Projekt:Fussballtheorie

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Einführung[Bearbeiten]

Der Begriff Fussballtheorie wurde von Ricardo Olivós (1910-2003) mit seinem gleichnamigen Buch (Olivós 1992) geprägt. Olivós erkannte im Fussball eine wesentliche Dualität:

"Fussball ist sowohl Sport als auch Spiel. Als Sport verlangt er zu seiner Ausübung Kraft, physische Ausdauer und muskuläre Geschicklichkeit. Als Spiel ist er logischen Regeln unterworfen, die jeder Fussballspieler verstehen müsste". (Olivós 1992, S. 33)

Nach dieser Erkenntnis lässt man in der Fussballtheorie den sportlichen Aspekt, der von jeher ein sehr hohes Augenmerk geniesst, im Hintergrund. Dafür konzentriert man sich vordergründig auf das Studium des Fussballspiels, um Fragestellungen folgender Art zu behandeln: Was heisst "spielen ohne Ball"? Was heisst "zusammenspielen"? Was ist der strategische Sinn der Fussballregeln? Warum hat sich das Fussballspiel in einer bestimmten Art und Weise entwickelt? Gibt es eine ideale Art Fussball zu spielen?

Fussball als Spiel[Bearbeiten]

Abstrakt gesehen ist Spielen eine Folge von Spielzügen. Die Mannschaften entscheiden die Ordnung ihrer Spielzüge aufgrund der Spielregeln sowie der strategischen Spielziele.

In diesem Kapitel legen wir die Grundspielzüge des Fussballs dar und erklären, dass Freilaufen und Deckung die strategischen Fussballziele sind. Ebenfalls werden wir schauen, wie man die Spielzüge ordnen kann, um diese strategischen Ziele zu erreichen. Doch vorerst werden wir den charakteristischen Geist des modernen Fussballs beschreiben.

Der Geist des Fussballspiels[Bearbeiten]

Um den echten Geist des Fussballspiels zu verstehen, ist es nützlich, seinen Ursprung zu kennen. "Fussball war in seinem Ursprung ein Drängel-Wettkampf." (Bausenwein 2006, S. 184). Bei solchen mittelalterlichen Volksspielen ging es um einen gewaltsamen Kampf um den Ball. Strategie und Zusammenspiel waren kaum vorhanden. Diese Aspekte wurden erst ab der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend entwickelt. Dabei entstand der damals sogenannte football, die gemeinsame Wurzel von Fussball und Rugby. Die offizielle Trennung dieser beiden Sportarten fand zwischen 1868 und 1873 statt, als Fussball- und Rugby-Anhänger ihre Reglemente unabhängig voneinander vereinheitlichten. (Harvey 2005, Kap. 6)

Die Trennung von Fussball und Rugby erklärt sich aus zwei grundsätzlichen Bevorzugungen:

  • Die einen bevorzugen es, vorwiegend mit den Füssen zu spielen, die anderen hauptsächlich mit den Händen.
  • Die einen bevorzugen in Zweikämpfen wenig, die anderen mehr physischen Kontakt.

"Aus der Idee, den Menschen im Spiel seiner natürlichen Greifwerkzeuge (die Händen) zu berauben, liesse sich eine komplette Fussphilosophie entwickeln." (Bausenwein 2006, S. 47)

Der Unterschied hinsichtlich physischen Kontakt in den Zweikämpfen ist so markant, dass Fussball in der Kategorie der Spiele mit Freilaufen klassifiziert wird, Rugby jedoch in jener der Kampfspiele. (Conquez und Devaluez 1986, zitiert in Grehaigne 1992, S. 19-20)

Der echte Geist des Fussballspiels geniesst es also, den Ball mit den Füssen zu spielen und mit moderatem physischen Kontakt um den Ball zu kämpfen. Daraus ergeben sich die Grundspielzüge des Fussballs wie folgt.

Die Grundspielzüge[Bearbeiten]

Die Grundspielzüge, die im Fussballspiel einander folgen, sind: das Dribbling, der Zweikampf, der Pass, der Abschluss und die Bewegungen ohne Ball.

Beim Fussballspiel kämpfen zwei Mannschaften um den Ball, um damit Tore zu erzielen. In typischen Spielsituationen dribbelt der Spieler am Ball, das heisst er führt den Ball in der Bewegung. Dabei wird früher oder später ein gegnerischer Spieler versuchen, in einem sogenannten Zweikampf ihn sauber vom Ball zu trennen. Für die Fussballanhänger ist das Wesentliche und Attraktive bei dieser Aktion, dass man mit dem Ball hauptsächlich mit den Füssen, ohne Händen umgeht, und dass der Zweikampf mit wenig physischem Kontakt ausgetragen wird. Das Fussballregelwerk, insbesondere die Regeln zu verbotenem Spiel und unsportlichem Betragen, sorgen dafür, dass Fussball in diesem Geist gespielt wird.

Unter einem Pass versteht man das Zuspiel des Balls an einen Spieler der eigenen Mannschaft, so dass dieser den Ball wieder kontrollieren kann. Der Pass ist ein Mittel zur Limitierung der Kämpfe und somit der physischen Kontakte. Die wesentliche Attraktivität des Passes ist sein kollaborativer Geist. Der Torabschluss ist der spannendste Spielzug im Fussball: der unmittelbare Versuch eines Spielers, den Ball ins gegnerische Tor hereinzubringen.

Der Pass und der Torabschluss stützen sich auf bestimmten Bewegungen ohne Ball, um möglichst optimal zu gelingen. Bei diesen Bewegungen ohne Ball handelt sich um das sogenannte Freilaufen, das in der Folge erklärt wird.

Das Freilaufen[Bearbeiten]

Fussball wird unter den Sportarten eingereiht, deren wesentlichen Charakteristik das Freilaufen ist.(Conquez und Devaluez 1986, zitiert in Grehaigne 1992, S. 19-20)

"Was heisst überhaupt Freilaufen? Der Fussballer läuft sich frei, um den Mitspieler Gelegenheit zu geben, den Ball abzuspielen, ohne dass die Gegner ihn erreichen können, so dass er selbst frei und unbedrängt das Zuspiel erwarten kann. Das Freilaufen setzt eine dauernde Gedankenarbeit voraus." (Weisweiler 1974, S.134)

Die Entgegensetzung zum Freilaufen heisst: Deckung.

Das Freilaufen hat zwei qualitativ verschiedene Bedeutungen:

  • Sich freilaufen um den Ball zu erhalten, jedoch noch ohne gute Abschluss-Aussichten.
  • Sich in guter Torabschluss-Stellung freizulaufen.

Letztere Bedeutung, das Freilaufen zum Torabschluss, ist das Schlüsselkonzept, mit dem die strategischen Ziele des Fussballspiels definiert werden, wie wir gleich sehen werden.

