Strebetendenz-Theorie

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Die Strebetendenz-Theorie (englisch: "Theory of Musical Equilibration") ist ein Erklärungsmodell für die emotionale Wirkung musikalischer Harmonien. Sie wurde von Musiktheoretiker Bernd Willimek entworfen und gemeinsam mit seiner Frau, der Pianistin Daniela Willimek, zur heutigen Fassung weiterentwickelt. Die Theorie formuliert eine umfassende Auflistung von emotionalen Charakteren musikalischer Harmonien und eine Begründung für die emotionale Wirkung musikalischer Harmonien.[1] Sie geht aus der musikpsychologischen Lehre Ernst Kurths[2] hervor und erklärt die emotionalen Charaktere musikalischer Harmonien psychologisch als Folge von Identifikationen des Musikhörers mit abstrakten Willensinhalten, die musikalisch encodiert sind. Die Strebetendenz-Theorie wurde erstmals 1997 in Vorträgen an der Hochschule für Musik Karlsruhe sowie an der Universität Rostock als neuer Ansatz der Musikpsychologie vorgestellt und 1998 im Tonkünstlerforum Baden-Württemberg publiziert. Bernd Willimek und Daniela Willimek entwarfen Verfahren zur Überprüfung der theoretischen Herleitungen der Strebetendenz-Theorie. Präferenztests mit über 2000 Probanden aus vier Kontinenten sowie Analysen der Liedliteratur ergaben grundsätzliche Übereinstimmungen mit den Herleitungen der emotionalen Wirkung musikalischer Harmonien durch die Strebetendenz-Theorie.

Grundaussage[Bearbeiten]

Die Grundaussage der Strebetendenz-Theorie ist folgende: Durch tonale Musik vermittelte oder hervorgerufene Emotionen wie etwa Wut, Trauer, Einsamkeit oder Sehnsucht lassen sich auf Identifikationen mit abstrakten Willensinhalten zurückführen und durch Identifikationen mit abstrakten Willensinhalten erklären. Im Umkehrschluss lassen sich Emotionen, die nicht auf abstrakte Willensinhalte zurückgeführt werden könnenn, wie beispielsweise Neid, Eifersucht, Hass, Verlegenheit, Langeweile, Mitleid, Verachtung, Scham oder Ekel, auch nicht durch tonale Musik vermitteln oder hervorrufen.

Anwendung der Strebetendenz-Theorie[Bearbeiten]

Die Strebetendenz-Theorie orientiert sich zunächst an den von Ernst Kurth und anderen Musiktheoretikern geschilderten Wahrnehmungen von "Strebewirkungen"[3] in Leittönen, interpretiert solche Erscheinungen jedoch als Identifikationen des Musikhörers mit den "Strebewirkungen" entgegengesetzten Willensinhalten. Ein Beispiel: Bei einem Durakkord identifiziert sich der Hörer aufgrund des Leittons mit dem Willensinhalt "ja, ich will!", bei einem Mollakkord aufgrund des "getrübten"[4] Leittons mit dem Willensinhalt "ich will nicht mehr!"[5] Dies entspricht der Unterscheidung, die in Analogie vollzogen wird, wenn man die Worte "ich will nicht mehr" einmal leise flüstert und einmal laut herausschreit. Geflüstert würde man dieselben Worte als traurig, geschrieen als wütend empfinden. Das Modell der Strebetendenz-Theorie ist auch bei Harmonieverbindungen anwendbar und führt zur Herleitung der emotionalen Charaktere von Klangfolgen. Ebenso erklärt es, wieso ein und dieselbe Harmonie einen anderen emotionalen Charakter annehmen kann, wenn sie in einem anderen harmonischen Kontext gespielt wird. So erklärt sich beispielsweise, warum ein Durklang auch manchmal traurig klingen kann oder warum ein Mollakkord nicht immer traurig klingen muss.

Entstehung von Leittönen[Bearbeiten]

Zur Ursache von sogenannten Leittonerscheinungen gab es viele Erklärungsversuche, von denen sich keiner etablieren konnte. Im Sinne der Strebetendenz-Theorie spielt hier ein Wechselspiel bewusster und unbewusster Wahrnehmungen von Obertönen eine wesentliche Rolle. Und zwar aus der Wirkung der dissonanten Sekundintervalle der unteren Obertöne. Diese werden bei typischen Leittonklängen an der Schwelle zum Unbewussten wahrgenommen[6] und lösen sich bei entsprechender Stimmführung im Gleichklang auf. Vereinfacht könnte man demnach sagen: Wer einen Ton als leittonartig empfindet, will unbewusst Sekunden im Obertonbereich zu Primen verschmelzen.

