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Transkript Probant 1

Aus Wikiversity

Transkription Probant 1 (männlich, 21 Jahre, türkischer Abstammung)

LS

Du bist hier in Deutschland aufgewachsen, deine Eltern jedoch nicht. Findest du, dass du anders erzogen wurdest als deutsche Jugendliche?

P1

Als deutsche Jugendliche?

LS

Genau, also (wie) der typische Durchschnitt der Deutschen, die quasi – ähm – einen deutschstämmigen Vater und eine deutschstämmige Mutter haben.

P1

Ah, ok

LS

Haben die deine Meinung nach eine andere Erziehung genossen als du, oder würdest du sagen, dass du eigentlich genauso erzogen worden bist wie jeder deutschstämmige Jugendliche auch?

P1

Ich glaub nicht, also ich wurde genauso erzogen wie alle anderen auch. Ich glaub nicht, dass es ein großer Unterschied gewesen ist, nur dass ich eben bilingual aufgewachsen bin.

LS

Ah, das ist aber schon mal interessant. Aber du glaubst jetzt nicht, dass du irgendwelche Werte oder Normen in deiner Erziehung mitgekriegt hast, die irgendwie abweichen von den deutschen?

P1

Ich glaube, jeder Mensch wird einfach anders erzogen. Es gibt ja verschiedene Arten. Und es kommt auch auf die Schicht an. Deswegen glaub ich jetzt nicht, dass ich irgendwelche Nachteile hatte. Nur, dass ich das Ganze vielleicht vor dem Hintergrund einer ganz anderen Religion gelernt habe als die anderen, und auch andere Feste feiere, andere Werte, wie gesagt, schätze ich.

LS

Das heißt, es soll jetzt hier nicht darum gehen, ob das Ganze ein Nachteil für dich ist oder ein Vorteil, sondern nur, ob es (die Erziehung) in irgend einer Art anders war.

P1

Ich glaub nicht, dass es anders gewesen ist.

LS

Beschäftigst du dich viel mit der Kultur deiner Eltern? Wie lebt ihr zuhause, eher deutsch, oder in der Herkunftskultur deiner Eltern, oder vielleicht in einer Mischung aus beidem?

P1

Hm... nein. Eher weniger. Es ist eher so, dass ich eigentlich christlich erzogen bin, das kann man schon sagen, weil wir auch eine Eigentumswohnung hatten, und da (in dem Komplex) waren nur zwei türkische Familien, und sonst waren alle Deutsche. Und daher hat man auch das Ganze mitbekommen, ich hab auch zu Weihnachten immer Geschenke bekommen. Also das hat man dann immer alles mitgekriegt, wann deutsche Feste sind, zum Beispiel Ostern, Weihnachten, und es war dann schon eher so, dass ich christlich aufgewachsen bin.

LS

Das heißt, deine Eltern haben dich im Großen und Ganzen sehr liberal erzogen?

P1

Genau.

LS

Sie haben sich also nicht auf ihre Heimat konzentriert -

P1

Nein, haben sie nicht

LS

- sondern haben sich eher der deutschen Kultur geöffnet.

P1

Genau, sie haben sich geöffnet.

LS

Hast du dich in der typisch deutschen Gesellschaft manchmal fremd gefühlt oder fühlst du dich manchmal fremd in der deutschen Gesellschaft?

P1

Nein, eher weniger.

LS

Würdest du sagen, dass du integriert bist?

P1

Ich würd schon sagen, dass ich integriert bin, weil ich sogar eher Probleme mit meinen eigenen Landsleuten habe.

LS

Ich finde es sehr schön, dass du so offen bist.

LS

Wie nimmst du deine Mitmenschen wahr? Wenn du jemanden siehst, der anders ist, stört dich das?

P1

Das stört mich nicht – ich versuche, damit umzugehen, und nicht peinlich zu sein, nichts falsches zu sagen.

