Marina Owsjannikowa

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Marina Owsjannikowa, geboren 1978 in Odessa, ist eine russische Redakteurin, die für den halbstaatlichen russischen Fernsehsender Perwy kanal (Erster Kanal) gearbeitet hat und seit Mai 2022 in Berlin lebt. Internationale Bekanntheit erlangte sie durch eine Anti-Kriegs-Demonstration während einer Live-Sendung am 14. März 2022, 19 Tage nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine. Dabei wies sie auf die vom Perwy kanal verbreitete Propaganda der russischen Staatsführung hin. Owsjannikowas Aktion war eine von mehreren Protesten gegen die russische Invasion in der Ukraine 2022 von oder in russischen Medien.

Leben und Karriere[Bearbeiten]

Marina Owsjannikowa ist die Tochter eines Ukrainers und einer Russin. Ein Jahr nach ihrer Geburt zogen ihre Eltern mit ihr nach Russland.

1985 zog die Familie in die sowjetische Teilrepublik Tschetscheno-Inguschetische ASSR, von wo sie Anfang der 1990er Jahre aufgrund der beginnenden Tschetschenienkriege floh. Ende der 1990er-Jahre zog sie mit ihren Eltern nach Krasnodar, wo sie die Staatliche Universität Kuban absolvierte und anschließend unter anderem beim Sender „Kuban TV“ arbeitete. Später zog sie nach Moskau um und absolvierte die Russische Präsidentenakademie für Volkswirtschaft und öffentliche Verwaltung.

Danach arbeitete sie beim Perwy kanal (Ersten Kanal) für die staatliche Fernseh- und Rundfunkgesellschaft Russlands. Dort war sie für den Bereich „Auslandsnachrichten“ zuständig; sie stand mit den internationalen Nachrichtenagenturen und Sendern in Kontakt, verfolgte die westlichen Nachrichten, recherchierte, nahm Interviews mit Politikern und Experten aus dem Ausland auf und produzierte Beiträge für das Programm.

Marina Owsjannikowa war mit Igor Owsjannikow verheiratet, der bei Russia Today arbeitet. Sie hat einen Sohn und eine Tochter (Anfang 2022 im Alter von 17 und 11 Jahren) und wohnte in der Satellitenstadt „Neu-Moskau“.

Einem Interview mit Yuga.ru aus dem Jahr 2002 zufolge war Marina Owsjannikowa während ihres Studiums Freiwasser-Wettkampfschwimmerin.

Protestaktion[Bearbeiten]

Ablauf[Bearbeiten]

Owsjannikowa arbeitete bei Perwy kanal im Wochenwechsel (eine Woche Arbeit, eine frei). Am Sonntag, den 13. März 2022, dem letzten Tag einer freien Woche, kaufte sie Papier und Stifte und malte in ihrer Küche ein Protestplakat.

Am 14. März 2022 lief Owsjannikowa während eines Beitrags über die Invasion in der Ukraine in den Hauptnachrichten Wremja ihres Senders an einem stetig anwesenden Polizisten vorbei ins Studio, stellte sich hinter die Nachrichtensprecherin Jekaterina Andrejewa und hielt ihr ausgerolltes Plakat in die Kamera. Zunächst war das Plakat teilweise durch die sitzende Nachrichtensprecherin verdeckt. Owsjannikowa korrigierte daraufhin ihren Standort und blieb aus Zuschauersicht rechts hinter der Sprecherin mit dem vollständig sichtbaren Plakat stehen. Das Plakat zeigte neben kleinen ukrainischen und russischen Flaggen die englischen und russischen Aufschriften:

“NO WAR <...>“

[deutsche Version] „Kein Krieg
Beenden Sie den Krieg
Glauben Sie der Propaganda nicht
Hier werden Sie belogen
Russen gegen den Krieg“
– Marina Owsjannikowa: Protestplakat

Dazu rief sie:
„Beendet den Krieg! Kein Krieg!“

Die Studioaufnahme wurde fünf Sekunden nach dem Beginn des Auftritts durch einen Einspieler-Beitrag unterbrochen. Owsjannikowa begab sich aus dem Studio zu ihrem Arbeitsplatz. Die vielen Vorgesetzten, die zu ihr kamen und fragten, ob sie es gewesen sei, wollten es nicht so recht glauben.

Der halbstaatliche Perwy kanal ist der populärste Sender in Russland. Eine Aufzeichnung der Nachrichtensendung vom 14. März 2022 stand nicht zum Download zur Verfügung, was für diesen Fernsehsender ungewöhnlich ist. Livesendungen werden seither um bis zu zwei Minuten versetzt übertragen.

Videoerklärung[Bearbeiten]

Am Tag vor der Aktion hatte Owsjannikowa ein Video mit einer persönlichen Erklärung aufgenommen, das sie nach der Aktion auf Facebook veröffentlichte. Darin bekundete sie ihre Scham, für die russische Staatspropaganda beim Fernsehsender Perwy kanal (Ersten Kanal) gearbeitet zu haben, und rief zum offenen Protest gegen den Krieg auf.

