Kurs:Analysis II/Kapitel VI: Gewöhnliche Differentialgleichungen/Lineare Differentialgleichungssysteme (§7)

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Beispiel 1[Bearbeiten]

Zum Parameter hat das nachfolgende Anfangswertproblem

im angegebenen Intervall die eindeutig bestimmte Lösung

.

Obwohl die Koeffizienten dieser Differentialgleichung in ganz stetig sind, wird die Lösung im Punkt unbeschränkt und besitzt einen sogenannten blow up! Dieses Phänomen liegt am nicht linearen Charakter der Differentialgleichung und ist bei linearen Differentialgleichungen ausgeschlossen!

Wir fordern nun, dass die rechte Seite des Differentialgleichungssystems affin-linear von der Lösung abhängt.

Voraussetzung (e):[Bearbeiten]

Seien die Zahl und die Dimension vorgegeben. Zur festen positiven Konstante betrachten das kompakte Intervall und schreiben die Funktionen

für

vor. Dann erklären wir die rechten Seiten unseres linearen Systems

für .

Satz 1 (Lineare Systeme)[Bearbeiten]

Unter der Voraussetzung (e) gibt es zu jedem Anfangswert genau eine Lösung
des Anfangswertproblems
(1) und für .

Beweis[Bearbeiten]

Wir erklären den folgenden Streifen über durch

.

Mit der Lipschitz-Konstante

erhalten wir für die rechten Seiten unserer Differentialgleichung die folgende globale Lipschitzbedingung

(2)

Wir können nun die Ergebnisse aus §5 verwenden und entnehmen dort dem Satz 2 sofort die Aussage, dass unser Anfangswertproblem (1) höchstens eine Lösung hat. Mittels sukzessiver Approximation konstruieren wir wie in §5 eine Lösung von (1). Hierzu setzen wir als rechte Seite des Systems

(3) für

und konstruieren die Funktionenfolge

(4) für

wie folgt:

(5) und für .

Eine Durchsicht der Hilfssätze 1 und 2 aus §5 zeigt, dass die obigen Folgen gleichmäßig auf dem ganzen Intervall konvergieren. Somit erhalten wir nach dem Grenzübergang in der Integralgleichung von (5) eine Lösung der folgenden Integralgleichung

(6) ,

welche offenbar das Anfangswertproblem (1) löst.

q.e.d.

Bemerkungen[Bearbeiten]

  1. Die Lösung existiert also auf dem gesamten Intervall, wo die stetigen Koeffizientenfunktionen gegeben sind.
  2. Mit den Methoden aus §6 könnte man die stetige und die differenzierbare Abhängigkeit der Lösungen von vorgegebenen Parametern in den Koeffizientenfunktionen studieren.
  3. Wir wollen im folgenden die Struktur der Lösungsmenge genauer untersuchen und möglichst explizite Lösungsformeln herleiten.

Wir erklären die stetige Matrixfunktion

(7)

sowie die Vektorfunktion

(8)

Das Differentialgleichungssystem aus (1) erscheint dann in der übersichtlichen Form

(9) mit .

Wir konzentrieren uns zunächst auf das homogene System von (9), welches durch die Gleichung gekennzeichnet wird und den homogenen Lösungsraum

besitzt. Jetzt lösen wir zu den Einheitsvektoren für die folgenden Anfangswertprobleme

(10) mit und

mit Hilfe von Satz 1. Wir fassen dann diese Lösungen zu einer Matrixfunktion zusammen, welche das folgende Anfangswertproblem löst:

(11)

Wir nennen aus (11) die Fundamentallösung von (9).

Satz 2 (Fundamentallösung)[Bearbeiten]

1. Die Fundamentallösung (11) erfüllt die Bedingung für alle .
2. Der homogene Lösungsraum besitzt die folgende Darstellung
als -dimensionaler Vektorraum.

Beweis[Bearbeiten]

1. Nehmen wir einmal an, es gäbe einen Punkt mit . Dann finden wir einen Vektor , so dass die Funktion gemäß verschwindet. Dann hat das eindeutig lösbare Anfangswertproblem

(12)

neben auch die triviale Lösung . Damit folgt die Identität . Somit erhalten wir , also einen Widerspruch! Folglich darf die Determinante von in keinem Punkt verschwinden.

2. Sei beliebig gewählt, dann erklären wir den Vektor

.

Nun löst die Funktion

das Anfangswertproblem (12). Der Eindeutigkeitssatz für Differentialgleichungssysteme liefert und es folgt die Darstellung

.

q.e.d.

Im allgemeinen sprechen wir bei der Identität (9) vom inhomogenen linearen Differentialgleichungssystem mit dem inhomogenen Lösungsraum

.

Satz 3 (Inhomogenes Differentialgleichungssystem)[Bearbeiten]

Mit der Fundamentallösung aus (11) erscheint die Lösungsgesamtheit von (9) in der Form
(13)
als -dimensionaler, affin-linearer Raum.

Beweis[Bearbeiten]

Wir haben nur eine Lösung der inhomogenen Gleichung zu konstruieren. Mit dem Ansatz der Variation der Konstanten

(14) mit der Funktion

gehen wir in die Gleichung (9) ein. Wir erhalten

(15)

und äquivalent hierzu

(16)

Dabei bezeichnet die inverse Matrix zu wie üblich. Somit ergibt sich die o. a. Funktion

(17)

als Lösung der inhomogenen Gleichung (9).

