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Gedanken zu Stanley Cavells "Der Anspruch der Vernunft"

Aus Wikiversity

Untertitel: Schrei der Vernunft oder Anspruch auf Liebe?

(Hans-Peter Kolb, Hannover)

Zusammenfassung des Manuskripts

  • Lernziele: Verständnis von Cavells Philosophie
  • Sind Co-Autoren gegenwärtig erwünscht? Inhaltliche Änderungen bitte nur auf die Diskussionsseite schreiben, ich füge sie an geeigneter Stelle ein!
  • Themenbeschreibung: Siehe Vorwort, insbesondere wird versucht, eine Beziehung zwischen Cavells Gedanken und Phantasien bezüglich eines Anspruchs auf Vernunft und meiner Interpretation davon als Schrei nach Liebe herzustellen (siehe Untertitel: Schrei der Vernunft oder Anspruch auf Liebe?)
  • Aufbau des Manuskripts: Siehe Vorwort. In der Gliederung halte ich mich an das in der Literaturliste aufgeführte Buch von Cavell(2006)

Vorwort

Als ich die ersten beiden Abschnitten des Buches „Der Anspruch der Vernunft“ (Cavell, 2006) las, drängte sich mir der Verdacht auf, dass bei der Gegenüberstellung des traditionellen Philosophen und des Philosophen der Alltagssprache ersterer eine Not erlebt hatte, worüber er im Alltag nicht sprechen konnte, weswegen ihn letzterer nicht verstand, und dass die Skepsis des traditionellen Philosophen sich als Folge eines Vertrauensbruchs und als Schrei nach Liebe interpretieren lässt. Wenn man das Erlebnis des traditionellen Philosophen, das ihn zu seiner Skepsis führte, als Missbrauch und den Zusammenhang, in dem es stattfand, als den vertrauten Kreis der Familie nimmt, dann wird klar verständlich, warum er die Frage aufwirft, was es denn eigentlich sei, auf die es keine Antwort gibt außer: „Nenne es, wie du willst, es ist doch, was es ist“ (ebenda, S. 396). Dieser Gedanke kam mir sofort – vielleicht weil ich beruflich als Psychotherapeut so oft Missbrauchsopfern mit ähnlicher Skepsis begegnet bin – und Cavells Buch liest sich mit diesem Gedanken im Hintergrund wie ein spannender Psychothriller, bzw. man könnte so etwas durchaus daraus machen, wenn man den Erkenntnistheoretiker und den Alltagsphilosophen in entsprechenden Dialogen sich auseinandersetzen ließe und der Alltagsphilosoph den traditionellen Philosophen immer stärker bedrängte, und dieser daraufhin antwortete, wer so etwas nicht erlebt habe, könne es nicht erfassen, er könne höchstens sehen, wie es sich von außen darstelle, aber nicht wie jemand, der es hautnah erlebt habe. In Anlehnung an Kant möchte ich sagen, Missbrauch in der Familie übersteigt „alles Vermögen der menschlichen Vernunft“ (siehe Vorrede zur ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft).

Beim Durcharbeiten des dritten Abschnitts über das Thema Moral ging es mir erst einmal um Grundlegendes, nämlich um die Gründe von Moral, und was ein moralisches Urteil begründen kann, sodann darum, was passiert, wenn man versucht, den emotionalen Gehalt von Moral wegzurationalisieren, anschließend um den Gegensatz zwischen Utilitarismus und Deontologie und zum Schluss um den Sinn von Moral und Ethik, was daran vernünftig ist. Gerade beim Thema Moral zeigt sich, wie wichtig es ist, dass Geist und Psyche sich im Gleichgewicht befinden.

In den folgenden Abschnitten greife ich verschiedene Themen auf, die Cavell im vierten Abschnitt seines Buches (Cavell, 2006) aneinandergereiht hat, oder die sich daraus für mich ergeben haben. Unser Getrennt-Sein voneinander geschieht auf seelischer, geistiger und körperlich-sinnlicher Ebene und kann dort auch jeweils angegangen werden. Wenn auch nicht systematisch aufgeführt, kann man dies bei Wittgenstein (Wittgenstein, 2001) finden. Bei der Darstellung von Möglichkeiten der Selbstfindung habe ich Wittgensteins Begriff des Aspekts, die Entwicklung des Selbst aus der Sicht der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie (Fonagy, Gergely, Jurist, & Target, 2008) und Gedanken der Kyoto-Schule über verschiedene Widersprüchlichkeiten und Gegensätzlichkeiten, die ich schon früher verarbeitet habe (Kolb, Das absolute Nichts und die Liebe, 2012), miteinander verbunden. Unsere Vorstellungen von Geist, Seele, Körper, Ich und Selbst in der Alltagssprache und in Mythen und Märchen sind im nächsten Kapitel thematisiert, und es wird schließlich ein Weg aufgezeigt, wie wir unsere Fiktionen von der Welt und von uns überwinden und die Bedingung menschlicher Isolierung, das tragische Ergebnis des Skeptizismus, beenden können. Auf eine dieser Fiktionen, das Thema Beseelung oder Fleischwerdung, gehe ich dann im Folgenden explizit ein, und unter Heranziehung des psychoanalytischen Modells des Erlebens im Als-ob-Modus und im Äquivalenz-Modus, welches ich aber aus Wittgensteins Vorstellung des Körpers als bestes Bild der Seele und der von Cavell aufgeführten gegensätzlichen Vorstellung des Körpers als Hindernis, uns selbst und andere zu erkennen, philosophisch herleite, entwickle ich daraus grundlegende Prinzipien für Behandlungsansätze von neurotischen und psychotischen Störungen. Als Beispiel für Letzteres dient Nietzsches Leben, wie es von Alice Miller dargestellt wurde (Miller, 1996). Ergänzend zu diesem Thema stelle ich mein Modell der Psychologik der Liebe (Kolb, Das absolute Nichts und die Liebe, 2012) vor, bei dem Seele, Geist und Körper jeweils gleiches Gewicht haben, da sie in einem absolut dialektischen Verhältnis zueinander stehen, wie dies bei Tanabe dargestellt ist (Tanabe, 2011), und beziehe mich anschließend auf Cavells Diskussion des Menschenbildes von Aristoteles und Kant. Schließlich weise ich darauf hin, dass das Thema Beseelung oder Fleischwerdung uns auch bei dem Problem begegnet, wie stark unsere Entwicklung von der Umwelt oder von unseren Erbanlagen bestimmt wird. Durch eine Überbetonung des Geistig-Idealen machen wir aus Menschen Statuen, durch eine Überbetonung des Körperlich-Materiellen entsprechend Puppen, und bei einer Überbetonung des Seelisch-Motivationa¬len laufen wir Gefahr, uns zu vernichten oder süchtig und abhängig zu machen. Aber auch bei gleicher Betonung von Körper, Geist und Seele stellt sich die Frage nach dem Mensch-Sein, was es ist und wie wir es erkennen können. Dabei geht es immer wieder um den Idealfall des Skeptikers für das Fremdpsychische: es ist der Fall, bei dem es um Vertrauen und um Liebe geht, den Cavell schließlich nicht nur in der Philosophie sucht, sondern auch in der Literatur, vor allem bei Shakespeares Dramen und Tragödien. Parallel zu Cavells Ausführungen habe ich diese immer wieder anhand des Schemas Psyche-Geist-Materie bzw. Individuum-Spezies-Genus analysiert und zum Vergleich meinen Begriff der vollkommenen Liebe herangezogen, den ich vom Modus des Individuums aus betrachtet als echtes und unmittelbares Verstehen des Worumwillens von allem Seienden umschrieben habe, vom Modus der Spezies aus als absichtsloses Handeln im Sinne des Taoismus (also weder technisch noch hypothetisch, sondern kategorisch im Sinne von Kant) und vom Modus des Genus aus als vollkommene Harmonie unter allen Menschen bzw. als absolute Freiheit des einzelnen und absolute Gleichheit von allen. Cavells »seinen Skeptizismus leben« ist dann zum Beispiel nichts anderes als Lieben-Lernen. Die zentrale Rolle, die der Skeptizismus bei Cavell offensichtlich spielt, beruht darauf, dass nach meiner Analyse des Skeptizismus ursprünglich, wesenhaft und unhintergehbar mit unserer Herkunft und endgültig und unüberholbar mit unserer Sterblichkeit, dem Tod und unserer Zukunft verbunden ist. Daher ist in unserem Leben der Skeptizismus ständig anwesend und erst beim Erreichen des utopischen Ziels der vollkommenen Liebe vollständig überwunden.


Stanley Cavells Wittgenstein-Interpretation

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Stanley Cavell begreift Philosophie „als eine Menge von Texten“ (Cavell, 2006, S. 41), und „dass der Beitrag eines Philosophen [...] nicht als ein Beitrag zu einem festen Problembestand [...] zu verstehen ist“ (ebenda, S. 41 f.), sondern als „eine Bemerkung über Texte [...], deren Inhalt in Problemen einer bestimmten Sorte besteht“ (ebenda, S. 42). Welche Sorte von Problemen? Meines Erachtens von Problemen, die mit dem Verstehen und dem Sinn von etwas zu tun haben, was im weitesten Sinn unser Mensch-Sein betrifft. Verstehen und Verständnis muss entsprechend ausdrucksstark sein, sonst erreicht es seine Adressaten nicht. In Bezug auf Wittgenstein erstaunt es Cavell, dass, „obwohl Wittgensteins Philosophieren umfassender als jedes andere auf die menschliche Stimme achtet, [...] seine Lehre wesentlich etwas Geschriebenes ist, dass einiges, für seine Lehre Essentielles nicht gesagt werden kann.“ (ebenda) Daher vermutet er, „dass einige der von ihm gesagten Dinge den Kreis von Menschen verloren haben oder erst noch finden müssen, in dem sie nutzbringend gesagt werden können.“ (ebenda) Hier taucht für mich schon der erste Verdacht auf, dass Wittgenstein oder allgemein jeder Philosoph oder jede Philosophin etwas Besonderes erlebt und irgendwie verstanden haben muss, was er oder sie ausdrücken möchte und Adressaten sucht, denen dieses Verständnis nutzen kann und die ihm oder ihr auch antworten, sodass ein Austausch stattfindet.

Wittgensteins Kriterien

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Als Philosoph der Alltagssprache beschreibt Wittgenstein, nach welchen Kriterien wir die Eindrücke von dem, was wir in der Welt erleben, mit unseren Sinnen wahrnehmen und begreifen, um sie dann weiter zu verarbeiten, also emotional zu bewerten und befindlich zu verstehen und das so Verstandene auszudrücken, wobei es Wittgenstein vor allem um den Aspekt geht, worin dabei jeweils der sprachliche Ausdruck besteht, auch dessen Privation, das Schweigen. Wenn man das, was zwischen Eindruck und Ausdruck geschieht, einen ›inneren Vorgang‹ nennt, so lässt sich das eben Gesagte auf den §580 von Wittgensteins „Untersuchungen“ (Wittgenstein, 2001, S. 962) zurückführen: „Ein ›innerer Vorgang‹ bedarf äußerer Kriterien.“ Kriterien sind also Hinweise, die wir teilweise als solche wahrnehmen (teilweise sind sie uns aber auch nur erschlossen) und von denen wir uns in jedem Fall leiten lassen (dadurch können wir sie immer erschließen bzw. sind sie uns schon erschlossen). Sie sind insofern objektiv, als dass sie generell von allen in einer Sprachgemeinschaft geteilt werden, auch wenn sie nicht immer und von allen konsequent angewendet werden, aber nicht insofern, als dass sie mit absoluter Sicherheit auf etwas objektiv Vorhandenes hinweisen. In dieser Hinsicht sind die Kriterien vom Skeptizismus bedroht, der zwar nicht bezweifelt, ob es überhaupt etwas gibt, der aber in Frage stellt, inwieweit wir uns auf unsere Sinne verlassen können. Aus der Neurobiologie und der Hypnoseforschung wissen wir, dass wir etwas als vorhanden wahrnehmen, wenn entsprechende kortikale Gebiete stimuliert werden, wir können aber nicht unterscheiden, ob die Stimulation von dem entsprechenden Sinnesorgan herrührt oder von etwas anderem. Insofern hat der Skeptizismus eine physiologische Grundlage. Für mich aber ist es eine wichtige Frage, wie und wodurch in einem Menschen eine derartige skeptische Haltung entstehen kann, zumal es schon sehr lange Skeptikerinnen und Skeptiker gibt, lange bevor man das Gehirn derart erforschen konnte. Sicherlich gibt es noch andere Möglichkeiten der Sinnestäuschung, die schon sehr früh entdeckt wurden, gegen die man aber auch Methoden erfand, um ihren möglichen Einfluss so gering zu halten, dass man praktisch gut damit umgehen konnte. Auch wenn man von einem Wettlauf ausgeht, dass immer wieder neue Täuschungsmöglichkeiten auftauchen, gegen die wieder neue Methoden erfunden werden müssen, so kann man doch „vernünftigerweise“ annehmen, dass keine Täuschung sich lange halten kann. Statt Vernunft sollte ich an dieser Stelle sinnvoller Vertrauen sagen, und zwar das Vertrauen in unsere Fähigkeiten, Täuschungen immer wieder zu entdecken, und das Vertrauen in die Redlichkeit von uns Menschen, aus irgendwelchen Motiven heraus das Entdeckte nicht zu verschweigen. Es geht dabei letztlich um die Frage, ob und was wir überhaupt wissen können und wissen wollen.

Der Skeptizismus bzw. die Skeptikerinnen und Skeptiker stellen also die Vertrauensfrage, ob und was wir können und wollen. Wenn jemand eine Vertrauensfrage stellt, so ist das ein Kriterium (im Sinne Wittgensteins) dafür, dass er oder sie misstrauisch ist, weil er oder sie etwas Schlimmes für sich oder bei einem anderen erlebt hat, was zu einem Vertrauensbruch geführt hat. Natürlich – und das ist nach Cavells Interpretation (Cavell, 2006, S. 46 ff.) auch im Sinne Wittgensteins – ist damit keine Gewissheit festgestellt, dass jeder, der eine Vertrauensfrage stellt, unbedingt einen Vertrauensbruch erlebt hat. Auch nicht jeder, der so etwas erlebt hat, stellt diese Frage, der Vertrauensbruch kann so schlimm sein, dass der oder die Betreffende sich deshalb ganz zurückzieht und überhaupt nicht mehr nach Vertrauen fragt, weil dieses Thema für sie oder ihn durch ist und er oder sie dafür keine Sprache mehr hat. Und damit sind wir bei dem zweiten Punkt, den Cavell zur Charakterisierung von Wittgensteins Verwendung des Begriffs Kriterium anführt (ebenda, S. 58), dass Kriterien in diesem Sinne nur von Wesen verwendet werden, die Sprache besitzen und für die es Werte gibt, und auch nur auf Belange von Wesen angewendet werden können, die sprechen und bewerten können. Da dies nur für uns Menschen zutrifft, wie ich im ersten Kapitel von „Die Philosophie der Kyôto-Schule“ (Kolb, 2012) ausgeführt habe, weil andere Lebewesen nicht die Entwicklungsstufe des „repräsentationalen Selbst“ (Fonagy, Gergely, Jurist, & Target, 2008, S. 212) erreichen, auf der erst Werturteile gefällt werden können, bilden die Kriterien von Wittgen¬stein nach dem, was ich anfangs mit Cavell als Philosophie bezeichnet habe, ein absolut philosophisches Thema. Durch umfassende Untersuchungen möglichst vieler Kriterien können wir immer näher an den Ursprung der Sprache und damit an den Ursprung unseres Denkens gelangen, denn Sprache ist Ausdruck unseres Denkens, und sie macht unser Denken explizit, so dass wir es beobachten und immer weiter zurückverfolgen können in Richtung seines Ursprungs. Da Sprache nur in Gemeinschaften entsteht und sich entwickelt, bedeutet dies, dass unser Denken auch nur in Gemeinschaften entstehen und sich entwickeln kann. Von dem Neurobiologen Gerald Hüther habe ich in einem Vortrag gehört: „Ein Gehirn existiert niemals allein.“

Der dritte Punkt, den Cavell als Besonderheit von Wittgensteins Kriterien herausstreicht, ist der: „Die Kriterien, an die Wittgenstein appelliert [...], sind immer »unsere«.“ (Cavell, 2006, S. 63) Es sind die Kriterien der jeweiligen Sprachgemeinschaft oder sogar „die der Menschen im allgemeinen“ (ebenda). Das ist die erwähnte Objektivität der Kriterien. Sie ist an eine Gemeinschaft gebunden, an ein Wir-Gefühl, an ein gemeinsames Wertesystem, an eine Moralität. Jeder Mensch hat implizit oder explizit ein Wertesystem, welches er innerhalb einer Gemeinschaft mit anderen teils entwickelt, teils aber auch nur so übernommen hat, weswegen er vieles davon gar nicht explizit benennen kann. Wenn ein anderer andere Kriterien und Werte vertritt als ich, dann gibt es diesbezüglich kein Richtig oder Falsch, falls wir uns auf keine Gemeinsamkeit einigen können, es gibt dann in derartigen Bereichen kein Wir, keine Gemeinschaft. „Die philosophische Berufung auf das, was wir sagen, und die Suche nach Kriterien, in deren Licht wir sagen, was wir sagen, setzen eine Gemeinschaft voraus.“ (ebenda, S. 66) Da wir Kriterien und Werte brauchen, um in der Welt mit uns und anderen zurechtzukommen, müssen sie vernünftig sein, und weil mehrere Menschen zusammen mehr Fähigkeiten haben als einer allein, ist es vernünftig, Gemeinschaften zu bilden, vorausgesetzt, wir können auch Vertrauen zueinander haben, dass niemand die anderen übervorteilen will. Wenn Cavell feststellt: „Wunsch und Suche nach Gemeinschaft sind Wunsch und Suche nach Vernunft.“ (ebenda), dann kann ich das erweitern zu: ‘‘Wunsch und Suche nach Vernunft sind Wunsch und Suche nach Vertrauen‘‘. Was das Vertrauen betrifft, so sind wir gegenseitig aufeinander angewiesen, aber inwieweit können wir jeweils uns selbst vertrauen, da wir doch so vieles von uns selbst gar nicht wissen? „Manchmal kann es so scheinen, als hätte Wittgenstein es unternommen, unsere Geheimnisse auszusprechen, Geheimnisse, von denen wir nicht wussten, dass sie bekannt sind, oder nicht wussten, dass wir sie teilen.“ (ebenda, S. 67) Traditionellerweise sollte Philosophie „vom Ich weg- und nicht auf es hinweisen“ (ebenda, S. 68). In diesem Zusammenhang weist Cavell auf den § 52 (Wittgenstein, 2001) (auf S. 779), wo es am Ende heißt: „Was es aber ist, das sich in der Philosophie einer solchen Betrachtung der Einzelheiten entgegensetzt, müssen wir erst verstehen lernen.“, um dann festzustellen: „So bin ich es denn, ich selber, was »sich in der Philosophie einer solchen Betrachtung der Einzelheiten entgegensetzt«.“ (Cavell, 2006, S. 69) Bei einer derartigen Betrachtung könnte sich nämlich herausstellen, dass mein Vertrauen in andere und in mich selbst nicht gerechtfertigt ist, d.h. ich bin misstrauisch, auch wenn bzw. gerade weil ich nichts davon wissen will, dass ich misstrauisch bin. Ich bin es also selber, der sich einer solchen Betrachtung der Einzelheiten entgegensetzt, weil ich mir selbst und meiner Gemeinschaft implizit nicht vollkommen vertraue, ob sie oder ich fähig und redlich ist bzw. bin, also von Grund auf wissen will und kann. Misstrauen kann mich selbst lähmen und mein eigenes Nest beschmutzen. Insofern erfordert der Skeptizismus eine entsprechende Überwindung der Angst vor dem Nichts, wenn ich weder mich noch ein Nest habe.

