Zum Inhalt springen

Annäherung an eine Kunstdefinition

Aus Wikiversity

H.-P. Haack

Die agnostisch-bequeme Formel „Es gibt keine einheitliche Definition für Kunst“ trifft nicht zu. Diese Resignation verrät mangelhaftes Sprachvermögen. Kognition und sprachlicher Ausdruck sind neuronal miteinander verbunden. Wer erkennt (kognitives Erkennen versus intuitives Erfassen), kann auch formulieren.

Essentielle Eigenschaften des Kunstwerkes

[Bearbeiten]

in aufsteigender Signifikanz:

Kunst versus Natur: Kunst ist Gestaltung, ist immer künstlich. Natürliche Gebilde gelten nicht als Kunstwerke. Ausnahme: Ein zufälliges Objekt, natürlich oder gefertigt, wird mit geringfügigen Zusätzen versehen (Halterung, Rahmen u. ä.) und vom anerkannten Künstler als Kunstwerk präsentiert (Objet trouvé).
Nutzen: Das Kunstwerk hat keinen Gebrauchswert (Oscar Wilde 1890). Eine Ausnahme macht die Architektur. Kunsthandwerk zählt nicht zu dieser Ausnahme. Kunsthandwerk soll wirken. Der Gebrauch ist hier zweitrangig. Industriedesign ist der Kunst verwandt, bildet jedoch eine eigene Kategorie.
Akzeptanz: Der Künstler macht mit seinen Arbeiten/Hervorbringungen ein Angebot. Die Rezipienten entscheiden über Kunst oder Nichtkunst, auch wenn diese Bestätigung Zeit braucht.
Breitenwirkung: Große Kunst befriedigt gleichermaßen schlichte Erwartungen wie hohe Ansprüche. Eine Kunst, die nur von Eingeweihten als solche erkannt wird, wird dem Wesen der Kunst nicht gerecht. Nietzsche und mit ihm Thomas Mann nannten diese Sicht des Künstlers auf sein Publikum „doppelte Optik“.
Geistige Zeitströmungen: Jede Epoche hat ihre eigenen Erwartungen an die Kunst und ihre Definitionen. So wurde z. B. im christlich geprägten Mittelalter nicht scharf unterschieden zwischen Handwerk und Kunst. Sprachliche Relikte sind Kochkunst und Buchkunst (attraktive Typographie und repräsentative Einbände).
Beständigkeit: Das Kunstwerk übersteht Trends und Moden, bleibt als schöne oder ansprechende Gestaltung wertbeständig.
Der ästhetische Imperativ: Kunst darf nicht nur, sie soll verschönen (ästhetisieren), soll Natürliches an Vollkommenheit übertreffen. (Oscar Wilde 1890: "Der Künstler ist der Schöpfer schöner Dinge.") Eine Kunst, die unschön gestaltet, ist bald vergessen. Im Kunstwerk ist selbst das Hässliche, wenn es dargestellt wird, ästhetisiert und wirkt nicht mehr hässlich, sondern erregt Anteilnahme oder Mitgefühl oder Heiterkeit (Komik). Auch abstrakte (ungegenständliche) bildende Kunst ist diesem Schönheitsgebot verpflichtet.
Wahrhaftigkeit und Moralität: Die Kunst ist der Wahrheit nicht verpflichtet (Nietzsche: „Der schöne Schein“), auch nicht der Ethik. Kunst ist ein unzuverlässiger Ratgeber.
Der Innovationszwang der Kunst: Der Künstler muss einen originären Stil finden, eine eigene Formensprache entwickeln.
Form und Inhalt: Form und Gestaltung machen eine Thematik zum Kunstwerk. Thema und Inhalt sind sekundär. Die Vermittlung des bloßen Inhalts ist noch kein Kunst-Ereignis, sondern Sache der Wissenschaft, Reportage, Information, Dokumentation. Und doch sind Thematik und Gehalt der Impetus, ein Kunstwerk zu schaffen, sofern es sich um Literatur und um gegenständliche Malerei/Plastik handelt, um Architektur oder Kunsthandwerk.
Ambiguität: Die Kunst der Moderne akzentuiert Widersprüche, vergleichbar der rhetorischen Figur des Oxymoron. „Zweideutigkeit als System“ (Thomas Mann 1947) ist der Wesenszug großer Kunst. Plakative Aussagen in bildender Kunst oder Dichtung (Literatur) sind ohne Kunstreiz. Mit anderen Worten: Ohne zwiespältige Emotionen keine Kunstwirkung. Kitsch, das Gegenteil von Kunst, ist immer eindeutig, nicht hinterfragbar. Er wiederholt tradierte natürliche Motive (keine abstrakten Themen) auf minderem Niveau. Kitsch bestätigt gemütvoll das bis zum Überdruss Bekannte.

Vorschlag einer Kunstdefinition

[Bearbeiten]

Kunst ästhetisiert die Antinomien des Lebens, ohne sie aufzulösen. Sie ist geniale Objektivität.

Nachbesserung (19.Jan.2013, nach der Einfügung von fremder Hand, s. u.), um den Begriff "Ästhetisieren" zu eliminieren:

Kunst macht die Antinomien [= unvereinbare Gegensätze] des Lebens durch gefällige Gestaltung [schön bis vollendet] akzeptierbar, ohne sie aufzulösen.

Was macht den Künstler zum Künstler?