Die strategischen Ziele des Fussballspiels[Bearbeiten]

"Zwischen den beiden Punkten: Tore erzielen und Tore verhindern, zwischen Angriff und Abwehr, Freilaufen und Decken bewegt sich unser Spiel." (Weisweiler 1974, S. 66)

Im Angriff ist der Zweck des Spiels, ein Treffer mehr als die gegnerische Mannschaft zu erzielen. Nicht weniger simpel ist das strategische Ziel zur Erlangung eines Treffers:

"den Torabschluss-Vollstrecker freizulaufen und ihn den Ball zuzuspielen". (Olivós 1997, S. 51)

Die Verfolgung dieses Ziels durch die Mannschaft in Ballbesitz ist stets ein kollaborativer Prozess. Die Vollendung dieses Angriffsprozesses ist, dass der Torabschluss-Vollstrecker den Ball in freier Position bekommt, so dass er unter Vermeidung von Zweikämpfen, höchstens mit der Opposition des Torhüters, einen Treffer versuchen kann.

In der Abwehr ist der Zweck des Spiels ganz einfach: kein Tor zu kassieren. Hierzu muss man versuchen, dass jeder Angreifer strategisch richtig gedeckt wird, so dass keiner den Torabschluss in freier Position vollenden kann. Wenn ein Spieler den Ball hat oder bekommt, so soll ein gegnerischer Feldspieler um den Ball kämpfen können. Mit anderen Worten: Das strategische Ziel, um einen Treffer zu vermeiden ist

"... die Umwandlung des kollektiven Angriffs [Torabschluss-Vollstrecker freilaufen und ihn den Ball zuspielen] in einen individuellen Angriff [Zweikampf]..." (Olivós 1997, S. 17)

Es bleibt herauszufinden, wie die Spielzüge in jedem Fussballspiel logisch zu ordnen sind, um die gerade erkannten strategischen Ziele zu erreichen.

Die Ordnung der Spielzüge[Bearbeiten]

Allgemein gibt es zwei Ansätze, um die Spielzüge so zu ordnen, dass die geeignete Strategie zu einem Spiel umgesetzt wird:

  • durch Überlegung und Zusammenarbeit (letzteres in Mannschaftsspielen)
  • durch Einführung oder Anpassung von Schlüsselregeln des Spiels.

Welchen Stellenwert haben diese Ansätze im Fussball?

Hinsichtlich Ordnung der Spielzüge in der Abwehr soll nicht nur an 11-Fussball, sondern auch an Fussball-Varianten mit weniger Spielern pro Mannschaft gedacht werden. Bereits im Fall von zwei gegen zwei stellt sich die Aufgabe, nicht nur den Ballführer sondern auch den Spieler ohne Ball zu bewachen, damit keiner von beiden frei abschliessen kann. Bei geringer Anzahl Spieler pro Mannschaft ist die strategische Deckung kollaborativer Natur: Grundsätzlich übernimmt zu jedem Zeitpunkt gedanklich jeder Spieler der abwehrenden Mannschaft einen Gegenspieler, so dass jeder Gegenspieler bei einem Ballempfang mit einem Zweikampf rechnen müsste. Hierzu muss jeder abwehrende Spieler stets überlegen, wo er sich platziert. Ab einer bestimmten Anzahl Spieler pro Mannschaft und ab bestimmten Spielfeldmasse gibt es allerdings eine Schlüsselregel in Zusammenhang mit der strategischen Deckung, die an den Ursprüngen des Fussballs entstand: die Abseitsregel.

Hinsichtlich Angriff ist die Ordnung der Spielzüge immer eine Antwort auf die strategische Deckung, die zu überwinden gilt. Insbesondere muss man berücksichtigen, welche Abseitsregel in Kraft ist, um ihr entgegenzuwirken.

In den nächsten zwei Kapiteln werden wir die Grundlagen zur Ordnung der Spielzüge betrachten: zuerst die Entwicklung und strategische Bedeutung der Abseitsregel und dann die kulturelle Entwicklung des Fussballspiels, die stark von der Abseitsregel beeinflusst wurde.

Die Abseitsregel[Bearbeiten]

Das Studium der Abseitsregel im Fussball ist unerlässlich, um das Fussballspiel richtig zu begreifen.

"Die Abseitsregel bildet das regulative Gesetz im Mannschaftsspiel Fussball. Deren Änderung beinflusst das Spiel im Kern. Die Abseitsregel greift in das Grundgefüge ein und nötigt die Akteure viel stärker als andere Regeln dazu, das System ihrer Aufstellung zu überdenken." (Moritz 2010, S. 60-61)

Im diesem Kapitel werden wir zunächst sehen, dass die Abseitsregel aus dem ursprünglichen Football stammt. Wir werden dann die Entwicklung der Abseitsregel bis zur heutigen Form im Fussball im Detail untersuchen. Schliesslich werden wir positive und negative Kritik an die aktuelle Abseitsregel zusammentragen.

Ursprung und Sinn[Bearbeiten]

Unter den Spielgewohnheiten des Footballs, die sich langsam im 19. Jahrhundert etablierten, fällt die Untersagung auf, dass sich ein Spieler ohne Ball "zu weit vorne" aufhält. Zu diesem Zweck wurde die sogenannte Abseitsregel angewandt. Diese verbot es, den Ball einem "zu weit vorne" postierten Spieler zuzustellen.

Gewöhnlich wird angenommen, dass die Abseitsregel einzig die verteidigende Mannschaft unterstützt. Denn die verteidigende Spieler müssen sich um Gegner, die "zu weit vorne" sind, nicht mehr kümmern. Aber näher betrachtet sorgt die Regel auch dafür, dass es keine "abtrünnige" Spieler gibt, die es nicht für nötig halten, die eigene Mannschaft mit Verteidigungsaufgaben zu unterstützen und bloss in der Nähe des gegnerischen Tors auf den nächsten Angriff warten. Diesen Aspekt enthüllt uns der Ursprung des englischen Begriffs für Abseits: Im 19. Jahrhundert sagte man von einem Spieler, der "zu weit vorne" war, dass er "weg von seiner Seite und aus dem Spiel" war: "off his side and out of play" (Harvey 2005, S. 269). Genauer stammt das Wort "off-side" (weg von der Seite) aus dem englischen militärischen Begriff "off the strength of his side", so etwas wie "aus der Gruppe herausgefallen", seiner Rechte entzogen. (Carosi 2010, S.1)

Offensichtlich hat die Abseitsregel einen Einfluss auf die Deckung: Ein Spieler im Abseits darf den Ball nicht erhalten und ist deshalb mehr als gedeckt. Interessanter ist es zu untersuchen, inwiefern diese Regel die strategische Deckung unterstützt. Ist die Abseitsregel nötig, um alle Gegner zu decken? Ist sie gar hinreichend? Selbstverständlich hängt die Antwort davon ab, wie es im Laufe der Fussballgeschichte konkret "zu weit vorne" definiert wurde.