So betrachtet bewegt sich Wittgenstein auf einem schmalen Grat zwischen Alltagsphilosophie und Skeptizismus. Hier wird eine ähnliche Diskussion angefacht, wie sie nach Humes Angriff auf die Idee eines Gesellschaftsvertrags in der Geschichte der neuzeitlichen Philosophie stattfand. Verallgemeinernd kann man sagen, es handle sich dabei um philosophische Untersuchungen zur Idee der Übereinkunft, sei es über die wechselseitige Bedeutsamkeit der Wörter einer Sprache oder über andere Bereiche des gemeinschaftlichen Zusammenlebens. Dabei geht es meines Erachtens um die Themen der Selbstbestimmung und der gegenseitigen Bestimmung von Menschen in einer Gemeinschaft. Am Anfang seines Lebens muss jeder Mensch, bevor er sich selbst bestimmen kann, erst einmal sein Selbst auf verschiedenen Entwicklungsebenen finden, wobei seine primäre Bezugsperson, in der Regel seine Mutter, ihn in diesem Entwicklungsprozess dadurch unterstützt, dass sie ihn bestimmt und sich selbst von ihm allmählich immer mehr bestimmen lässt. Dabei lernt er zugleich, sich selbst immer mehr auf der jeweiligen Entwicklungsstufe zu bestimmen. Es sind dies aufeinander aufbauend die Ebenen des „physischen Selbst“, des „sozialen Selbst“, des „teleologischen Selbst“, des „intentionalen Selbst“ und des „repräsentationalen Selbst“ (Fonagy, Gergely, Jurist, & Target, 2008, S. 212), mit den entsprechenden Gegensätzlichkeiten Bejahung-Verneinung der Selbstbestimmung (aktiv-passiv), objektiv-subjektiv, kontinuierlich-diskontinu¬ier¬lich, linear-zirkulär und räumlich-zeitlich (Kolb, 2012, S. 7, 1. Kapitel), bei denen es jeweils zu Konflikten mit der Mutter und später auch mit allen anderen Menschen, mit denen sich ein Kontakt entwickelt, kommen kann. Je nachdem, wie diese Konflikte gelöst werden und welche Bereiche sie betreffen, wird der betreffende Mensch die verschiedenen Übereinkünfte, die in der jeweiligen Gemeinschaft, in der er Mitglied ist, schon zuvor getroffen wurden, akzeptieren oder sich in irgendeiner Form dagegen auflehnen. Da es im Bereich der Sprache und der Verständigung in der Regel darum geht, sich beim anderen verständlich zu machen und zu verstehen, worum es dem anderen geht, gibt es hier kaum Konflikte, so dass es kein Wunder ist, dass es bei Menschen derselben Sprachgemeinschaft so große Übereinstimmungen gibt, was die Bedeutsamkeit von Worten in der Alltagssprache betrifft. (Selbst wenn ein Untergebener seinen Chef absichtlich missversteht, um dadurch irgendeinen Vorteil zu bekommen, so liegt der dahinter stehende Konflikt nicht im Bereich des Sprachlichen, denn eigentlich hat er seinen Chef ja vollkommen richtig verstanden.) Wittgensteins Idee der Grammatik fasst das in diesem Abschnitt Beschriebene nach Cavell so zusammen: „dass Sprache etwas Gemeinsames ist, […] und dass unser Gebrauch der Sprache durchgängig und geradezu unvorstellbar systematisch‘‘ ist.“ (Cavell, 2006, S. 81 f.)

Wenn wir untersuchen, was wir „unter welchen Umständen oder in welchen besonderen Fällen sagen [würden, so behauptet Wittgenstein, dass] […] wir im Verlauf solcher Untersuchungen[, die er grammatisch nennt, unsere Kriterien] entdecken“ (ebenda, S. 82) würden. Diese Behauptung Wittgensteins gewinnt laut Cavell ihre Signifikanz dadurch, „dass es einen Hintergrund durchgehender und systematischer Übereinstimmung unter uns gibt, den wir nicht wahrgenommen haben oder von dem wir nicht wussten, dass wir ihn wahrnehmen. Wittgenstein nennt es manchmal Konventionen, manchmal Regeln.“ (ebenda, S. 82 f.) Solange es keine Konflikte gibt, die das Interesse schmälern, sich beim anderen verständlich zu machen und zu verstehen, worum es dem anderen geht, gibt es diese durchgehende und systematische Übereinstimmung, und solange diese durchgehende und systematische Übereinstimmung besteht, gibt es das Interesse, sich beim anderen verständlich zu machen und zu verstehen, worum es dem anderen geht. Welcher Art sind nun die Konflikte, die dieses Interesse verringern könnten? Es sind Konflikte, bei denen keine Übereinstimmung gefunden werden kann, um ein gemeinsames Urteil zu fällen, und zwar weil eine Seite oder beide das Worumwillen der jeweils anderen nach deren Meinung nicht versteht. In jedem Fall existiert also ein Unverständnis auf mindestens einer Seite, d.h. es gibt hier keine Übereinstimmung hinsichtlich eines oder mehrerer Kriterien, und das kann eigentlich nur bedeuten, dass die betreffenden Kriterien nicht akzeptiert oder nicht genügend wahrgenommen werden, denn sonst könnte man darüber reden und wenigstens verstehen, worum es jeweils geht. Wenn das Un- oder Missverständnis ausgeräumt ist, besteht kein Konflikt mehr im sprachlichen Bereich. Wann kann ich denn ein Kriterium eines anderen nicht wahrnehmen? Doch nur dann, wenn es keines von meinen eigenen ist und der Gesamtheit meiner Kriterien widerspricht. Wenn wir also keine unterschiedlichen Kriterien haben, dann gibt es keine Konflikte im sprachlichen Bereich, so dass wir ein gleich bleibendes Interesse haben, sich beim anderen verständlich zu machen und zu verstehen, worum es dem anderen geht, und damit einen gemeinsamen Hintergrund durchgehender und systematischer Übereinstimmung. Sobald wir aber unterschiedliche Kriterien haben, können wir Sprache nicht mehr so verwenden, dass wir Un- oder ein Missverständnis ausräumen können. Wir verlieren das Vertrauen zueinander, das Wir-Gefühl, wir entfremden uns und haben keine Basis mehr für gemeinsame Übereinkünfte, d.h. wir haben keine Übereinstimmung mehr in dem, was Wittgenstein »Lebensform« nennt. Am Anfang unseres Lebens ist uns mit unserer Mutter ein „natürliches“ Wir-Gefühl gegeben, ein Urvertrauen, auf dem aufbauend wir gemeinsam mit ihr immer mehr Übereinkünfte treffen bzw. diejenigen, die schon zwischen ihr und anderen bestehen, übernehmen können und so in eine menschliche Gemeinschaft hineinwachsen, was sich entsprechend in der Sprachentwicklung zeigt. Insofern sieht es für mich im Gegensatz zu Cavell nicht so aus, „als würde das Pferd von hinten aufgezäumt“ (ebenda, S. 83). Man kann hier meines Erachtens deutlich erkennen, dass Kriterien, Sprache und Vernunft im Wesentlichen von Vertrauen abhängen.

Wenn ich an dieser Stelle einmal die Alltagssprache bemühen darf, um die Zusammenhänge zwischen Vernunft, Gemeinschaft und Vertrauen zu analysieren, wie sie sich dort darstellen, so ergibt sich folgendes: Vernunft bedeutet, dass ich Vernommenes beachte und dadurch vernünftig bin. Vernehmen bedeutet hören, und das hängt mit Zugehörigkeit, also mit Gemeinschaft zusammen. Wenn ich das, was ich in einer Gemeinschaft von anderen höre und vernehme, entsprechend beachte, dann vertraue ich dem so Vernommenen, und solange ich nichts vernehme, was dieses Vertrauen beschädigt, ist dies vernünftig. Dem Begriff der Vernunft verwandt ist die Einsicht, nur geht es hier nicht um die Sinnesmodalität des Hörens, sondern um die des Sehens. Etwas einsehen, in etwas hineinsehen bedeutet, Zusammenhänge zu erkennen, zum Beispiel auch Zusammenhänge innerhalb einer Gemeinschaft. Um vom anderen noch besser vernehmen zu können, kann auch Empathie, also Einfühlungsvermögen, wichtig sein, so dass hierbei auch die restlichen Sinne mit eingeschlossen sind, nämlich der Tastsinn (mit den Fingern fühlen und befühlen), der Geruchssinn (ich kann jemanden riechen) und der Geschmackssinn (ich verstehe, woran jemand Geschmack findet), sodass alle Sinne bei Vernunft und Vertrauen beteiligt sind. Insbesondere Vernunft ist daher in doppelter Weise sinnvoll. Somit sind einige Zusammenhänge von Vernunft, Gemeinschaft und Vertrauen, so wie sie in der Alltagssprache zu finden sind, sowie die Rolle all unserer Sinne bei diesen Betrachtungen deutlich geworden.

Nach Cavell liegt die philosophische Motivation Wittgensteins einerseits „in der Beobachtung, dass die Worte eines Menschen auf die der anderen eingestellt sind“ (ebenda, S. 86), andererseits „treibt ihn die Beobachtung, dass sie manchmal aus dem Gleichschritt sind, dass sie nicht übereinstimmen [...], und die fraglichen Nichtübereinstimmungen treten in der Regel nicht zwischen Philosophen auf, sondern zwischen Philosophen und den Worten eines gewöhnlichen Menschen“ (ebenda). Meiner Meinung nach stellen sich Philosophen damit außerhalb der Gemeinschaft der „gewöhnlichen Menschen“. Da sie sich ja nicht zurückziehen, sondern in die Öffentlichkeit gehen mit Publikationen und Vorträgen beispielsweise, erheben sie damit einen Führungsanspruch, oder wollen sie Vermittler sein? Von was? Von Vernunft? Wahrheit? Oder Weisheit? In erster Linie säen sie Zweifel, indem sie Dinge hinterfragen, die „gewöhnliche Menschen“ niemals hinterfragen würden. (Dinge hinterfragen, die man normalerweise nicht hinterfragt, das macht auch der Grammatiker, denn wir beherrschen unsere Muttersprache auch ohne sie – wahrscheinlich nen¬nt Wittgen¬stein seine Betrachtungen auch deswegen grammatisch.) Das „Hinterhältige“ von Zweifeln ist ja, dass man sie meistens weder verifizieren noch widerlegen kann, und das trifft auf die philosophischen Zweifel auf jeden Fall zu. Auf diesem Hintergrund verstehe ich Wittgensteins § 128 (auf S. 815): „Wollte man Thesen in der Philosophie aufstellen, es könnte nie über sie zur Diskussion kommen, weil Alle mit ihnen einverstanden wären.“ Cavell interpretiert dies so: eine These, die philosophisches Wissen vorbrächte, „ließe sich nicht in Worte fassen“ (Cavell, 2006, S. 88). Wie soll man auch das Wissen äußern oder vorbringen, auf dem ein bestimmter philosophischer Zweifel beruht? Da wir den Zweifel weder bestätigen noch falsifizieren können, würden wir nicht verstehen, wie man über das dahinterliegende Wissen diskutieren kann. Deswegen käme auch niemand auf die Idee, dieses Wissen explizit zu formulieren, es könnten nur Gemeinplätze dabei herauskommen. Diskutierbar und diskussionswürdig dagegen ist die Frage, wie sinnvoll oder vernünftig manche philosophischen Zweifel sind. Wo kommen sie her, wo führen sie hin, woran sind wir mit ihnen im Moment und worüber geben sie uns Auskunft?

Vielleicht fragt sich der Leser, wie ich auf diese Fragen komme, und weswegen ich sie für so sinnvoll und vernünftig halte. Die allgemeinste Sinnfrage ist ja die nach dem Sein, die ich mit der Prozesshaftigkeit beantwortet habe (Kolb, 2011) mit ihren vier Ekstasen Herkunft, Zukunft, Ankunft und Auskunft (ebenda, 9. Kapitel). Auf diesen vier „Entrückungen“ beruhen obige vier Fragen, deren Antwort damit den Sinn dessen abdecken, worüber wir fragen (philosophische Zweifel). Da ich diese vier Ekstasen mit den vier Fragen danach, was Leben ist, wer ich bin, wer oder was ein anderer ist und was Lieben ist, verknüpft habe, in die ich die Seinsfrage entfalten konnte und die uns zum Ursprung unseres Denkens zurückführen können (Kolb, 2012, S. 98 ff., Kapitel 10), ergeben sich daraus folgende vier sinnvolle Fragen an philosophische Zweifel: Was haben sie mit dem Leben zu tun, was mit mir selbst, was mit anderen in meiner Gemeinschaft und was mit dem einander Lieben. Leben beschreibt dabei die Beziehung zum Sein überhaupt bzw. zum absoluten Nichts, und Lieben ist umschrieben durch die Handlungsanweisung des echten und unmittelbaren Verstehens des Worumwillens von allem Seienden (ebenda, 2. Kapitel). Wenn also Zweifel auftauchen, „wenn unser Aufeinander-Eingestelltsein in eine Krise gerät“ (Cavell, 2006, S. 88), dann sind solche Fragen sinnvoll. „Dann beginnen wir, nach uns selbst zu suchen, indem wir die Kriterien, in denen wir übereinstimmen, suchen und darlegen.“ (ebenda) Mit Hilfe der Suche nach den Kriterien kann ich auf den Weg kommen, alle möglichen Gedanken über Leben, über mich selbst, über andere und über das einander Lieben zu überprüfen und jeden dieser Gedanken wieder loszulassen, ihn verlöschen und zurückkehren zu lassen zu seinem Ursprung, um mich so „in das Zentrum jenes „Wirbels“ zu bringen, aus dem »Sein« und »Denken« entspringen und in dem beides zurückkehrend jeweils wieder verlischt“ (Kolb, 2012, S. 99). Es ist die Suche nach dem Ursprung des Denkens, den wir mit Hilfe der Kriterien möglicherweise finden können.

Wenn Wittgenstein behauptet, „die Philosophie ist der Grund dafür, dass wir uns selbst verlieren“ (Cavell, 2006, S. 88), so finde ich das nicht tief genug gedacht: zuerst muss es Menschen gegeben haben, die sich verloren haben, die verzweifelt waren und gezweifelt haben. Einige davon wurden Philosophen und haben die anderen auf die Not, in die sie geraten waren, aufmerksam gemacht, und dass die Not jeden treffen kann. Dadurch sind andere Menschen aufgerüttelt geworden, und manche haben sich selbst dadurch vielleicht auch verloren, wobei noch fraglich ist, ob die Philosophie dafür Grund oder nur Auslöser war. Die verantwortungsbewussten Philosophen haben aber erst dann ihre Zweifel geäußert, wenn sie für sich auch eine Therapie gefunden haben, damit umzugehen, sodass sie mit ihrer Philosophie denjenigen, die sich selbst aufgrund der Zweifel verloren hatten, behilflich sein konnten, sich zu finden. Übrigens finden wir in der Alltagssprache noch Spuren von Zweifeln, und zwar im „Gegensinn der Urworte“, auf die Freud bereits in seiner Traumdeutung 1900 hingewiesen hat. Nehmen wir z.B. das Wort „wider“ (im Sinne von gegen) bzw. „wieder“ (im Sinne von nochmals): „Wenn du wi(e)der( )sprichst, spreche ich nicht mehr wi(e)der. Ich spreche erst wi(e)der, wenn du nicht mehr wi(e)der( )sprichst.“ Das gesprochene Wort kann sehr zweideutig und damit zweifelhaft sein. Wenn jemand wieder spricht, kann er dabei widersprechen oder zustimmen oder keines von beidem. Wittgenstein meint, dass das Philosophieren „dazu neigt, den Philosophierenden aus der Übereinstimmung mit den gewöhnlichen Worten herauszureißen (d.h. mit seinen gewöhnlichen Worten, wenn er nicht philosophiert), und [...] dass das, was er dann sagt, oder die von ihm benutzten Worte ihm zwingend wahr zu sein scheinen“ (ebenda, S. 89). Das kann dann entweder sehr bedrückend oder sehr befreiend für ihn sein.

Cavell sieht bei Wittgenstein zwei wesentliche Elemente des Urteils, das prädikative und das verkündende. Ich würde es als das auskunfthafte und das ausdruckshafte Element des Urteils bezeichnen und im Urteil als Bewertung eine Aufforderung sehen, die im Urteil ausgedrückte Auskunft (verkündete Prädikation) befindlich zu verstehen, um sowohl dem empfindungsmäßigen als auch dem informativen Gehalt des Urteils Genüge zu tun und dann entsprechend zu handeln. Auf der einen Seite ist das Urteil damit ganz öffentlich, wenn es verkündet und ausgedrückt wird, andererseits ist das, wie es dann befindlich von jedem einzelnen verstanden wird, sehr privat. Denn beim befindlichen Verstehen des Urteils wenden wir nach Wittgenstein intuitiv die Kriterien an. Dasselbe tun wir auch, wenn wir ein Urteil fällen, wobei unsere Interpretation eines Vorgangs „innerhalb solch anscheinend fragiler und intimer Momente – privater Moment –“ (ebenda, S. 92) stattfindet und es daher wie ein Wunder wirkt, wie Wittgen¬stein darauf „ein vollständiges und unerschütterliches Gebäude der gemeinsamen Sprache errichten konnte“ (ebenda). Es ist diese an ein Wunder grenzende Entsprechung des Beurteilens und dessen befindlichen Verstehens, der Entsprechung von öffentlich und privat, von subjektiv und objektiv.