Ein Ausschnitt des Wortlauts wird in einer dpa-Übersetzung wie folgt wiedergegeben (Quelle: Süddeutsche Zeitung, 15. März 2022):

„Das, was jetzt in der Ukraine geschieht, ist ein Verbrechen. Und Russland ist der Aggressor. Und die Verantwortung für diese Aggression liegt nur auf dem Gewissen eines Menschen – und dieser Mensch ist Wladimir Putin. […] Wir haben 2014 geschwiegen, als das alles anfing. Wir sind nicht für Demonstrationen rausgekommen, als der Kreml Nawalny vergiftet hat. Wir haben dieses menschenfeindliche Regime einfach nur stillschweigend beobachtet. Jetzt hat sich die ganze Welt von uns abgewendet. […] Wir, die russischen Menschen, können denken und sind klug. Es liegt nur an uns, diesen ganzen Wahnsinn zu beenden. Geht demonstrieren. Fürchtet nichts. Sie können uns nicht alle einsperren.“

In der Videobotschaft trug sie eine Halskette mit in verschiedenen Farben aneinander gereihten Elementen: Auf Rot, Weiß und Blau (Farben Russlands) folgten Gelb und Blau (Farben der Ukraine).

Folgen und weiteres Engagement[Bearbeiten]

Owsjannikowa wurde festgenommen. Eigenen Angaben zufolge wollten ihr die Beamten, die sie befragten, lange nicht glauben, dass sie keinen Kontakt in den Westen hatte und dass sie „selbst entschieden habe zu protestieren“. Bei den Vernehmungen wurde sie mit ihren Forderungen nach einem Anwalt vertröstet, und es war ihr währenddessen untersagt, selbst Kontakt zu einem Anwalt aufzunehmen.

Die Rechtsanwälte Owsjannikowas teilten mit, dass eine Voruntersuchung wegen „Herabsetzung der russischen Streitkräfte“ eingeleitet worden sei. Ihre Mandantin werde unter Vorenthaltung anwaltlicher Vertretung festgehalten. Am Abend des 15. März 2022 wurde berichtet, sie sei von einem Moskauer Gericht zu einer Geldstrafe von 30.000 Rubel (etwa 250 Euro) verurteilt worden. Anschließend wurde sie freigelassen. Sie habe vor Gericht ihre Schuld bestritten und den Vorwurf erneuert, Russland begehe in der Ukraine als Aggressor ein Verbrechen. Sie wurde zunächst nicht nach dem neuen russischen Mediengesetz verurteilt, das bis zu 15 Jahre Haft für die Behauptung von „Falschnachrichten“ über das russische Militär vorsieht. Weil sich die Verurteilung wegen „Organisation einer nicht erlaubten öffentlichen Aktion“ auf ihr Video, nicht aber den Auftritt in der Nachrichtensendung bezog, war zunächst unklar, ob es zu einer weiteren Anklage kommen würde.

In mehreren Interviews äußerte sich Owsjannikowa besorgt um ihre Sicherheit und die ihrer Kinder. Sie habe aber nicht vor, aus Russland zu fliehen; sie sei Patriotin. Jedoch erklärte sie, dass sie nicht sehr politisiert gewesen sei, sich aber ihre Unzufriedenheit über die Einschränkungen der politischen Teilhabe und die der Pressefreiheit in Russland über viele Jahre aufgestaut habe. Der Beginn des Krieges gegen die Ukraine sei der Punkt gewesen, an dem es für sie „kein Zurück mehr gab“. Für Owsjannikowa „war der Protest in erster Linie eine pazifistische Aktion“, weil es „im Interesse Russlands und der Welt“ sei, den Krieg „so schnell wie möglich zu beenden“. Sie hoffe, dass ihr Protest nicht umsonst gewesen sei und dass die russische Bevölkerung ihre Augen öffne und Kriegspropaganda genauer hinterfrage.

In der oppositionellen Zeitung Nowaja Gaseta wurde sie in einem Kommentar als Nationalheldin bezeichnet, die die Ehre des Landes gerettet habe. Ihr Name werde in politische Lehrbücher und in die russische Geschichte eingehen und zitiert werden, wenn die Enkel*innen vieler heutiger Regierungsmitglieder sich nur ungern an ihre Vorfahren erinnern würden.

Etwa eine Woche nach ihrem Protest rief sie in einem Interview mit dem US-Fernsehsender ABC zu Demonstrationen auf.

Am 25. März 2022 wurde sie wegen „Diskreditierung“ der Armee angeklagt. Nach Angaben des zuständigen Gerichts sollte sich Owsjannikowa wegen Verstoßes gegen Artikel 20.3.3 verantworten. Das Gesetz gegen „Falschnachrichten“ war im März 2022 in Kraft getreten. Die Verhandlung war für den 14. April 2022 angesetzt. Danach gelang ihr die Ausreise nach Deutschland, seit Anfang Mai 2022 lebt sie in Berlin.

Beim Women's Forum in Berlin am 21. Juni 2022 erklärte Owsyannikowa 3 Monate nach ihrer Protestaktion, "Ich bereue nichts." und: "Das Gute wird über das Böse siegen. Und ich werde weiter dafür kämpfen."[1]

  1. Dieser Text basiert auf dem Wikipedia-Eintrag "Marina Owsjannikowa" in der Version vom 21. Juni 2022 und wurde von C.Koltzenburg gekürzt und leicht umgearbeitet.