns ein, doch einmal auszuschauen, ob die Russen noch nicht kämen. Wir blickten angestrengt und lange in die Ferne und wollten eben die Köpfe wieder einziehen – da! – nein, es war keine Täuschung – da zeigten sie sich wirklich! Am Saum des fernen Kiefernwaldes, wo dieser an eine öde Sandfläche grenzte, die sich bis zur Stadt heranzog, war plötzlich ein neuer Gegenstand erschienen, ein dunkles Etwas, das sich lebhaft hin und her bewegte. Dann waren es zwei und immer mehrere. Bald schwärmte es wie ein Mückenschwarm der Stadt zu.

«Die Russen! die Russen!» frohlockten wir, und fort ging's mit Sturmeseile, den Eltern das entzückende Ereignis zu verkünden. Mein Bruder krallte sich fest an meine Jacke, schreiend, er wolle es auch mit sagen, denn er habe es zuerst gesehen, was auch nahe an die Wahrheit streifte. So wirbelten wir gekoppelt und doppelt die Treppe hinunter und drangen atemlos in das Arbeitszimmer des Vaters, der, empört über unser Ungestüm, den Malstock hob und uns die Flegelei verwies. Da er aber den Grund unserer Aufregung erfuhr, eilte er, die Arbeit vergessend, mit uns auf den Boden und blickte mit seinem scharfen Auge in die Ferne. Wir hatten recht gesehen: es waren Kosaken, die lustig auf dem Sande schwärmten und sich der Festung immer kecker nahten.

Ob wir hier Zeugen des ersten Schusses wurden, der aus der Stadt fiel, oder ob meine Phantasie die Erzählung anderer zum eigenen Erlebnis umgeprägt, kann ich nicht sagen; doch glaube ich gesehen zu haben, wie einer der Kosaken, nahe an die Palisaden heranreitend, auf den Knall einer Flinte taumelte und dann tot vom Pferde fiel, das ruhig neben ihm stehen blieb. Plötzlich aber war er wieder lebendig, sprang in den Sattel, schwenkte seine hohe Mütze gegen seine Mörder und jagte dann zurück zu seinen Kameraden. Dies Stückchen gefiel uns dermaßen wohl, daß wir es nachher, um es Margareten und anderen anschaulich zu machen, des öfteren wie eine Komödie aufgeführt haben. Ich kam auf einer Fußbank angesprengt mein Bruder feuerte hinter dem Holzkorb vor: und dann geschah alles so wie dort.

An demselben Morgen sahen wir aus unseren Fenstern, wie zwei schlanke, hechtblaue Sachsenleutnants einen kleinen stämmigen Kosakenoffizier mit verbundenen Augen vorüberführten.

«Sie haben ihm ins Gesicht geschossen», sagte mein Bruder ruhig, «und ihn dann gefangen.»

Aber der Vater belehrte uns, daß das ein Parlamentär sei, den man zum Kommandanten führe. Ich sah den kleinen, straffen Parlamentär mit so lebhaftem Interesse an, daß er mir mit seinen festen, kurzen Schritten, seinem breiten Nacken und der stolzen Haltung seines verbundenen Kopfes noch heute ganz lebendig vor den Augen steht. Nach einigen Stunden verbreitete sich die sehr willkommene Nachricht, daß die Neustadt am folgenden Morgen übergeben werden solle.

Nächsten Tags in aller Frühe zog denn auch die sächsische Besatzung ab, während sich unsere Neustädter Honoratioren am Schwarzen Tor versammelten, um die Kosaken zu empfangen. Diese, geführt vom Obristen Brendel, etwa 800 Mann stark, zogen in guter Ordnung ein und machten unweit des Tores, auf dem damals noch freien Platze zwischen Kirche und Kaserne, halt. Auch mein Vater war mit uns Knaben hingegangen.

«Das sind deine Landsleute», sagte er mir, in welcher Bezeichnung für mich eine Aufforderung zu ungemessener Zärtlichkeit lag. Gern hätte ich wenigstens einigen die Hand gedrückt, da ich's nicht allen konnte, wenn mein Vater mich nicht an der seinigen festgehalten und die strenge Haltung dieser wilden Krieger mir nicht einiges Bedenken eingeflößt hätte.

