Kurs:Lineare Algebra II/Euklidische Vektorräume

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Wir wollen in reellen Vektorräumen Längen und Winkel von Vektoren messen. Als Methode verallgemeinern wir den Begriff des Skalarproduktes aus der anschaulichen Vektorrechnung im .

Skalarprodukt[Bearbeiten]

Definition 1.1[Bearbeiten]

Sei ein reeller Vektorraum. Eine Abbildung, die jedem Paar von Vektoren eine reelle Zahl zuordnet, heißt Skalarprodukt, wenn folgende Regeln erfüllt sind:
ist linear in u und linear in v (bilinear),
(symmetrisch),
für gilt (positiv definit).
Ein Euklidischer Vektorraum ist ein reeller Vektorraum mit einem Skalarprodukt
.

Beispiele[Bearbeiten]

  • Der euklidische Standard-Vektorraum ist der mit dem Standard-Skalarprodukt: .
  • Ein Isomorphismus induziert auf ein Skalarprodukt durch .
  • Eine reguläre Matrix induziert auf ein Skalarprodukt durch . Für erhält man das Standardskalarprodukt.
  • Auf dem Vektorraum der stetigen reellen Funktionen über einem abgeschlossenen Intervall ist ein Skalarprodukt.

Test: Warum ist das letzte Beispiel ein Skalarprodukt?

Bemerkungen[Bearbeiten]

  • Die positive Definitheit erlaubt die Einführung der Norm (Länge) eines Vektors: .
  • Es gelten: und gdw. .

Satz 1.2 (Cauchy-Schwarz-Ungleichung)[Bearbeiten]

, (Zusatz: Gleichheit gilt gdw. linear abhängig).

Die Cauchy-Schwarz-Ungleichung rechtfertigt die Einführung eines Winkels zwischen zwei von Null verschiedenen Vektoren durch die Formel:

.

Die Regeln der anschaulichen Geometrie gelten weiter:

Corollar 1.3[Bearbeiten]

Dreiecksungleichung: .
Kossinussatz: .

Orthogonalität[Bearbeiten]

Der Kosinus eines rechten Winkels hat den Wert Null. Deshalb wird definiert:

Definition 1.4[Bearbeiten]

Zwei Vektoren heißen orthogonal, wenn (Schreibweise: ).
Eine Menge von Vektoren heißt Orthonormalsystem (ONS), wenn .
Ist die Menge zusätzlich eine Basis, dann heißt sie Orthonormalbasis (ONB).

Hierbei bezeichnet das Kronecker-Symbol: .

Lemma 1.5[Bearbeiten]

Ein ONS ist stets linear unabhängig.

Eigenschaften[Bearbeiten]

Sei eine ONB, dann gelten die folgenden Formeln:

  • ,
  • ,
  • ,
  • Bessel-Ungleichung: ; Zusatz: Gleichheit gdw. .

Satz 1.6[Bearbeiten]

Jeder endlich erzeugte Unterraum eines euklidisches Vektorraumes hat eine ONB: Sei linear unabhängig, dann existieren Vektoren , so dass eine ONB von für ist.

Der Beweis ergibt sich aus dem Orthonormalisierungsverfahren: Induktiv gilt die folgende Formel

.

In einem Euklidischen Vektorraum hat jeder Unterraum einen ausgezeichneten komplementären Unterraum, sein orthogonales Komplement:

Satz 1.7[Bearbeiten]

Sei ein endlich erzeugter Unterraum von , dann gilt , wobei das orthogonale Komplement von durch gebildet wird.

Test: Warum ist ein Unterraum?

Der Beweis ergibt sich aus der eindeutigen Zerlegung jedes Vektors in die Summe von seinem Lot bezüglich aus und seiner orthogonalen Projektion auf .

Corollar 1.8[Bearbeiten]

Sei eine ONB von , dann ist die orthogonale Projektion durch folgende Formel gegeben: .

Zur Erinnerung: Zu jeder Zerlegung gehören zwei Projektionsoperatoren mit den folgenden Eigenschaften:

  • ,
  • ,
  • gdw. ,
  • ist die Menge der Eigenwerte von .

Corollar 1.9[Bearbeiten]

Sei ein ONS in einem endlich erzeugten euklidischen Vektorraum, dann existiert eine orthonormierte Ergänzung zu einer ONB.

