Projekt Diskussion:Virtuelles Bernburg

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Wigalois[Bearbeiten]

Wigalois (zwischen 1210 und 1220) des Wirnt von Grafenberg, ein Artusroman. Fragment einer Handschrift (New Haven (Conn.), Yale Univ., Beinecke Rare Book and Manuscript Libr., MS 481, no. 113), etwa 1220 bis 1230.

Wigalois (zwischen 1210 und 1220) des Wirnt von Grafenberg:

Die ersten 13 der 144 zum Prolog gehörenden Verse sind:

Wer hât mich guoter ûf getân?
sî ez iemen der mich kan
beidiu lesen und verstên,
der sol genâde an mir begên,
ob iht wandels an mir sî,
daz er mich doch lâze vrî
valscher rede: daz êret in.
ich weiz wol daz ich niene bin
geliutert und gerihtet
noch sô wol getihtet
michn velsche lîhte ein valscher man,
wan sich niemen vor in kan
behüeten wol, swie rehte er tuot.


Welch vortrefflicher Mensch hat mich aufgeschlagen?
Wenn es jemand ist, der mich
lesen und verstehen kann,
dann möge er mich – auch wenn es etwas
an mir zu tadeln gibt – freundlich behandeln
und mich mit übler Nachrede
verschonen: dies wird ihn ehren.
Ich weiß sehr gut, daß ich gar nicht
bereinigt und begradigt
und auch nicht so gut geschrieben bin,
so daß mich ein Lästerer leicht verleumden kann;
denn niemand kann sich vor ihnen
recht schützen, wie kunstgerecht auch immer er schreibt.
(Übersetzung nach Seelbach/Seelbach.[1][2])


Prolog des w:de:Wigalois (zwischen 1210 und 1220) von w:de:Wirnt von Grafenberg (Vers 82ff.): „Wer gute Dichtung schätzt und ihr gerne zuhört, der soll jetzt höflich schweigen und aufmerken: das ist gut für ihn. Die Dichtung läutert die Gesinnung manch eines Menschen, denn er findet darin leicht das, was ihm zur Besserung gereicht“. (Übersetzung nach: Joachim Bumke: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1987, Band 2, Seite 443.)

Die Insel des zweiten Gesichts[Bearbeiten]

Die Insel des zweiten Gesichts ist das Hauptwerk des Schriftstellers Albert Vigoleis Thelen. Der vollständige Titel lautet: „Die Insel des zweiten Gesichts. Aus den angewandten Erinnerungen des Vigoleis“.

Das Buch schildert den Aufenthalt Thelens und seiner Frau Beatrice während der Jahre 1931–1936 auf Mallorca. Die beiden landen als Bohème-Emigranten und verlassen fünf Jahre später während des spanischen Bürgerkrieges fluchtartig die Insel. In diesen Jahren lebt das Ehepaar in ärmlichen und abenteuerlichen Verhältnissen unter manchmal zwielichtigen Figuren. Es macht die Bekanntschaft mit zahlreichen interessanten Menschen aller Gesellschaftsschichten und übt, um überleben zu können, je nach Gegebenheiten unterschiedliche Berufe aus, unter anderem als Schreiber, Fremdenführer, Sprachlehrer und Hotelmanager. In ihren Erlebnissen spiegelt sich die Zeit des damaligen Mallorca genauso wider wie ihre Bedrohung durch den aufkommenden Nationalsozialismus.

Weder Roman noch Autobiografie

Das Werk Thelens ist schwer einzuordnen. Es galt – und gilt manchem heute noch – zunächst als autobiografischer Schelmenroman. Aber die Figur des Vigoleis kann nicht als Picaro bezeichnet werden und das Buch ist auch kein Roman. Thelen spielt in diesem Werk mit den beiden Gattungsbegriffen, da er dem autobiografischen „Ich“ seinen Doppelgänger „Vigoleis“ zugesellt und somit eine Distanz zur Autobiografie herstellt, wenn er mal als Autor und mal als Held auftritt. Thelen baut auf diese Weise „ein permanentes Spannungsverhältnis zwischen Identität und Fiktion auf“.

Sprachstil und Erzähltechnik

Thelens Sprache ist von großer Vielfalt, er schöpfte aus dem Wortschatz der sechs Sprachen, die er beherrschte, grub Wörter und Wendungen wieder aus, die bereits in Vergessenheit geraten waren und spielte in wortschöpferischen Variationen mit der Sprache: So fand er beispielsweise Dutzende Schimpfwörter für seine Fast-Schwägerin, die Hure Pilar, er bezeichnete sie unter anderem als „Zaupe“, „Hurenstrunzel“, „Puttscholle“, „Straßenaas“, „Schlunte“, „geile Schindkracke“, „Musche“, „Hochkokotte“ oder „Metze“. Jürgen Pütz hat den Thelenschen Sonderwortschatz untersucht und klassifiziert, er fand neben Archaismen, fachsprachlichen und umgangssprachlichen Wörtern zahlreiche Neologismen.