Inzwischen dauerte die anfängliche militärische Erstarrung des jovialen Kosakenvölkchens nicht allzulange. Was irgend Beine hatte in der Neustadt, war nach dem Tore geeilt, und von allen Seiten drängten die Bürger mit freudigem Zuruf auf ihre Befreier ein. Diese Russen waren als Feinde der Franzosen teure Freunde und Gesinnungsgenossen: sie wurden wie Brüder empfangen, und enthusiastisches Jauchzen erfüllte den Platz. Der Branntwein strömte; jeder hatte ihn mitgebracht, und jeder wollte der erste sein, den langersehnten Barbaren den Hals damit zu füllen. Halb zog man sie, halb sanken sie im Freudentaumel aus den Sätteln. Man umarmte, man küßte sich und sprach in allen Zungen, bis die Quartierbilletts verteilt waren und die glücklichen Wirte mit ihren Mannschaften abzogen. Es war ein Funke der weltgeschichtlichen Begeisterung einer großen Zeit, der in die Herzen des Dresdner Volkes gefallen war.

Meinen Eltern ward ein Offizier zugeteilt, mit dessen Burschen wir Kinder, wie mit den übrigen Kosaken im Hause, bald gute Freundschaft machten. Unsere gegenseitige laute und ununterbrochene Konversation war zwar sehr überflüssig, da wir uns nicht verstanden, doch gab es andere Mittel, sich zu befreunden, und Taten sind mehr wert als Worte. Wir schleppten unseren Freunden Lebensmittel zu, schenkten ihnen unsere ersparten Kupfermünzen und gingen ihnen zur Hand, so gut wir es vermochten. Sie dagegen schnitzten uns hölzerne Lanzen und Säbel, zeigten uns ihre Waffen, unter denen uns besonders ihre langen, in diversen Türkenkriegen erbeuteten und zum Teil sehr reich mit Silber eingelegten Pistolen wohlgefielen, und ließen uns auf ihren kleinen Pferden reiten.

Diese Kosaken aus den Freiheitskriegen waren gutartige, kindliche Burschen, zwar etwas diebisch und sehr versoffen, wie unser Hauswirt finden wollte, aber doch dabei recht fromm. Als einer von ihnen mit einer Meldung an seinen Offizier zu uns ins Zimmer trat und das große Marienbild erblickte, bekreuzte er sich sogleich und blieb mit aufgerissenem Munde wie angenagelt an der Türe stehen, keinen Blick von jenem Heiligtum verwendend. Der Offizier ersuchte meine Eltern in französischer Sprache, dem armen Kerl, der noch nie in seinem Leben ein so schönes Bild gesehen, zu gestatten, daß er näher hinzutreten und meine Mutter, in aller Eile die Trümmer ihres halb vergessenen Russisch zusammenraffend, lud ihn nun selbst in seiner eigenen Sprache dazu ein.

Da überwog fürs erste die freudigste Überraschung jede andere Empfindung. Die heimischen Laute entzückten den Weithergekommenen, er krümmte und schmiegte sich mit lauten Exklamationen vor meiner Mutter bis zur Erde, küßte und streichelte den Saum ihres Kleides und suchte auf alle Weise seine Freude zu bekunden. Dann wieder betrachtete er das Bild mit größter Verwunderung und erbat sich schließlich die Erlaubnis, auch einige Kameraden herzuführen.

So dauerte es denn nicht lange, daß ein ganzer Haufe von Kosaken mit ihren Schleppsäbeln die Treppe hinaufrasselten. Sie nahten sich dem Bilde aufs ehrerbietigste, warfen sich auf die Knie, bekreuzten sich und verrichteten ihre Andacht wie in der Kirche. Dann besprachen sie sich leise über das Wunderwerk, vor dem sie standen, und zogen sich dankend mit vielen Verbeugungen wieder zurück. Dasselbe wiederholte sich an demselben Tage noch öfter.

Der im vergangenen Jahre bei uns einquartiert gewesene französische General hatte sich vor demselben Bilde schmunzelnd eine Köchin gewünscht, die der Maria gleiche, worauf seine Adjutanten lachten und dem Gespräch eine so frivole Wendung gaben, daß meine Mutter das Zimmer verließ. Unsere Kosaken waren indes keine Generale, sondern nur gemeine Russen, denen man noch etwas Ehrfurcht vor dem Heiligen zugute halten konnte. Außerdem waren sie ein frisches, fröhliches Völkchen, voll Gesang und guter Laune und, wie gesagt, bisweilen auch voll Branntwein. Nüchtern aber oder trunken gingen sie doch immer ihrem Feinde keck zu Leibe, und täglich erzählte man sich von der unerschrockenen Gewandtheit, mit der sie ihre Streiche auszuführen wußten. Auf ihren unermüdlichen Pferden schwammen sie über den Strom, erschienen plötzlich im Rücken der Franzosen, die sie unablässig neckten und erschreckten und ihnen Abbruch taten, wo sie konnten. Bei Nacht gelang es ihnen sogar, zahlreiche am anderen Ufer versteckte Kähne wegzunehmen und nach der Neustadt überzuführen.