LS

Also das heißt, DU versuchst, nicht peinlich zu sein?

P1

Ja, also dass er oder sie nicht denkt ok, was hat er denn für eine Sichtweise oder ist der intolerant.

LS

Das heißt, wenn du jemanden triffst, der anders ist, stellst du dich selbst eher zurück und beobachtest sein Verhalten und seine Einstellung?

P1

Ja, genau, ich arbeite am Flughafen, und wenn jemand kommt, der nur schlechtes oder gebrochenes Englisch spricht möchte ich nicht anfangen zu lachen, ich denke wir in Deutschland können auch nicht so gut Englisch, das können nur diejenigen, die damit aufgewachsen sind.

LS

Was ist, wenn du in eine Situation kommst, die für dich neu und ungewohnt ist, wie verhältst du dich da? Bist du eher offensiv, oder gehst du mehr auf Abstand?

P1

Ich glaub ich geh erst mal auf Abstand und schau mir das Ganze an.

LS

Du lässt es also erst mal auf dich wirken.

P1

Genau. Bevor ich da irgendwas falsch mache.

LS

Also erst mal zusehen und dann aus der Situation lernen, wie man sich verhalten sollte, um sich richtig zu verhalten und sich ein Stück weit anzupassen.

P1

Genau.

LS

Ist es schwierig für dich, Menschen aus anderen Kulturen zu akzeptieren?

P1

Das fällt mir nicht schwer, gar nicht. Auch als ich damals meinen Freund kennengelernt habe und hier her gekommen bin, wo alle im Dialekt gesprochen haben und ich nichts verstanden habe, war das auch was ganz Neues für mich.

LS

Stimmt, das ist ja wie in eine andere Kultur zu kommen, wenn man noch nie in einer von diesen vielfältigen Dialektzonen war. Das heißt, du akzeptierst im Großen und Ganzen Menschen aus anderen Kulturen gut und bist froh, wenn du verstehst, wie alles funktioniert und du dann 'dabei' bist?

P1

Ja, das stimmt.

LS

Erwartest du von anderen, dass sie sich anpassen? Oder ist für dich das Zusammenleben mit Menschen aus anderen Kulturen ein Vorteil, von dem du profitieren kannst?

P1

Also ich hab nichts dagegen, wenn viele verschiedene Kulturen an einem Ort ausgelebt werden. Es sollte nur nicht dazu führen, dass jeder sagt, 'meine (Kultur) ist besser als deine', und sich nicht einzumischen ist das Wichtigste.

LS

Es kann also deiner Meinung nach ein Nutzen für alle sein, dass es verschiedene Kulturen gibt, die auch miteinander leben, das heißt dass jede Kultur auch von einer anderen profitieren kann?

P1

Genau, voneinander profitieren und voneinander lernen, Jesus zum Beispiel ist auch einer von unseren Propheten. Ich weiß jetzt nicht so genau, wie das im Christentum ist, aber ich glaube dass Mohamed im Christentum keine so große Rolle spielt. Jedenfalls ist Jesus im Islam ein Prophet, aber nicht der Sohn Gottes. Das sagt ihr (Christen) zum Beispiel schon. Wir sagen, dass er nur ein Prophet ist, für euch ist er ein Prophet und der Sohn Gottes. Das weiß ich aber nur von meinen Eltern.

LS

Spielt die Religion für dich im Alltag mit anderen Kulturen eine große Rolle?

P1

Ich glaub eher weniger. Weil wenn ich mich in so einer Situation befinde, was soll mir meine Religion in dem Moment nützen? Ich muss mich ja nicht anpassen, ich muss ja nur versuchen, den anderen zu verstehen.

LS

Das heißt, du beziehst dich in solchen Situationen erst einmal nicht auf Werte, die du vielleicht in deiner Kindheit gelernt hast, sondern blendest erst einmal deinen Hintergrund aus und konzentrierst dich auf den anderen?