Thelens Schreibweise ist gekennzeichnet durch seine vielen Abschweifungen. Immer wieder reißt sein Erzählstrang bei einem Stichwort und es muss erst die dazugehörige Geschichte erzählt werden. Thelen bezeichnete seine Erzähltechnik als „Kaktusstil“; ein Kaktus blüht an unerwarteter Stelle und zu unerwarteter Zeit plötzlich kurz auf, auch die Stellen, wo seine Ableger erscheinen, lassen sich nicht vorher bestimmen.

Dichtung und Wahrheit

Kathedrale von Palma de Mallorca (Vigoleis erzählt im Buch von den mystisch geneigten Säulen.)

In der Sakristei der Kartause von Valldemossa beschreibt Vigoleis einer deutschen Reisegruppe einen angeblich „echten Nagel vom Kreuz Christi“ mangels Kenntnis als „Taeda pestis“, Reliquie der Pest. Die Frage nach der Authentizität der Ereignisse und der illustren Schar der im Buch vorkommenden Personen beantwortet der Schriftsteller in einer „Weisung an den Leser“ als Vorspruch in seinem Buch so: Alle Gestalten dieses Buches leben oder haben gelebt. Hier treten sie jedoch nur im Doppelbewusstsein ihrer Persönlichkeit auf, der Verfasser einbegriffen […] In Zweifelsfällen entscheidet die Wahrheit. Vieles ist nachprüfbar und wurde durch seinen umfangreichen Briefwechsel dokumentiert; unter seinen Inselbegegnungen befanden sich zahlreiche Prominente, so der britische Schriftsteller Robert Graves, der Kunstsammler und Mäzen Harry Graf Kessler und der Philosoph Hermann Graf Keyserling.

Ein antifaschistisches Buch

Für Thelen war es unbegreiflich, wie schnell der Nationalsozialismus in Deutschland Akzeptanz fand. An vielen Stellen des Buches kommt seine starke Abneigung gegen das Naziregime zum Ausdruck. Zu den beeindruckenden Szenen gehören die, in denen er als Fremdenführer sich schlagfertig des militärischen Jargons bedient, wenn er deutsche Schiffstouristen an der Nase herumführt oder durch einen Bluff einem ihm sehr unsympathischen Flüchtling zu seinem Bankguthaben verhilft, da er das Geld den Nazis nicht gönnt. Nach Francos Putsch bleibt ihm und seiner Beatrice nur noch die abenteuerliche Flucht nach Portugal.

Rezeption

Thelen las 1953 bei der Gruppe 47 aus dem Manuskript vor. Dort fertigte Hans Werner Richter den Text, wie sich Martin Walser erinnerte, mit den Worten ab: „Dieses Emigrantendeutsch brauchen wir nicht.“ Entgegen diesem ersten Urteil setzte sich das Buch dennoch – auch dank einer äußerst positiven Besprechung von Siegfried Lenz – durch, es wurde zwar kein Bestseller im üblichen Sinn, entwickelte sich aber, immer wieder von neuen Lesergruppen als Geheimtipp entdeckt, bis heute zu einer Art Longseller, der inzwischen als „eines der großen Prosabücher, die es gibt“ (Martin Walser), gilt. War es schon erstaunlich, dass ein Fünfzigjähriger 1953 mit seinem Erstling von fast allen bedeutenden Periodika ausführlich und durchweg positiv besprochen wurde, so ist auch bemerkenswert, dass die revidierte Neuauflage 30 Jahre später erneut ein wohlwollendes Medienecho auslöste.

Relevante Stimmen zum Werk

Siegfried Lenz „Wenn ein Buch wirklich verdient, ein Ereignis genannt zu werden, dann dies.“

Paul Celan nannte das Buch „ein wahres Kunstwerk“. Sein Lese-Exemplar (heute im Literaturarchiv Marbach) enthält ca. 4000 Anstreichungen.