Der schlaue Führer dieses kecken Haufens, Obrist Brendel, war wunderlicherweise ein Deutscher und interessierte demnächst durch seinen ungeheuren Bart, der an üppiger Vegetation alle Vorstellung übertraf und ihm bis zum Gürtel reichte. Brendel hatte dem Vernehmen nach früher in österreichischen Diensten gestanden, wo er, wie man sagte, sich genötigt gesehen, jenen reglementswidrigen Auswuchs, da er ihn nicht abschneiden wollte, in langen Flechten unter die Uniform zu knöpfen. Als ihm aber auch dies verleidet worden, habe er endlich in der Vorliebe für seinen Bart seinen eigentlichen Beruf erkannt und sei Kosak geworden. In Dresden erfreute sich dieser bärtige Obrist einer dreifachen Huldigung. Die nichts von seiner Herkunft wußten, feierten ihn als Russen und furchtbaren Barbaren, die anderen als wohlgesinnten deutschen Landsmann, und alle, die mit ihm in Berührung kamen, freuten sich seiner kräftigen und jovialen Persönlichkeit. Er ward schnell zum Löwen des Tages; aber obschon man ihn nach Kräften zu fetieren suchte, konnte er sich doch mit dem faulen Leben nicht vertragen. Er mußte vorwärts und die Nachhut der Franzosen weiterdrängen.

Der Marschall Davout war zwar unmittelbar nach Sprengung der Brücke mit dem Kerne seiner Truppen abgezogen, doch standen in der Altstadt immer noch 3000 Mann, die mit der Pudelmütze nicht wegzuschlagen waren. Da geschah es aber, daß wir etwa in der zweiten Nacht nach Brendels Ankunft durch starken Trommelwirbel und ein schwerfälliges Gerassel aus dem Schlafe aufgestört wurden. Jedermann dachte an den Einmarsch eines Armeekorps mit zahlreicher Artillerie, und man war daher nicht wenig erstaunt, am nächsten Morgen die Straßen leer und alles beim alten zu finden. Der ganze Spektakel war nichts anderes gewesen als ein Gespenst, das Brendel heraufbeschworen, um die Franzosen aus der Altstadt wegzuschrecken. Er hatte nämlich aus den benachbarten kleinen Städten und Ortschaften die sämtlichen Trommler der Schützengesellschaften zusammentreiben und durch die Straßen der Neustadt wirbeln lassen. Hinter ihnen fuhren mit Steinen schwer beladene Leiterwagen. Die Franzosen aber hatten richtig Schein mit Sein verwechselt: sie waren abgezogen, und Brendel schwamm mit seinen Kosaken durch den Strom, sie zu verfolgen. Erst hinter ihnen schloß ein interimistischer Holzbau die große Bresche in der Brücke.

Jetzt brachte jeder Tag sein Neues. Auf die Kosaken folgten reguläre russische Truppen. Das Wintzingerodesche Armeekorps zog größtenteils durch Dresden, und zwar in bester Haltung mit Sang und Klang, mit fliegenden Fahnen und umgeben von dem Nimbus der gerechten Sache, für die es stritt. Solche Durchmärsche mit anzusehen, wäre an und für sich schon gut genug gewesen; wir Kinder aber hatten dabei noch ein spezifisches Interesse. In der russischen Armee nämlich dienten viele Livländer, unter denen sich leicht Verwandte finden konnten, eine Menschenklasse, die uns Kindern bis dahin fremd geblieben war, da die Familien des Vaters wie der Mutter so weit von uns zu Hause waren. Wir sahen daher jeden russischen Offizier darauf an, ob nicht vielleicht ein Onkel in ihm stecke, suchten auch einzelnen, die uns wohlgefielen, durch vertrauliches Zunicken eine Entdeckung zu erleichtern, an der ihnen, wie wir meinten, ebensoviel gelegen sein mußte als uns selbst. Auf diese Weise erhielten wir manchen freundlichen Gruß zurück, ohne jedoch zu unserem Zweck zu kommen.

