Psychogenese versus Somatogenese

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H.-P.Haack (2009)


Die Dichotomie

In der Psychiatrie konkurrieren zwei pathogenetische Konzepte, ein geisteswissenschaftliches und ein naturwissenschaftliches: Psychogenese und Somatogenese.

Der naturwissenschaftlich orientierte Psychiatrie postuliert eine initiale biochemische Entgleisung, die zu neuronalen Störungen führt. Sekundär thematisiert die Psychose Befürchtungen oder Wertvorstellungen, die sich lebensgeschichtlich in der betreffenden Persönlichkeit verfestigt haben. Frühe Vertreter der naturwissenschaftlichen Psychiatrie, mehr intuitiv als neurowissenschaftlich gesichert, waren Reil (1803), Esquirol (1827) und Griesinger (1845). In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts sah sich die naturwissenschaftliche Psychiatrie bestätigt in den Erfolgen der Pharmakotherapie und pharmakologischen Rezidiv-Prophylaxe bei affektiven Störungen und Erkankungen aus dem schizophrenen Formenkreis. Stärker als diese Argumente sind jedoch die Forschungs-Ergebnisse der Neurowissenschaften der letzten Jahrzehnte.

Die Antithese, den psychogenetischen Ansatz, gibt es ebenfalls seit den Anfängen der Psychiatrie. Die geisteswissenschaftliche Psychiatrie bestreitet seit Heinroth (1818) die Regelhaftigkeit eines somatischen Basisgeschehens. Die Entstehung von psychischen Erkrankungen wird erlebnisreaktiv begründet. Ererbte Dispositionen werden nicht geleugnet, sind als Krankheitsursache jedoch von nachgeordneter Bedeutung.

Ein zentraler Begriff der geisteswissenschaftlich argumentierenden Psychiatrie ist die Psychodynamik, eine methodische Sicht, die auf Freud zurückgeht. Sie beinhaltet den Erklärungsversuch[1] der Psychoanalyse für intrapsychische Kausalitäten.

Der Einfluss der amerikanischen Psychiatrie favorisierte nach dem zweiten Weltkrieg in Deutschland das psychodynamische Ätiologiekonzept, mit psychoanalytischer Begriffsbildung. In den sechziger und siebziger Jahren wurde die naturwissenschaftliche Psychiatrie sogar als rückständig denunziert. Durch die Ergebnisse der Neurowissenschaften gewinnt die naturwissenschaftliche Psychiatrie allmählich wieder an Boden. Der Fokus der psychiatrischen Forschung verlagert sich damit aus der Lebenswelt auf die Organisations- und Funktionsmechanismen des biologischen Substrats.[2]

Vertreter der psychogenetischen (geisteswissenschaftlichen bzw. psychodynamischen bzw. anthropologischen) Richtung werden fachintern "Psychiker" genannt, die der naturwissenschaftlichen "Somatiker". Durchaus zutreffender kann man von „Interpreten“ und „Diagnostikern“ sprechen.


Die Konsequenzen

Die Verinnerlichung der einen oder anderen ätiologischen Prämisse durch den Behandler führt zu zwei grundverschiedenen therapeutischen Haltungen:

Eigenverantwortung des Patienten für seine Erkrankung bei dem Postulat einer psychogenen Entstehung oder
Entlastung des Patienten durch die Wertung der psychischen Erkrankung als ein biologisches Ereignis.

Diese Entlastung vermeidet oder mindert die Beschämung, stigmatisiert zu sein durch eine ehrenrührige Erkrankung. Sie unterhöhlt zudem nicht das therapeutische Bündnis zwischen Arzt und Patient, sie perhorresziert nicht die Einnahme von Psychopharmaka und sie macht auch nicht befangen gegenüber einer medikamentösen Rezidiv-Prophylaxe.

Eigenverantwortung und die daraus resultierende indirekte Schuldzuweisung, an einer Psychose erkrankt zu sein, sind im psychiatrischen Denken noch nicht überwunden. Von Versündigung (Heinroth 1825) ist inzwischen nicht mehr die Rede. An Stelle des pathogenen Agens Verfehlung wird heute Fehlanpassung gesetzt (z. B. als Ursache bei depressiven Erkrankungen) oder die nicht gelungene Bewältigung von Konflikten. Doch in einer Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft wiegt Scheitern so schwer wie Sündenlast.

Das psychodynamische Krankheitskonzept ist nicht frei von unterschwelliger Härte und Distanz. Es inthronisiert den Behandler und schafft eine Kluft in der Arzt-Patienten-Beziehung dem Arzt gegenüber, da sich bei einer Eigenverantwortung der Patient zwangsläufig seiner psychischen Erkrankung schämt.


  1. Peters, U. H.: Lexikon Psychiatrie Psychotherapie medizinische Psychologie. München Jena: Urban & Fischer 2000, S. 437
  2. Mundt, Ch. und M. Spitzer: Psychopathologie heute. In: H. Helmchen, F. Henn, H. Lauter, N. Sartorius (Hrsg.): Psychiatrie der Gegenwart. 4. Aufl. 1999, Bd. I, S. 39


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