Als die Wochenzeitung Die Zeit ihre Umfrage nach dem „Jahrhundertbuch“ veranstaltete, wählte der niederländische Schriftsteller Maarten ’t Hart Thelens Werk aus und begann seinen Beitrag: „Seit langem glaube ich: Das größte Buch dieses Jahrhunderts ist die Insel des zweiten Gesichts von Albert Vigoleis Thelen. Eine überraschende Wahl? Vielleicht, aber es war doch eines der Lieblingsbücher Thomas Manns. Er nannte es eines der drei größten Bücher dieses Jahrhunderts.“

Mit einem Nachwort von Jürgen Pütz. Das deutschschweizerische Schriftstellerehepaar Vigoleis und Beatrice folgt 1931 dem Ruf von Beatrices Bruder Zwingli nach Palma. Sie erwarten, Zwingli als todkranken Mann vorzufinden, müssen aber entdecken, dass er einzig an der fast an Hörigkeit grenzenden Liebe zu der schönen Mallorcesin Maria del Pilar erkrankt ist, über deren Beruf sich Vigoleis - auch er für ihre Reize nicht ganz unempfänglich - nur allzubald klar wird: Sie ist Prostituierte. Um sie herum beginnen sich merkwürdige, teils strahlende, teils undurchsichtige Gestalten auf der Insel zu sammeln, die immer mehr zum Abbild einer zerrissenen Welt wird. Perlentaucher

Albert Vigoleis Thelens herrlich barockes Hauptwerk über Schmuggler und Huren, Künstler und Bettler, zweifelhafte Emigranten und falsche Gentlemen: Mit schier unerschöpflicher Fabulierlust erzählt er von den Abenteuern seiner Helden Vigoleis und Beatrice im Mallorca der dreißiger Jahre. buecher.de

Albert Vigoleis Thelen ist - auch nach dem Nachwort im Buch - der große Unbekannte der deutschen Literatur. Die Frage ist eigentlich, warum er es ist. Das Presselob auf der U4 spart nicht mit Superlativen, "Die Insel des zweiten Gesichts" ist auch ziemlich erfolgreich gewesen, seit ihrem Erscheinen 1953 immer wieder in neue Auflagen gegangen. Man könnte Thelen kennen, aber man kennt ihn nicht. Ein großer Fehler, wie sich bei der Lektüre dieses Buches, das mir von einem Freund empfohlen und geschenkt wurde, herausgestellt hat.

"Die Insel des zweiten Gesichts" beschreibt als autobiographisch inspirierte Schelmengeschichte Thelens Zeit in Mallorca von 1931 bis 1936. 1931 wird er mit seiner damaligen Geliebten und späteren Frau Beatrice, einer Schweizerin, nach Mallorca gerufen. Beatricens kleiner Bruder Zwingli liegt im Sterben und bittet die beiden zu kommen. Umso erstaunter sind sie natürlich, als Zwingli sie wohl etwas abgerissen, aber keineswegs vom Tode gezeichnet, am Pier abholt. Es stellt sich heraus, dass das dramatische Telegramm eine Finte war, um Beatrice und Vigoleis von der wirklich sterbenskranken Mutter Beatricens wegzulocken. Denn Zwingli braucht zwar keine letzte Ölung, aber zweifellos Hilfe: Er hat sich in eine spanische Hure verliebt, die ihm nach und nach das Geld aus der Tasche zieht und die Syphillis aufhängt, von der er sich aber nicht zu lösen vermag, zum einen aus Faszination für diese Frau, zum anderen aus Furcht vor ihrer impulsiven Art, die auch vor dem Gebrauch eines Dolches nicht zurückschreckt.

Vigoleis ist am Anfang keine große Hilfe, er verliebt sich sogar selbst in die schöne Spanierin und verschärft so das Problem sogar noch. Beatrice begleicht derweil mit ihrem stattlichen Vermögen die Schulden des kleinen Bruders, so dass die beiden Helden der Aufzeichnungen schon nach wenigen Seiten ohne finanzielle Mittel dastehen. Der stets ingeniöse, oft kuriose und manchmal auch erschreckende Kampf gegen die Armut steht ab da im Mittelpunkt der Erzählungen. Beatrice und Vigoleis landen zunächst im Hotel eines anarchistischen Grafen, dann im Bordell eines Drahtziehers des mallorquinischen organisierten Verbrechens, schließlich in einer eigenen Wohnung, für die sich unsere Helden zwar keine Möbel leisten können, die aber einen wunderbaren Garten besitzt.

Wie durch ein Wunder gehen Vigoleis und Beatrice aus allen Abenteuern ohne größeren Schaden hervor, zwar leben sie in einem ständigen Auf und Ab von bescheidenem Wohlstand und totalem Verlust ihrer Ressourcen, sind nach der Machtergreifung der Nazis und durch den Aufstieg Francos stets neuen Schikanen ausgesetzt und müssen 1936 auch vor dem heraufziehenden spanischen Bürgerkrieg flüchten, doch durch ihre stets prekäre Lage lernen sie eine Menge Leute kennen, wie sie interessanter nicht sein könnten, teilen deren Leben, gewinnen meistens deren Zuneigung und Vertrauen und schaffen es so nicht nur zu überleben, sondern auch einen reichen Schatz an Geschichten aufzutürmen - zu deren Chronist Vigoleis dann im vorliegenden Buch wird.