Aber die rechten Onkels stellten sich ganz von selber ein, und oh, wie klopfte mir das Herz, als ich eines Morgens in der Haustür stehend, von einem anreitenden Husarenoffizier gefragt ward, ob hier mein Vater wohne. Es war ein Vetter meiner Mutter, namens Georg von Bock, ein wunderschöner junger Mann vom stattlichsten Aussehen. Fast verschlang ich ihn mit den Augen und hatte eine Freude, die nur durch die vergangene Verwandtendürre erklärlich werden konnte. An seinem Arme ging ich stolz durch die Straßen bei den präsentierenden Posten vorüber und fühlte mich nicht schlecht geschmeichelt, wenn begegnende Soldaten Front vor uns machten. Das war doch anders als mit Talkenberg! Und oh, wie anziehend waren die Gespräche dieses Onkels für groß und klein, denn er hatte die ganze Kampagne in Rußland mitgemacht und erzählte in trefflicher Weise als Augenzeuge von den Schlachten bei Smolensk, bei Moshaisk, bei Maloi-Jaroslawez und von den Greueln an der Beresina. Leider konnte er nicht immer bleiben, er mußte weiter, wie andere liebe Verwandte, die ihm folgten, und wie ein Traumbild sind mir diese ersten Russen mit ihren Onkels hingeschwunden.

7. Die Preußen und die beiden Ateliers[Bearbeiten]

Es war eine große, herzerhebende Zeit, der wir entgegengingen, das Aufleuchten eines unvergleichlich herrlichen Morgens. Die ersten Strahlen deutscher Freiheit flammten blutigrot im Osten auf, begeisternde Verheißung spendend, und wie auf den Ruf der letzten Posaune regten sich die weiten Totengefilde des großen deutschen Vaterlandes zu neuem Leben, aber auch zu blutiger Arbeit. Das Wort Friedrich Wilhelms hatte sein scheintot darniederliegendes Volk aus schwerem Traum erweckt, und in frisch erstarkender Kraft schüttelte es die mächtigen Glieder und zersprengte seine Ketten, um wie ein einziger Mann zu seinem Könige, zur deutschen Sache und zu sich selbst zu stehen.

Ich war ein Kind und meiner kindischen Meinung nach ein Russe, aber dennoch fühlte auch ich mich von dem gewaltig heranbrausenden Sturm berührt, in welchem sich das Erwachen des nationalen deutschen Geistes damals so herrlich manifestierte. Das deutsche Blut in meinen Adern behauptete sein Recht, und mit Entzücken sah ich das erste freie deutsche Heer in Dresden einziehen.

Auf Wintzingerode folgte Blücher mit den Preußen, und waren die Russen von der Bevölkerung gut empfangen worden, so freute man sich jener doppelt, da man sie mit Recht als die Repräsentanten neu erstehender Ehre und Selbständigkeit des allgemeinen deutschen Vaterlandes ansah. Besonders erweckte gerade in dieser Beziehung das Erscheinen der Lützowschen Jäger den größten Enthusiasmus. Ein solches Korps aus lauter gebildeten, für nationale Freiheit glühend begeisterten jungen Männern hatte die deutsche Welt kaum je gesehen. Diese frischen Jünglinge schienen den Freiheitskämpfern des alten Griechenlands zu gleichen, denn wie jene zogen sie jung und heiter, schön und todesfreudig in den Kampf fürs Vaterland und seine Ehre. Man schwärmte laut für sie, und da sie nicht für die Sonderinteressen irgendeines deutschen Stammes, sondern für die allgemeine deutsche Sache streiten wollten, so fehlte es nirgends, und auch in Dresden nicht, an jungen Helden, die sich in ihre Reihen drängten. Unter diesen, mochte der damals schon in weiten Kreisen bekannte und persönlich so beliebte junge Dichter Theodor Körner eine der glänzendsten Erscheinungen sein. Den sehe ich noch, wie er, Abschied nehmend, vor meinen Eltern stand. Seine schöne Gestalt im Schmuck der Waffen, der begeisterte Blick seines Auges, sein freundliches Wesen sowie die gute Meinung, die jeder von ihm hatte, das alles machte in mir den lebhaftesten Eindruck, und dankbar empfand ich's, daß er auch mich in seine Arme schloß.

Näher als Körner, den wir wenig kannten, stand uns ein anderer Freund, der jetzt ebenfalls im Begriff war, Dresden mit den Lützowern zu verlassen. Es war dies ein junger Maler, von Geburt ein Pommer, namens Kersting, ein frischer, jovialer, für seine Kunst begeisterter Mensch, der soeben angefangen hatte, durch eigentümlich ansprechende Bilder die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Er malte nämlich in kleinem Format auf Holztafeln sehr saubere Porträts, ganze Figuren und in einer Umgebung, die ebenfalls Porträt war.