Bemerkungen[Bearbeiten]

  1. Wir nennen (17) eine partikuläre Lösung der inhomogenen Gleichung.
  2. Wir können in die Konstante so eindeutig angeben, dass ein vorgegebener Anfangswert erfüllt wird.
  3. Wir wollen nun die Fundamentallösung des Systems (9) mit einer konstanten Koeffizientenmatrix durch die Matrix-Exponentialfunktion explizit angeben.

Zu einer komplexen Matrix erklären wir ihre Matrixnorm gemäß

(18) .

Man prüft leicht die folgenden Rechenregeln für beliebige Matrizen , Skalare und Zahlen nach:

(19) .

Zur Bequemlichkeit des Lesers notieren wir

.

Mit diesen Rechenregeln zeigt man sofort die Konvergenz der Folge von Matrizen

(20)

als Cauchyfolge in .

Definition 1[Bearbeiten]

Für eine komplexe Matrix erklären wir durch die Reihe
die Exponential-Matrix.

Satz 4 (Exponential-Fundamentallösung)[Bearbeiten]

Für die vorgegebene reelle Matrix bildet die Matrixfunktion eine Fundamentallösung des homogenen Differentialgleichungssystems mit den folgenden Eigenschaften
und

Beweis[Bearbeiten]

Die Reihe von Matrizen

(21)

können wir nach dem Parameter differenzieren mit dem folgenden Ergebnis:

(22) .

Weiter ist die Anfangsbedingung

erfüllt und die Matrixfunktion

besitzt die oben angegebenen Eigenschaften.

q.e.d.

Satz 5 (Funktionalgleichung der Exponential-Matrix)[Bearbeiten]

Seien die beiden Matrizen gemäß vertauschbar. Dann gilt die Funktionalgleichung .

Beweis[Bearbeiten]

Wir betrachten die Matrix-Funktionen und mit den gemeinsamen Anfangswerten . Nun genügen sie auch dem gleichen linearen Differentialgleichungssystem

(23) .

Hierbei haben wir die Differentiation mittels Satz 4 (dieser bleibt auch für komplexe Matrizen gültig) sowie der Produktregel für Matrixfunktionen ausgeführt und die Vertauschbarkeit unserer Matrizen wurde benutzt. Nach dem Eindeutigkeitssatz – insbesondere für lineare Differentialgleichungssysteme – folgt und die obige Funktionalgleichung ist gezeigt.

q.e.d.

Wir wollen nun die Exponential-Fundamentallösung aus Satz 4 genauer bestimmen. Darin besitze die reelle -Matrix das charakteristische Polynom

,

welches wir mit dem Fundamentalsatz der Algebra bereits in Linearfaktoren zerlegt haben. Hierbei bezeichnen die paarweise verschiedenen Eigenwerte der Matrix als Nullstellen des charakteristischen Polynoms mit den jeweiligen Vielfachheiten und der Summe . Für symmetrische Matrizen sind alle Eigenwerte reell – im allgemeinen Fall müssen wir jedoch auch mit komplexen Eigenwerten rechnen!

In der Linearen Algebra überführt man diese beliebige reelle Matrix in die Jordansche Normalform, die bereits Weierstraß bekannt war: Danach gibt es eine invertierbare, komplexe Matrix und sogenannte Jordankästchen

(25) für

mit den Einheitsmatrizen und den Matrizen , wo in der oberen Nebendiagonale ausschließlich Nullen oder Einsen vorkommen und ansonsten enthält diese Matrix nur Nullen – insbesondere auf sowie unterhalb der Diagonalen. Darum sind diese Matrizen nilpotent im folgenden Sinne:

(26) für .

Wir setzen nun die Jordankästchen folgendermaßen zusammen zur komplexen -Matrix

(27) .

Nach dem oben angekündigten tiefliegenden Resultat der Linearen Algebra haben wir die Darstellung

(28)

in der Jordanschen Normalform. Wir berechnen nun mit der Exponentialreihe und Satz 5 sowie der Zerlegung (25), (27), (28) in Jordankästchen die folgenden Matrixfunktionen

(29)

Hier verwenden wir – unter Berücksichtigung von (26) – die Polynom-Matrix-Funktionen

(30)

mit gewissen Polynomen

(31) vom Grad für .

Also haben wir die Darstellung

(32) .

Definition 2[Bearbeiten]

Sei ein System von Lösungen
von für
linear unabhängig im folgenden Sinne: Für alle Zahlen mit folgt . Dann nennen wir eine komplexe Fundamentallösung von (9).

Satz 6[Bearbeiten]

Die reelle Matrix habe wie oben die paarweise verschiedenen Eigenwerte mit den jeweiligen Vielfachheiten . Dann gibt es eine komplexe Fundamentallösung des homogenen Systems gemäß Definition 2, in der für jeweils Spalten-Funktionen von der Form existieren mit den vektorwertigen Funktionen , welche in jeder Komponente Polynome höchstens vom Grad enthalten.

Bemerkungen[Bearbeiten]

  1. Zur Berechnung des komplexen Fundamentalsystems kann man die auftretenden Polynome mit unbestimmten Koeffizienten ansetzen und durch Koeffizientenvergleich bestimmen.
  2. Gehen wir von der komplexen Fundamentallösung zu beliebigen komplexen Linearkombinationen der Spalten- Funktionen über und bilden dann den Realteil, so erhalten wir linear unabhängige reelle Lösungen des reellen homogenen Systems .