"Die Insel des zweiten Gesichts" ist - und hier liegt vielleicht eines der Geheimnisse ihrer relativen Unbekanntheit - 1953 vor der Gruppe 47 durchgefallen. Der unglaublich ausladende und sprachlich überbordende Stil wurde von den Kargheitspropheten um Hans-Werner Richter, die damals die Gruppe 47 offenbar bestimmten, nicht goutiert. Thelen, stets sensibel und überaus empfindlich, zog sich daraufhin wieder aus einem Land und seiner Kulturszene zurück, aus der ihn erst die Nazis vertrieben hatten und der er sich nur sehr zögerlich wieder zu öffnen begonnen hatte. Bis in die 80er Jahre lebte er in den Niederlanden und der Schweiz, wo er vor allem als Übersetzer tätig war. An den Erfolg seines Erstlings hat er mit den seltenen späteren Prosawerken nicht mehr anknüpfen können.

Die Wucht, mit der der Leser auf über 900 Seiten mit minimalem Durchschuss konfrontiert wird, sucht in der Nachkriegsliteratur ihresgleichen. Verblüffend ist die Leichtigkeit, mit der Thelen trotz aller spürbaren und ausdrücklich immer wieder geäußerten Beleidigtheit seine Anekdoten präsentiert, mit welch unglaublich liebenswürdigem Augenzwinkern er von Begegnungen mit Touristen aus Nazideutschland, mit Flüchtlingen, Verbrechern und allen möglichen und unmöglichen anderen Gestalten berichtet, unter ihnen Berühmtheiten wie Robert von Ranke Graves und Harry Graf Keßler.

Es gibt nichts Schlechtes über das Buch zu sagen, es ist außerordentlich gut geschrieben mit einem aktiven Wortschatz, der seinesgleichen sucht, es ist kurzweilig zu lesen, bei allem nervig kleinen Schriftbild (bei normalem Durchschuss wäre aber wohl irgendwann die Broschur auseinandergebrochen), es ist intelligent geschrieben, es ist menschlich, dabei nie weinerlich. Lest Thelen!

Das vergessene Meisterwerk des 20. Jhrs., an dem ich nun neben diversen anderen Büchern einen Monat zu kauen hatt, ein subjektiv gefühlter Bücherkonsumstillstand, der sich lohnte und den ich an jedes Leserherz legen möchte:

Dieser Schelmenroman lässt Felix Krull verblassen, ein deutscher Marcel Proust, geküsst von Grimmelshausens Schalk, vom Wortreichtum ganz zu schweigen, der einen sogenannte ›Kaktusstil‹ in immer neuen Variationen zum Blühen bringt. Jedes Kapitel sprüht vor Einfällen, von Irrungen, der Humor besiegt die prekärsten Momente, Ironie die dümmsten Ideologien. Allein der fabulierende Fremden(ver-)Führer garantiert Lachmuskelkrämpfe, ebenso wie die fckncs Persiflagen. Viel Spaß und helft mit wider das Vergessen: Einfach aufmerksam lesen, denn ›in Zweifelsfällen entscheidet die Wahrheit‹

Lovelybooks

Weit schweift die Phantasie des Autors in seinen Erinnerungen zurück: auf die Insel Mallorca, wo er mit seiner Frau Beatrice von 1931 bis 1936 gelebt hat - ein deutsch-schweizerisches Ehepaar am Rande des Existenzminimums, er Schriftsteller und Träumer, sie Realistin mit Familiensinn, Exzentriker aber beide. Beatrices Bruder Zwingli lockte das junge Paar nach Mallorca, die Begegnung mit seltenen und seltsamen Persönlichkeiten hält sie auf der Insel, der Spanische Bürgerkrieg und die Fernwirkungen der Machtergreifung der Nazis in Deutschland vertreiben sie wieder, das Leben als Schelmenstück ist zuende.

hsverlag


Pressestimmen

"Das größte Buch dieses Jahrhunderts."

Die Zeit, Maarten t’Hart, 02.11.2021

"Wenn ein Buch wirklich verdient, ein Ereignis genannt zu werden, so dieses."