Es ist von unleugbarem Interesse, geliebte oder ausgezeichnete und denkwürdige Personen in der ihnen eigentümlichen und ihrem Berufe angemessenen Umgebung zu sehen, die, wo sie sich auf charakteristische Weise gestaltet hat, keine Zufälligkeit mehr ist, so wenig als das Haus der Schnecke, das aus ihr selbst hervorgeht. Dies aber war in hohem Grade der Fall bei meinem Vater, wie auch bei dem schon früher genannten Freunde unseres Hauses, dem Landschaftsmaler Friedrich, welche beide Kersting in seiner Weise malte.

Das eigentliche Arbeitszimmer meines Vaters, das jedoch fremden Besuchern, die er im Vorzimmer unter seinen fertigen Bildern zu empfangen pflegte, verschlossen blieb, enthielt eine Welt der verschiedenartigsten Gegenstände. Die Wände waren hageldicht bedeckt mit Gipsen, mit Studien und allerlei künstlerischen Kuriositäten, mit seltenen Kupferstichen, Handzeichnungen berühmter Meister und dergleichen mehr. Aber auch Handwerksgeräte, wie jeder es im Hause brauchen kann, parodierte über einer Hobelbank in reicher Auswahl, als Sägen, Beile, Feilen, Meißel und anderer Utensilien. Desgleichen fielen die vielen Waffen auf, für die mein Vater große Liebhaberei hatte. Da sah man Armbrüste, Kugelbüchsen, Pistolen, Flinten und sehr kostbare Windbüchsen von verschiedener Konstruktion, auch Hieb- und Stichinstrumente bis zum Stockdegen herab. In den Ecken saßen oder hockten Gliederpuppen von verschiedenen Größen; hoch aufgerichtet aber stand unter Schädeln und Gebeinen ein vollständiges menschliches Skelett, das Entsetzen der Dienstmädchen, wenn sie mit Aufträgen von der Mutter durch die halbgeöffnete Türe schauten.

Endlich türmten sich reiche Sammlungen von Kupferstichen und Pasten nebst selbstgefertigten Modellen aus Ton oder Wachs in Schränken wie auf Tisch und Stühlen auf, zwischen Farbenkästen, Reibsteinen, Paletten, Staffeleien und künstlerischem Geräte aller Art.

So mochten Maler, Bildhauer, Kupferstecher, Architekten, Archäologen, Zimmerleute, Tischler, ja auch Krieger hier das meiste finden, was sie brauchten, mit Ausnahme von Büchern, denn mein Vater hatte niemals weder Zeit noch Lust zum Lesen und hatte es auch nicht nötig, da Böttiger für ihn Gelehrtes, meine Mutter Belletristisches und Theologisches und Pönitz das Politische las. Denn dazu habe man Freunde, pflegte er zu sagen, daß sie für einen lesen.

In jenem chaotischen Arbeitszimmer war indessen dennoch keine Unordnung, da jedes Ding sich so ziemlich immer wieder auf demselben Platze oder Stuhle fand und mein Vater, was er brauchte, im Finstern greifen konnte. Er fühlte sich aber behaglich in solcher Anhäufung und behauptete, daß bei leeren Wänden und in aufgekramten Zimmern jede Phantasie verkümmern müsse.

Friedrichs Atelier dagegen war von so absoluter Leerheit, daß Jean Paul es dem ausgeweideten Leichnam eines toten Fürsten hätte vergleichen können. Es fand sich nichts darin als die Staffelei, ein Stuhl und ein Tisch, über welchem als einzigster Wandschmuck eine einsame Reißschiene hing, von der niemand begreifen konnte, wie sie zu der Ehre kam. Sogar der wohlberechtigte Malkasten nebst Ölflaschen und Farbelappen war ins Nebenzimmer verwiesen, denn Friedrich war der Meinung, daß alle äußeren Gegenstände die Bilderwelt im Innern stören.

Ebenso verschieden als die Arbeitszimmer war denn auch das Aussehen der beiden Arbeiter selbst. Mein Vater, brünett mit glattrasiertem Kinn, war stets sehr ordentlich gekleidet, während der hochblonde und kosakenbärtige Friedrich sich bei der Arbeit mit einem langen, grauen Reisemantel zu begnügen pflegte, der es zweifelhaft ließ, ob er sonst noch etwas darunter habe; und wer ihn kannte, wußte, daß dies nicht der Fall war.

Somit war es ein glücklicher Gedanke, diese beiden namhaften Männer mit ihren Ateliers als Gegenstände zu behandeln und auszustellen. Die Bilder verkauften sich auf dem Flecke, und andere Bestellungen folgten, so daß der wackere Kersting allerdings ein großes Opfer brachte, gerade jetzt seine künstlerische Tätigkeit zu unterbrechen. Indessen freute sich mein Vater seines Entschlusses und schenkte ihm nicht nur die Kugelbüchse zu seiner Equipierung, sondern übte ihn auch täglich im Schießen, bis er abzog.