Die Ergänzung ergibt sich aus einer ONB von , erzeugt durch die Vektoren des gegebenen ONS.
Als besonders wichtige Aussage folgt die eindeutige Lösbarkeit des folgenden Minimalproblems:

Corollar 1.10[Bearbeiten]

Das Minimalproblem besitzt die eindeutige Lösung .

Der Abstand entspricht der Länge des Lotes. Dabei ist das Lot das Bild von bei der Projektion auf den zweiten Summanden .
Anwendungsbeispiel: Methode der kleinsten Quadrate und lineare Ausgleichsrechnung. Ist ein lineares Gleichungssystem nicht lösbar, dann ist die beste Näherungslösung zu bestimmen.

Satz 1.11[Bearbeiten]

Sei ein lineares Gleichungssystem, dann ist jede Lösung der Normalengleichung eine Lösung des Minimalproblems: für alle .

Dabei ist die Normalengleichung stets lösbar, da , also insbesondere . Die Lösung ist eindeutig, falls , - Spaltenzahl. Zum Beweis benötigen wir das folgende

Lemma 1.12[Bearbeiten]

Die Vektoren sind linear unabhängig gdw. die Determinante (Gramsche Determinante) der k-Matrix aus den Skalarprodukten nicht verschwindet .

Orthogonale Abbildungen und orthogonale Matrizen[Bearbeiten]

Definition 1.13[Bearbeiten]

Ein linearer Operator auf einem euklidischen Vektorraum, der Längen der Vektoren erhält, heißt orthogonale Abbildung. Eine quadratische Matrix heißt orthogonale Matrix, wenn .

Eigenschaften von orthogonalen Abbildungen und Matrizen:

  • Ein orthogonaler Operator erhält das Skalarprodukt und ist winkeltreu.
  • Ein orthogonaler Operator hat höchstens die Eigenwerte und .
  • Ein orthogonaler Operator bildet eine ONB auf eine ONB ab.
  • Die Determinante einer orthogonalen Matrix ist oder .
  • Die Menge aller orthogonalen -Matrizen bildet eine Untergruppe (orthogonale Gruppe) .
  • Die Spalten resp. Zeilen einer orthogonalen Matrix bilden eine ONB des Euklidischen Standardraumes.

Satz 1.14[Bearbeiten]

Sei ein Operator von einem Euklidischen Vektorraum und eine ONB:
ist orthogonale Abbildung gdw. die Matrixdarstellung eine orthogonale Matrix ist.

Lemma 1.15[Bearbeiten]

Ist ungerade und , dann folgt aus stets und aus stets .

Beispiele:

  • Im sind orthogonale Abbildungen Drehungen um dem Ursprung und orthogonale Spiegelungen an Geraden

durch .

  • Die zugehörigen orthogonalen Matrizen sind:
und .
  • Orthogonale Abbildungen im sind Drehungen um eine Achse oder Drehungen um eine Achse mit anschließender orthogonaler Spiegelung an der zur Drehachse orthogonalen Ebene.

Lemma 1.16[Bearbeiten]

Ist orthogonaler Operator und ein -invarianter Unterraum, dann ist auch -invariant, d.h. .

Hinweis: Für jede orthogonale Abbildung gilt: Sind und die Dimensionen der Eigenräume, dann ist eine Verknüpfung von Drehungen in zueinander orthogonalen Ebenen von und von orthogonalen Spiegelungen an Hyperebenen, die paarweise orthogonal zueinander sind.

Euklidische Punkträume[Bearbeiten]

Ist der Translationsraum eines reellen affines Raumes mit einem Skalarprodukt versehen, so sprechen wir von einem Euklidischen Punktraum. Hier können Abstände bestimmt und Winkel gemessen werden. Der Abstand zweier Punkte ist die Länge des Verbindungsvektors .

Definition 1.17[Bearbeiten]

Der Abstand zweier (windschiefer) affiner Unterräume ist das Infimum der Abstände zwischen Punkten der beiden Unterräume.

Der Abstand affiner Unterräume ist stets endlich:

Lemma 1.18[Bearbeiten]

In je zwei affinen Unterräumen gibt es zwei Punkte von minimalem Abstand:
.