Ullstein

Welt am Sonntag, Siegfried Lenz, 02.11.2021

Fahne von Kriwoi Rog[Bearbeiten]

Bergarbeiter und Jungpioniere vor der Fahne von Kriwoj Rog. 3. November 1952.[3]

Die folgende Geschichte soll sich in den Jahren zwischen 1929 und 1989 in der kleinen Stadt Gerbstedt im Herzen des Mansfelder Landes zugetragen haben. Was an der Geschichte der Fahne von Kriwoi Rog Wahrheit und was Legende ist, wird sich nach so vielen Jahren wohl nicht mehr feststellen lassen. Das Mansfelder Land war zu Beginn des 20. Jahrhunderts eines der bedeutendsten wirtschaftlichen Zentren Deutschlands und Bergbau und Industrieproduktion liefen auf Hochtouren.

Die so genannten GOLDENEN ZWANZIGER JAHRE waren für die arbeitende Bevölkerung aber gar nicht so golden: Eine Währungsreform, hohe Reparationsforderungen der Entente-Mächte und eine handfeste Weltwirtschaftskrise waren eine hohe Belastung für die ohnehin hart arbeitenden Menschen. So ist es letztlich nicht verwunderlich, dass die breite Masse der Menschen Anfang der 30er Jahre praktisch in zwei große extreme Lager gespalten war: Nationalsozialisten und Kommunisten.

Obwohl die Arbeiter und Angestellten der Mansfeld AG in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht vergleichsweise privilegiert waren, war diese Zeit im Mansfelder Land geprägt durch Demonstrationen, bewaffnete Aufstände und Klassenkämpfe. Die Auseinandersetzungen mit den Arbeitern wurden immer wieder – teils auch blutig – niedergeschlagen.

Im gleichen Zeitabschnitt fand in Russland eine radikale Revolution statt. Die Zarenfamilie wurde hingerichtet, jegliches industrielle und landwirtschaftliche Privateigentum auf brutale Weise enteignet und hunderttausende verschwanden auf nimmer Wiedersehen in sibirischen Gulags. Für die Menschen in Russland wurde praktisch eine Diktatur durch eine andere ersetzt. Dennoch muss die Oktoberrevolution eine magische Anziehungskraft auf die deutschen Kommunisten ausgeübt haben.

Jedenfalls kam es im Jahre 1927 zu einem Briefwechsel zwischen dem Sekretär der Betriebszelle der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) des Paul- und Vitzthum -Schachtes bei Gerbstedt, Otto Brosowski, und der Parteizentrale des Dzierdzynski-Schachtes im ukrainischen Kriwoi Rog. Es war sicher nicht nur die weltanschauliche Verbundenheit, die aus dem unverbindlichen Briefwechsel zweier Parteifunktionäre bald eine Freundschaft der Belegschaft zweier Schächte entstehen ließ. Das Arbeitsleben der Bergleute war hart und gefährlich und so hat sich über die Länder- und auch über gewisse ideologische Grenzen hinweg eine Art Freundschaft der Arbeiter beider Länder entwickelte.

Im Jahre 1929 schickten die Kommunisten des ukrainischen Bergwerkes eine reich bestickte rote Fahne nach Gerbstedt. Am 21. April 1929 wurde die Fahne in der Gaststätte Lohmeyer in Gerbstedt vom kommunistischen Landtagsabgeordneten Karl Schulz aus Berlin-Neukölln feierlich an Otto Brosowski übergeben. Bereits am Vorabend fand ein Fackelumzug statt und der Tag der Fahnenübergabe wurde wie ein hoher Feiertag mit Platzkonzert, Demonstration und einer Abendveranstaltung begangen. Die Bergleute der Mansfelder Zechen erschienen zahlreich zur Fahnenübergabe und identifizierten sich auch in den folgenden Jahren mit dem Geschenk der Ukrainer. Auf allen Demonstrationen der nächsten Jahre wurde die Fahne von Kriwoi Rog mitgeführt.

Mittlerweile hatte sich das politische Klima in Deutschland deutlich zugunsten der extremen rechten Bewegung verschoben. Bei den Wahlen zum Reichstag 1928 wurde die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) zur zweitstärksten politischen Partei. Vier Jahre später wurde die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) des Österreichers Adolf Hitler mit über 37 Prozent der Wählerstimmen eine nicht mehr zu ignorierende Gruppierung. Die DNVP trat im Januar 1933 der Regierung um Adolf Hitler bei und löste sich wenig später auf.