Wittgenstein und Skeptizismus

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Wie oben schon dargelegt bewegt sich Wittgenstein auf einem schmalen Grat zwischen Alltagsphilosophie und Skeptizismus. Auf der einen Seite, der skeptischen, ist da das Misstrauen in – Cavell nennt es bezeichnenderweise „Enttäuschung über“ (ebenda, S. 105, d.h. hier kann bei Wittgenstein und vielen Philosophen ein Enttäuschungserleben vermutet werden) – das menschliche Wissen und seine Grenzen, andererseits gibt es bei Wittgenstein aber auch „das Staunen über die Erfolge des Wissens“ (ebenda). Trotz aller Skepsis vermittelt er zugleich, „dass an der menschlichen Fähigkeit, etwas zu wissen, überhaupt nichts problematisch ist, dass es überhaupt keinen Grund zur Enttäuschung gibt“ (ebenda). Ist das Verleugnung, Abwehr oder fragwürdige Bewältigung der Enttäuschung oder schon geheilte Verzweiflung? Auch Cavell vermutet darin einen „Ausdruck jenes Ringens in Verzweiflung und Hoffnung [...], als hätte man geistige Gesundheit zum Ziel“ (ebenda, S. 104), was meines Erachtens geistige bzw. psychische Krankheit impliziert.

„Kriterien sind »Kriterien dafür, dass etwas so ist«, nicht in dem Sinn, dass sie etwas über die Existenz eines Gegenstands aussagen, sondern etwas über seine Identität [...]. Kriterien bestimmen nicht die Gewissheit von Aussagen, sondern die Anwendung der in den Aussagen verwendeten Begriffe“ (ebenda, S. 105). Ich möchte dies einmal in Analogie zur Quantenphysik so ausdrücken: die tatsächlichen Umstände bzw. Zusammenhänge und die Kriterien, die wir jeweils darauf anwenden, überlagern sich und beeinflussen sich wechselseitig, sodass dies mathematisch formal in einer Wellengleichung als Zustandsbeschreibung dargestellt werden kann, wie man dies üblicherweise in der Quantenphysik löst. Wenn man nun im Alltag in einer konkreten Situation wissen will, was Sache ist, muss man die Zustandsgleichung, also die wechselseitige Beeinflussung von Umständen und Kriterien, auf den konkreten Fall reduzieren. Wie in der Quantenphysik gibt es dann Erfahrungs- bzw. Erwartungswerte mit entsprechenden Eintreffenswahrscheinlichkeiten, die gewöhnlich (das entspricht dem Makroskopischen in der Physik) fast 1, also sehr hoch sind. Je genauer und skeptischer man allerdings etwas betrachtet, desto geringer werden die Wahrscheinlichkeiten, und es bleibt immer eine gewisse Unschärfe analog der Heisenberg’schen Unschärferelation: je genauer ich die Umstände kenne, desto ambivalenter wird meine Anwendung von Kriterien, da sie dann doch immer ungenauer für die recht genau registrierten Umstände werden, und je exakter und umfangreicher meine Kriterien sind, desto weniger reicht die Exaktheit meiner Wahrnehmung der Umstände aus, um die Kriterien angemessen anzuwenden, und je genauer Umstände und Kriterien, desto weniger bekomme ich sie zusammen, da die Datenfülle mich überfordert. Im praktischen Alltag komme ich in der Regel gut zurecht, da gibt es tatsächlich keine Probleme und keinen Grund zur Enttäuschung über Grenzen oder gar Versagen menschlichen Wissens.

Das Problem des Skeptizismus sieht Cavell in der Art, wie der Skeptiker „anscheinend von der Entdeckung, dass wir manchmal nicht wissen, was wir zu wissen beanspruchen, zu dem Schluss fortschreitet, dass wir es niemals tun“ (ebenda, S. 105 f.). Den Begriff Skeptizismus wendet Cavell auf „jede Ansicht an, die die Existenz der Welt für ein Wissensproblem hält“ (ebenda), eine Argumentation ist für ihn skeptisch, wenn sie Wissen „allein auf der Grundlage der Sinne, des Verhaltens“ (ebenda, S. 106) in Zweifel zieht und nach Alternativen fragt. Bezüglich der Alternativen „zerfallen Philosophien in den Phänomenalismus, den Kritischen Realismus usw.“ (ebenda). Auf der einen Seite wirkt Wittgensteins Haltung wie die des Skeptikers äußerst bescheiden, er zweifelt ja auch seine eigene Kompetenz zu wissen an und hat auch nichts anderes als seine Sinne anzubieten, andererseits empfinden viele in seiner Lehre, dass Menschen so erstaunlich gut in ihren Urteilen übereinstimmen, eine absolute Arroganz, weil er für sie damit autoritär und dogmatisch erscheint.

Wenn im Skeptizismus gefolgert wird, dass unser Wissen unsicher ist, weil wir manchmal nicht wissen, was wir zu wissen beanspruchen, dann ist darin enthalten, dass gleiche Ursachen gleiche Wirkungen hervorrufen, denn sonst könnte nicht verallgemeinert werden, dass unser Wissen generell unsicher ist. Von daher kann Cavell „die bevorzugte Entgegnung auf den Skeptizismus [bezüglich des Fremdpsychischen], wir wüssten von anderen in Analogie zu uns selbst, ihrerseits als einen Ausdruck von Skeptizismus“ (ebenda, S. 107) betrachten. Diese Analogie ist im Skeptizismus enthalten, weil sie auf dem Argument basiert, dass gleiche Ursachen gleiche Wirkungen hervorrufen. Cavell behauptet nun, die Lehre Wittgensteins „sei durchgehend von einer Reaktion auf den Skeptizismus beherrscht“ (ebenda). „Wenn die Tatsache, dass wir Kriterien teilen oder festgelegt haben, die Bedingung ist, unter der wir in der Sprache denken und kommunizieren können, dann ist der Skeptizismus eine natürliche Möglichkeit dieser Bedingung“ (ebenda, S. 108). Deshalb müssen Kriterien dafür offen sein, dass der Skeptizismus (der Skeptiker in einem selbst) sie bestreitet. Alles andere wäre Versessenheit. Unsere Kriterien sind nur menschlich, und nichts offenbart dies „so vollkommen wie er [der Skeptizismus durch] die ständige Bedrohung für das Denken und die Kommunikation“ (ebenda). Wittgenstein bestreitet nicht die Wahrheit des Skeptizismus. Weil unsere Kriterien menschlich sind, gibt es kein Kriterium dafür, dass jetzt etwas ist, z.B. dass jemand jetzt Schmerzen hat.

Cavell meint also insgesamt, „Kriterien identifizierten eher etwas und stellten weniger dessen Existenz fest“ (ebenda, S. 111). Wenn er weiterhin schreibt: „Existenz ist kein Prädikat“ (ebenda, S. 114), so erinnert das an die Kritik der reinen Vernunft von Kant, bei dem es heißt: „Sein ist offenbar kein reales Prädikat, d.i. ein Begriff von irgendetwas, was zu dem Begriffe eines Dinges hinzukommen könne.“ (Kant, Critik der reinen Vernunft, 1781 (A), zweite Auflage 1787 (B), S. 598 A, S. 626 B) Mit den Kriterien bewegen wir uns also im Bereich der reinen Vernunft nach Kant, wir befinden uns in einer Vorstellungswelt, in der die Existenz bzw. das Sein nichts Begriffliches und damit auch keine Sache des Erkennens ist. Heidegger beispielsweise bezeichnet die sinnlich wahrnehmbaren Phänomene als ontische Phänomene, während er nicht-sinnliche Phänomene, wie beispielsweise die Existenz von etwas, ontologische Phänomene nennt. So sind ontologische Phänomene zwar ursprünglicher als die ontischen, werden aber in der Praxis erst an zweiter Stelle bedacht. Insofern kommt die skeptische Frage, woher wir etwas (Ontologisches) wissen, immer erst im Nachhinein. Cavell nennt Objekte, bei denen sich die ontologische Frage nach der Existenz stellt, „generische Objekte“ (Cavell, 2006, S. 116), im Unterschied zu „spezifischen Objekten“ (ebenda), bei denen sich nur ontische Fragen zur Identifizierung der Begrifflichkeit, also zu den Kriterien stellen. Mit „generisch“ will er ausdrücken, dass es dabei nicht um unser Bewusstsein von Externalität und Räumlichkeit geht, sondern darum, dass etwas existiert, was mir gegenüber steht, und von dem ich weder wissen noch erkennen kann, dass es existiert, sondern von dem mir andere menschliche Fähigkeiten, wenn ich diese akzeptiere, offenbaren, dass es ist. Derartige menschliche Fähigkeiten – so jedenfalls interpretiere ich Kant – sind beispielsweise Vertrauen, Glaube und Hoffnung. Wie alle menschlichen Fähigkeiten müssen diese natürlich auch immer wieder kritisch überprüft werden, denn menschlich bedeutet immer auch fehlbar. In diesem Sinne verstehe ich das Zitat von Aristoteles aus der Metaphysik (IV. Buch, 4. Kapitel): „Es ist nämlich Unerzogenheit, nicht einzusehen, mit Bezug worauf es nötig ist, nach Beweisen zu suchen, und in Bezug worauf dies nicht nötig ist.“ Wenn ein Skeptiker also über das Maß der Vernunft hinaus, wobei Cavell erst später klären will, was in diesem Fall vernünftig bedeuten kann, auf seinen Zweifeln besteht, dann stellt sich für mich die (weniger philosophische, sondern mehr psychotherapeutische) Frage, was dieser Mensch wohl Schlimmes erlebt haben mag, dass er „vom Glauben abgefallen ist“ und jegliches Vertrauen in Menschen verloren hat.

Was die Frage der Vernunft betrifft, so wirft Cavell in diesem Zusammenhang die Frage auf, „ob der Philosoph [der Skeptiker] einen besonderen Grund hat, zumindest einen hinreichend guten Grund, seine Frage nach der Wirklichkeit zu stellen“ (ebenda, S. 127). Für mich stellt sich diese Frage nicht nur aus einer aktuellen Situation heraus, sondern generell, ob der Skeptiker von seinen bisherigen Erfahrungen her einen triftigen Grund hat, seine Zweifel ins Feld zu führen. Wenn der Alltagsphilosoph dem Skeptiker entgegenhält, dass man doch nicht immer alles anzweifeln kann, nur weil man sich manchmal auch irrt, dann bezeichnet Cavell dies als „Mauern“ (ebenda, S. 128). Der Skeptiker wird so nicht richtig ernst genommen. Wenn jemand aufgrund einer Aussage von mir skeptisch reagiert, dann bedeutet, den Betreffenden ernst zu nehmen, dass ich mich und eventuell auch ihn frage, welchen Sinn seine Skepsis für ihn in diesem Moment gerade hat, und dass ich auf seine Skepsis entsprechend antworte. „Dass wir unserer Erfahrung der Welt einen Sinn geben, […] ist unbedingt notwendig. Zu meiner Kompetenz als Wissender gehört es ebenso zu lernen, wann es angebracht ist zu sagen »Ich weiß (wir wissen) es einfach nicht« wie zu lernen, wann ich »Ich bin mir sicher« sage und wann ich es zurückziehe. […] Die Folgen einer Aussage ernst zu nehmen ist dasselbe, wie (ernstzunehmende) Aussagen zu machen.“ (ebenda, S. 128 f.). So wie der Skeptiker einen Grund hat seine Zweifel anzumelden, so hat auch der Behauptende seine Gründe für einen Wahrheitsanspruch. „Wissen ist, was immer auch sonst, gerechtfertigte Überzeugung.“ (ebenda, S. 131) Beide haben ein Recht, ihre Meinung zu verteidigen und die Gründe für ihre jeweilige Überzeugung vorzubringen. Die Gründe können dann je nachdem mehr oder weniger angemessen bzw. vernünftig sein.

Genauere Charakterisierung von Wittgensteins Kriterien

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Die „Objekte“, um die es Wittgenstein bei seinen Untersuchungen geht, sind keine Gegenstände wie ein Tisch oder ein Stuhl, sondern psychische und physische Phänomene. Seine Kriterien sind Annahmen über diese Phänomene, wobei man Kriterium wie Annahme in zweifacher Hinsicht verstehen kann: „Kriterium“ bezeichnet ein Richtmaß, auf das man sich im Sinne einer Übereinkunft oder Definition einigen kann, und es kann auch ein Unterscheidungsmerkmal sein zwischen verschiedenen Phänomenen, Dingen und Personen zu deren Charakterisierung. Entsprechend kann „Annahme“ zum einen Akzeptanz und zum anderen eine Unterstellung bzw. Supposition (angenommen, dass etwas so-und-so ist) sein. Wenn Cavell fragt, worin „die Kraft seiner (Wittgensteins) gewohnheitsmäßigen Fragen danach und Behauptungen darüber [liegt], wie etwas genannt wird“ (ebenda, S. 135), so kann man meines Erachtens hier nur mit Heideggers Kant-Interpretation antworten: in der (transzendentalen im Gegensatz zur nachbildenden) Einbildungskraft, die Heidegger zur Wurzel des ganzen Erkenntnisvermögens gemacht hat (Steffen, 2005, S. 170). So kann ich mit Wittgenstein z.B. bei entsprechender Berechtigung sagen, wenn sich jemand in bestimmter Weise verhält, dass ich mir vorstellen kann, davon überzeugt bin oder mit ziemlicher Sicherheit annehme, dass er Schmerzen hat. Im Unterschied zum Kriterium ist ein Symptom nur etwas, was mit einem Phänomen zusammenfällt und daher nur einen Hinweis auf dieses gibt. Beim Kriterium kann ich mir auch die Umstände des Zusammenfallens vorstellen und habe somit mehr oder weniger gute Gründe für meine Behauptungen.

Die Kraft von Erklärungen, die den Kriterien für einen Begriff innewohnt, besteht aus all den Vorstellungen, die mit den verschiedenen Kriterien verbunden sind, z.B. woraus das Phänomen Stuhl besteht, wie man ihn benutzen kann, wie und unter welchen Umständen man andere Dinge als Stuhl verwenden kann oder auch nicht, welche unterschiedlichen Arten von Stühlen es gibt usw.. Wittgenstein bezeichnet das alles als Teil der Grammatik des Wortes „Stuhl“. Je größer die Einbildungskraft, desto mehr Vorstellungen, desto mehr Erkenntnisse, desto größer die Kraft von Erklärungen. Meines Erachtens könnte man die Wittgenstein´schen Kriterien, die Cavell auch grammatische Kriterien nennt (ebenda, S. 145), als die Beschreibung des Wesentlichen bzw. des Wesens eines Phänomens betrachten und sie daher auch als ontologische Kriterien bezeichnen. Sie „sind keine Kennzeichen oder Merkmale, die zu ihrem Erlernen einer besonderen Ausbildung oder einer speziellen Umgebung bedürfen“ (ebenda), und es gibt kein technisches Lehrbuch, „das uns das Wesen der Sache illustriert“ (ebenda). Cavell hält fest, „ dass wir uns diese sehr allgemeinen natürlichen oder kulturellen Tatsachen vergegenwärtigen müssen, die wir alle, alle, die wir gemeinsam handeln und miteinander reden, in der Tat als Kriterien anwenden (müssen) [...]. Verfügt jemand nicht darüber, dann nicht weil seine Ausbildung vernachlässigt wurde, sondern weil er aus irgendeinem Grund unfähig ist, zur vollen Mitgliedschaft in einer Kultur heranzuwachsen bzw. in sie eingeführt zu werden, oder weil er als Anwärter darauf aufgegeben wurde.“ (ebenda, S. 145 f.) Während nicht-grammatische Kriterien wie die von Cavell als Beispiel zitierten Austin´schen der Identifizierung von spezifischen Objekten dienen, werden die grammatischen Kriterien zur Charakterisierung von generischen Objekten benutzt, das eine ist ontisch, das andere ontologisch. Grammatische Kriterien – und hier zeigt sich meines Erachtens das Sprachliche – „verbinden keinen Namen mit einem Objekt, sondern, sozusagen, verschiedene Begriffe mit dem Begriff eines Objekts. Ob wir im Besitz eines Begriffs sind [...], lässt sich daran überprüfen, [...] ob wir wissen, welche Begriffe für den fraglichen Begriff relevant sind und welche nicht; ob wir wissen, wie verschiedene relevante Begriffe, gebraucht man sie in Verbindung mit den Begriffen verschiedener Arten von Objekten, nach unterschiedlichen Arten von Zusammenhängen verlangen, um sie kompetent zu verwenden.“ (ebenda, S. 146) Man könnte den Begriff Grammatik auch verstehen als die Kunst des Abwägens von Kriterien (das griechische Wort „Gramma“ bedeutet einerseits Buchstabe, bezeichnet andererseits aber auch ein Gewicht). Cavell demonstriert dies auf den folgenden Seiten anhand des Begriffs des „Weisens auf“ in Verbindung mit ganz unterschiedlichen Begriffen, nicht nur von Gegenständen, sondern auch von Farbe, Bedeutungen, Plätzen und praktisch von allem, was man benennen kann, nämlich „allem“, aber nur in bestimmten Arten von Zusammenhängen. Typischerweise ist dies dann schwer, „wenn der Begriff des Dinges, auf das gewiesen wird, in Zweifel steht, gar nicht gehabt oder zurückgewiesen wird“ (ebenda, S. 147). Was für feine Unterschiede in den sprachlichen Begriffen stecken, zeigt der Vergleich von „Weisen auf“ und „die Aufmerksamkeit Richten auf“: Wenn ich sage: „Schau her, ich bin jetzt wütend!“, dann weise ich auf eine bestimmte Empfindung hin, nämlich meine Wut, wenn ich aber sage: „Was meinst du, was ich jetzt empfinde?“, dann richte ich die Aufmerksamkeit auf die Empfindung, die ich gerade habe, und das kann je nach dem ganz unterschiedlich sein.

Was mich in der Meinung bestärkt, dass Wittgenstein mit Grammatik Ontologie meint, ist der § 90 der Untersuchungen (S. 801 f.), in dem es heißt: „Es ist uns, als müssten wir die Erscheinungen durchschauen: unsere Untersuchung aber richtet sich nicht auf die Erscheinungen, sondern, wie man sagen könnte, auf die ›Möglichkeiten‹ der Erscheinungen. Wir besinnen uns, heißt das, auf die Art der Aussagen, die wir über die Erscheinungen machen. ... Unsere Betrachtung ist daher eine grammatische.“ Um die Erscheinungen zu durchschauen, muss man schon ein gewisses Vorverständnis mitbringen, man muss schon etwas begriffen (einen Begriff von etwas) haben, damit man überhaupt die Möglichkeit hat, irgendetwas (anderes) zu erfahren.