Die Fussballregeln wurden immer aus der Praxis heraus weiterentwickelt. Im Fall der Abseitsregel wurde diese sukzessiv gemildert, um die Verteidigung zu schwächen und den Angriff zu bevorzugen.

Historische Formen[Bearbeiten]

Laut der älteste Form der Abseitsregel war "jeder angreifende Spieler abseits, der sich vor dem Ball befand" (Biermann/Fuchs 1999, S. 43). Diese Form wurde im ersten Reglement der Football Association 1863 festgehalten (Moritz 2010, S. 45). In der Abbildung weiter unten sehen wir, dass wegen dieser strengen Regel jede Mannschaft sich zwingend hinter dem Ball zusammendrängen musste. Denn ein gezielter Pass zu einem weiter vorne postierten Mannschaftskamerad wurde untersagt. Trivialerweise war diese Regel mehr als hinreichend, um jeden Gegner strategisch zu decken, da jeder Angreifer mit dem Ball am Fuss nicht nur einen Gegenspieler sondern jeden Spieler der Gegnermannschaft vor sich hatte. Im Gegensatz zur Rugby-Variante, wo man den Ball mit den Händen kontrollieren durfte, war es in der Association-Variante sehr schwierig, sich nur mit Fussfertigkeit aus dieser Deckung zu befreien. Wir werden später sehen, wie man es versucht hat.

Typische Situation: Unter der Abseitsregel von 1863 konnte niemand aus der Mannschaft weiter vorne als der Ball sein.
Typische Situation: Unter der Abseitsregel von 1863 konnte niemand aus der Mannschaft weiter vorne als der Ball sein.

Die oben beschriebene Abseitsform war im 19. Jahrhundert, besonders in der ersten Hälfte, die meist verbreitete. Sie war jedoch nicht die einzige Form. Bis 1873 unterschieden sich die Regeln des Football je nach geographischer oder schulischer Gemeinschaft sehr stark (Harvey 2005, Kap. 7), insbesondere die Abseitsregel. So wurden vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weniger restriktive Abseitsregeln eingesetzt, alle mit folgendem Muster:

"Ein Spieler war in Abseitsposition, wenn er sich weiter vorne als der Ball befand und weniger als x Gegner vor sich hatte, als ein Mitspieler ihn den Ball zuspielte."

Betrachten wir wichtige Beispiele:

  • Die Regeln von Eton aus 1847 sowie die Regeln von Cambridge aus 1848/56 schrieben vier Gegner vor.(Carosi 2006, S. 2)
  • Die Regeln der Football Association aus 1866, welche die Regeln aus 1863 ersetzten, schrieben drei Gegner vor. (Biermann/Fuchs 1999, S. 44)
  • Die vom Queen's Park Football Club 1867 entworfenen Regeln schrieben zwei Gegner vor.(Robinson 1920, S. 72)

Ausserdem darf man die Abseitsregeln, die in der Region um Sheffield galten, nicht unerwähnt lassen. Diese Region war "die wichtigste existierende Fussballkultur in den Jahrzehnten zu 1850 und 1860" (Harvey 2005, S.92). Dort pflegte man null Gegner vorzuschreiben, d.h. es galt keine Abseitsregel (Harvey 2005, p.98). Nur ab 1863 begann man dort damit zu experimentieren, einen Gegner (den Torhüter) vorzuschreiben (Harvey 2005, S.118).

Die Vorgängerin der derzeitigen Form[Bearbeiten]

Ab 1870 drängte sich bei den verschiedenen unabhängigen Fussballverbänden der Wunsch auf, die Spielregeln zu vereinheitlichen, damit Spiele untereinander stattfinden konnten. Dies führte 1878 zur "offiziellen Verschmelzung der Regeln von Sheffield und von der Football Association, was die Standard-Plattform zur Verbreitung des Fussballspiels auf der ganzen Welt bedeutete" (Carosi 2006, S. 4). Hinsichtlich der Abseitsregel setzte sich diejenige der Football Association aus 1866, die folgendermassen lautete:

"Ein Spieler durfte sich den Ball von einem weiter hinten postierten Mannschaftskameraden zuspielen lassen, sofern sich zwischen ihm und dem Tor des Gegners noch wenigstens drei gegnerische Spieler befanden". (Bausenwein 2006, S.299)

Deckungssystem aufgrund der Abseitsregel von 1866.
Deckungssystem aufgrund der Abseitsregel von 1866.

In der obigen Abbildung sieht man, dass mit der Regel der "drei Gegnern" der Schlüsselspieler zur Bestimmung der Abseitszone der vorvorletzte Spieler der verteidigenden Mannschaft war. Normalerweise war der Torhüter der letzte Spieler, währenddessen der vorletzte Spieler sich per Definition in der Abseitszone aufhielt. Sollte der Ballführer den Ball irgendeinem Kameraden zuspielen, der dann in die Abseitszone eindringen würde, so konnte dort der vorletzte Verteidiger um den Ball kämpfen. Dies bedeutet, dass die Abseitsregel in der Version mit "drei Gegnern" weiterhin hinreichend war, um strategisch jeden Angreifer zu decken.

Die derzeitige Form[Bearbeiten]

Im Jahr 1925 wurde die Abseitsregel von 1866 mit derjenigen ersetzt, die noch heute im Wesentlichen gilt. Damals erachtete es die englische Profifussball-Liga als angebracht, die bisherige Regel zu schwächen, um ein Fussballspiel mit mehr Torerfolgen zu fördern. Zu diesem Zweck wurde die Anzahl Gegenspieler von drei auf zwei vermindert (Bausenwein 2006, S. 90). Erinnern wir uns daran, dass die aktuelle Abseitsregel folgendermassen lautet:

"Ein Spieler begeht Abseits, wenn er sich weiter vorne als der Ball befindet und weniger als zwei Gegenspieler vor sich hat, als ein Mannschaftskollege ihm den Ball zuspielt."

Die Abseitsregel ab 1925 schafft es nicht mehr, alle Gegenspieler zu decken.
Die Abseitsregel ab 1925 schafft es nicht mehr, alle Gegenspieler zu decken.