Am 12. Februar 1933 überfielen SA- und SS-Angehörige auf Befehl des Ludolf von Alvensleben eine Arbeiterturnhalle in Eisleben. In dieser Turnhalle fand gerade eine Jugendweiheveranstaltung – von der Kommunistischen Partei Deutschlands organisiert – statt. Die Männer der SA und der SS gingen mit äußerster Brutalität – teils mit Spaten – gegen die Anwesenden vor. Walter Schneider und Otto Helm wurden erschlagen. Sie verstarben noch in der Turnhalle. Der Bergarbeiter Hans Seidel wurde schwer verletzt. Er verstarb am folgenden Tag im Knappschaftskrankenhaus in Eisleben.

Der zumindest in der DDR bekannte KPD-Funktionär Bernhard Koenen verlor ein Auge. Dieser als „Eislebener Blutsonntag“ in die Geschichte eingegangene Überfall forderte 3 Tote und 26 Schwerverletzte. Es war das erklärte Ziel der Mansfelder Nationalsozialisten, die Fahne von Kriwoi Rog in ihren Besitz zu bringen und auf dem historischen Marktplatz von Gerbstedt zu verbrennen. Die Familie Otto Brosowskis wurde von nun an mit Hausdurchsuchungen terrorisiert. Die Fahne aber blieb unauffindbar.

Der Überlieferung nach hatte die Frau Otto Brosowskis, Minna Brosowski, die Fahne zwischen zwei Tischtüchern eingenäht. Die nun etwas dickere Tischdecke lag – sauber gebügelt und ordentlich gestärkt – auf dem Tisch in der guten Stube der Brosowskis. Am 30. März 1933 wurde Otto Brosowski verhaftet und in das Konzentrationslager Lichtenburg bei Prettin an der Elbe eingewiesen. Während der Haft Otto Brosowskis wurde die Fahne durch Bekannte unter einem Grenzstein in der Ackerflur Gebstedts vergraben. Als Otto Brosowski nach einem Jahr aus der Haft entlassen wurde, renovierte er sofort seinen Kaninchenstall. Dabei fand die Fahne ein neues Versteck in der Nische einer für das Mansfelder Land so typischen dicken Lehmmauern.

Das bis dahin so erfolgreiche NS-Regime erlitt in der Schlacht um Stalingrad 1942/43 eine erste bittere Niederlage. Und spätestens mit der Landung der technisch überlegenen Amerikaner in der Normandie 1944 wurde klar, dass dieser Krieg für Deutschland nicht zu gewinnen war. Am 7. bzw. 9. Mai 1945 musste Deutschland, nach dem Selbstmord Adolf Hitlers von Großadmiral Karl Dönitz geführt, bedingungslos kapitulieren.

Das Mansfelder Land war mittlerweile von amerikanischen Truppen besetzt. Jeder männliche Erwachsene war automatisch verdächtig, ein Nazi zu sein. Jeder Bürgermeister eines noch so kleinen Dorfes wurde im Gefängnis „Zum Roten Ochsen“ in Halle an der Saale inhaftiert, in der Regel ohne Haftbefehl, rechtliche Grundlage und ordentliches Gerichtsverfahren. Besonders brutal wurden gefangen genommene Angehörige der Wehrmacht und natürlich auch der der SS – auch wenn sie schwer kriegsbeschädigt waren – behandelt.

Die Zeit der Amerikaner im Mansfelder Land war aber nur kurz, und gemäß der Beschlüsse des Abkommens von Jalta mussten sie das Territorium zu Gunsten der Russen wieder räumen. Im Mansfelder Land zog nun die Sowjetarmee ein. Beim Einmarsch in Gerbstedt wurde die Rote Armee von der Familie Brosowski empfangen, die Fahne von Kriwoi Rog haltend. Der Kunstmaler Karl Kothe hat diesen historischen Augenblick 1953 im Auftrag des Mansfeldkombinates in einem Gemälde festgehalten. Eine in Keramik gefasste Kopie des Bildes hing bis zur Wende in der Halle des Dessauer Hauptbahnhofes. Siehe dazu auch ((Bei den Recherchen zu diesem Artikel war es mir am Anfang unmöglich, Informationen über den Maler des Bildes zu finden. Auch in einem vom Mansfeld Kombinat herausgegebenen Buch über die Fahne von Kriwoi Rog aus dem Jahre 1989 war zwar das Bild abgedruckt, nicht aber ein Verweis auf den Künstler. Erst die heute in Spanien lebende Tochter des Malers Karl Kothe, Frau Dr. Julia Kothe de Carapeto, hat mir etwa 14 Tage nach der ersten Veröffentlichung des Artikels nähere Informationen zum Bild gegeben.

  • Bild: Die Familie Brosowski empfängt die sowjetischen Besatzer in Gerbstedt.

Ausschnitt aus einem Gemälde des Kunstmalers Karl Kothe (1913-1965) aus dem Jahre 1953.