Am Beispiel des Schmerzes stellt Cavell fest: „Kriterien sind also enttäuschend. Sie stellen nicht sicher, dass meine Worte an den Schmerz anderer herankommen. Sie leisten nicht, was sie leisten sollten.“ (Cavell, 2006, S. 155) Ohne ein Vorverständnis, also ein gewisses Vorwissen, können sie nichts leisten. Wenn ich das aber habe, dann löst der Schmerz eines anderen bei mir selbst Reaktionen aus, je nach Situation Mitleid oder Schadenfreude, ich empfinde vielleicht eine Aufforderung zu trösten, zu helfen oder zu heilen. Das geschieht nur, weil ich weiß, was Schmerz ist. Die Kriterien, die von mir und allen anderen meiner Sprachgemeinschaft geteilt werden, leisten also, dass unser Vorverständnis immer mehr erweitert werden kann, und damit sind sie zumindest ein starkes Indiz dafür, dass es etwas uns allen Gemeinsames geben muss, auf dem unser doch sehr ähnliches Vorverständnis beruhen muss, denn wie sonst kann unsere gemeinsame Sprache, Kriterien und Grammatik sonst entstehen! Dieses Gemeinsame ist, dass wir Empfindungen haben, das ist der Hintergrund, der bei Wittgenstein im § 281 (S. 884) angesprochen ist, wenn er schreibt, „man könne nur vom lebenden Menschen und was ihm ähnlich ist, (sich ähnlich benimmt) sagen, es habe Empfindungen“. Das ist der Hintergrund, „vor dem unsere Kriterien funktionieren, sogar Sinn ergeben [...]. Es gibt keine menschlichen Kriterien, [...] warum ich von einigen [...] Dingen glaube, sie hätten Empfindungen oder Leben(sformen), es sei denn, die Tatsache‘‘, dass Menschen psychische Begriffe auf bestimmte Dinge und nicht auf andere anwenden, ist ein solches Kriterium“ (Cavell, 2006, S. 162). Das Argument, „dass unsere Kriterien das Innenleben vermeintlich nicht erreichen“ (ebenda), weist Cavell damit zurück, dass wir dann konsequenterweise „die Quelle meiner Vorstellungen [...], mich selbst [...], meine Reaktion auf etwas als lebendiges Wesen“ (ebenda) zurückhalten und unterdrücken müssten. Die Empfindungen, die Befindlichkeit, die Psyche, das ist offenbar die gemeinsame Dynamik aller Menschen, mit der zusammen die Kriterien erst funktionieren und einen Sinn ergeben. Wir sind in diesem Sinne Objekt der Psyche und können als geistige Subjekte die Kriterien benutzen, um uns mehr Klarheit zu verschaffen, wie wir handeln können, worauf wir uns verstehen. Die dabei gemachten Erfahrungen registrieren wir über unsere körperlichen Sinne und bewerten sie dann mit Hilfe unserer Empfindungen, also als psychische Subjekte, und können uns darüber mit anderen über die gemeinsame Sprache austauschen. Über das dadurch möglicherweise gestärkte Wir-Gefühl kann sich dann immer mehr Solidarität und Moralität, insgesamt also immer mehr Motivation entwickeln. Die hier angerissene Idee habe ich in „Die Philosophie der Kyôto-Schule“ im 2. Kapitel entwickelt und als Schema im Anhang graphisch dargestellt (Kolb, 2012). Die Sprache und die Kriterien spielen dabei eine dreifache Rolle: sie helfen mir als Individuum, mein Planen vernünftiger zu gestalten, anschließend dann (als Spezies) planvoll zu handeln, und schließlich als Mitglied einer menschlichen Gemeinschaft (als Genus) mich mit anderen über unsere Erfahrungen auszutauschen, sodass die Gemeinschaft insgesamt und jeder einzelne immer mehr Verständnis entwickeln kann, was sich gegebenenfalls auch in Veränderungen von Sprache und Kriterien zeigt.

Welche Rolle spielt bei all dem mein Körper? Bei den Untersuchungen von Wittgenstein heißt es auf Seite 496 (Wittgenstein, 2001, S. 1002): „Der menschliche Körper ist das beste Bild der menschlichen Seele.“ Die menschliche Seele, das ist die Psyche, also unsere Empfindungen, unsere Befindlichkeit, und sie bildet sich ab in unserer Mimik und in unserer Körperhaltung und -bewegung – so verstehe ich jedenfalls dieses Zitat. In unserem Körper spiegeln sich unsere bisherigen Erfahrungen, weswegen man auch sagt, dass jeder ab 40 selbst für sein Gesicht verantwortlich sei. In dem Moment aber, wenn ich als Skeptiker die Existenz von Empfindungen mit Nichtwissen bestreite, gibt es nichts, „was man dem Körper ablesen könnte, nichts, wovon der Körper handelt; er weist nicht über sich hinaus, er drückt nichts aus, ja er verhält sich nicht einmal“ (Cavell, 2006, S. 162). „Das Höchste, was irgendetwas in seinem Inneren leisten könnte, ist, das Ding zu steuern oder in Gang zu setzen, es zu bewegen. [...] Diesem »Körper« fehlt es an Privatheit. [...] Nur ich kann diese Privatheit erreichen, indem ich ihn als Wohnstatt meiner Begriffe der menschlichen Seele akzeptiere. Ziehe ich das Akzeptieren zurück, sind die Kriterien tot (§ 432; §§ 454 f.).“ (ebenda, S. 163) Was nun den Skeptiker betrifft, so kann man es schon als Ironie des Schicksals bezeichnen, dass er den anderen finden wollte, aber mit einer derart geforderten Gewissheit, dass er den anderen ausschließt. Dann ist es in Wirklichkeit seine Vorstellung (verlassen zu sein), „die voreingenommen ist“ (ebenda, S. 164).

Nach Cavell ist der Skeptiker möglicherweise psychisch krank, und der „Skeptizismus wollte den anderen finden“ (ebenda), d.h. der Anspruch der Vernunft eines Skeptikers oder einer Skeptikerin ist u.U. als Schrei nach Liebe interpretierbar, zumal Cavell auch schreibt: „meine Kriterien auszusprechen muss die Kraft von »rufen« haben“ (ebenda, S. 163). Von der Bindungstheorie könnte man eine unsicher-ambivalente Bindung diagnostizieren. Diese ist bei einjährigen Kindern z.B. dadurch charakterisiert, dass diese bei Trennung von der Mutter in überdurchschnittlich heftiger Weise schreien und weinen, was als Unsicherheit interpretiert wird, und wenn die Mutter zurückkommt, dann schlagen, beißen und treten die Kinder ihre Mutter, und es dauert überdurchschnittlich lange, bis sie sich wieder beruhigen, was als Ambivalenz gedeutet wird. Skepsis als Zweifel ist ja auch ambivalent und unsicher. Das einjährige Kind, was derartig reagiert, zeigt alle möglichen Anzeichen von Zweifel an der Liebe seiner Mutter, die es zu beanspruchen scheint. Man kann darin durchaus einen verzweifelten Schrei nach Liebe sehen.

Das Problem des Fremdpsychischen

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Im letzten Abschnitt wurde klar, was passiert, wenn wir jegliches Wissen über das Fremdpsychische für unmöglich halten, wenn wir nicht akzeptieren, dass jeder Mensch Empfindungen hat. Dann sind unsere Kriterien tot, und es gibt keinerlei Privatheit. Wenn wir aber unsere Begriffe und Beschreibungen der Psyche des anderen beibehalten, dann besteht ein weiteres Problem gerade in der Privatheit, dass andere uns etwas vormachen können. Wir behalten also zwar unsere Beschreibung der Psyche des anderen bei, weil es keinen offensichtlichen Grund gibt, sie zu verwerfen, und nehmen dabei in Kauf, dass wir getäuscht werden können, auch wenn unsere Kriterien alle perfekt erfüllt sind. Als dritte Möglichkeit führt Cavell an, dass unsere Kriterien uns oft darin enttäuschen, dass sie nur halb erfüllt sind, oder dass wir sie für uns noch nicht richtig geklärt haben, um sie richtig anzuwenden. Die Ungewissheit ist entweder in mir selbst oder in den Gegebenheiten, d.h. die Kriterien müssen noch besser angepasst und integriert werden. Meine Kriterien können mich aber noch ex¬tremer enttäuschen, wenn sie nämlich überhaupt nicht passen, weil der andere ganz anders ist als ich, wie das z.B. bei psychotisch Erkrankten der Fall ist. „Es gibt eine natürliche Form der Enttäuschung über Begriffe, die einer philosophischen Vermutung über das Fremdpsychische zugrunde liegt (was zugleich zeigt, dass es sich nicht um eine »bloß« philosophische handelt): die Vorstellung des anderen als eines Fremden, die Möglichkeit, dass er »von mir verschieden« ist.“ (ebenda, S. 167) Solche Menschen scheinen in einer anderen Welt zu leben. Cavell glaubt nicht, dass Wittgenstein diese Möglichkeit ausschließt. „Es wird vielmehr darauf hingewiesen, dass die Bedeutung dieser Möglichkeit, wenn sie in der Philosophie zur Sprache kommt, nicht richtig gesehen wird.“ (ebenda, S. 171) Es wird nicht gesehen, dass andere Menschen in einer ganz anderen Welt mit ganz anderen Kriterien leben können. Ihre Welt zu erkennen, sie als Personen zu respektieren und „auf sie als Personen zu reagieren, bleibt problematisch [...], und der andere Teil der Schwierigkeit ergibt sich, wenn wir erkennen, wie nah unsere Welt (manchmal, im Traum) der ihren ist.“ (ebenda) Dies ist keine metaphysische Schwierigkeit, sondern eine durch und durch praktische, die z.B. bei der Behandlung psychisch Erkrankter (nicht nur bei Psychotikern, sondern auch bei vollkommen „normalen Neurotikern“) ganz real auftritt, und wenn ich als Psychotherapeut diese Menschen nicht in ihren Empfindungen wenigstens verstehen kann, finde ich keinen Zugang zu ihrer Welt, kann ich nicht hören, was aus dieser ihrer Welt durch sie zu mir hindurch tönt (Person kommt von per-sonare, per = hindurch, sonare = tönen). Die Empfindungen, die Psyche, das ist die einzige Basis, mit Hilfe derer ich die mir zunächst fremden Kriterien herausfinden und so den anderen in seinem Worumwillen immer echter und unmittelbarer verstehen kann. Dieses Verständnis habe ich Liebe genannt (Kolb, Der Entwicklungsprozess der Liebe, 2011). Der Anspruch der Vernunft ist somit der Anspruch aller Menschen, vernommen (davon kommt Vernunft) zu werden, auch wenn sie in einer anderen Welt leben. Es ist der Anspruch auf dieses Verständnis, der Anspruch auf Liebe, es ist letztlich ein Schrei der Vernunft, der vernommen werden will.

Wenn man es so betrachtet, lebt jeder irgendwie in einer eigenen Welt, das ist ja unsere Privatheit, nur dass unsere Welten in großen Teilen normalerweise sehr ähnlich oder ganz identisch sind, und dadurch erklärt sich auch die große Übereinstimmung in unseren Kriterien. Es ist aber für jeden von uns eine praktische Schwierigkeit, „wie wenig wir uns selbst dem Blick des anderen enthüllen können oder wie wenig wir den Blick des anderen ertragen.“ (Cavell, 2006, S. 171) Dies gelingt nur über den Austausch unserer Empfindungen und dadurch, dass wir nicht sofort unkritisch unsere Kriterien auf die Empfindungen des anderen anwenden, sondern uns offen halten dafür, dass die Kriterien des anderen etwas (oder vielleicht auch ganz) anders sein können. Wenn wir diese beiden Punkte beachten, sinkt die Angst vor dem Blick des anderen, der nicht mehr getrübt ist durch unpassende Kriterien, und wenn wir unsere Kriterien expliziter benennen können, können wir uns mit unseren Empfindungen dem Blick des anderen auch besser enthüllen, da er dann nicht mehr mühsam herausfinden muss, welche Kriterien denn die unsrigen sind, sodass er unsere Handlungs- und Ausdrucksweise verstehen kann. Sobald Philosophen diese realen und praktischen Schwierigkeiten verdrängen, haben sie sich ein Motiv geschaffen, metaphysische Schwierigkeiten aufrecht zu erhalten (ebenda).

Das vorrangige Problem des Fremdpsychischen wie des Eigenpsychischen ist ja, dass es dabei keine greifbaren Objekte gibt, sondern nur Geschehnisse, die wir uns so erklären, dass „dahinter“ Phänomene stecken, die nicht sinnlich erfassbar und greifbar sind, die sich aber insofern bewährt haben, dass sie uns die Orientierung in der Welt erleichtern, sodass wir sie als „wesentlich“ oder wie beispielsweise Heidegger als ontologisch bezeichnen. Cavell interpretiert nun Wittgenstein dahingehend, dass dieser nicht bestreitet, dass wir Empfindungen haben und dass bei dem anderen etwas vorgeht, sondern er bestreitet nur, „dass wir um unsere Empfindungen (etwa) wissen und dass unsere Worte für die Empfindungen anderer sich auf die einen oder anderen Objekte im Inneren des anderen beziehen“ (ebenda, S. 173), dass es also überhaupt solche Objekte gibt. Diese angeblichen Objekte sind lediglich Eselsbrücken, die uns helfen, dass wir uns besser mit uns und anderen zurechtfinden. Eine Brücke ist ja ein Konstrukt, und so nennt man in den Sozialwissenschaften jene von Wittgenstein bestrittenen Objekte. Wenn man sie aber lediglich Konstrukte nennt und den Esel weglässt, verschweigt man eine wichtige Tatsache, die in der Alltagssprache noch enthalten ist: der Esel ist ein Symbol für Dummheit, also Unwissenheit, d.h. mit Eselsbrücke wird ausgedrückt, dass wir eigentlich nichts über ein „Inneres“ wissen, uns aber mit einem Konstrukt darüber hinweghelfen bzw. uns darüber hinwegsetzen, dass wir nichts wissen. (Dass wir Esel für dumm halten, dümmer als beispielsweise Pferde, liegt an bestimmten Kriterien, die wir an das Verhalten dieser Tiere legen, obwohl beide in verschiedenen Welten leben. Bei Gefahr flieht das Pferd, während der Esel erstarrt und sich trotz Stockhiebe seines Treibers nicht bewegt. Die Welt des Pferdes ist die Weite der Steppe, und dort ist es in der Regel die beste Strategie, bei Gefahren zu fliehen, während die Welt des Esels steiniges und unübersichtliches Hügelland ist, wo es Giftschlangen gibt, sodass Bewegungslosigkeit meist die bessere Strategie ist, um nicht den Angriff einer solchen Schlange zu provozieren. Ich finde, dies ist ein anschauliches Beispiel für verschiedene Kriterien und verschiedene Welten, in denen Wesen leben können.)

„Empfinden“ bedeutet eigentlich nur, dass wir uns mit uns selbst zurechtfinden. Es bedeutet nicht, dass wir irgendwo in unserem Körper ein Objekt finden, dem wir beispielsweise den Namen „Angst“ geben, und auf das wir in irgendeiner Weise zeigen können. Das geht weder per Ultraschall noch per Röntgenbild, und auch das dabei ausgeschüttete Adrenalin ist nicht die „Angst“, sondern nur ein Indikator für einen körperlichen Prozess; und wenn wir Adrenalin injiziert bekommen, spüren wir zwar eine heftige Erregung, die uns irgendwie an die Empfindung von Angst erinnert, aber wir würden nicht sagen, dass dies Angst ist, diese kann sich höchstens als Reaktion auf das unangenehme Körperempfinden, etwa den beschleunigten Herzschlag, entwickeln. Wenn wir jemand anderen oder uns selbst fragen, wie es uns oder dem anderen geht, ist die häufigste Antwort (neben „Ich weiß nicht“) „Gut“ oder „Schlecht“, d.h. das erste, was wir empfinden oder genauer gesagt an oder bei uns wahrnehmen, ist Lust oder Unlust bzw. eine gute oder eine schlechte Stimmung. Wenn wir dabei etwas Bestimmtes in der momentanen Situation oder einen bestimmten Gedanken identifizieren können, der bzw. das diese Stimmung irgendwie beeinflusst, können wir nähere Auskunft geben, d.h. unsere Kriterien anwenden. Ist die Stimmung gut, so hat der Gedanke oder die Situation mit etwas zu tun, was uns Freude macht. Hat dieser Gedanke oder etwas Bestimmtes in der momentanen Situation bei schlechter Stimmung mit einer bedrohlichen Sache zu tun, die noch auf uns zukommen kann, dann sagen wir, wir haben Angst, bei einer vergangenen Schädigung reden wir von Wut, Groll oder Zorn, bei einem momentanen Getrennt-Sein von etwas, was wir uns wünschen, sprechen wir von Traurigkeit oder Sehnsucht, und wenn der Gedanke damit zu tun hat, dass wir uns von etwas abwenden wollen, was wir als schlecht, aber nicht direkt bedrohlich einschätzen, wählen wir meist Worte des Ekels und der Abscheu und verurteilen etwas, oder wenn es uns selbst betrifft als Verantwortliche, schämen wir uns oder fühlen uns schuldig. Dies sind die grundlegenden Gefühle, wie wir sie nennen, und häufig ist es eine Mischung, weil die verschiedenen Gedanken und Elemente der Situation, die uns im Augenblick gerade beschäftigen und unsere Stimmung beeinflussen, viele der oben aufgeführten Themen gleichzeitig beinhalten. Wie hieraus ersichtlich, ist es sehr schwer, seine Empfindungen zu identifizieren bzw. die Kriterien auf Stimmungen und beeinflussende Gedanken oder Situationselemente anzuwenden, zumal beides auch schnell wechseln kann, und wer weiß schon immer all seine Gedanken?! Allein aufgrund dieser Schwierigkeiten „wissen“ wir tatsächlich nicht, was wir gerade empfinden und müssen uns selbst mühsam analysieren, sodass wir höchstens hinterher beschreiben können, was wir empfunden haben. Nur in den relativ seltenen Fällen, wenn wir eine stark vorherrschende und andauernde Stimmung mit wenigen klaren und deutlich identifizierbaren Gedanken und eindeutig zuzuordnenden Situationselementen bei uns feststellen, gelingt die nachträgliche Analyse einigermaßen befriedigend. Am einfachsten sind dabei die Gefühle von Freude, Wut, Angst, Leid und Abscheu zu diagnostizieren, und wie man bei verschiedenen Untersuchungen festgestellt hat, werden diese fünf Emotionen von anderen auch am zuverlässigsten anhand der Gesichtsmimik identifiziert, d.h. für den Zusammenhang von Gefühl und Mimik scheint es (sogar kulturübergreifend) einigermaßen gute Kriterien zu geben, in denen Menschen übereinstimmen (Fonagy, Gergely, Jurist, & Target, 2008, S. 80).