Bald hörten wir, daß er beim Sturme der erste auf der Schanze gewesen, daß er Offizier geworden und das Eiserne Kreuz erhalten habe. Oh, wie begeisterten mich dergleichen Berichte! Ich wäre gar zu gern auch mitgezogen; aber ich war zu klein und hatte mich vorderhand nur mit Grammatik und Vokabeln herumzuschlagen.

8. Goethe[Bearbeiten]

Nach den Preußen unter Blücher rückte Tschernitscheff nach Dresden vor. Die schöne Zeit des Onkels kehrte wieder. Russische Garden zogen ein, an ihrer Spitze Kaiser Alexander und der König Friedrich Wilhelm. Gleichzeitig aber fand sich noch ein anderer hoher Gast ein, ein Machthaber und Gewaltiger sondergleichen, der zwar über Roß und Reiter nicht verfügte, dessen Stimme auch im Rate der Monarchen nicht gehört ward, der aber dennoch in einer anderen Sphäre fast unumschränkte Macht ausübte.

Solange ich denken konnte, hatte der Name Goethe in dem Freundeskreise unseres Hauses einen mehr als königlichen Klang gehabt. Er war ja auch der Jupiter des deutschen Olymps, seine Worte waren Sprüche von kanonischer Bedeutung, sein Urteil die letzte Instanz in allen Gebieten des Schönen, in der Gedankenwelt und aller Weisheit der Menschen. Goethe war der einzige deutsche Dichter, an welchem mein Vater Geschmack fand, weil er der einzige sei, der deutsch schreibe, sagte er, und so weit ging er in der Wertschätzung seines Lieblings, daß er den Goetheschen «Faust», ihn gleich an die Bibel reihend, für das zweitbeste Buch der Welt erklärte.

Nicht so die Mutter. Für sie waren die Dichtungen des großen Meisters mannigfach verletzend. Zwar erkannte sie die Pracht und Wahrheit der Goetheschen Darstellung, den Wohlklang und die Einfalt der Sprache vollkommen und vielleicht mit größerem Verständnis an als die meisten unbedingten Anbeterinnen jenes geistigen Leviathans; aber es schien ihr diese hohe Meisterschaft zumeist an unwürdige Stoffe verschwendet, und es betrübte sie, allerlei Unsauberkeit der Sünde mit derselben, ja mit noch größerer Liebe behandelt zu sehen als sittlich Reines und Schönes. Sie wollte, daß so herrliche Kräfte allein im Dienste Gottes tätig wären, wie sie dies an Klopstocks und Herders Muse rühmte, die sie deshalb entschieden vorzog.

Dagegen nahm mein Vater seinen Liebling aufs wackerste in Schutz. Er entgegnete etwa, daß Goethe weder Schulmeister noch Pfaffe, sondern Dichter und als solcher wie alle Künstler nur mit seinem eigenen Maß zu messen sei. Er schildere die Dinge weder, wie er wünsche, daß sie sein möchten, noch wie Gott sie etwa fordern möge: er stelle sie vielmehr ganz einfach bloß nach ihrer Wahrheit dar, so wie sie wirklich wären, ohne sich ein Richteramt darüber anzumaßen. Was allen bekannt sei, was jeder habe und besitze, heiße es nun Glück oder Unglück, Gutes oder Böses, das stelle er als Wirkliches oder Unausweichliches dar, und zwar in einem versöhnlichen Lichte, bei dessen Schönheit und Liebenswürdigkeit man sich beruhigen könne.

Inzwischen blieb die Mutter bei ihren Sätzen. Wenn Dichter nur nach ihrem eigenen Maß bemessen werden dürften, sagte sie, so habe keiner einen Vorzug vor dem anderen. Überdem sei es keine Kunst, den Glücklichen mit seinem Lose auszusöhnen. Wem es wohlgehe in dieser Welt, wie dem Besprochenen selbst, der sei gar leicht befriedigt. Unglückliche aber würden schwerlich Trost in Goethes Schriften finden und sittlich Verirrte keine Stütze. Die letzteren aber mit ihren Zuständen noch obendrein versöhnen zu wollen, sei ganz unverantwortlich.

So stritt man hin und wider mit vielem Recht auf beiden Seiten; aber dem Ruhm des großen Mannes geschah dadurch kein Abbruch. Der Dichter, wie ihn meine Mutter suchte, fand sich aber nirgends, und immer blieb es wahr, daß, wenn Künstler nur nach eigenem Maße zu bemessen seien, allein das Maß des Genies, nicht das des moralischen Wertes ihrer Werke oder Personen entscheiden dürfe.