Bild: Vorderseite der Fahne von Kriwoi Rog.

Proletarier aller Länder vereinigt Euch!
Alle Werktätige,
schäzen sich in
einem festen ring
um die Kommunistische Partei
für den WELTOKTOBER!
Der Parteizelle der K.P.D.
der Witstumsker Schächte.
Anlässlich des 11 jährigen Jubiläum der Oktoberrevolution
von der Parteizelle der K.P.d.S.U. der Erzgrube Dzerschinsky
Kriwoj Rog
(Bergarbeiter mit Spitzhacke, Bergwerkszug mit Lokomotive und Hunte, Bergwerk mit Förderturm, Berg, aufgehende Sonne mit Strahlen über allem)
Abbildung eines Bergmanngezähes bestehend aus Schlägel und Eisen

Bild: Rückseite der Fahne von Kriwoi Rog.

(Sowjetstern, darin Hammer und Sichel, gekreuzt vom Bergbausymbol w:de:Schlägel und Eisen, russischer Text)

Interessant ist, dass es seit der Deutschen Wiedervereinigung auch andere Versionen von der Geschichte der Fahne von Kriwoi Rog gibt. Rudolf Brosowski, der Enkel Otto Brosowskis, sagte in einem Interview gegenüber einem Filmteam, dass die Übergabe der Fahne durch Minna Brosowski an die sowjetische Armee nicht stattgefunden habe. Vielmehr hätte sein Großvater die Fahne von Kriwoi Rog beim Einmarsch der Roten Armee aus einem Fenster im ersten Stock des Wohnhauses gehängt. Der sowjetische Kommandant nahm darauf hin Kontakt zur Familie Brosowski auf.

Alt eingesessene Gerbstädter erzählen die Geschichte der Fahne von Kriwoi Rog hingegen so: Otto Brosowski soll nur als Mitläufer der Kommunistischen Partei Deutschlands bekannt gewesen sein. Die Fahne wurde demnach eine gewisse Zeit im Haus einer leidenschaftlich kommunistisch gesinnten Familie versteckt, bis die Gefahr einer Entdeckung zu groß wurde. Da Otto Brosowski von offizieller Seite nicht im Verdacht stand, mit den Kommunisten zu sympathisieren, wurde er gebeten, die Fahne an sich zu nehmen. Die Bereitschaft dazu allein setzte aber in diesen Zeiten schon ein gewisses Maß an Courage voraus!

Was später als über die Rettung der Fahne von Kriwoi Rog verbreitet wurde, hat dann wohl eine ähnliche Eigendynamik erfahren, wie die Geschichte um die Rettung des Lenindenkmals von Eisleben. Wie auch beim Lenindenkmal gehen Legende und Wahrheit fließend ineinander über. Doch wie auch immer: In der DDR wurden die Fahne oder eigens angefertigte Duplikate immer wieder zu besonderen Anlässen hervorgeholt. Minna Brosowsk, ihr Sohn Otto Brosowski jun. und selbst ihr Enkel Rudolf Brosowski wurden häufig zu politischen Veranstaltungen geladen. Die Fahne von Kriwoi Rog erhielt 1964 einen Ehrenplatz im Museum für Deutsche Geschichte in Berlin.

Bild: Übergabe der Fahne von Kriwoi Rog an das Museum für Deutsche Geschichte in Berlin.

Die Geschichte der Fahne wurde 1960 durch Otto Gotsche in einem Buch und 1967 durch Kurt Maetzig in einem Film verewigt. Auch der bekannte Dichter Heiner Müller nahm sich 1960 in einem Kammerspiel des Themas an. Minna Brosowski erhielt 1964 die Ehrenbürgerschaft der Stadt Kriwoi Rog. Zu Ehren Otto Brosowski wurde ein Schacht und im Jahre 1971 die Oberschule in Gerbstedt benannt. Die Otto-Brosowski-Oberschule existiert heute noch als Sekundarschule.