Die Objekte des Psychischen (Fremd- und Eigen-) sind also komplexe Prozesse, bei denen sich Stimmungen, situative Elemente und Gedanken wechselseitig beeinflussen, und das macht die Schwierigkeiten aus, Kriterien zu finden, sie zu benennen und zu identifizieren. Was das Lernen der Kriterien betrifft, so orientieren wir uns dazu erst an anderen und gewahren unsere eigenen inneren Prozesse am Anfang noch gar nicht; es finden sich nämlich Hinweise, „dass das Lernen auf der Grundlage exterozeptiver Stimuli im Säuglingsalter tatsächlich Vorrang haben könnte [und] dass sich die Sensibilität für innere […] Hinweisreize als Funktion der Kontingenzentdeckung und der Prozesse des „sozialen Biofeedbacks“ entwickelt“ (Fonagy, Gergely, Jurist, & Target, 2008, S. 236), und „dass dem Säugling zunächst einmal ein Gewahrsein seiner inneren affektiven und propriozeptiven Zustände, die mit seinem Verhalten assoziiert sind, fehlt“ (ebenda, S. 192). Die oben erwähnten grundlegenden Gefühle sind Prozesse, die man als Kind in einer bestimmten Reihenfolge kennenlernt und aufgrund bestimmter Erlebnisweisen erkennen und damit umgehen kann (Kolb, 2012, S. 7, 1. Kapitel). Während der Entwicklung des Kindes tauchen typische Probleme auf, und im Zusammenspiel mit der Mutter entwickelt das Kind immer mehr Möglichkeiten, diese Probleme zu identifizieren und zu kategorisieren und sie insgesamt immer besser zu verstehen im Sinne von „Sich-verstehen-auf“, also damit immer besser umzugehen. Mit der Entwicklung der Sprache lernt es dann diese Prozesse zu benennen, sich einen Erfahrungsschatz anzueignen, d.h. die Erfahrungen zu behalten in einem autobiografischen Gedächtnis, welches erst mit etwa vier Jahren existiert.

Wenn wir nun einmal genauer betrachten, wovon die jeweilige Stimmung abhängig ist, so finden wir hier zum einen unseren momentanen körperlichen Zustand, unsere jeweilige Vorstellung davon, wie andere gegenüber uns gestimmt sind und wir gegenüber ihnen, und unseren jeweiligen Selbstbeurteilungen bzw. unserer Zufriedenheit mit uns selbst, wobei dieses Selbst sich in einer ständigen Entwicklung befindet, die in den ersten vier Lebensjahren entscheidend ist. Es ist die mehr oder weniger große Diskrepanz zwischen dem jeweiligen Ist-Zustand und einem schon von uns erlebten optimalen Zustand in Relation zu dem Anspruchsniveau, wie weit dieses Optimum erfüllt sein soll, von der (nämlich der Diskrepanz) es abhängt, wie gut oder wie schlecht unsere Stimmung gerade ist. Am Anfang unseres Lebens ist noch keine Vorstellung von der Stimmung zwischen anderen und uns und auch noch kein Selbst und damit keine Selbstbeurteilung vorhanden, sondern nur die Wahrnehmung des körperlichen Zustands, und das Anspruchsniveau ist absolut, es soll immer das Optimum erfüllt sein, das ist für einen Säugling überlebenswichtig. Mit zunehmender Entwicklung aber relativiert sich der Anspruch anhand der Erfahrungen und Vorstellungen, die ein Mensch im Laufe seines Lebens macht bzw. entwickelt. Auch hier spielt die Entwicklung des Selbst (ebenda, 1. Kapitel) eine wichtige Rolle. In gewisser Weise redet die Mutter ihrem Kind dessen Gefühle und Empfindungen regelrecht ein, wenn sie ihm diese in markierter Form präsentiert. Vor der Entdeckung empirischer Korrelationen „weiß“ das Kind also durch seine Mutter schon etwas über einige Beziehungen zwischen körperlichen und psychischen Zuständen. Die Kriterien der Mutter erklären ihre Beziehung zu dem, was in ihrem Kind vorgeht. Sie bezieht das, was geschieht, aufeinander und gibt dem Geschehen auch für ihr Kind einen Sinn, indem sie diesem Geschehen seine Geschichte zuordnet, wo etwas herkommt und worauf es hinausläuft. Die Mutter verrichtet für ihr Kind „die Arbeit, die Welt in Worte zu fassen“ (Cavell, 2006, S. 177). Indem das Kind das Urteil seiner Mutter immer mehr übernimmt, kommt es zu einem immer größeren Aufeinander-Eingestimmtsein, worin sich die Kriterien der Mutter ausdrücken, die auf diese Weise zu den Kriterien des Kindes werden, und beide stimmen schließlich immer mehr in ihren Werten und Wertungen überein. Wenn die Mutter in einer Gemeinschaft integriert ist, mit deren Kriterien bzw. Werten und Wertungen sie übereinstimmt, dann wird so ihr Kind in dieser Gemeinschaft ebenfalls entsprechend integriert sein.

Wenn es jetzt um die Wahrheit psychischer Aussagen über andere Personen geht, so geht es nicht um einen empirischen Zusammenhang zwischen dem Ausdruck bzw. der Art und Weise, wie der andere sich mir gegenüber präsentiert, und dem, wie der andere anschließend handelt. Hier gibt es kein Zusammenhang, der zuverlässig genug ist, so dass ich nicht wissen kann, ob derartige Aussagen wenigstens problematisch wahr sind. (Dies entspricht etwa dem, was Cavell von Sidney Shoemaker auf S. 174 zitiert.) Eine psychische Aussage über einen anderen ist eine Aussage über einen dynamischen Prozess, in welchem bestimmte von ihm wahrgenommene situative Stimuli, bestimmte Stimmungen von ihm und bestimmte Erinnerungen, die gerade in seinem Gedächtnis aktiviert sind, eine Rolle spielen, die ich kennen muss, damit meine psychische Aussage über den Zusammenhang zwischen seinem momentanen Ausdruck und seinen Empfindungen überhaupt etwas besagt, an dem ich mich orientieren kann, um selbst vernünftig zu handeln. Wenn beispielsweise ein Freund von mir plötzlich abrupt stehen bleibt und weit Mund und Augen aufreißt, dann kann ich zwar vermuten, dass er Angst hat, es kann aber auch etwas ganz anderes sein, Erstaunen oder ein Schluckauf. Wenn ich dann sehe, dass er gerade auf einen Mann mit Glatze starrt, und ich weiß, dass er gestern gerade von einer Gruppe Skinheads beinahe verprügelt worden und seine Stimmung von daher immer noch angespannt ist, zumal er früher in der Schule der Schwächste in der Klasse gewesen war, dann kann ich mir ziemlich sicher sein, dass er tatsächlich Angst hat, und entsprechend reagieren. Wäre der andere nicht mein Freund, sondern ein Fremder gewesen, von dem ich nichts weiter gewusst hätte, dann wäre mir völlig unklar gewesen, was für eine Psychodynamik bei ihm gerade abläuft. Ein bestimmter wahrgenommener situativer Stimulus (der Mann mit der Glatze) wird aufgrund bestimmter Erinnerungen (gestrige gefährliche Begegnung mit Skinheads, früher der Schwächste in der Klasse) als Gefahrensignal gewertet und verstärkt seine ohnehin schon vorhandene angespannte Stimmung, die ihn dann fieberhaft in seinem Gedächtnis nach Möglichkeiten suchen lässt, was er jetzt am besten tun kann. Deshalb ist er auch erstarrt. Indem ich diesen Prozess erahne, kann ich ihm behilflich sein und ihn entweder beruhigen, wenn meines Erachtens keine reale Gefahr besteht, oder ihm schnell helfen, aus der Gefahrenzone zu entkommen. Man könnte diesen Prozess auch so beschreiben, dass die betreffende Person in der Realität etwas mit ihren Sinnen wahrnimmt, das Wahrgenommene mit Hilfe früherer Erfahrungen und sonstigem erworbenen Wissen, auch mit den Kriterien, entsprechend bewertet, so dass sich ihre Stimmung verändert und zur Verbesserung drängt. Dieser Aufforderung folgend sucht der Betreffende nach Handlungsmöglichkeiten, auf die er sich versteht. Dieser gesamte Prozess läuft nicht sichtbar ab, er kann von mir nur erwartet werden, weil er zum einen sinnvoll ist, und weil ich ihn bei mir selbst immer wieder wahrnehmen kann. Ferner bestärken mich Erfahrungsberichte von anderen und unsere sprachliche Ausdrucksweise, unsere Grammatik, die einen solchen Ablauf ebenfalls nahelegt. Wenn ich alle Prozesse, die ich mit meinen Sinnen und mit entsprechenden Hilfsinstrumenten wahrnehmen kann, als Materie bezeichne, alle Prozesse, die mit meinen Stimmungen zu tun haben, als Psyche und alle Prozesse, die mit meinem Gedächtnis und meinem darin gespeicherten Wissen, worauf ich mich verstehe, zu tun haben, als Geist, dann wird der Zusammenhang all dieser Prozesse anschaulich beschrieben in dem Schaubild von „Die Philosophie der Kyôto-Schule“.

Wenn es um Erkenntnis von und Umgang mit psychischen Phänomenen geht, dann finde ich Wittgensteins oben schon einmal erwähnte Bemerkung des § 580 sehr aufschlussreich: „Ein ›innerer Vorgang‹ bedarf äußerer Kriterien.“ Was ist ein ›innerer Vorgang‹? Ich deute das folgendermaßen: ein Vorgang ist ein Prozess, und ein Prozess besteht aus mehreren Teilprozessen, die sich überlagern. Alle die Teilprozesse, die ich von außen nicht sinnlich wahrnehmen kann, sind innere Prozesse, also innere Vorgänge für mich. Ein Kriterium ist ein Richtmaß, wenn man es aus dem Griechischen übersetzt, ein äußeres Kriterium ist also ein weißer Schimmel. Inwieweit bedarf ein innerer Vorgang eines Kriteriums? Da ich ja einen inneren Vorgang nicht mit meinen Sinnen wahrnehmen kann, brauche ich irgendein Indiz dafür, dass es ihn überhaupt gibt, und das ist ein Kriterium, der Beleg dafür, dass es noch einen weiteren Vorgang gibt, den ich nicht wahrnehmen kann. Wenn bei mir etwas vorgeht, dann ist alles, was ich sinnlich wahrnehmen kann, für mich ein äußerer Vorgang, und das, was eine andere Person bei mir sinnlich wahrnimmt, ist für sie ein äußerer Vorgang. Oft unterscheidet sich das, was für mich und den anderen jeweils ein äußerer Vorgang ist, sodass dies jeweils ein Kriterium dafür ist, dass es noch einen inneren Vorgang jeweils für mich und die andere Person gibt. Meine persönlichen Geheimnisse sind für den anderen und meine „blinden Flecken“ sind für mich jeweils Hinweise auf innere Vorgänge. Je mehr wir uns darüber offen und ehrlich austauschen, desto mehr innere Vorgänge erschließen sich uns durch äußere Kriterien und desto mehr äußere Vorgänge werden erkennbar, die vorher für niemanden sichtbar gewesen sind. (Derartige Erkenntnisprozesse laufen häufig in Selbsterfahrungsgruppen ab und werden dort durch das sogenannte Gruppenfenster graphisch dargestellt: man stelle sich ein Quadrat vor, das wie ein Fenster mit einem Fensterkreuz in vier Unterquadrate aufgeteilt ist; das Feld links oben soll alle Vorgänge beinhalten, die für alle sichtbar oder erschlossen sind, links unten, die nur für mich sichtbar oder erschlossen, aber für andere nicht erschlossen sind (persönliche Geheimnisse), rechts oben, die nur für mich nicht erschlossen, aber für die anderen sichtbar oder erschlossen (blinde Flecken), und rechts unten, die für uns alle nicht erschlossen sind. Durch die Mitteilung persönlicher Geheimnisse nehmen andere noch mehr blinde Flecken von mir wahr, und durch Rückmeldungen über blinde Flecken nehme ich noch mehr persönliche Geheimnisse wahr.)

Wenn Wittgenstein hier „äußere“ Kriterien schreibt, so will er damit vielleicht hervorheben, dass es anderer Menschen von außen bedarf, damit ich erkennen kann, dass es innere Vorgänge bei mir gibt, von denen ich allein keine Ahnung habe. (Unterstützt wird dies auch von der Traumaforschung und der Neurobiologie her: es gibt verschiedene Arten von Gedächtnis, wie wir Erlebtes speichern und in unterschiedlichen Hirnstrukturen weiterverarbeiten oder auch nicht. Neben dem sogenannten autobiografischen Gedächtnis, in dem die Inhalte ziemlich frei verfügbar sind, gibt es ein emotionales Gedächtnis, zu dessen Inhalten wir nur dann Zugang haben, wenn wir in einem bestimmten emotionalen Zustand sind. Dann aber erregen uns diese Inhalte im Falle eines damit zusammenhängenden Traumas so stark, dass deren Weiterverarbeitung und Integration im autobiografischen Gedächtnis verhindert wird und wir später nichts mehr davon wissen, wie wir gerade reagiert haben und was in diesem Gedächtnis ist. Hier können uns andere helfen, wenn sie uns berichten, was sie gerade bei uns wahrgenommen haben.) Wenn Wittgenstein andererseits von „inneren“ Vorgängen spricht – er könnte ja auch von dunklen oder nicht wahrnehmbaren Vorgängen reden –, so spielt er damit vielleicht auf das Wort Erinnerung und die damit verbundene Vorstellung eines eigenen Innenlebens an. Meine Erinnerung, mein Gedächtnis befindet sich ja im Inneren meines Kopfes, nämlich in meinem Gehirn, und Denken hängt mit dem Wort Gedächtnis zusammen, d.h. durch äußere Geschehnisse werden bei mir Prozesse angeregt, die meine Erinnerung anregen und aus meinem Gedächtnis Gedanken entstehen lassen. Wenn der entsprechende Gedächtnisinhalt mir als solcher nicht zugänglich ist, dann ist die Entstehung dieses Gedanken nicht nur für andere, sondern auch für mich nicht wahrnehmbar. Wenn ich diesen Gedanken äußere, dessen Denken ein für den anderen innerer Vorgang ist, dann kann es sein, dass er weiß, wie er entstanden ist, d.h. ein für mich innerer (nicht wahrnehmbarer) Vorgang ist für ihn kein solcher. Damit dies verständlich wird, folgendes Beispiel aus meiner therapeutischen Praxis: Eine Patientin von mir erzählte ihrer Freundin, sie habe so komische Gedanken, dass ihr älterer Bruder mit ihr Sex gemacht habe, sie könne sich diese Gedanken gar nicht erklären. Darauf sagte die Freundin, die sie schon als Kind gekannt hatte, dass die Patientin ihr damals doch von dem sexuellen Missbrauch ihres Bruders an ihr berichtet habe. Erst dann wurde der Patientin der entsprechende Gedächtnisinhalt wieder zugänglich.

Was kann ich von dem, was im Inneren eines anderen vorgeht, denn wissen, wenn ich die entsprechenden Kriterien anwenden kann, d.h. wenn ich die dazugehörigen Informationen habe? Wenn ich weiß, was er erlebt hat und wie er reagiert hat, dann weiß ich, was in etwa in seinem Gedächtnis gespeichert ist und wie er das versteht und verstanden hat und wie er darauf reagieren kann, sodass ich seine Kriterien mir erschließen kann. Dazu muss ich zusätzlich also die Kriterien kennen, wie ich aus der Kenntnis der Lebensgeschichte und der aktuellen Situation eines Menschen dessen Kriterien erschließen kann. Aber selbst unter diesen idealen Voraussetzungen kann es immer noch sein, dass der Betreffende sich plötzlich derartig dramatisch geändert hat, dass meine ganze Analyse hinfällig ist. Im Nachhinein mag das jeweils verstehbar sein, hinterher ist man immer schlauer, das ist ja das Problematische an Prognosen. Es gibt aber eine noch viel prinzipiellere Ungewissheit, denn woher kann ich wissen, dass ich alle inneren Vorgänge erfasst habe. Selbst wenn ich unter absolut idealen Umständen alle persönlichen Geheimnisse geäußert und alle blinden Flecken zurückgemeldet bekommen habe, woher weiß ich, dass es das Feld rechts unten im Gruppenfenster nicht mehr gibt bzw. dass es leer ist, dass von dort nichts mehr nachrücken kann? Gut, ich kann nicht alles wissen, und daraus zu folgern, dass ich gar nichts wissen kann, wäre wieder die überzogene skeptische Position, es muss schon vernünftige Gründe geben, dies in einer bestimmten Situation zu sagen. Bei entsprechend vernünftigen Gründen kann ich die ernstzunehmende Behauptung aufstellen, dass ich das-und-das weiß, und mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erwarten, dass ich recht habe.