Im der obigen Abbildung sieht man, dass bei der Regel mit "zwei Gegenspielern" der Schlüsselspieler zur Bestimmung der Abseitszone der vorletzte Spieler der verteidigenden Mannschaft ist. Dabei ist meistens der Torhüter der letzte Spieler. Im Gegensatz zur früheren Regel kann sich jetzt per Definition kein anderer Verteidiger in der Abseitszone aufhalten. Sobald der Spieler am Ball diesen irgendeinem Mannschaftskameraden zuspielt, so kann der angespielte Spieler die Abseitszone betreten, ohne dass ein verteidigender Feldspieler ihn den Ball streitig machen kann. Dies bedeutet, dass die Abseitsregel in der Version mit "zwei Spielern" unzureichend wird, um jeden Gegenspieler strategisch zu decken.

Trotz dieser Insuffizienz wird die Abseitsregel als notwendig erachtet, um die Räume der Angreifer zu verkleinern und damit die Deckung taktisch zu unterstützen:

"...normalerweise benutzt man das Abseits aus defensiver Sicht, um die Räume der Angreifer zu verkleinern... Diese Situation wird provoziert, indem die defensive Linie vorrückt, parallel zur Grundlinie, so dass die Position der zu deckenden Angreifer überholt wird. Gleichzeitig setzen Mitteldfeld- und Vorderspieler den Ballführer unter Druck, damit er nur einen möglichst ungenauen Pass abgeben kann. Auch der Torhüter greift ein, indem er vorrückt um eventuelle lange Pässe im Rücken der Verteidiger abfangen zu können. Eine weitere Möglichkeit ist, dass die Verteidiger statisch in vorgerückter Position verbleiben; in diesem Fall müssen sie diagonal zueinander platziert sein, damit ein Verteidungskollege unterstützen kann, falls ein Gegner in korrekter Position losgehen sollte."(Sans/Frattarola 1995, zitiert in Pino/Cimarro 1997, S. 33-34)

Der Zweck des Abseits, die Räume zu verkleinern, wird offensichtlich wenn man betrachtet, dass die Abseitsregel nicht oder nur beschränkt gilt bei Fussballvarianten mit weniger Raum pro Spieler. Dies wird in der folgenden Tabelle ersichtlich.

Variante Anzahl Spieler pro Team Anwendung der Abseitsregel Länge in Meter Breite in Meter Fläche in m² m² pro Feldspieler eines Teams
Futsal 5 Ohne Abseitsregel 38 – 42 18 – 25 684 – 1050 171.0 – 265.5
11-Fussball 11 Abseitsregel 1925 100 – 110 45 – 91 4500 – 10010 450.0 – 1001.0

Kritik[Bearbeiten]

Wir haben gesehen, dass die früheren Abseitsregeln jeweils als zu streng für die angreifende Mannschaft erachtet und demnach modifiziert wurden. Hingegen kann man im Fall der gegenwärtigen Abseitsregel nicht behaupten, dass sie nur die verteidigende Mannschaft bevorzugt. Die angreifende Mannschaft kann auch davon profitieren:

"Das Abseits, als taktisches defensives Mittel verstanden, [...] bleibt im Zwiespalt von Erfolg (Möglichkeit der Zurückeroberung des Balls wegen vorschriftwidriger Position von mindestens einem Gegner) und Misserfolg (Existenz von grossen Raumlücken hinter der defensiven Linie, die zu klaren Torchancen führen kann). Zudem ist die Ahndung des Abseitsvergehens von der Beurteilung der Schiedsrichter abhängig, was die Möglichkeit von Fehlentscheiden einschliesst [...]"(Pino/Cimarro 1997, S. 65)

In der Tat ist die Schwierigkeit für die Schiedsrichter, ein Abseitsvergehen korrekt zu ahnden, ein grosser Nachteil dieser Regel. Es gibt sogar eine medizinische wissenschaftliche Studie, die zu folgendem Schluss kommt: "Das menschliche Auge ist physiologisch nicht in der Lage, ein Abseits zu erkennen". (Belda, 2009)

Somit ist die Abseitsregel ein zweischneidiges Schwert. Sie ist schwierig anzuwenden, sowohl taktisch von der verteigenden Mannschaft wie auch gerecht von den Schiedsrichtern.

Deshalb wird die Abschaffung der Abseitsregel von mehreren Fussballexperten vorgeschlagen oder vorausgesagt:

  • Ricardo Olivós "... kann sich nicht erklären, dass die Abseitsregel nicht abgeschafft wird, zumal ihre Wirkung zur Ordnung der Verteidigung unnötig wurde. Wahrscheinlich befürchtet man die unvorgesehenen Folgen der Abschaffung, aber diese Sorge ist unbegründet, denn die WM(-Formation) hat uns bewiesen, dass es zur Ordnung der Verteidigung andere Lösungen als die Abseitsregel geben kann."(Olivós 1997, S. 25)
  • Ken Bray plädiert auch für die Abschaffung der Abseitsregel: "[...] Die Verteidiger könnten sich dann einfach ihrer Aufgabe widmen, nämlich andere Spieler zu decken [...] Sowohl für die Schiedsrichter als auch für ihre Assistenten wäre das eine grosse Erleichterung [...]"(Bray 2006, S. 248-250)
  • Bernhard Peters, Feldhockey- und Fussballexperte, "erlebte 1996 die Abschaffung der Regel im Feldhockey und ist überzeugt davon, dass dadurch auch der Fussball keine gravierenden Änderungen erführe".(Moritz 2010, S. 147)
  • Marco van Basten, seit September 2016 technischer Berater für die FIFA, hat für die Fussball-WM im 2026 zehn Regeländerungen vorgeschlagen, unter anderem die Abschaffung der Abseitsregel: "Ohne Abseits könnten die Stürmer hinter den Verteidigern stehen, die es viel schwerer hätten. Wenn sie weit nach hinten vor ihr Tor rücken, ergeben sich für die Angreifer mehr Möglichkeiten zu Distanzschüssen. So würde das Spiel attraktiver werden, die Angreifer hätten bessere Chancen, es würden mehr Tore fallen. Das wollen die Fans sehen."[1]

Dennoch meinen zahlreiche Stimmen, dass die Abseitsregel die "Spontanität, Einfallsreichtum, List und taktische Intelligenz" befördert und dass ohne sie "das Spiel verarmen und von seiner Ästhetik verlieren würde". (Väth 1994, zitiert in Moritz 2010, S.145)

Die kulturelle Entwicklung des Fussballspiels[Bearbeiten]

"Die Abseitsregel hatte immer einen entscheidenden Einfluss auf Taktik und System, wie umgekehrt beide die Spielregeln bestimmten. Mit der spielerischen Entwicklung passten sich die Regeln an [...]. Diese Entwicklung des Fussballs ist am besten über die Änderungen der Abseitsregel zu betrachten." (Weisweiler 1959, S.68)

Der frühe lange Pass[Bearbeiten]

Ursprüglich war Fussball ein Spiel für Dribbler. Nur sporadisch schlug man Pässe, jedoch lang und unpräzis. Es entstanden keine genauen Passfolgen.