Sie trägt mittlerweile den Namen des Grafen Schenck von Stauffenberg. Wie in der Geschichte unseres westlichen Kulturkreises so oft: Ironie des Schicksals, wenn der treue Mitläufer eines totalitären Regimes plötzlich den eigenen Stand auf verlorenem Posten sieht und dann zum Helden wird ((Die heute weit verbreitete Vorstellung, dass es in der breiten Masse der deutschen Armee im Dritten Reich immer Überlegungen gab, Adolf Hitler auszuschalten, ist unhaltbar. Es gab nur eine geringe Zahl von Militärs, die bereit gewesen wären, sich für das deutsche Volk zu opfern. Stauffenberg und die Verschwörer des 20. Juli 1944 gehörten allesamt nicht dazu. Das nach dem 20 Juli 1944 mehr als 7000 Menschen hingerichtet wurden, ist dem allgemeinen Zwang des NS-Regimes alles und jeden zu verfolgen geschuldet – keinesfalls jedoch dem Ausmaß der Verschwörung um Hitler (Quelle: H. Eberle und M. Uhl: Das Buch Hitler – Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach 2005, ISBN 978-3-404-64219-9, S. 497).)). Der Otto-Brosowski-Schacht ist seit dem Ende des Kupferschieferbergbaues im Mansfelder Land Ende der 1960er Jahre nicht mehr in Betrieb. Die weithin sichtbare Kegelhalde – errichtet mit dem Schweiß der Mansfelder Bergleute – trägt heute wieder offiziell den Namen Paul-Schacht.

Bild: Hunt mit der Aufschrift DIE FAHNE VON KRIWOI ROG ALS LEUCHTENDES SYMBOL DER DEUTSCH-SOWJETISCHEN FREUNDSCHAFT. Exponat im Mansfeld-Museum in Hettstedt-Burgörner.

Die Fahne von Kriwoi Rog kam nach der gesellschaftlichen Wende 1989/1990 in das Magazin des Museums für Deutsche Geschichte. Vom 27. April bis zum 9. September 2007 war die restaurierte Fahne im Rahmen der Ausstellung „Farben der Geschichte – Flaggen und Fahnen“ im Pei-Bau des Deutschen Historischen Museums (DHM) in Berlin zu sehen.

Bild: Großkundgebung zu Ehren der Fahne von Kriwoi Rog vor dem Rathaus der Stadt Gerbstedt in den 1970er Jahren.

Literatur[Bearbeiten]

Anmerkungen[Bearbeiten]

  1. Wigalois: Text, Übersetzung, Stellenkommentar (de Gruyter Texte) Kindle Ausgabe: Wirnts von Grafenberg Wigalois gehört zu den wichtigsten Artusromanen des hohen Mittelalters. Der um 1210/20 entstandene Roman greift auf Motive aus den ‚klassischen‘ mittelhochdeutschen Romanen, z. B. aus Wolframs Parzival und Hartmanns Erec, zurück. Er erzählt die âventiure des Gawein-Sohnes Wigalois, der bei der Suche nach seinem Vater an den Artushof gelangt und dort in die Tafelrunde aufgenommen wird. Als Artusritter besteht er zahlreiche Bewährungsproben, die schließlich in eine ideale Herrschaft im Königreich Korntin münden. Die reiche Überlieferung des Romans (41 Handschriften) zeugt von seiner Beliebtheit vom frühen 13. bis ins späte 15. Jahrhundert. Diese neue Ausgabe enthält nicht nur den mittelhochdeutschen Text (nach Kapteyn), sondern zugleich eine Übersetzung in modernes Deutsch. Darüber hinaus bietet sie einen Stellenkommentar, ein ausführliches Nachwort mit Hinweisen zur Gattungsfrage und Motivik, zum ‛Sitz im Leben’ und zur Interpretation, Register zu den Namen und zum Kommentar sowie eine Bibliographie zum Wigalois. ‎ De Gruyter; 2. Edition (22. August 2014).
  2. Vgl. Kapitel 1.
  3. 3.11.1952 Erste Komplexbrigade in der Kupfererzgewinnung(Mansfeldkombinat "Wilhelm Pieck). Am 1.November 1952 fuhr die erste Komplexbrigade in der Kupfergewinnung, die Brigade "XIX.Parteitag" im Otto-Brosowski-Schacht des Mansfeldkombinats "Wilhelm Pieck" als Auftakt zum Monat der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft ihre erste Schicht und erreichte eine Planerfüllung von 11, 7%.Nach Beendigung der Schicht fand eine kurze Feierstunde statt, in der Komplexbrigadier Adolf Taraba und der stellvertretende Werkleiter Stenzel den Komplexbrigadevertrag unterschrieben.Die Komplexbrigade "XIX.Parteitag", die auf Initiative des Komplexsteigers Otto Sonnabend gebildet wurde, setzt sich aus den bisherigen Brigaden des Flügels 5-II, einschließlich der Schiesser, Handwerker und Förderleute zusammen.UBz: Vor der historischen Fahne der Bergarbeiter von Kriwoj Rog, einer Ehrengabe an die Kumpel von Mansfeld, wurden der Leiter der Komplexbrigade "XIX.Parteitag", Adolf Taraba(links) und der Steiger Otto Sonnabend von Thälmann-Pionieren herzlich begrüsst.