In meinen Kinderaugen gewann der Vielbesprochene durch solche Diskussionen nur an Bedeutung. Ich hatte nichts von ihm gelesen, und doch erschien er mir auf Autorität des Vaters hin wie eine Sonne, vor deren Glanz jedwedes andere Gestirn verbleichen müsse. Ja, er war allgemach in meiner Vorstellung zu einem solchen Koloß angewachsen, daß ich selbst für den einziehenden Kaiser Alexander nur ein halbes Auge hatte, da ich zwei Minuten vorher den hochgefeierten Dichter gesehen, an seiner Seite gestanden und freundliche Worte aus seinem Munde vernommen hatte.

Goethe war nämlich am Morgen des Einzugs der Monarchen ganz zutraulich bei uns eingetreten, und da er den Vater, der ihn anderwärts suchte, nicht zu Hause fand, hatte er die Mutter um Erlaubnis gebeten, bei ihr bleiben zu dürfen, um aus ihren Fenstern und vom Straßengedränge unbelästigt den erwarteten Einzug mit anzusehen. Er werde in keiner Weise stören, hatte er hinzugesetzt, wolle sich ganz still verhalten und bitte, keinerlei Notiz von ihm zu nehmen.

Die Mutter glaubte zu verstehen, daß er selbst unbelästigt sein wolle. Sie überließ ihm daher ein Fenster, setzte sich mit ihrer Arbeit in ein anderes und drängte sich ihm mit keiner Unterhaltung auf. Da stand er denn, der prachtvoll hohe Mann in seinem langen Überrock und blickte, die Hände auf dem Rücken, behaglich auf das bunte Gewühl des drängenden Volkes nieder. Er sah sehr heiter aus, und meine Mutter glaubte es ihm abzufühlen, wie dankbar er ihr für die Schonung sei, mit der sie ihn gewähren ließ, denn sie wußte, wie sehr der seltene Gast bis dahin von der bewundernden Zudringlichkeit schöngeisterischer Damen belästigt und gequält gewesen. Er pflegte sonst immer von großer Cortège umgeben zu sein, und da er so allein gekommen, nahm meine Mutter an, daß es ihm gelungen, sich vielleicht, vom Gedränge begünstigt, aus seiner anbetenden Umgebung wegzustehlen und hierher zu retten, um die feierlichen Eindrücke eines geschichtlichen Ereignisses ungestörter in sich aufzunehmen.

Sie rief daher auch mich hinweg, der ich dem großen Manne immer näher rückte und ihn anstarrte, wie einer, der zum ersten Male in seinem Leben einen Walfisch oder Elefanten sieht. Er aber zog mich an sich, legte die Hand auf meine Schulter und fragte mich dies und jenes, unter anderem auch, ob ich mich darauf freue, den Kaiser von Rußland zu sehen.

Ich sagte: ja, ich freute mich darauf, weil er mein Pate wäre, und allerdings hatte ich bis jetzt in dieser glücklichen Illusion gelebt, bloß weil ich eben auch Alexander hieß. Meine Mutter gab indes sogleich die nötige Aufklärung, und Goethe fragte nun manches über Rußland. So war sie dennoch mit ihm ins Gespräch gekommen.

Indem ward heftig an der Klingel gerissen. Ich sprang fort, um die Tür zu öffnen, und herein drang eine unbekannte Dame, groß und stattlich wie ein Kachelofen und nicht weniger erhitzt. Mit Hast rief sie mich an: «Ist Goethe hier?»

Goethe! Das war kurz und gut. Die Fremde gab ihm gegen mich, den fremden Knaben, weiter kein Epitheton, und kaum hatte ich die Zeit, mein einfaches Ja herauszubringen, als sie auch schon, mich fast übersegelnd, unangemeldet und ohne üblichen Salutschuß, wie ein majestätischer Dreidecker in dem Zimmer meiner Mutter einlief.

Mit offenen Armen auf ihren Götzen zuschreitend, rief sie: «Goethe! ach Goethe, wie habe ich Sie gesucht! Und war denn das recht, mich so in Angst zu setzen?» Sie überschüttete ihn nun mit Freudenbezeugungen und Vorwürfen.

Unterdessen hatte sich der Dichter langsam umgewendet. Alles Wohlwollen war aus seinem Gesichte verschwunden, und er sah düster und versteinert aus, wie eine Rolandssäule. Auf meine Mutter zeigend, sagte er in sehr prägnanter Weise: «Da ist auch Frau von Kügelgen.»