[Bearbeiten]

Antrieb des Künstlers ist die Freude am Gestalten, der kreative Impetus. Zur handwerklichen Meisterschaft kommt, und das macht den Künstler zum Künstler, die individuelle, hochpersönliche Art der Formgebung hinzu, die unbeirrt durchgehalten wird. Sie muss für einen hinreichend großen Kreis von Rezipienten ästhetisch konsensfähig sein. Ruhmbedürftigkeit, die den Künstler zu Höchstleistungen treibt, ist nachgeordnet und steht an zweiter Stelle. (Fazit eines Gedankenaustauschs mit dem Cellisten Claudius Herrmann im Oktober 2011)

Zum Naturell des Künstlers

[Bearbeiten]

Zum Wesen des Künstlers gehört Wagemut. Doch Wagemut ist noch keine Kreativität. Und ein weiterer Gedanke: Der Betrachter von Gegenwartskunst soll sich immer bewusst sein, dass der Vollblutkünstler der geistige Bruder des Gauklers ist. Nietzsche meinte: „Was ist der Künstler? Ein Hanswurst“. Thomas Mann lässt den Teufel in seinem Roman „Doktor Faustus“ sagen: „Der Künstler ist der Bruder des Verbrechers und des Verrückten“ (Kapitel XXV). So beeindruckend das Charisma eines Künstlers auch sein mag, wenn er in der Öffentlichkeit auftritt oder man ihm gegenüber steht: Der Künstler ist in der Lage, Scharlatanerie und Ehrfurcht vor der Kunst miteinander zu verbinden (Thomas Mann: Das Wunderkind. Novelle.1903). Fünfzig Jahre später bekräftigt Thomas Mann diese Position: „Denn man weiß ganz genau, daß der Künstler kein moralisches Wesen ist, daß sein Grundtrieb das Spiel ist und nicht die Tugend, ja daß er sich in aller Naivität herausnimmt, mit den Fragestellungen und Antinomien der Moral auch nur dialektisch zu spielen.“ ("Der Künstler und die Gesellschaft" 1953).

Diese Eigenschaften setzen den Künstler nicht herab. Sie wertet Künstler und Kunstbegriff auf und rechtfertigen die Freiheit der Kunst.

Kunst versus Dekoration

[Bearbeiten]

Für die bildende Kunst kommt man nicht umhin, sich zu fragen, ob, wenn sie auf Inhalt verzichtet, wie z. B. Werke mit dem Titel „Ohne Titel“, ob diese Arbeiten nicht im Dekorativen stecken bleiben, - selbst wenn sie von Sammlern, auch vom Verfasser dieses Beitrags [1], Museumskuratoren und Kritikern als Kunst gewertet werden. Dekoratives hervorzubringen ist kreativ, aber noch keine künstlerische Leistung.

Kunstwerk oder Kunststück

[Bearbeiten]

Denn der innere Gehalt des bearbeiteten Gegenstandes ist der Anfang und das Ende der Kunst. Man wird zwar nicht leugnen, daß das Genie, das ausgebildete Kunsttalent, durch Behandlung aus allem alles machen und den widerspenstigsten Stoff bezwingen könne. Genau besehen, entsteht aber alsdann immer mehr ein Kunststück als ein Kunstwerk. (Dichtung und Wahrheit, zweiter Teil, siebentes Buch)

Innerer Gehalt kann Tragik bedeuten, die Ahnung großer Zusammenhänge (etwa in der Lyrik) oder die hintergründige Ambiguität von Tragik und Komik. Thomas Mann hatte angemerkt, dass Tragödie und Posse aus ein und derselben Wurzel kommen. Eine Beleuchtungsdrehung verwandelt die eine in die andere; die Posse ist ein geheimes Trauerspiel, die Tragödie – zuletzt – ein sublimer Jux. (Leiden und Größe Richard Wagners 1933)

Kunst versus Wissenschaft

[Bearbeiten]

Kreativ sind beide. Die Wissenschaft schafft Wissen, das sich durch Überprüfung bestätigen lässt (z. B. im Experiment) oder das Voraussagen zulässt (Naturgesetze). Die Kunst sucht Wirkung, emotionale Wirkung. Faktisches und Wahrheitsgehalt sind in der Kunst zweitrangig.

Wissenschaft fordert höchste Objektivität, Kunst dagegen meint höchste Subjektivität, erwartet einen persönlichen, induviduellen Stil. Sie ist Bekenntnis.

Wissenschaft soll zuverlässig sein. Kunst spielt mit Formen und Motiven, ernst, erhaben, humorvoll oder schaurig. Künstlerische Ironie zeigt zugleich die Kehrseite, dabei häufig offen lassend, welches denn die Kehrseite eigentlich ist. So kann Kunst in Heiterkeit hintergründigen Ernst oder gar Grauen durchscheinen lassen und in ernsten Sujets kalkulierte Komik. Derartige emotionale Dissonanzen potenzieren Kunstwirkung, wenn dieser Zwiespalt nicht - so wird es sich wohl verhalten - für die Kunst unabdingbar ist. Kitsch - Nichtkunst par excellence - ist plakativ und eindeutig. Er evoziert keine Spannung.

Der anthropologische Aspekt

[Bearbeiten]

Kunst wird in der Menschheitsentwicklung erstmals im Aurignacien sichtbar, vor ca. 40.000 Jahren. In diese archäologische Kulturepoche fällt die Einwanderung des Homo sapiens in Europa. Mit ihm tritt ein neuer Menschtypus auf, der über Abstraktionsvermögen verfügt. Der angestammte Mensch, auf den der Einwanderer traf, der Neandertaler, besaß diese zerebrale Fähigkeit nicht. Abstraktionsvermögen des modernen Menschen schuf aus dem bis dahin vorhandenen Vokabular die Sprache und ließ Kunst entstehen. Erst ca. 30.000 Jahre später, nach Entdeckung des Kalenders (Voraussetzung für Ackerbau und Viehzucht), setzte die technologische Entwicklung ein.