Wittgensteins eben diskutierte Bemerkung (§ 580) steht inmitten von Paragraphen, die den Begriff des Erwartens diskutieren. § 572 (S. 960) etwa beginnt mit den Worten: „Erwartung ist, grammatikalisch, ein Zustand“, d.h. wenn ich eine Behauptung aufstelle und erwarte, dass ich recht habe, dann ist das keine Empfindung und damit ein Vorgang, sondern ein Zustand, und zwar von mir, von mir, der ich eine bestimmte Position eingenommen habe. Dabei bin ich von einem bestimmten Ziel ergriffen, welches ich von der betreffenden Position der Erwartung aus ins Visier nehme, um auf die Gelegenheit, mein Ziel, zu warten, die bzw. das ich dann ergreifen will, im obigen Fall einen Beweis, dass ich recht habe. Grammatikalisch, also von ihrem Wesen her ist diese Position ein Zustand. „Das Sein des Daseins zur Welt ist […] wesenhaft Ergriffenheit, Erwartung und Täuschung, wobei die Täuschung in der Ergriffenheit und der Erwartung gründet“ (Kolb, 2011, S. 15), d.h. Ergriffenheit und insbesondere Erwartung sind Zustände des Mensch-Seins. Anfänglich erwarten wir von den Kriterien, dass wir durch sie etwas Spezifisches wissen können darüber, was in einem anderen oder in mir vorgeht, und im § 580 enden wir damit, dass wir ihrer nur dafür bedürfen, dass es überhaupt innere Vorgänge gibt. „Wir wollen weniger‘‘ von ihnen, als sie leisten.“ (Cavell, 2006, S. 185)

Cavell meint nun auf Seite 186, dass ein anderer gewisse Kriterien anwenden müsse, wenn er etwas von mir wissen will, dass ich selbst das aber nicht tue. Das stimmt nur für bestimmte Fälle, etwa wenn mir etwas weh tut, wenn ich Schmerzen habe, nicht aber, wenn ich mich z.B. unwohl fühle, weil ich warten muss und mich frage, was mein Unwohlsein genau ist, ob ich Angst habe, dass etwas passiert ist, ob ich wütend bin oder traurig, weil das Erwartete nicht geschieht, oder ob ich angewidert bin und es abscheulich finde, dass ich schon wieder versetzt werde. Dann wende ich auch Kriterien an, analysiere die Situation, meine früheren Erfahrungen usw. und überlege vielleicht, was ich jetzt tun kann oder soll. Es ist dann allerdings die Frage, ob mein Unwohlsein einfach nur ein Unwohlsein war und erst durch meine Anwendung der Kriterien daraus Angst, Wut, Traurigkeit oder Abscheu geworden ist oder schon vorher ein dezidiertes Gefühl war. Es gibt einen entsprechenden Versuch, bei dem man verschiedene Gruppen von Versuchspersonen warten ließ, ihnen aber jeweils einen Schauspieler verdeckt zugesellte, der verschieden Gefühle wie Angst, Wut usw. spielte. Bei einer entsprechenden Kontrollgruppe war kein Schauspieler dabei. Ein anschließendes Rating der Empfindungen ergab eine starke Korrelation mit dem vom Schauspieler vorgespielten Gefühl, d.h. die Empfindungen der Versuchspersonen wurden entsprechend beeinflusst. Dies ist zwar kein eindeutiger Beleg dafür, dass anfänglich zumindest bei denen, die sich stark beeinflussen ließen (was nicht bei allen der Fall war), nur ein diffuses Unwohlsein vorherrschte, es wird dies aber durch dieses Experiment nahegelegt. Ich denke allerdings, dass sich hier zwei Phänomene mischen, zwei Prozesse, die manchmal ganz kurz hintereinander ablaufen oder sich abwechseln können, nämlich sinnliche Wahrnehmung und die Beurteilung des Wahrgenommenen, und bei der Beurteilung verwenden wir Kriterien, weswegen wir dabei von anderen so beeinflussbar sind, da wir implizit oder explizit annehmen, dass andere dies auch tun und dieselben Kriterien verwenden wie wir, sodass alle zu demselben Ergebnis kommen müssten. Je klarer und entschiedener ein anderer in seinem Urteil ist, desto überzeugender wirkt er auf uns, zumal wir in der Regel zu einer selbstkritischen Haltung erzogen sind bzw. diese sich in der Kindheit daraus ergibt, dass Erwachsene kompetenter und erfolgreicher sind und wir sie daher als Vorbilder benutzen. Wie bewusst läuft dieser Prozess des Beurteilens ab? Das Beurteilen ist ein Denkprozess, denn wir bedenken dabei das aktuell Wahrgenommene und vergleichen es mit früheren Erfahrungen und Messen es an Vorstellungen (idealeren und katastrophaleren). Die Frage lautet also: Wieviel weiß ich von dem, was ich denke? Oder: Weiß ich, was ich denke (und zwar im Moment des Denkens)? Wittgenstein sagt Nein auf Seite 565 der Untersuchungen (Wittgenstein, 2001, S. 1076): „Es ist richtig zu sagen, »Ich weiß, was du denkst«, und falsch: »Ich weiß, was ich denke.«“ Hinterher kann ich zwar analysieren, was ich wohl gedacht habe, und sagen: „Ich habe gedacht, also bin ich gewesen“, aber nicht wie Descartes: „Ich denke, also bin ich“. Der Prozess des Beurteilens läuft auch nicht so ab wie bei einem Roboter, einer künstlichen Intelligenz (KI), sonst wäre dieser Prozess nicht so beeinflussbar, wie das oben erwähnte Experiment gezeigt hat. Damit sind auch die Folgerungen von Descartes´ Zitat widerlegt, dass es eine Ontologie gibt, bei der Objekte als die grundlegenden Elemente des Universums fungieren, deren Merkmale mit Regeln definiert werden, welche deren Beziehungen untereinander repräsentieren. In demselben Paragraphen merkt Wittgenstein in Parenthesen an, eine ganze Wolke Philosophie (der Cartesianismus und die KI-Forschung) kondensiere zu einem Tröpfchen Sprachlehre bzw. Grammatik (siehe Fußnote 3, S. 1076). Was man in die Unsicherheit des Denkens und Beurteilens noch hineininterpretieren bzw. darin erkennen kann, ist, dass die Kriterien sich stets wandeln können und dies auch tatsächlich tun, was man daran sehen kann, dass Sprachen sich immer weiter entwickeln und damit zwangsläufig das Denken. Denkprozesse spielen nicht nur beim Beurteilen von Wahrgenommenem die entscheidende Rolle, sondern auch beim Planen von Handlungen und beim Entscheiden, also dem Beurteilen der vorgestellten Ergebnisse von Handlungen, d.h. dem Beurteilen wahrgenommener Stimmungen, die durch entsprechende Vorstellungen ausgelöst werden. Wahrgenommenes, Erinnertes und Vorgestelltes, also Gegenwärtiges, Vergangenes und Zukünftiges, sind die Elemente des Denkens, bei dem die Wahrnehmung gehalten ist im Erinnerten und Vorgestellten, da Erinnertes und Vorgestelltes die wahrgenommene Stimmung beeinflusst, während das in der Welt und bei sich selbst Wahrgenommene Erinnerung und Vorstellung beeinflusst. Aber auch Erinnerung und Vorstellung beeinflussen sich gegenseitig beim Denken. Beim Denken beeinflussen sich daher fortwährend und wechselseitig Wahrnehmen, Erinnern und Vorstellen, und im Denkfluss ist kein Anfang zu erkennen. Die Prozesse des Wahrnehmens, Erinnerns und Vorstellens bringen Auskünfte hervor (nämlich das Wahrgenommene, Erinnerte und Vorgestellte), deren Verarbeitung – das ist das eigentliche Denken – zu Urteilen bzw. Entscheidungen führt. Kompliziert wird das Ganze dadurch, dass jede Auskunft das Potenzial hat, neue Prozesse des Wahrnehmens, Erinnerns und/oder Vorstellens anzuregen. Diese Prozesse können sich aufdrängen („das erinnert mich an...“) oder aktiv von mir betrieben werden, z.B. wenn ich mich an etwas erinnern will („da war doch noch etwas“ oder „wann ist mir so etwas Ähnliches passiert?“). Ich kann also um diese Prozesse teilweise wissen, teilweise aber auch nicht. Der Denkprozess kommt erst dann zu einer Entscheidung und damit einem relativen Ende, wenn es zu keiner neuen Auskunft mehr kommt und dadurch auch keine neuen Prozesse des Wahrnehmens, Erinnerns oder Vorstellens entstehen, es sei denn, es kommt zum Kreisdenken oder Grübeln, was dann meist nur durch eine Situationsänderung beendet wird. Wahrnehmen, Erinnern und Vorstellen können wir teils erlernen, teils geschieht es auch unmittelbar. Bei einem anderen kann ich nur durch sein Benehmen (einschließlich sprachlicher Äußerungen) lernen, was er wahrnimmt oder wahrnehmen kann, woran er sich erinnert oder erinnern kann, und was er sich vorstellt oder vorstellen kann. Wenn ich z.B. jemanden entsprechend gut kenne und er etwas in meinen Augen Verkehrtes tun will, dann kann ich zu ihm sagen: „Hast du auch das wahrgenommen? Erinnerst du dich nicht an jenes? Oder stelle dir nur dieses vor!“, wenn ich mir sicher bin zu wissen, dass er das, jenes oder dieses nicht bedacht hat und deswegen zu dem „verkehrten“ Entschluss gekommen ist.

Über Empfindungen bzw. Stimmungen oder unsere momentane Befindlichkeit erhalten wir nur durch die Wahrnehmung Auskunft, aber sie werden durch die Bewertung anderer Auskünfte bestimmt, sogar durch die Bewertung der Auskunft über die Wahrnehmung selbst. Eine gereizte Stimmung kann noch gereizter werden, wenn ich die Auskunft darüber, also die Wahrnehmung der gereizten Stimmung, so bewerte, dass ich diese Stimmung ärgerlich finde. Eine Stimmung kann mir auch seltsam vorkommen, wenn mich etwas als harmlos Wahrgenommenes an etwas Gefährliches erinnert und meine Empfindung dadurch entsprechend angstvoll wird (wie in dem Beispiel von Cavell auf Seite 193, als das Fallenlassen der Seife die für eine Explosion charakteristische Empfindung auslöst). Wie aber kann etwas Harmloses die Erinnerung an etwas Gefährliches auslösen bzw. anregen? Meines Erachtens nur durch Erfahrungen, die die Organisation unseres Gedächtnisses so beeinflusst haben, dass wir assoziativ von etwas Harmlosem zu etwas Gefährlichem kommen wie von „Hölzchen auf Stöckchen“. (Vielleicht hat mein Vater, nachdem ihm die Seife aus der Hand gefallen ist, einmal einen explosionsartigen Wutanfall bekommen.) Dabei muss die Erinnerung nicht explizit sein, es kann auch sein, dass ich nur das charakteristische Empfinden einer Gefahr habe, so als ob ich etwas Schlimmes erwarte. Dann ist in meinem Gedächtnis eine Art Generalisierungseffekt eingetreten, d.h. die ursprüngliche Erfahrung ist in meiner Erinnerung durch ein allgemeines Gefahrensignal ersetzt worden und ich kann diese Erfahrung, wenn überhaupt, nur noch mühsam erinnern. Wenn das Wahrnehmen „meiner Empfindungen allein es nicht ermöglicht, dass ich mich selbst kenne (weiß, was ich tue, was ich erwarte, hoffe, schätze, fürchte ...), dann sagt uns das etwas über die Natur des Wissens von mir selbst: Dass es davon abhängt, ob ich in Bezug auf die Situation, in denen sie vorkommen, Ort oder Reichweite – ich möchte sagen Normalität oder Abnormität – jener Empfindungen kenne oder richtig einschätze.“ (ebenda, S. 197) Auf mich selbst wende ich eben die Kriterien anders an als auf andere, zumindest was die Wahrnehmung betrifft. Was ich wahrnehme, ist unmittelbar, da brauche ich keine Kriterien, aber um das Wahrgenommene (die Auskunft) zu beurteilen, insbesondere auch einzuordnen, wie normal es ist im Verhältnis zur aktuellen Situation und welche Gedächtnis- und Vorstellungsinhalte, die für mich vielleicht nicht explizit sind, eine Rolle spielen – dieses Wissen über mich kann ich mir nur über die Kriterien erschließen, indem ich sie auf meine von mir bei mir wahrgenommenen Prozesse anwende. Bei anderen muss ich mir auch das Wissen um deren Wahrnehmungsprozesse mit Hilfe der Kriterien erarbeiten bzw. lernen, die Kriterien entsprechend auf ihr Benehmen anzuwenden, wobei ich das umso besser vermag, je mehr ich um die Relationen meiner eigenen Prozesse und deren Wirkung auf andere und weiterhin noch weiß, welche Erfahrungen der andere schon gemacht hat und was er sich alles vorstellen kann. Die Wahrnehmung ist gehalten in Erinnerung und Vorstellung, so wie die Gegenwart gehalten ist in Vergangenheit und Zukunft oder die Ankunft in Herkunft und Zukunft (Kolb, 2011, 9. Kapitel). Und damit ich mir selbst einen Ort in der Welt zuweisen kann, ist die Auskunft nötig, das Wahrgenommene, Erinnerte und Vorgestellte, denn nur dadurch kann ich „wissen, dass ich tatsächlich getan habe, was ich beabsichtigte (hoffte, versprach ...)“ (Cavell, 2006, S. 198). Wenn ich das Vorgestellte und Geplante mit dem als Folge meiner Handlung Wahrgenommenen in Übereinstimmung sehe, habe ich meine Hoffnung erfüllt oder meine Absicht erreicht, das früher Wahrgenommene und jetzt Erinnerte erfolgreich verändert zu haben.

Mit dem Thema der Selbsterkenntnis kommt das Verhältnis von Absicht, Ausführung und Folge ins Visier unserer Betrachtungen, was sehr oft gestört ist („ ... aber das habe ich nicht gewollt!“). Es geht dabei letztlich um „die praktische Schwierigkeit, das Bewusstsein an die Welt zu heften, besonders an die sozio-politische Welt, die Welt der Geschichte“, wie Cavell es auf Seite 199 ausdrückt. Sich nicht für die Folgen seines Verhaltens zu interessieren ist schlicht unsozial. Aber der andere kann uns oder auch sich selbst dabei täuschen, was wir bei ihm ausgelöst hätten. Ein Handelnder kann gegenüber anderen Absichten äußern, oder man kann ihm Absichten unterstellen, die er gar nicht gehabt hat. Insofern ist es auch ein Problem, genug zu wissen, was mit dem anderen ist, und damit sind wir bei den Kriterien, sowohl was das Wissen über den anderen als auch über uns selbst betrifft. Nach Wittgenstein lösen die Kriterien die Aufgabe, die Lücke zwischen Bewusstsein und Welt zu schließen, die Störung zwischen Absicht, Ausführung und Folge zu entstören. Die traditionelle Philosophie, meint Cavell auf Seite 200, habe diese Lücke als praktische Schwierigkeit nicht ernst genommen, sie entweder mit Gott oder irgendwelchen Universalien gefüllt oder aus theoretischen Gründen bestritten, dass sie sich überhaupt überbrücken lässt. Das Unsoziale dabei ist, „dass wir in Frage stellen, was wir gar nicht anders als wissen können, nur um nicht das suchen zu müssen, was zu entdecken schmerzhaft wäre“ (ebenda). Wenn eine Revolution lieber ihre Kinder frisst, als bei sich selbst nach Fehlern zu suchen, auch wenn das schmerzhaft ist, dann ist das unmenschlich. Wenn ich aber andererseits nur nach Fehlern bei mir suche, werde ich schnell ausgenutzt. Insofern ist die Position des Skeptizismus alles andere als trivial. Wenn jemand entsprechend ausgenutzt und betrogen worden ist, dann ist nichts „menschlicher als der Wunsch, seine Menschlichkeit zu verneinen oder sie auf Kosten anderer zu behaupten“ (ebenda), da andere mit ihm auch so umgegangen sind. Aber was ist menschlich, und gibt es so etwas wie die Natur des Menschen? „Wittgensteins Entdeckung oder Wiederentdeckung handelt davon, wie tief die Konvention [als Kriterien] im menschlichen Leben verankert ist; seine Entdeckung betont nicht nur die Konventionalität der menschlichen Gesellschaft, sondern auch, so könnten wir sagen, die Konventionalität der menschlichen Natur selbst“ (ebenda, S. 203). Eine entsprechende Redensart besagt: Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Das sei unsere Natur, und sonst gar nichts. Verhaltensforscher haben herausgefunden, dass bestimmte, auch nebensächliche Verhaltensweisen, die in einer als bedrohlich empfundenen Situation auch nur zufällig ausgeführt werden, zur Gewohnheit werden. Insofern können uns vertraute Dinge bei näherem Hinsehen seltsam erscheinen.

Wittgenstein beschäftigte sich stark mit der „Vorstellung von Normalität und Abnormität“, was mit einer Vertiefung des Gedankens einherging, „dass Sprache gelernt wird, dass jemand kultiviert wird“ (ebenda, S. 204). Seine „Erkenntnis, wie wenig sich lehren‘‘ lässt, wie hilflos und impotent das Lehren verglichen mit der ungeheuren Menge des Gelernten sozusagen ist“ (ebenda), beruht wohl auch auf seiner eigenen Hilflosigkeit und Unfähigkeit als Volksschullehrer (von 1920 bis 1926 in Österreich). „Der Verstand lässt sich nicht an jedem Punkt anleiten; Lehren (Gründe, meine Kontrolle) hat (haben) irgendwo ein Ende, und dann übernimmt der andere. […] Aber er oder sie soll es richtig machen“ (ebenda), nämlich so wie ich es machen würde. Normalität und Abnormität „hängen von der selben Kulturtatsache ab, dass nämlich von den Angehörigen der Kultur vollständige Akzeptanz und Verstehen erwartet wird. Und doch kann die Kultur nicht viel über sich mitteilen, um ihren Erwerb zu sichern.“ (ebenda, S. 204 f.) Wer alles versteht, wird in die Gemeinschaft integriert und gilt als normal, wer nicht, wird ausgesondert und gilt als abnorm. Diese Form der Intoleranz lässt sich natürlich noch steigern bis zur vollkommenen Gleichschaltung in totalitären Gesellschaftssystemen, aber auch entsprechend liberalisieren, wenn heutzutage bei uns zum Beispiel in den Schulen immer mehr die Inklusion durchgesetzt wird, d.h. Kinder mit Lernbehinderung bleiben in den normalen Schulklassen und werden nicht mehr in eine Sonderschule ausgesondert. Intoleranz bedeutet ja, dass ich etwas nicht ertragen kann. Was also können wir bei den Menschen, die wir als abnorm aussondern, nicht ertragen? Ein solcher Mensch scheint uns nicht verstehen zu können, und wir haben Schwierigkeiten, uns ihm verständlich zu machen, das heißt unsere Fähigkeit, mit ihm zu kommunizieren, hat eine Grenze. „Die von mir angenommene Überzeugungskraft meiner Worte verpufft. […] ich merke, dass auch mein eigenes Verstehen nicht weiter reicht, als meine natürlichen Reaktionen es erlauben. Ich bin auf mich selbst zurückgeworfen“ (ebenda, S. 209). Was ich also nicht ertragen kann, ist dieser Schwebezustand, ob ich mich mit dem anderen nicht doch früher oder später einmal verständigen kann, dass wir uns doch einmal gegenseitig verstehen können. Da jeder Schwebezustand Kraft kostet, habe ich irgendwann einmal keine Kraft mehr dafür und muss dann eine Grenze ziehen.

Konventionen bzw. Übereinkünfte zwischen Menschen sind nicht immer optimal, so dass sich die Frage erhebt, wann und wie sie geändert werden sollten. Ich denke, eine solche Änderung sollte notwendig, zweckmäßig und wirtschaftlich sein. Ohne Not bzw. einen Nachteil braucht man eine Konvention nicht zu ändern, nur dann, wenn dadurch eine Not abgewendet oder einen Nachteil beseitigt werden kann. Wenn sie dem Zweck der Abwendung einer Not oder der Beseitigung eines Nachteils dient, dann ist sie zweckmäßig, und was die Wirtschaftlichkeit betrifft, so sollte die Änderung der Übereinkunft keine neue Not oder einen neuen Nachteil erzeugen, die oder der womöglich noch schlimmer ist als die oder der alte. Cavell unterstreicht die Veränderbarkeit von Konventionen, „da es zu ihrem Wesen gehört, irgend einem Projekt zu dienen, und welche Reihe von Konventionen besser als andere für das Projekt sind, wird man nicht a priori wissen können. D.h., es gehört wesentlich zu einer Konvention, dass sie für Veränderungen in der Versammlung, gewissermaßen im Konvent, offen ist, in der Versammlung derjenigen, die ihr unterworfen sind, in deren Verhalten sie lebt […], nur dort erkennen wir, was wir tun, erfahren wir unsere Position in dem, was wir für Lebensnotwendigkeiten halten, sehen wir, zu welchem Zweck sie notwendig sind“ (ebenda, S. 217 f.).