Die älteste Abseitsregel erlaubte es nicht, den Ball einem weiter vorne postierten Spieler zuzuspielen. Dies zwang einerseits dem Ballführenden zu dribbeln, andererseits allen Spielern der verteidigenden Mannschaft sich hinter dem Ball zu platzieren. Letzteres bewirkte automatisch die Deckung aller angreifenden Spieler. Der Ballführende hatte vor dem Gegnerhaufen kaum die Möglichkeit voranzukommen. Um der Deckung auszuweichen, pflegte er den Ball nach hinten zu einer geräumigen Zone zu schicken. Dort würde ein Mitspieler den Ball ganz weit und hoch schiessen. Dies lieferte den Angreifern Zeit und Gelegenheit, nach vorne zu rennen. Man erhoffte sich damit, dass ein freier Spieler den Ball kontrollieren und ein Tor erzielen könnte.(Olivós 1992, S. 99-102)

Mit der ältesten Abseitsregel musste man den Ball ganz hoch schiessen, um die Mitspieler freizustellen.
Mit der ältesten Abseitsregel musste man den Ball ganz hoch schiessen, um die Mitspieler freizustellen.

Die obige Abbildung zeigt ein Beispiel, wo der Ballführende die Gelegenheit hatte, den Ball hoch zu schiessen. Die Mitspieler mussten hinter dem Ball bleiben, bis dieser geschossen wurde, um nicht Abseits zu begehen. Unter solchen Umständen war es für einen Angreifer schwierig, den Ball zu kontrollieren: Erstens wurde er nicht direkt angespielt und zweitens konnte er erst nach dem Schuss zielsicher zum Ball rennen, wobei sich die Verteidiger in der Regel näher beim Landepunkt des Balles befanden. Trotzdem gab es keine bessere Lösung zur Umgehung der Deckung als dieser lange Pass, hoch und unpräzise. Es war so nicht einfach, Tore zu erzielen.

Andererseits basierte das Fussballspiel in der Region von Sheffield auch auf langen direkten Pässen nach vorne. Weil dort keine Abseitsregel herrschte, war es bestimmten Spielern (sogenannten kick throughs) möglich, sich sehr in der Nähe des Tores aufzuhalten, um den langen Pass anzunehmen. Um sich die Art und Weise des Spiels in Sheffield besser vorzustellen, muss man wissen, dass die Torbreite viel schmäler als in anderen Regionen war, konkret 12 Fuss (4 Yards) (Harvey 2005, S. 117 und 182), was der Hälfte des aktuellen Masses, nämlich 8 Yards (7.32 Metern), entspricht. Dies erklärt, warum es auch in Sheffield nicht einfach war, Tore zu erzielen, obschon sie ohne fixen Torhüter zu spielen pflegten (Harvey 2005, S. 118).

Das Kombinationsspiel[Bearbeiten]

Ab Mitte der 1860er Jahre fingen einige Mannschaften an, das reine Dribbling mit gelegentlichen hohen Pässen aufzugeben. Sie entdeckten die Möglichkeit, im Kombinationsspiel sich einander den Ball präzis zuzuspielen. Massgebend für diese Entwicklung war die Nichtanwendung der Abseitsregel, die nur Pässe nach hinten erlaubte. Ohne diese Einschränkung konnten sich die Mitspieler deutlich freier auf dem Spielfeld verteilen, um Pässe anzunehmen. "Nicht umsonst basierte das Spiel in Sheffield mehr auf Pässe als auf Dribbling, denn dort war die Abseitsregel bedeutend lockerer als diejenige der Football Association". (Harvey 2005, S. 213)

Ein weiterer Faktor, der das Kombinationsspiel begünstigte, war sicherlich die Kürzung der Spielfelddimensionen sowie der Anzahl Spielteilnehmer. Denn mit zu vielen Spielern in einem zu weiten Spielfeld wird die Übersicht zum miteinander kombinieren erschwert. Diese allmähliche Herabsetzung gipfelte 1897, als offiziell ähnliche Spielfeldmassen als die gegenwärtigen und die Anzahl Spieler pro Mannschaft auf Elf festgelegt wurden. [2] Früher waren 200 Yards lange und 100 Yards breite Spielfelder üblich (Harvey 2005, S. 182), während die Anzahl Spieler pro Mannschaft wesentlich variieren und sogar mehr als zwanzig betragen konnte (Harvey 2005, S. 79).

Das Kombinationsspiel führte schliesslich dazu, dass sich die Spieler auf einzelne Zonen des Platzes verteilten, um sich den Ball einander zu spielen, wie wir jetzt sehen werden.

Das Pyramiden-System[Bearbeiten]

Als wir die Vorgängerin der derzeitigen Abseitsregel erörtert haben, haben wir festgestellt, dass nur zwei Feldspieler genügten, um alle Gegner zu decken. Wie trat man dieser Deckung entgegen? Schauen wir das nächste Diagramm an. Ein Spieler am Flügel konnte die Grundlinie mit dem Ball erreichen. Da es keine Abseitsposition hinter dem Ball gibt, konnte ein Mitspieler in der Mitte einen Flankenpass annehmen und aufs Tor schiessen. Um auf diese Art und Weise über die Flügel zu spielen um zu flanken erwiesen sich fünf Stürmer als optimal.

Mit zwei Verteidigern und fünf Stürmern verblieben drei Spieler in der Mitte. Die Aufgabe dieser Mittelfeldspieler war es, den Ball rasch von hinten nach vorne zu bringen. Dieses Schema 2-3-5 wird auch "Pyramiden-System" oder auch "Offensives System" genannt.

"Zwischen 1880 und Mitte der zwanziger Jahre dominierte diese Grundaufstellung den britischen Fussball - auf dem Kontinent noch länger. Österreich spielte selbst bei der Weltmeisterschaft 1954 noch so." (Biermann/Fuchs 1999, S. 51)

Spiele, die von beiden Mannschaften mit diesem System gespielt wurden, waren lange Zeit äusserst attraktiv zu sehen und zu spielen. Der Ball, schneller als der schnellste Spieler, konnte leicht nach vorne zirkulieren, wobei jeder Spieler in seiner zugewiesenen Zone verblieb.

Die Formation WM[Bearbeiten]

Mit der neuen Abseitsregel ab 1925 war es ungenügend, nur mit zwei Feldspielern zu verteidigen. Die klassische Formation 2-3-5 wurde ungeeignet und Ratlosigkeit brach auf. Nach mehreren Versuchen setzte sich die Idee eines englischen Trainers namens Herbert Chapman durch. Chapman entschied sich dazu, einen Mittelfeldspieler in die Verteidigung zurückzunehmen. Dadurch entstand ein Aufstellungs-Muster, der an die Buchstaben W und M erinnert (Biermann/Fuchs 1999, S. 59). Gleich wie im Pyramiden-System blieb jeder Spieler in seiner Zone. Der Ball zirkulierte schnell von Spieler zu Spieler.