P1

Ja, genau. Aber generell sollte man natürlich schon bestimmte Normen und Werte im Leben haben, und trotzdem gegenüber anderen offen sein.

LS

Würdest du sagen, du bist religiös?

P1

Nein, ich bin nicht unbedingt religiös. Also ich glaube nur an Gott, aber das Drumherum ist für mich nur so ein Märchen.

LS

Auch wenn du nicht so religiös bist – weißt du, was in deiner Religion über Toleranz ausgesagt wird, also ob es zum Beispiel einen bestimmtem Leitsatz zur Toleranz gibt oder zu Menschen, die etwas anderes glauben?

P1

Also ich weiß nur, dass die Osmanen, als sie damals regiert haben, gesagt haben das sind die Gottlosen, also alle anderen, die nicht an den Islam geglaubt haben, wurden 'die Gottlosen' genannt. Aber ich glaube, das wurde einfach so gesagt, dass die Menschen Wut über andere Kulturen bekommen und mit in den Krieg ziehen, also als Propaganda. Aber ich glaub nicht, dass so was (Leitsatz zur Toleranz) drin steht. Es ist ja eigentlich auch so, dass viele Dinge falsch interpretiert werden. Es gibt ja auch zum Beispiel immer noch die ganze Sache mit dem Kopftuch, was eigentlich gar nicht im Koran steht. Aber, wie gesagt, jeder kann ein Buch lesen und es anders interpretieren, und jeder kann eine eigene Meinung dazu haben; deswegen kann ich da jetzt keine ganz klare Antwort drauf geben, also ich weiß nicht ob da so was drin steht oder nicht.

LS

Wie wurde in deiner Kindheit das Thema „Toleranz“ angesprochen / Wie hast du als Kind gelernt, tolerant zu sein? Was hast du, z.B. in deiner Kindheit, über Toleranz in deiner Religion gehört?

P1

Doch, schon. Also ich durfte jetzt nicht sagen, sie oder er ist schwarz. Ich hab damals in einem Industrieviertel in Nürnberg gelebt, damals hatten meine Eltern nicht so viel Geld, da war ich in einem Kindergarten, der war direkt an einer Hauptstraße und es war immer sehr laut, und das war auch nicht unbedingt der Teuerste, und da waren auch sehr viele Schwarze, ich bin sozusagen mit Schwarzen aufgewachsen. Da habe ich einfach gelernt, damit umzugehen. Als Kind hat man da ja auch keine Vorurteile, das sieht man einfach als Freund oder Freundin oder Spielkameraden, ich glaube, das kommt dann mit der Pubertät, dass man sagt er oder sie ist so oder so, oder ich bin anders. Das kam aber nie bei mir.

LS

Das heißt, du hast als Kind eher im Selbstversuch Toleranz gelernt und geübt.

P1

Ja genau, im Selbstversuch, das kann man so sagen.

LS

Du hast also im Endeffekt gemerkt, dass die Anderen genauso sind wie du?

P1

Ja, stimmt.

LS

Wurde in deiner Kindheit auch mit einem religiösen Beispiel verdeutlicht, dass man tolerant sein sollte?

P1

Hm, nein. Mein Vater hat nur zum Beispiel immer gesagt, wir sollen nicht Schwarzer sondern Afroamerikaner sagen. Aber sonst (speziell durch die Religion) nicht.

LS

Könntest du kurz in eigenen Worten zusammenfassen, ob es für dich einen Zusammenhang zwischen deiner religiösen Erziehung und der Toleranz gegenüber einer fremden Kultur gibt?

P1

Also für mich sind das zwei verschiedene Paar Schuhe. Ich finde, es kommt viel mehr drauf an, wie ein Mensch aufwächst, also mit welchen Werten und Normen er aufwächst und welche er sieht und durch seine Umwelt und durch seine Mitmenschen vermittelt bekommt.