Testfrage: Unter welchen Bedingungen sind die Punkte eindeutig bestimmt?

Im Spezialfall Punkt und Hyperebene kann der Abstand aus der Hesseschen Normalform abgelesen werden.
Eine Hyperebene im euklidischen Standardraum ist Lösungsmenge einer linearen Gleichung . Ist der Vektor normiert, dann heißt die Gleichung Hessesche Normalform der Hyperebene (evtl. nach Multiplikation der Gleichung mit gilt stets und die Normalform ist eindeutig).

Satz 1.19[Bearbeiten]

Sei ein Punkt und die Hessesche Normalform der Hyperebene H, dann gilt
.

Testfrage: Welche geometrische Bedeutung besitzen und bzgl. und das Vorzeichen des Skalarproduktes bzgl. der Lage von zu ?

Information: verwandte Begriffe, komplexe Version, nichteuklidische Räume[Bearbeiten]

Normierte und metrische Räume[Bearbeiten]

An dieser Stelle sei auf verwandte Begriffe hingewiesen, die insbesondere in der Funktionalanalysis benutzt werden:

Definition 1.20[Bearbeiten]

Ein -Vektorraum (wobei ) heißt normiert, falls es eine Abbildung (Norm) gibt, die folgenden Regeln genügt:
(1) für alle ; (2) ; (3) .

Definition 1.21[Bearbeiten]

Eine Menge heißt metrischer Raum, falls es eine Abbildung (Abstandsfunktion) gibt, die folgenden Regeln genügt:
(1) für alle ; (2) ; (3) .

Jeder euklidische VR ist normiert, jeder normierte VR ist metrisch durch resp. . Die Umkehrungen gelten nicht.

Beispiel: Für jeden Körper definiert der Hamming-Abstand eine Metrik auf durch

.

Der Hamming-Abstand spielt eine zentrale Rolle bei der Beschreibung effektiver Codes.

Information: Unitäre Vektorräume[Bearbeiten]

Schließlich wollen wir die Begriffsbildungen des euklidischen VR und des Skalarproduktes auf den Fall komplexer Vektorräume ausdehnen. Betrachten wir zunächst den Standardfall: enthält als reellen Unterraum und ist selbst ein reeller VR der Dimension :

.

Wir wollen die reelle Standardnorm so auf fortsetzen, dass sie mit den obigen Abbildungen verträglich ist. Damit ergibt sich .

Definition 1.22[Bearbeiten]

Eine Abbildung zwischen komplexen VR heißt semilinear, falls
und .

Die Abbildung ’komplexe Konjugation’ auf ist semilinear. Das Standardbeispiel führt auf die folgende Verallgemeinerung des Skalarproduktes im Komplexen:

Definition 1.23[Bearbeiten]

Ein Paar eines komplexen Vektorraumes und einer Abbildung heißt unitär, falls folgende Regeln erfüllt:
(1) ist linear in und semilinear in (sesquilinear),
(2) (Bedingung (1) + (2) definiert eine Hermitesche Form, speziell ist reell),
(3) für gilt (positiv definit).

Bemerkungen:

  • Jede Matrix induziert eine sesquilineare Form auf den durch . Dabei entsprechen Realteil bzw. Imaginärteil von jeweils Bilinearformen auf induziert durch die Matrizen
bzw. .
  • ist Hermitesch gdw. symmetrisch und schiefsymmetrisch.
  • Ein unitärer VR ist normiert durch .
  • Es gilt die Cauchy-Schwarz-Ungleichung. Damit kann der Winkel zwischen Vektoren definiert werden. Die Begriffe ’orthogonal’, ’orthogonales Komplement’ und ’ONB’ sind wörtlich zu übertragen.
  • Ebenso kann das Orthonormierungsverfahren im unitären Raum verwendet werden.

Information: Nichteuklidische Geometrie[Bearbeiten]

Der Verzicht auf die Bedingung der positiven Definitheit führt zu Vektoren der Länge Null und sogar von imaginärer Länge. So gibt das Modell des mit der nichteuklidischen ’Länge’

einen mathematischen Hintergrund für die Beschreibung der speziellen Relativitätstheorie und zum Verstehen ihrer Besonderheiten.