Die Formation WM hat eine bemerkenswerte Eigenschaft, die unbewusst erreicht wurde: Nach diesem Schema 3-2-2-3 aufgestellt, überlappen sich beide Mannschaften! Jede vordere Hälfte einer Mannschaft stimmte mit der hinteren Hälfte der anderen Mannschaft überein. Deshalb begegneten sich in jeder Zone zwei Gegner, die sich gegenseitig deckten.

Lange Zeit beherrschte die Formation WM die Fussballkultur, aber es war kein stabiles strategisches System. Zwar lieferte sie eine Verteidigungs-Lösung, da jeder Spieler den Gegenspieler in seiner Zone deckte. Aber es konnte keine strategische Angriffslösung als Antwort dazu entstehen. Die Deckungen in der Zone wurden zunehmend aufsässig, so dass es ganz schwierig wurde, einen Spieler für den Torabschluss freizustellen.

Aufbruch von den Positionen[Bearbeiten]

Im vorigen Abschnitt haben wir gesehen, dass die starre Formation WM keine wahre Angriffsstrategie erlaubte. Da jeder Angreifer in seiner Zone verblieb, war er stets von seinem Gegenspieler gedeckt. Warum blieb überhaupt jeder Spieler in seiner Zone? Der Grund ist historischer Natur. Im Pyramiden-System war es richtig, dass jeder in seiner Zone blieb, denn es ergab sich eine stimmige Strategie sowohl in der Abwehr wie auch im Angriff. Diese Bindung an einer Zone behielten alle Mannschaften in der WM-Formation aus Trägheit. Dennoch zerfiel diese Formation allmählich, als es dem angreifenden Spieler vermehrt drängte, sich vom Gegenspieler zu lösen und gar die eigene Zone zu verlassen.

Der Aufbruch von den Angriffspositionen hatte zwei Ausprägungen (Olivós 1992, S 169-181): die horizontale und die vertikale Variante. Horizontal vertauschten zwei Angreifer auf gleicher Höhe ihre Plätze. Dies verursachte etwas Verwirrung in der gegnerischen Abwehr, aber jeder Angreifer blieb gedeckt. Vertikal rückte ein Spieler der Hintermannschaft nach vorne, wenn seine Mannschaft im Ballbesitz war. Dieser vertikale Aufbruch zerbrach die Formation WM: Es reichte für die Spieler der abwehrenden Mannschaft nicht mehr, in der eigenen Zone zu warten, denn unweigerlich würde sich ein Verteidiger um mehr als einen Angreifer in der eigenen Zone kümmern müssen.

  • Anfangs der 1950er Jahre war für die Spielweise der ungarische Nationalmannschaft die Aufgabe des festen Positionsspiels zentral. (Biermann/Fuchs 1999, S. 77)
  • Das auffälligste Beispiel für den vertikalen Aufbruch von den Positionen war der Auftritt von Weltmeister Brasilien 1958.
  • Anfangs der 1970er Jahre triumphierte der Totale Fussball, nach dessen Prinzip jeder Spieler überall anzutreffen sein konnte. Damals wurden die Formationen/Systeme totgesagt.

Trotz allem konnte schliesslich der Aufbruch von den Positionen nicht kristallisieren und scheiterte. Die Abwehrspieler verstanden die Deckung oft so, dass sie den Gegenspieler auf Schritt und Tritt ohne Kraftaufsparung wie ein Schatten verfolgen mussten. Die Angreifer meinten häufig, sich freilaufen würde bloss darin bestehen, zu einem einsamen Ort hinzulaufen. All dies führte zu einer Zunahme von unnötigen, unstrategischen und ermüdenden Bewegungen. Man fand keinen einfachen und geeigneten Ansatz, um die Zone zu verlassen. Deshalb wurden zonale Konzepte wie die Aufstellungen (4-4-2, 4-3-3, 5-3-2, ...) und die fixen Positionen (Libero, Mittelstürmer, ...) wieder aufgenommen.

Kompliziertheit[Bearbeiten]

Nach dem unvollendeten Aufbruch von den Positionen werden starre Aufstellungen wieder als Richtschnur verwendet, jedoch ohne Überbewertung. Man entdeckt in der Ordung des Fussballs eine doppelte strukturelle Dimension (Castelo 1999, S. 63-65):

  • "eine 'statische' Dimension, genannt Spielsystem oder taktisches Dispositiv, welche die Aufstellung der Spieler auf dem Spielfeld darstellt. Diese Grundaufstellung (zum Beispiel schemenhaft ausgedruckt als 4-4-2, 4-5-1, 4-3-3, usw.) dient zur Ordnungswiederherstellung [...] und als Ausgangspunkt für die Spielerwege [...]"
  • "eine 'dynamische' Dimension, bestehend aus den verschiedenen taktischen Aufgaben und Einsätzen für die Spieler [...]"

Die Entwicklung und Praxis dieser Strukturen entpuppen sich als unübersichtlichen (Biermann/Fuchs 1999, S. 131 ff.) und komplizierten Prozess. Dabei versuchen die Mannschaftscoaches, die Spieler mittels zahlreichen taktischen Neuerungen und Parolen zu leiten.

Einerseits ist der Begriff Kompliziertheit positiv besetzt, im Sinne von Verfeinerung, andererseits ist er negativ besetzt, im Sinne einer täuschenden Komplexität. Ein Grund zur täuschenden Komplexität liegt sicherlich darin, dass die Terminologie des Fussballspiels kaum zwischen Taktik und Strategie unterscheidet, im Gegensatz zum Schachspiel (Wells 2008, S. 25).

Das ideale Fussballspiel[Bearbeiten]

Das Nachdenken über das ideale Fussballspiel setzt ein Spiel mit zwei theoretisch gleich begabten Mannschaften voraus. Unter dieser Voraussetzung lautet die Hypothese, dass das Fussballspiel auf eine einfache und optimale Strategie beruht. Wenn eine Mannschaft diese Strategie folgt und die andere nicht, dann wird letztere immer verlieren. Wenn beide Mannschaften diese Strategie einhalten, so werden die Spiele geordnet ablaufen. Solche Spiele werden mit Genuss gespielt oder zugeschaut. Auf komplizierte Taktiken kann verzichtet werden.