Die Dame machte eine leichte Verbeugung, wandte dann aber ihrem Freunde, dessen üble Laune sie nicht bemerkte, ihre Breitseiten wieder zu und gab ihm eine volle Ladung nach der anderen von Freudenbezeugungen, daß sie ihn glücklich geentert, beteuernd, sie werde sich diesen Morgen nicht wieder von ihm lösen.

Jener war in sichtliches Mißbehagen versetzt. Es mochte ihm etwa zumute sein wie einmal meiner Wenigkeit in der Mädchenpension, und ohne Zweifel würde auch er, wenn er die Wahl gehabt, ein heimliches Produkt Ruten der aufdringlichen Zärtlichkeit seiner ekstatischen Freundin bei weitem vorgezogen haben. Er knöpfte seinen Oberrock bis ans Kinn zu, und da mein Vater eintrat und die Aufmerksamkeit der Dame, die ihn kannte, für einen Augenblick in Anspruch nahm – war Goethe plötzlich fort.

Entsetzt eilte die Getäuschte ihm nach, sich jeden Abschied sparend. Ob sie ihn noch erreichte, weiß ich nicht, da in demselben Moment die Ankunft der Monarchen das ganze Interesse von uns Rückbleibenden fesselte.

Während seines damaligen Aufenthaltes in Dresden habe ich indes den großen Dichter noch öfter anzustaunen Gelegenheit gehabt, und zwar stets mit einer Ehrfurcht, die sein königliches Wesen ganz von selbst hervorrief. Er schenkte meinen Eltern einen Mittag, und außerdem erinnere ich mich, daß wir die Rüstkammer miteinander besehen haben.

Diese ungemein reiche Sammlung alter Waffen befand sich damals noch in ihrem ursprünglichen Lokale, einem alten, burgartigen Gebäude auf der Schössergasse, und ward von uns Kindern jeder anderen Sammlung, auch der Bildergalerie, bei weitem vorgezogen. Wollte der Vater uns recht hoch beglücken, so ging er mit uns hin.

Gleich unten auf der dunkeln Hausflur standen vor dem Treppeneingang als Schildwachen zwei schwergeharnischte Figuren, die einen schon im voraus in die erforderliche Stimmung brachten. Dann ging es die steinerne, mit alten Hellebarden dekorierte Wendeltreppe in die Höhe durch drei verschiedene Etagen, deren Säle mit Dolchen, Schwertern, Speeren, Kampagnen- und Turnierharnischen, Fahnen, alten Feuergewehren und historischen Andenken aller Art gefüllt waren. Die Waffen standen und hingen da sämtlich noch ohne Gepränge und Ostentation, wie zu der Zeit, da sie im Gebrauch gewesen, und auch die Luft schien noch dieselbe, die Johann Friedrich und Kurfürst Moritz schon geatmet, wenn sie durch diese Räume schritten. Aber gerade dieser Moderduft schien mir das beste: er war die Melodie des Heldenliedes, das die Wände sangen.

Später, nach 1830, als der Fortschritt auch in Sachsen einbrach, wollte man es besser machen und stellte diese Waffen, etwa ein Drittel davon veräußernd, um die Kosten des Umzugs zu bestreiten, in den hohen, hellen Korridoren des Zwingers auf. Man ordnete nun die alten Mordgewehre zu glänzenden Sonnen oder freundlichen Rosetten und Girlanden an den Wänden, verbannte jenen mysteriösen Geruch der Vorzeit und nahm der Sammlung endlich selbst den Namen, indem sie jetzt ganz elegant «Historisches Museum» heißt. Das ist der Fortschritt des Geschmackes.

Goethe sah die Rüstkammer noch in ihrem alten Graus und freute sich daran. Noch sehe ich seine majestätische Gestalt mit der lebendigsten Teilnahme unter den gespenstischen Harnischen herumwandeln, welche, wie lebendige Recken auf prachtvoll geschnitzten Streitrossen sitzend, in den niedrigen Räumen des alten Lokales fast riesengroß erschienen. Einer besonders imposanten Gestalt nahm Goethe den von Edelsteinen funkelnden Kommandostab aus der Eisenfaust, wog ihn in der Hand und zeigte ihn uns Kindern.

«Was meint ihr», sagte er, «mit solchem Zepter zu kommandieren, muß eine Lust sein, wenn man ein Kerl danach ist!» und er sah gerade aus, als wenn er selbst der Kerl danach wäre.

Das sind die dürftigen Erinnerungen eines Kindes von dem größten Genius seiner Zeit. Mit ihnen will ich diesen zweiten Abschnitt meines Jugendlebens schließen.