Emotionale Charaktere einzelner Klänge im Überblick[Bearbeiten]

Um die Charaktere einzelner Klänge im Sinne der Strebetendenz-Theorie herzuleiten, wurden jeweils die herkömmlichen Beschreibungen von Leittönen als Identifikationen mit einem Widerstand gegen die "Strebewirkungen" interpretiert. Dadurch ergeben sich die im Folgenden aufgelisteten Klangcharaktere. Man beachte jedoch, dass die Klangempfindung im Einzelfall auch von anderen Faktoren abhängen kann.

  • Dur-Tonika: Nüchternes Einverstanden-Sein, Bejahen.[7][8]
  • Moll-Tonika: Trauer (wenn leise), Zorn (wenn laut). Ebenso alle anderen Emotionen, die einem Gefühl des Nicht-Einvertsandenseins entsprechen.[9]
  • Äolisches Moll: Gefahr, Mut, Abenteuer, Spannung.[10]
  • Dominante: Gefühl von Bewegung, Fortstreben, Befreiung.[11][12]
  • Dominante einer Molltonika: Übernahme des Mollcharakters und Statik.[13]
  • Septakkord: Widerstand, Protest, Aufmüpfigkeit, Weinerlichkeit, Weichlichkeit, Bremsen, Schrittbewegung.[14]
  • Zwischendominante: Charakter verschieden, da Ausrichtung am Charakter der erwarteten neuen Tonika, Enttäuschung, Schmerz, starke seelische Betroffenheit oder auch positiver Charakter bei Erwarteter neuen Durtonika.[15]
  • Subdominante in Dur: Gelöstheit, Überschwänglichkeit, Freude, Trunkenheit, Sieg, Feierlichkeit, Jubel, Zufriedenheit.[16][17][18]
  • Subdominante mit großer Septime: Wie Subdominante, nur mit Wermutstropfen, wehmütiger Abschied, Sehnsucht, Vergänglichkeitsgedanke im Glück.[19][20]
  • Subdominante mit Sixte ajoutée in Dur: Geborgenheit, Warmherzigkeit, Zweisamkeit.[21]
  • Subdominante mit Sixte ajoutée in Moll: Einsamkeit, Verlassenheit, Liebeskummer.[22]
  • Neapolitanischer Sextakkord: Verschwinden, Tod, Verlassenhait.[23]
  • Verminderter Septakkord: Schrecken, Verzweiflung, Panik, Entsetzen, grüblerische Schwermut (wenn leise), Koketterie oder Entzücken (wenn Auflösung nach Dur erwartet).[24][25]
  • Übermäßiger Dreiklang: Staunen, Wundern, Überraschung, Magie.[26]
  • Ganztonklänge: Schwerelosigkeit, etwa unter Wasser, im Traum.[27]Vgl. <Michael Dachs, Paul Söhner: Harmonielehre Bd. 2, München: Kösel 1974, S. 164.</ref>
  • Kleine Sexte: Bedrohung, Angst, Beklemmungsgefühle.[28]
  • Quinte: Leere, Öde, gespenstische Stimmung.[29]
  • Tritonus: Lauernde Gefahr, teuflischer Einfluss.[30]

Vorträge zur Strebetendenz-Theorie bei internationalen Konferenzen[Bearbeiten]

  • APSCOM 6: Music and Emotion. bei der 6th Conference of the Asia-Pacific Society for the Cognitive Sciences of Music (APSCOM 6). Women's University Kyoto, 2017.

Literatur[Bearbeiten]

  • Daniela Willimek, Bernd Willimek: [https://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/25742442.2023.2185064 Revealing the Mystery of Emotions in Sounds The Theory of Musical Equilibration Explains the Impact of Ordered Sounds as the Listener’s Identification with Processes of Will. In: Timothy L. Hubbard (Ed.): Auditory Perception & Cognition., London, Taylor & Francis 2023, 6:1-2, DOI: 10.1080/25742442.2023.2185064, S. 128-153.
  • Bernd Willimek, Daniela Willimek: Musik und Emotionen: Studien zur Strebetendenz-Theorie. Deutscher Wissenschafts-Verlag, Baden-Baden 2019, ISBN: 978-3-86888-145-5.
  • Marc Neufeld: Harmonien erzeugen Emotionen. Die Strebetendenz-Theorie. In: Marc Neufeld: Die Bedeutung von Liedern in der Lebensgeschichte. Das Liedinteview als therapeutisches Instrument. Reichert, Wiesbaden 2012, ISBN: 978-3895008382, S. 194-196.