Die Kenntnis der simplen Strategie dient als roten Faden, um wirklichen Fussball zu spielen oder beizuwohnen. Da das Fussballspiel eine grosse technisch-taktische Komplexität mitträgt, hilft die Bewusstheit der einfachen Strategie im idealen Fussball, die Orientierung zu behalten. Strategisch gesehen werden die Spieler jederzeit wissen was zu tun ist und wo sein optimaler Platz ist. Die Zuschauer werden das Spiel aus einer höheren Perspektive geniessen.

Die einfache Strategie[Bearbeiten]

Wir haben unter der kulturellen Entwicklung des Fussballs gesehen, dass es früher, noch vor der WM-Formation, zwei Perioden gab, wo mit einer einfachen Strategie gespielt wurde, wie folgt.

System Abwehrstrategie Angriffsstrategie
Antikes System Alle Spieler mussten hinter dem Ball bleiben, so dass irgendeiner dem Gegner in Ballbesitz entgegentreten konnte. Den Ball hoch und weit schiessen, damit sich der Torschuss-Vollstrecker während der Flugzeit des Balles freizulaufen kann.
Klassisches System Der vorvorletzte Verteidiger bestimmte die Abseitslinie, währenddessen sich der vorletzte Verteidiger um jedes Eindringen in der Abseitszone kümmerte. Die Abseitsregel ausser Kraft setzen, indem über die Flügel gespielt und anschliessend nach hinten geflankt wurde.

In beiden Fällen haben wir vorgängig bewiesen, dass die Abseitsregel zur Deckung hinreichend war. Ebenfalls fand man in beiden Fällen eine Lösung, um die Deckung zu erwidern. Deswegen war das Spielsystem geordnet, stabil und einfach zu verstehen und anzuwenden.

Das antike und das klassische System boten je eine einfache Strategie, um Fussball zu spielen. In der modernen Epoche wird jedoch die Abseitsregel ungenügend, um die Gegenspieler zu decken. Man wechselt von einer fragilen WM-Formation zur Krise des Aufbruchs von den Positionen und endet in der Kompliziertheit. Muss man in der modernen Epoche eine einfache Strategie aufgeben? Oder ist eine solche Strategie durch den historischen Hergang etwas durcheinander geraten? Jedenfalls kann man die einzige bekannte Definition einer einfachen Strategie im modernen Fussball folgendermassen formulieren.

"Manche mögen Sachen verkomplizieren... Dabei ist Fussball eine sehr einfache Sportart ohne Rätsel. [...] Eigentlich kann man das gesamte moderne Fussballspiel als System Mann gegen Mann definieren, um das geht es nämlich im Wesentlichen. [...] Das Konzept beschränkt sich darauf, [in der Abwehr] den Gegner passend zu decken und [im Angriff] sich im geeigneten Augenblick freizulaufen." (Alves 1978, S. 134-136)

Die ideale moderne Abwehr[Bearbeiten]

Die Abwehrstrategie muss gewährleisten, dass kein Gegenspieler ohne wirksame Deckung bleibt. Wenn ein Spieler ungedeckt ist und den Ball bekommt, so wird er ohne Widerstand vorankommen können und dabei die Abwehr aus dem Gleichgewicht bringen. Die Lösung im modernen Fussball ist, jedem Gegenspieler einen Spieler der abwehrenden Mannschaft zuzuweisen. Jeder Spieler richtet seine Position in Bezug auf seinen Gegenspieler. Damit gewährleistet er seine Opposition zum Gegenspieler im Fall, dass dieser den Ball bekommen würde, und verhindert damit die Abwehrdestabilisierung und letzlich den Torerfolg des Gegners.

In der obigen Abbildung wird illustriert, dass jeder Abwehrspieler sind um einen Gegenspieler kümmert. Für die vom angegriffenen Tor weit entfernte Gegner genügt es, sie aus einer gewissen Distanz zu decken. Es ist nicht einfach, die Strategie der individuellen Deckung gelungenermassen umzusetzen:

"Die individuelle Deckung hat zwar einen grossen theoretischen Vorteil (indem man jedem Angreifer den Raum total wegnimmt). Wenige Mannschaften können jedoch dieses System im 11-Fussball anwenden (das System ist einfacher bei weniger Spieler pro Mannschaft). Das System fordert eine hochstehende Organisation, körperliche Ausdauer, Konzentration, Disziplin und Geschick im Eins gegen Eins. Eine erfolgreiche Organisation verlangt von den Spielern eine gute Übersicht, Führung y gute Kommunikation." (Catlin 1990, S. 142)

Man muss gut aufpassen: Diese theoretische Strategie bedeutet nicht, dass man den Gegenspieler jederzeit und überall verfolgt. Wenn man es so missverstehen würde, dann wäre es berechtigt, folgendermassen zu kritisieren: "Wer Manndeckung treibt, läuft wie es der Gegner will. [...] Der Gegner erzwingt Einsätze und Laufwege [...]"(Valdano 2003, S. 157). Dem wird die Raumdeckung gegenübergestellt.

"Bei der Raumdeckung hat jeder Spieler ein zugewiesenes Spielfeldstück zur Verwaltung. Der Spieler passt seine Position innerhalb dieser Zone in Bezug darauf, wo sich der Ball gerade befindet" (Valdano 2003, S. 155-156). Wie wir aber damals beim historischen Aufbruch von den (WM-)Positionen feststellten, hat eine Zonenabwehr eine schwerwiegende Achillesferse: "Die Zonen können überladen werden (mehr Angreifer als Verteidiger in der zu deckenden Zone) [...] (Catlin 1990, S. 141)."

Zusammengefasst: "Ein System der individuellen Deckung ist weiterhin das (moderne) Abwehrideal". (Catlin 1990, S. 144)

Der ideale moderne Angriff[Bearbeiten]

Um die individuelle Deckung zu erwidern, muss die angreifende Mannschaft mehr Angreifer als Verteidiger in der Aktivzone bringen. Die Aktivzone ist die Zone zwischen Ball und Grundlinie.[3] Im nächsten Beispiel, mit Spieler 1 im Ballbesitz, liegt die Aktivzone von Linie A bis zur Grundlinie. Dadurch, dass der zuständige Gegenspieler für Spieler 1 temporär hinten geblieben ist, befinden sich in der Aktivzone vier Angreifer gegen drei Verteidiger – der Torhüter zählt nicht. Die Verteidigung ist in einem instabilen Zustand.