Cavell fragt nun, wieso Wittgenstein für die Darlegung einer Vorstellung von Normalität mehr oder weniger mathematische Beispiele anführt. Zum einen sind sowohl Sprache als auch Mathematik modellhaft und statt an die Realität an Konventionen gebunden, d.h. sie sind in diesem Sinne reines Denken. Wenn man sich weiterhin die mathematischen Beispiele Wittgensteins näher betrachtet, so geht es dabei oft um unendliche Folgen, ein Abbild der natürlichen Zahlen, und wenn jemand eine solche Folge fortsetzen kann, dann hat er die Kriterien für die Bildung der Folge offensichtlich verstanden, er hat sich einen Begriff dieser Folge gemacht, er kann jedes beliebige Glied der Folge nach endlich vielen Schritten greifen und begreifen. Wenn jemand eine Folge fortsetzen kann, dann kann er mir folgen, er kann folgern, also dieselben Konsequenzen ergreifen wie ich, wir stimmen in unseren Urteilen überein. Anhand einer Folge kann ich also prüfen, ob der andere mich verstanden hat. Je nachdem, wie ein anderer ein Wort in neuen Zusammenhängen verwendet, kann ich prüfen, ob er die Bedeutung dieses Wortes verstanden hat, ob er über den damit bezeichneten Begriff verfügt. Eine wichtige Parallele zur Sprache scheint mir auch folgendes zu sein, und das ist wohl der andere Punkt, weswegen Wittgenstein mathematische Beispiele und insbesondere das Beispiel der mathematischen Folge verwendet: eine Folge muss nicht explizit durch eine Formel definiert sein, so dass ich jedes Glied der Folge ohne die vorangegangenen Glieder berechnen kann, ich kann sie auch so vorgegeben, dass ich vorangegangene Glieder kennen muss, um daraus das nächste Glied berechnen zu können. Dies entspricht in etwa den impliziten Kriterien der Sprache, die für sich allein schon ausreichen, um die Sprache fehlerfrei zu sprechen, auch wenn man nicht die expliziten Grammatikregeln der Sprache kennt. Mit ihren impliziten Kriterien erscheint die Sprache demjenigen, der sie beherrscht, als selbstverständlich, als könne man die Sprache aus sich selbst heraus verstehen, als sei es ganz natürlich, dass sie nur so gesprochen werden kann, alles andere fühlt sich falsch und unnatürlich an. Dabei ist es mir als kompetenter Benutzer der Sprache nicht unbedingt klar, dass das, was ich für selbstverständlich und natürlich halte, die impliziten Kriterien der Sprache, die mehr oder weniger stillschweigenden Übereinkünfte meiner Sprachgemeinschaft sind, und damit alles andere als selbstverständlich und natürlich, sondern geprägt von bestimmten menschlichen Interessen. Auch das Phänomen, dass wir etwas für umso wahrer halten, je öfter es gesagt wird (und es wird hier um so öfter gesagt, je größer das Interesse ist, dass es akzeptiert und für wahr gehalten wird), lässt sich so erklären. „Ich kann nicht entscheiden, was ich für selbstverständlich halte, sowenig wie ich entscheiden kann, was mich interessiert: Ich muss es herausfinden.“ (ebenda, S. 221) Wenn jemand zum Beispiel in einer Familie aufgewachsen ist, in der alle an Horoskope geglaubt haben, dann hält er es für selbstverständlich, in sein Horoskop zu schauen, wenn für ihn etwas Wichtiges ansteht, und bei einem potentiellen Partner oder Partnerin interessiert ihn das Sternzeichen. Erst wenn er längere Zeit mit Menschen gelebt hat, die so etwas als Aberglaube abtun, kann ihn das dazu befähigen oder auch zwingen, seine Einstellung bezüglich Horoskope zu erforschen, zu klären und sich zu entscheiden, ob er sie ändern möchte oder nicht. Als ich angefangen habe, Mathematik zu studieren, sagte uns der Professor in der ersten Vorlesung, wir sollten alles vergessen, was wir jemals in der Schule über Mathematik gehört oder gelernt hätten. Jegliche Anschaulichkeit führe zu falschen Schlussfolgerungen. Es ist klar, dass Anschauliches zu sprachlichen Formulierungen und damit zu konventionellen Schlussfolgerungen führt, die implizite Voraussetzungen enthalten, und in der mathematischen Theorie, um die es jeweils geht, hat man unter Umständen ganz andere Voraussetzungen angenommen. Im § 570 heißt es: „Begriffe leiten uns zu Untersuchungen. Sind der Ausdruck unseres Interesses, und lenken unser Interesse.“ (Wittgenstein, 2001, S. 960) „Unser“ Interesse muss nicht unbedingt mein Interesse sein. Was ist also mein eigentliches Interesse? Und ist es normal?

Um also zu klären, was normal ist, muss ich herausfinden, was ich für selbstverständlich halte und was mich interessiert. Wie kann ich dann aber herausfinden, was für mich wirklich natürlich und wirklich von Interesse und nicht durch unsere Kultur beeinflusst ist? Oder ist etwa für mich absolut nichts natürlich und von Interesse? Wenn alles nur Konvention ist, dann muss ich vielleicht genau davon ausgehen. Ich könnte zum Beispiel für mich die Übung machen, mich mit der Frage zu konfrontieren, wer ich bin, mit dem Ziel, eine echte und unmittelbare Erfahrung von mir zu machen, indem ich jede Antwort prüfe, ob sie echt oder nur konventionell ist, ob sie unmittelbar ist oder mir durch irgendetwas irgendwann Wahrgenommenes vermittelt wird. Auf diese Weise lasse ich jede Antwort auf die Frage, wer ich bin, zu ihrem Ursprung zurückgehen, bis ich eine echte und unmittelbare Erfahrung dieses Ursprungs mache. Diese Übung habe ich in ähnlicher Weise schon einmal beschrieben (Kolb, 2012, 10. und 11. Kapitel). Entsprechend kann ich mich (wie ebenda) mit den Fragen konfrontieren, was Leben ist, wer oder was ein anderer ist, und was Lieben ist, jeweils mit dem Ziel, eine echte und unmittelbare Erfahrung vom Leben, von der Andersheit eines anderen und vom Lieben zu machen, indem ich jede Antwort entsprechend prüfe wie bei der ersten Frage. Da diese Fragen nichts anderes als ein Äquivalent zur allgemeinsten Sinnfrage, der Frage nach dem Sinn des Seins sind (ebenda), werden damit alle Selbstverständlichkeiten und möglichen Interessen angesprochen. Ich kann also auf diese Weise die Kriterien meiner Kultur immer mehr ausbreiten, „um die Kultur sich selbst an den Nahtstellen gegenüberzustellen, an denen sie sich in mir begegnet. […] Eine solche Aufgabe scheint mir den Namen Philosophie zu verdienen. Und damit ist auch etwas beschrieben, was wir Erziehung nennen können“ (Cavell, 2006, S. 225). Diese Erziehung für Erwachsene ist laut Cavell „Veränderung, nicht natürliches Wachstum“ (ebenda, S. 226), deren Erfolg meiner Meinung nach (Kolb, 2012) daran ablesbar ist, wie wenig Angst ich noch vor dem Tod habe, wie wenig Wut noch wegen meiner Geworfenheit ins Leben und meiner bisherigen Lebensumstände, wie wenig Leid noch wegen der Andersheit von anderen und wieviel Begeisterung immer wieder für meinen Alltag.


Skeptizismus und die Existenz der Welt

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Cavell stellt in seinem Buch „Der Anspruch der Vernunft“ zwei Arten von Philosophen einander gegenüber, den Alltagsphilosophen, der behauptet, es sei vernünftig, von einer Erkenntnisfähigkeit des Menschen auszugehen, da sich diese Auffassung doch im praktischen Alltag bewährt und schon immer bewährt hat, und den traditionellen Philosophen, den er auch den Erkenntnistheoretiker nennt, der die Meinung vertritt, es sei überhaupt nicht vernünftig, der Erkenntnisfähigkeit des Menschen so zu vertrauen, dafür seien schon zu viele Fehler mit schlimmen Folgen passiert, weil einzelne Wissensansprüche gescheitert seien, da man entscheidende Umstände übersehen und Voraussetzungen angenommen habe, die gar nicht gegeben waren. Erkenntnistheoretiker zweifeln daher „an der Macht des Wissens [...], die Welt überhaupt zu erschließen“ (Cavell, 2006, S. 229), und sie untersuchen generische Objekte als Beispiele, weil man spezifische Objekte nicht übersieht und ihre Anwesenheit außer Zweifel steht. Einerseits wirkt dies überzeugend, andererseits aber, so wird der Alltagsphilosoph entgegnen, wir können doch im Alltag nicht bei allem, was wir tun, uns fragen, ob wir etwas übersehen oder etwas Abwesendes als vorhanden vorausgesetzt haben, das wäre absurd und würde uns handlungsunfähig machen. Eine gewisse Vorsicht sei natürlich wichtig, und man würde ja aus Fehlern lernen, man habe bisher auch alles in den Griff bekommen. Dem kann der Skeptiker wiederum entgegnen: „Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht.“

Der Alltagsphilosoph, so meint Cavell, nimmt den traditionellen Philosophen nicht ernst, sieht in ihm nur den versponnenen Theoretiker, der mit der Praxis nicht zurecht kommen würde, während der Erkenntnistheoretiker den Alltagsphilosophen als naiv und zu vertrauensvoll ansieht, als blinden Aktionisten. Cavell fragt sich nun, worauf die Haltung des traditionellen Philosophen beruht, es muss doch eine vernünftige Schlussfolgerung aus irgendeiner Erfahrung geben, und er hofft, „dass uns drei phänomenologisch frappante Merkmale der Konklusion deutlicher werden [...]: den Sinn der in der Konklusion der Untersuchung ausgedrückten Entdeckung; den Sinn des Konflikts dieser Entdeckung mit unseren alltäglichen »Überzeugungen«; die Instabilität dieser Entdeckung, d.h. wieso die theoretische Überzeugung, die sie vermittelt, sich unter dem Druck unseres alltäglichen Umgangs mit der Welt (oder auch durch die Zerstreuung, die er mit sich bringt) wieder auflöst.“ (ebenda, S. 229 f.) Cavell hält die Betrachtung dieser Merkmale für genauso wichtig wie die Verlagerung der Aufmerksamkeit von den Gegenständen zu den Sinnesdaten, wie dies von den meisten Philosophen bei diesem Problem gemacht werde.

Die Vernünftigkeit des Zweifels

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Jeder Mensch macht im Laufe seines Lebens die Erfahrung, dass er sich geirrt hat. Manche wundern sich mehr oder weniger darüber, andere sind erschreckt, je nachdem auch, welche Auswirkungen der Irrtum gehabt hat. Dabei entdecken wir, dass wir uns täuschen oder getäuscht werden können, dass wir uns nicht vollkommen auf unsere Sinne verlassen können, und in der Regel werden wir dann vorsichtiger und misstrauischer und suchen nach Möglichkeiten, wie wir uns in Zukunft vor derartigen Irrtümern schützen können. In den meisten Fällen wäre es unvernünftig, deswegen generell die eigene Fähigkeit anzuzweifeln, etwas zu wissen. Damit schmettert der Alltagsphilosoph die Zweifelsgründe ab als „unvernünftig“ bezogen auf die Alltagssituation. Der Erkenntnistheoretiker fühlt sich dadurch aber weder verstanden noch ernst genommen. Wenn man das von Cavell zitierte Austin´sche Schema Behauptung-Grundlage-Zweifelsgrund anwendet, steht und fällt die Vernunft einer Behauptung damit, ob die Grundlage vernünftiger ist als der Zweifelsgrund oder umgekehrt. In dem Austin´schen Szenario mit dem Stieglitz als spezifischem Objekt ergibt sich kein genereller vernünftiger Zweifelsgrund: natürlich können wir nicht immer mit Sicherheit behaupten, dass es ein Stieglitz ist, aber unter entsprechend günstigen Bedingungen und mit dem entsprechenden Wissen als Grundlage gibt es keine vernünftigen Zweifelsgründe mehr an einer solchen Behauptung. Wenn es aber in dem klassisch-philosophischen Szenario um generische Objekte geht, können wir einem Zweifelsgrund wie z.B. dem, woher wir so genau wissen, ob wir gerade wach sind oder träumen, vernünftigerweise nichts entgegnen. Seit Freud können wir auch eine Freud´sche Fehlleistung als Zweifelsgrund anführen. Gegen solche Zweifel kann keine Behauptungsgrundlage bestehen, die sich nur auf die menschliche Sinneswahrnehmung berufen kann. „Von hier zu der Konklusion, dass wir unter keinen Umständen etwas wissen, ist der Schritt dann trivial.“ (ebenda, S. 237) Wegen der Verallgemeinerung können wir also den Einwand des Skeptikers nicht zurückweisen.

Die Frage, woher wir etwas wissen, einfach so abzuschmettern, dass sie sich nicht stelle, ist auch nicht korrekt, da sie sich ja für den traditionellen Philosophen bereits gestellt hat. Der Punkt ist daher, „wieso die Frage sich überhaupt gestellt hat, wie sie sich hat stellen können“ (ebenda). Geläufige Einwände gegen den Erkenntnisphilosophen befassen sich vor allem mit der Analyse seiner Wahrnehmung, also mit der Behauptungsgrundlage (sinnliche Wahrnehmung) und dem Zweifelsgrund (Traum, Illusion, Halluzination, Unbewusstes usw.). Cavell dagegen will das Vorgehen des traditionellen Philosophen gründlicher artikulieren und setzt daher schon beim Aufbau seines Szenarios an, bei dem der Erkenntnistheoretiker nach der Existenz eines generischen Objektes fragt in einer Situation, in der uns diese Frage normalerweise absurd erscheint. „Normal“ bedeutet ja nach Wittgenstein die Akzeptanz unserer Kriterien, unserer Kultur, d.h. der Erkenntnistheoretiker stellt sich außerhalb unserer Gemeinschaft und benutzt offensichtlich andere Kriterien als wir. Ihn daher lächerlich zu machen und damit auszugrenzen, entzieht jeder Verständigungsmöglichkeit den Boden, und irgendwo wollen wir ihn doch verstehen, wieso er seine Kriterien geändert hat und sich damit eine andere Kultur erschaffen hat, denn wir haben ja längst nicht alle Probleme gelöst und jede Not abgewendet, und er könnte uns vielleicht auf neue Ideen und Lösungsmöglichkeiten bringen, da er ja offensichtlich nicht dumm ist. Jeder Mensch hat wohl irgendwo gewisse Zweifel, solange er nicht absolut mit sich und der Welt zufrieden ist (und wer ist das schon!?), und an dieser Stelle kann uns der traditionelle Philosoph mit seinen Zweifeln berühren.

Cavells Hauptthese ist, „dass diese Frage [z.B. (Wie) können wir irgendetwas über die Welt wissen, was ist Wissen, worin besteht mein Wissen über die Welt?] eine Reaktion auf oder ein Ausdruck für ein konkretes Erlebnis ist, das sich uns Menschen aufdrängt. [...] Sie ist keine Reaktion auf Fragen, die sich im Alltagsleben stellen, in einer Sprache, die jeder, der diese Sprache beherrscht, auch als normal akzeptieren würde. Aber sie ist [...] eine Reaktion, in der ein natürliches Erlebnis eines Geschöpfes zum Ausdruck kommt, das kompliziert und belastet genug ist, um überhaupt Sprache zu besitzen“ (ebenda, S. 246). Cavells Ausdrucksweise legt hier nahe, dass jeder Mensch so etwas früher oder später erlebe, aber ich denke, dass es nicht bei allen so ist. Eine so weitgehende Annahme ist meines Erachtens auch gar nicht nötig. Es reicht im Prinzip, wenn die Skeptiker so ein Erlebnis hatten. Natürlich können auch andere es erlebt und nicht philosophisch oder gar nicht ausgedrückt haben, aber das ist für diese Argumentation unerheblich. Dieses „natürliche“ Erlebnis muss also sehr belastend gewesen sein, und der Betreffende muss in einer gewissen Hinsicht dadurch „vom Glauben abgefallen“ sein, vom Glauben an das Gute im Menschen, vom Glauben an die Liebe oder vom Glauben an irgendein Ideal, denn nur so ist meines Erachtens das tiefe Misstrauen, der generelle Zweifel erklärbar. Das Erlebnis muss also eine entsprechend große Enttäuschung für die betreffende Person gewesen sein, ein Erlebnis, bei dem sich etwas, woran sie geglaubt und darauf vertraut hat, als Täuschung herausgestellt hat. Auf der emotionalen Ebene ist eine Enttäuschung eine Mischung aus Leid oder Trauer und Wut oder Zorn, zu der sich dann auch Angst oder Furcht vor einer Wiederholung gesellen kann, und das Widerwärtige an dem Erlebnis kann zusätzlich noch Scham- oder Schuldgefühle, wenn man sich selbst zumindest mitverantwortlich fühlt, oder Abscheu vor anderen hervorrufen, wenn man ihnen Schuld daran gibt.

Cavell meint, dass es dazu „eines Erlebnisses [bedarf], das Philosophen als eines charakterisiert haben, bei dem einem bewusst wird, dass die Sinneseindrücke überhaupt nicht von der Welt herzurühren brauchen, was man zuvor geglaubt hat. Oder: dass man nur wissen kann, wie die Objekte (uns) erscheinen, niemals jedoch, was diese Objekte an und für sich selbst sind.“ (ebenda, S. 251) Wenn jemand solche Erlebnisse hatte und diese sich im Alltag in bestimmten Situationen, auch wenn das Erlebnis selbst nicht wachgerufen ist, so auswirken, dass die Betroffenen Zweifel haben, „dann ist der Versuch, sich intellektuell von ihrer Sinnlosigkeit zu überzeugen, eher dazu angetan, den eigenen Glauben an den Intellekt herabzusetzen“ (ebenda) und auch die Existenz eines „gesunden Menschenverstands“ anzuzweifeln. Es sind Erlebnisse, die auch später noch bei den Betreffenden in Gedanken Erlebnisse auslösen, „wie z.B. dass sie, vermeintlich wach, doch träumten“ (ebenda). Cavell schildert es so: „dass ich, wie ich es ausdrücken möchte, der Welt abhanden gekommen bin, eingeschlossen in meinen eigenen unabsehbaren Erlebnisstrom“ (ebenda, S. 252). Dies ist die Beschreibung eines kraftvollen Wiedererlebens eines vergangenen Erlebnisses oder früherer Gefühlszustände, was man auch als Flashback bezeichnet. Wenn ich das Bisherige über diese Erlebnisse zusammentrage, die den traditionellen Philosophen in der Reaktion darauf zum Skeptiker gemacht haben, so haben wir es mit einer derart schlimmen und belastenden Enttäuschung zu tun, dass sie sogar zu Flashbacks führt, es muss also ein traumatisches Erlebnis gewesen sein, bei dem sich die betreffende Person von einer sehr vertrauten Person, von der zumindest in jenem Moment eine Abhängigkeit bestanden hat, absolut in ihrem Vertrauen enttäuscht fühlte. Diese vertraute Person ist wohl das Objekt, von dem die enttäuschte Person nur wissen konnte, wie sie ihr erschien, niemals jedoch, was sie an und für sich selbst war. Und die Sinneseindrücke von dieser vertrauten Person rührten nicht von der wirklichen Welt, sondern von einer Märchen- oder Traumwelt her, in der alles in Ordnung war. Die Folge ist dann „ein Gebot der Klugheit, denen niemals ganz zu trauen, die uns auch nur einmal getäuscht haben“ (Descartes, zitiert nach ebenda, S. 254).