Weblinks[Bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten]

  1. [1] Vgl. Werner Stangl: Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik.
  2. Vgl. Ernst Kurth: Musikpsychologie. Olms, Hildesheim 1969.
  3. Vgl. Ernst Kurth: Musikpsychologie. Olms, Hildesheim 1969, S. 13.
  4. Vgl. Paul Hindemith: Unterweisung im Tonsatz Bd. 1. Schott's Söhne, Mainz, 1940, S. 101.
  5. [2]Vgl. Werner Stangl: Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik.
  6. Vgl. Angelika Abel: Die Zwölftontechnik Weberns und Goethes Methodik der Farbenlehre. Zur Kompositionstechnik der neuen Wiener Schule.Steiner. Stuttgart 1982, S. 10
  7. Vgl. Gustav Güldenstein:Theorie der Tonart. Stuttgart: Schwabe 1973, S. 39.
  8. Vgl. Friedrich Herzfeld: Ullstein Musiklexikon, Berlin: Ullstein, 1985, S. 149 u. 351.
  9. [3] Vgl. Werner Stangl: Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik.
  10. Vgl. Alf Björnberg: On Aeolian Harmony in Contempory Popular Music, in Allan F. Moore: Critical Essays in Popular Musicology, Burlington: Ashgate 2007, S. 257-282.
  11. Vgl. Deryck Cooke: The Language of Music, Oxford: Oxford University Press, 1959, S. 90.
  12. Vgl. Marc Neufeld: Die Bedeutung von Liedern in der Lebensgeschichte, Wiesbaden: Reichert 2011, S. 196.
  13. Vgl. Bernd Willimek, Daniela Willimek: Musik und Emotionen. Studien zur Strebetendenz-Theorie, Baden-Baden: Deutscher Wissenschaftsverlag 2019, S. 45-48
  14. Vgl. Gottfried Wilhelm Fink: Der musikalische Hauslehrer, Whitefish (Monatana): Kissinger Pub Co 2010, S. 216.
  15. Vgl. Daniela Willimek, Bernd Willimek: Musik und Emotionen. Studien zur Strebetendenz-Theorie, Baden-Baden: Deutscher Wissenschaftsverlag 2019, S. 37-45
  16. Vgl. Gustav Güldenstein: Theorie der Tonart, Stuttgart: Schwabe, 1973, S. 40
  17. Vgl. Diether de la Motte: Harmonielehre, Kassel: Bärenreiter, 2014, S. 35.
  18. Vgl. Marc Honegger, Günther Massenkeil: Das große Lexikon der Musik Bd. 8, Freiburg im Breisgau: Herder 1981, S. 39
  19. Vgl. Deryck Cooke: The Language of Music, Oxford: Oxford University Press 1959, S. 90.
  20. [4] Vgl. Imre Lahdelma, Tuomas Eerola: Theoretical Proposals on How Vertical Harmony May Convey Nostalgia and Longing in Music. Empirical Musicology Review, 10 (3).
  21. Vgl. Daniela Willimek, Bernd Willimek: Musik und Emotionen. Studien zur Strebetendenz-Theorie, Baden-Baden: Deutscher Wissenschaftsverlag 2019, S. 84-88
  22. Vgl. Daniela Willimek, Bernd Willimek: Musik und Emotionen. Studien zur Strebetendenz-Theorie, Baden-Baden: Deutscher Wissenschaftsverlag 2019, S. 88-91
  23. Vgl. Diether de la Motte: Harmonielehre, Kassel: Bärenreiter 2014, S. 89.
  24. Vgl. Arnold Schönberg: Harmonielehre, Wien: Universal Edition 1922, S. 288.
  25. Vgl. Reinhard Kungel: Filmmusik für Filmemacher, Heidelberg: dpunkt, 2008, S. 77.
  26. Vgl. Reinhard Kungel: Filmmusik für Filmemacher, Heidelberg: dpunkt 2008, S. 77.
  27. Vgl. Diether de la Motte: Harmonielehre, Kassel: Bärenreiter 2014, S. 249-251.
  28. Vgl. Deryck Cooke: The Language of Music, Oxford: Oxford Unversity Press 1959, S. 90.
  29. Vgl. Friedrich Herzfeld: Ullstein Musiklexikon, Berlin: Ullstein 1985, S. 431.
  30. Vgl. Deryck Cooke: The Language of Music, Oxford: Oxford Unversity Press 1959, S. 90.