Wenn Spieler 1 den Ball an Spieler 2 zuspielt, so liegt die neue Aktivzone zwischen Linie B und Grundlinie. In dem Fall befinden sich drei Verteidiger und drei Angreifer in der Aktivzone; die Überzahl der Angreifer geht zu Ende, und die Verteidigung wird wieder stabil. Das ist ein Beispiel dafür, dass ein Pass nach vorne nicht immer sinnvoll ist. Wenn Spieler 1 mit dem Ball vorankommt anstatt den Ball nach vorne zu spielen, so wird früher oder später ein Verteidiger seinen ursprünglichen Gegenspieler vernachlässigen müssen, um um den Ball zu kämpfen. Dann wird der ungedeckte Gegenspieler frei in der Nähe des Tors sein, mit einer günstigen Torchance sobald er den Ball erhält.

Umgekehrt ist es manchmal sinnvoll, den Ball nach hinten zu spielen. In unserem Beispiel verursacht ein Pass von Spieler 2 nach Spieler 1 eine Überzahl, indem die Grenze der Aktivzone von Linie B zu Linie A wandert.

Schlussfolgerung[Bearbeiten]

Erinnern wir uns an die Aussage in der Einführung: "Fussball ist sowohl Sport als auch Spiel. [...] Als Spiel ist er logischen Regeln unterworfen, die jeder Fussballspieler verstehen müsste". Nach den vorangehenden Ausführungen kommt man zum Schluss, dass die logischen Regeln des Fussballs nicht hinreichend bekannt sind, und zwar aus folgenden Gründen:

  • Die Abseitsregel ordnete früher das Spiel hinreichend und automatisch, so dass man sich dessen kaum bewusst war.
  • Die komplexe technisch-taktische Ausführung der Spielzüge lenkt von den Ordnungsprinzipien ab.

Diese Unkenntnis bewirkt in manchen Spielen, sowohl im Amateur- wie im Profi-Umfeld, ein Mangel an Attraktivität, ohne dass Spieler oder Zuschauer die Gründe recht erahnen. Es ist deshalb zwingend, die Schlüssel bei der Ordnung der Spielzüge im Fussball intensiv zu forschen und zu popularisieren.

Übungen[Bearbeiten]

  • (Spontane) Fussballspiele von richtigen Anfängern betrachten. Welche Art von Unordnung stellt man fest?
  • Torabschluss-Sequenzen analysieren. War der Torabschluss-Vollstrecker frei/ungedeckt? Ab welchem Zeitpunkt?
  • Während eines Fussballspiels im Profi- oder Amateur-Bereich herausfinden, welche Spieler in bestimmten Phasen nicht im Deckungsprozess mitwirken. Was sind die Folgen für ihre Mitspieler? Inwiefern wird dadurch das Spiel vermasselt?
  • Bei Spielen mit ungleicher Anzahl Spieler pro Mannschaft (zum Beispiel nach Ausschluss eines Spielers) feststellen, ob die Mannschaft in Überzahl diese Gegebenheit auszunützen weiss. Wenn ja, wie macht sie es?
  • Meisterschaften im 11-Fussball ohne Abseitsregel organisieren. Wie reagieren die Spieler kurz-, mittel- und langfristig?

Literatur[Bearbeiten]

Deutsch[Bearbeiten]

  • Christoph Bausenwein: Geheimnis Fussball. Auf den Spuren eines Phänomens. Göttingen 2006. ISBN 978-3-89533-516-7
  • Christoph Biermann, Ulrich Fuchs: Der Ball ist rund, damit das Spiel die Richtung ändern kann. Wie moderner Fussball funktioniert. Köln 1999. ISBN 3-462-02857-X
  • Christoph Biermann: Matchplan: Die neue Fußballmatrix. Köln 2020. ISBN 978-3-462-05428-6
  • Ken Bray: Wie man richtig Tore schiesst. Pendo Verlag, 1. Ausgabe 2006. ISBN 978-3866120822
  • Rainer Moritz: Abseits. Das letzte Geheimnis des Fussballs. München 2010. ISBN 978-3-88897-650-6
  • Winfried Uesseler (1994): w:Jean-Paul Sartre als Theoretiker des Fussballs. In: Hopf, Wilhelm (Hg.): Fussball: Soziologie und Sozialgeschichte einer populären Sportart. Verlag Münster, S. 202-213. ISBN 978-3-88660-231-5
  • Hennes Weisweiler: Der Fussball. Stuttgart 1959, 7. Auflage 1974. ISBN 3-7780-3028-0

Englisch[Bearbeiten]

  • Francisco Belda Maruenda: An offside position in football cannot be detected in zero milliseconds. Verfügbar bei Nature Precedings <http://hdl.handle.net/10101/npre.2009.3835.1> 2009.
  • Julian Carosi: The History of Offside. Version vom 23. November 2010.
  • Mark G. Catlin: The Art of Soccer. Soccer Books 1990, erste Ausgabe. ISBN 0-9626834-2-6.
  • Adrian Harvey: Football: The First Hundred Years London 2005. ISBN 0415350190
  • Richard Robinson: Football: History of the Queen's Park Football Club 1867-1917. Verlag Hay Nisbet & Co. Ltd, erste Ausgabe 1920.
  • Adam Wells: Football & Chess. Tactics; Strategy; Beauty. Harding Simpole Publishing, 2. Ausgabe 2008. ISBN 978-1843821861.

Spanisch[Bearbeiten]

  • Lorenzo Alves Ferreira: Fútbol. Técnica moderna. Editorial Sintes S.A., 5. Ausgabe 1978. ISBN 302-0374-5.
  • Jorge F.F. Castelo: Fútbol. Estructura y dinámica del juego. INDE publicaciones, 1. Ausgabe 1999. ISBN 9788487330834.
  • Ricardo Olivós Arroyo: Teoría del fútbol. Wanceulen Editorial Deportiva S.L., 2. Ausgabe 1992. ISBN 978-84-604-3705-5.
  • Ricardo Olivós Arroyo: Fútbol: Análisis del juego. Wanceulen Editorial Deportiva S.L., 1. Ausgabe 1997. ISBN 8487520421.
  • José Pino Ortega, Jesús Cimarro Urbano: Análisis táctico del fuera de juego en el fútbol. Wanceulen Editorial Deportiva S.L., 1. Ausgabe 1997. ISBN 84-87520-51-0.
  • Jorge Valdano: El miedo escénico y otras hierbas. Suma de Letras S.L., 2003.ISBN 84-663-1150-5.

Französisch[Bearbeiten]

  • Jean Francis Grehaigne: L'organisation du jeu en football. ACTIO, 1. Ausgabe 1992. ISBN 2-906411-08-6.

Referenzen[Bearbeiten]

  1. http://www.fanreport.com/at/news/regelaenderungen-10-kuriose-plaene-der-fifa-1349354
  2. «1897:Minutes of the Anual General Meeting» [1]. International Football Association Board. Am 23. September 2014 nachgeschaut.
  3. Das Konzept der "Aktivzone" stammt von Olivós 1992, S. 287

Siehe auch[Bearbeiten]