Eine solche psychologische Erklärung, da gebe ich Cavell recht, beweist nicht die erkenntnistheoretische Bedeutungslosigkeit der Zweifel des traditionellen Philosophen, im Gegenteil, sie erklärt die Kraft, die dahinter steht, die den Erkenntnistheoretiker antreibt und dazu befähigt, gegen alle Verständnislosigkeit der großen Mehrheit der Menschheit auf seiner Position zu beharren. Es ist die Kraft der Überzeugung, dass er etwas Bedeutungsvolles zu sagen hat, weil er eine wichtige Erkenntnis gewonnen hat. Das Psychische entsteht durch die Bewertung einer Erfahrung und wirkt dann als kraftvolle Aufforderung, etwas zu finden, um einen als nicht optimal bewerteten Zustand zu verbessern, also nach entsprechenden Erkenntnissen zu suchen und diese dann in der Realität umzusetzen. Insofern beweist das Psychische nicht das Erkenntnistheoretische, aber die entsprechende Erkenntnis, wenn sie gefunden ist, beruhigt die Psyche, d.h. die Beruhigung der Psyche gibt der Erkenntnis eine psychische Bedeutung.

Projektive Imagination als Entgegnung des Alltagsphilosophen

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Der Erkenntnistheoretiker hat den Argumenten des Alltagsphilosophen (man brauche einen vernünftigen Grund, die Existenzfrage zu stellen, und zwar auf natürliche Art, und seine Schlussfolgerung widerspreche dem gesunden Menschenverstand und der Alltagssprache) mit Vernunft entgegnen können, und er bestreitet auch nicht unsere Alltagspraxis, wenn es um spezifische Objekte geht, da seine Untersuchungen allgemeiner seien und auf generelle Gefahren aufmerksam machen sollen, die ihm durch grundlegende Enttäuschungserlebnisse deutlich geworden sind (z.B. die Erkenntnis, dass „das Sein des Daseins zur Welt wesenhaft Ergriffenheit, Erwartung und Täuschung“ ist). Cavell fragt daher, „wie kommt es dann, dass die Arbeit des Philosophen der Alltagssprache diese Tatsache hat ignorieren oder erfolgreich verkleinern können?“ (ebenda)

Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, befasst sich Cavell genauer mit der Methode alltagssprachlicher Untersuchungen von dem, „was gesagt wird“. Es ist eine projektive Methode derart, dass gefragt wird, was jemand in einer bestimmten vorgestellten Situation sagen würde und umgekehrt, wenn er etwas Bestimmtes sagen würde, welche Situationen dazu passen würden. Projektive Tests kennt man auch aus den Sozialwissenschaften, z.B. den Thematischen Apperzeptionstest (TAT) oder am bekanntesten den Rohrschach-Test. Die Geltung einer Vorstellung, zu der man aufgefordert wird, beruht „nicht auf dem gewöhnlichen oder auf dem gewöhnlicherweise empirisch genannten Wissen [...], sondern auf dem Wissen von sich selbst.“ (ebenda, S. 255) Auch TAT und Rohrschach liefern keine „harten Fakten“, sondern machen auf Themen und Themenbereiche in der Persönlichkeit des Probanden aufmerksam, die im Gespräch (Anamnese o.ä.) erst noch geklärt und weiter erforscht werden müssen. Cavell hat schon in früheren Arbeiten (Must We Mean What We Say?) den philosophischen Nutzen derartiger Untersuchungen dargelegt, gleichzeitig aber betont er hier, dass „der Nutzen, den wir uns von solchen Methoden versprechen dürfen, sie als direkte Kritik an der Tradition untauglich macht“ (ebenda). Es sei wichtig, den durch sie möglichen „Gewinn an Klarheit, gemeinsamem Fortschritt und auch an jenem Wissen von sich selbst [...] nicht dadurch (zu) diskreditieren, dass sie dort Druck machen, wo sie nicht überzeugen können.“ (ebenda)

Der Erkenntnistheoretiker und der Alltagsphilosoph reden meines Erachtens in der Hinsicht aneinander vorbei, dass der Alltagsphilosoph sich auf den allgemeinen Sprachgebrauch und das darin enthaltene allgemeine Wissen von der Welt stützt, während der traditionelle Philosoph differentiell vorgeht und die Besonderheiten hervorhebt, den Einzelfall ins Visier nimmt, um die wichtigen Themen nicht zu übersehen, die bei allgemeinen Betrachtungen untergehen würden. Wenn beim TAT z.B. auf einem Bild eine Pistole zu sehen ist, so stellt der Alltagsphilosoph fest, dass diese von den meisten auch gesehen wird, das ist für ihn dann normal, und er sieht keinen vernünftigen Grund mehr darin, sich mit diesem Thema noch weiter zu beschäftigen, es gibt Wichtigeres, z.B. andere Einzelheiten, die von den meisten übersehen werden, und wie man hier die Vigilanz der Menschen erhöhen könnte. Der traditionelle Philosoph dagegen wird den Einzelfall untersuchen, weswegen jemand die Pistole nicht gesehen hat, welche Problematik sich dahinter verbergen könnte, und er hat wieder einen Beleg dafür, dass wir oft ganz offensichtlich Dinge übersehen und äußerst misstrauisch gegenüber unserer Sinneswahrnehmung sein sollten. Und vielleicht das Wichtigste, was der Alltagsphilosoph ihm vorwirft, er suche nicht nach Lösungen, sondern er problematisiere nur, sei „Sand statt Öl im Getriebe der Welt“. Hier fühlt sich wiederum der traditionelle Philosoph missverstanden, denn er meint, das Problem liegt so tief, dass man es nur mit gemeinsamer Anstrengung lösen kann und niemanden dabei ausschließen sollte, er macht sich sozusagen zum Anwalt der Ausgegrenzten und mag vielleicht Beispiele als Argumente in die Waagschale werfen, dass gerade die Menschen, die schon früher als Spinner ausgegrenzt wurden, Dinge sahen und mit entsprechender Geduld, die andere nicht gehabt hatten, auf Lösungen von Problemen gekommen sind, denen wir heute so viel von unserem Wissen verdanken. (Newton wäre nie auf seine Gravitationstheorie gekommen, wenn er nicht ein Problem im Fallen von Gegenständen gesehen hätte, wofür ihn damals die anderen wahrscheinlich für verrückt erklärt hätten.) So wirft er dem Alltagsphilosophen Ungeduld und mangelnde Frustrationstoleranz vor, ungelöste Probleme nicht aushalten zu können. Jemand, der, wie im vorigen Abschnitt beschrieben, traumatische Belastungen erlebt hat, hat meist eine hohe Frustrationstoleranz entwickeln müssen, denn er musste lange Zeit ohne oder mit zu wenig Verständnis von anderen mit der Enttäuschung leben.

Einzelfallanalyse und allgemeine Untersuchungen sind sehr unterschiedliche Methoden, um an Erkenntnis zu kommen. Ersteres bietet sich an, wenn ein Forschungsgebiet noch zu unübersichtlich ist, die Themen unklar und sehr komplex sind, letzteres ist erforderlich, um konkrete Ergebnisse zu erzielen und ein praktisches Vorgehen zu erreichen. Insofern scheint es eine grundlegende Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden Lagern zu geben: der Erkenntnistheoretiker ist noch skeptisch, ob wir wirklich genug Klarheit über die verschiedenen für ihn sehr komplexen philosophischen Themen haben, ob wir wirklich schon genug über uns selbst und andere Menschen wissen, sodass wir von Einzelfallanalysen übergehen könnten zu lösungsorientierten allgemeinen Untersuchungen, während der Alltagsphilosoph der Meinung ist, wir hätten uns jetzt lange genug mit Idiosynkrasien beschäftigt und sollten jetzt die Ärmel hochkrempeln und zur Tat schreiten. Der Alltagsphilosoph verlangt vom Erkenntnistheoretiker, er solle den allgemeinen Zusammenhang seiner Untersuchungen darlegen, was dieser ablehnt, das könne er nicht, man wisse viel zu wenig, positive generelle Aussagen könnten sich auf keine haltbaren Grundlagen stützen und wären damit immer sehr zweifelhaft.

Wenn der Alltagsphilosoph allgemeine Erkenntnisse über die Welt erlangen will, ist er tatsächlich immer angreifbar, weil er dafür kaum über Beweise verfügt, aber seine Methode bringt andere empirische Behauptungen hervor, für die er sehr wohl Beweise anführen kann. Er findet heraus, wie groß unsere Vorstellungskraft ist, wie gut wir rechnen können und wie gut wir die Kulturtechnik des Umgangs mit Konditionalen beherrschen, wie gut wir uns darauf verstehen, zu planen und Vor- und Nachteile gegeneinander abzuwägen, wie groß unser Sicherheitsbedürfnis ist und unsere Risikobereitschaft, wie gut wir uns in andere Menschen hineinversetzen können, mit welchen Menschen uns ein Wir-Gefühl verbindet, wie groß unsere Moralität ist, welche Kulturtechniken allgemein wir wie gut beherrschen und welche nicht, auch wie gut die Sprache und welche Kriterien wir anwenden usw., d.h. wir finden ganz viel über uns selbst heraus: über uns als Individuen, wie wir uns von unseren Empfindungen, unserer Psyche beeinflussen lassen und unseren Geist benutzen, um zu planen, was wir tun sollen und wollen; über uns als Handelnde, wozu unsere Pläne und Absichten uns führen, was wir wie tun, wie wir mit uns selbst und anderen unter Verwendung welcher Mittel umgehen; über uns als Mitglieder einer Gemeinschaft, wie und welche Folgen unserer Handlungen wir wahrnehmen, welche wir zu unserer Wahrnehmung wie durchdringen lassen, was wir wahrnehmen können und wollen und was nicht, wie wir das Wahrgenommene beurteilen, wieweit wir uns dabei mit anderen austauschen, sprechen, uns verständigen, uns beeinflussen und beeinflussen lassen, zu gemeinsamen oder unterschiedlichen Auffassungen gelangen und dabei unser Wir-Gefühl, unsere Solidarität, unsere Moralität vergrößern bzw. stärken oder verringern bzw. schwächen, und welche Empfindungen mit unseren Werturteilen verbunden sind, die uns als Individuum dann wieder beeinflussen und u.U. antreiben, etwas Neues auszuhecken. Das sind alles Erkenntnisse über unser In-der-Welt-Sein, unser Sein als Dasein zur Welt, wie Heidegger es ausdrücken würde. Letztlich, glaube ich, ging es auch Wittgenstein genau darum.

An dieser Stelle, denke ich, können sich Alltagsphilosoph und Erkenntnistheoretiker begegnen, indem sie erkennen, dass unser In-der-Welt-Sein der einzig wichtige Einzelfall ist, den es zu analysieren gilt, es geht um diesen „Versuch, das von der modernen Philosophie verleugnete und verdrängte menschliche Selbst zurückzufordern“ (ebenda, S. 267). Warum hat der traditionelle Philosoph sein menschliches Selbst offenbar verdrängt? Aus psychologischer Sicht liegt die Antwort nahe: wenn er tatsächlich eine traumatische Erfahrung gemacht hat – wie oben dargelegt eine berechtigte Vermutung – dann ist eine derartige Verdrängung eine ganz normale Reaktion, wie man sie im klinischen Bereich immer wieder antrifft. Dem philosophischen Anspruch der Vernunft, wie er von Cavell als geistige Richtlinie formuliert wurde, um mit dem Problem des Skeptizismus weiterzukommen, liegt vom Psychischen her ein Schrei nach Liebe als Aufforderung zugrunde, der in der Handlung als Schrei der Vernunft umgesetzt werden kann, obwohl die Vernunft niemals so schreien kann (oder doch? Wenn die Verzweiflung zu groß wird?), sodass die Wahrnehmung dieses Schreis zu dem von der ganzen Gemeinschaft getragenen Werturteil führen kann, dass jeder Mensch einen Anspruch auf Liebe hat. Damit wäre dann die Verleugnung und Verdrängung des menschlichen Selbst restlos aufgehoben. Für Cavell wirft diese Verdrängung Fragen von enormer Tragweite auf, und seine „Hoffnung liegt in der Annahme, dass wir auf dem Kampfplatz des klassischen philosophischen Skeptizismus einer Antwort näherkommen werden und dass die Wittgensteinsche Einstellung zur Sprache (verbunden mit Austins daraus abgeleiteter Praxis) und zur Philosophie genau diese Verdrängung attackiert“ (ebenda).

Die Aufforderung des Alltagsphilosophen, sich eine Situation vorzustellen, auch wenn es an seiner Art der Fragestellung nichts auszusetzen gibt, ist für das, worauf der Erkenntnistheoretiker hinaus will, nicht relevant. „Eine fiktive Situation kann logisch unmöglich anders sein, als sie zu sein scheint oder als sie beschrieben wird“ (ebenda, S. 269), sie ist empirisch nicht prüfbar. Der traditionelle Philosoph könnte aber den Alltagsphilosophen fragen, wie denn sein Sein zur Welt sei, dass er solche Fragen stelle, weswegen sein In-der-Welt-Sein so stark auf die Lösung alltagspraktischer Probleme ausgerichtet sei und nicht auf mögliche Hintergründe, auf den Sinn und das Wesen, und auf Hoffnungen und Erwartungen, die so oft Täuschungen beinhalten und so zu schlimmen Enttäuschungen führen können, je ergriffener man von etwas ist. Und wenn umgekehrt der traditionelle Philosoph „auf eine gegebene Situation festgelegt [ist], eine, die ihm durch ein Problem aufgezwungen ist [...], das untersucht werden muss, [...] Möglichkeiten [der Täuschung erwägt], die in Betracht gezogen werden müssen“ (ebenda, S. 268), dann leugnet der Alltagsphilosoph mit der Aufforderung, sich vorzustellen, „wann wir denn wirklich solche Möglichkeiten ins Spiel bringen würden, [...] schlicht und einfach das Vorhandensein des Problems“ (ebenda). Bei einem realen Problem „steht nicht von vorneherein fest, was man über den Fall wissen muss, um zu einer Lösung zu gelangen.“ (ebenda, S. 270) Der Alltagsphilosoph könnte aber den Erkenntnistheoretiker fragen, wie er denn unterwegs sei, weswegen sein In-der-Welt-Sein so voller Bedenken sei, voller Misstrauen alle möglichen Hintergründe untersuche, auch so selbstkritisch seinen eigenen Sinnen nicht vertraue, ob er vielleicht früher einmal sehr enttäuscht worden sei oder Gefahren und Not erlebt habe und deswegen diese Haltung zur Welt habe und den Sinn von allem suche, um nicht wieder enttäuscht zu werden oder in große Gefahr zu geraten. So könnten sich beide über ihr jeweiliges In-der-Welt-Sein verständigen.

Es gibt noch eine weitere Möglichkeit, die beiden Positionen des traditionellen und des Alltagsphilosophen zu veranschaulichen, und zwar anhand des Schemas Psyche-Geist-Materie bzw. Individuum-Spezies-Genus (Kolb, 2012, 2. Kapitel und Schaubild): Der traditionelle Philosoph ist als Individuum einerseits Objekt der Psyche, also von Empfindungen, von seiner Befindlichkeit, die ihn warnt und auffordert, nicht alles als selbstverständlich hinzunehmen, er ist durch seine Psyche aufgrund eines Problems veranlasst, als geistiges Subjekt zu prüfen, ob wir genug über das Problem wissen, ob wir die Situation nicht falsch auffassen, falsch beschreiben, falsch konzeptualisieren, also in der Folge auch nicht die richtigen Kriterien anwenden, die uns zu den optimalen Möglichkeiten und Vorstellungen unseres Seins führen, damit wir das Problem möglichst gut lösen in der Umsetzung der von uns so entwickelten Handlungspläne. Dagegen ist der Alltagsphilosoph als Genus, als Mitglied einer Gemeinschaft, daran interessiert, dass alle an einem Strang ziehen, um Probleme, die sich immer wieder stellen können, dadurch möglichst gut zu lösen. Als Genus ist er einerseits Objekt der Materie, indem er Situationen (Handlungsergebnisse) mit seinen Sinnen wahrnimmt und als psychisches Subjekt konzeptualisiert und bewertet bzw. beurteilt, woraus dann die Motivation zu handeln erwächst, wobei jeder einzelne als Individuum nach seinen individuellen Möglichkeiten als geistiges Subjekt sich für bestimmte Handlungsweisen entscheiden muss. Um das gemeinschaftliche Handeln zu optimieren, ist es wichtig, dass alle die Situation möglichst gleich auffassen, beschreiben und konzeptualisieren, sodass sie in ihrer Bewertung und ihrem Urteil die gleichen Kriterien anwenden. Zur entsprechenden Abstimmung und Verständigung ist die Sprache mit ihren Kriterien ganz wichtig, und die Untersuchungen des Alltagsphilosophen dienen dem Zweck, schon vorab eine möglichst große Basis für gemeinschaftliches Handeln zu schaffen. Für beide Philosophen ist also die jeweils richtige Konzeptualisierung wichtig nach dem Motto „Verlass dich nicht auf deine Beschreibung einer Situation, in der ein Problem steckt; denn das Problem ist vielleicht eine Folge der Beschreibung selbst.“ (Cavell, 2006, S. 271), aber der traditionelle Philosoph braucht für die Lösung als Einzelkämpfer Konzepte, die ihn nichts Wichtiges übersehen lassen, während der Alltagsphilosoph gemeinsame Konzepte für gemeinschaftliches Handeln sucht, wobei er (scheinbar oder tatsächlich) davon ausgeht, dass die Mehrheit meistens richtig liegt. Dem Erkenntnistheoretiker kommt es dabei vor allem auf die richtige Information, das richtige Wissen an, während der Alltagsphilosoph die richtige Interpretation und Bewertung der Information, das richtige Verständnis der richtigen Begriffe sucht. Dabei ist beides wichtig, und der Einzelne braucht die Gemeinschaft und die Gemeinschaft den Einzelnen, d.h. die beiden Philosophen brauchen auch einander. Den Konflikt der beiden könnte man auch à la Rousseau mit Hilfe des Gegensatzes von Volonté générale und Volonté de tous beschreiben, wobei der traditionelle Philosoph ersteres anstrebt und den Mehrheitswillen anzweifelt, während der Alltagsphilosoph beides für hinreichend gleich betrachtet, also dem Mehrheitswillen weitgehend vertraut.

Damit ist der Sinn der Entdeckung des Erkenntnistheoretikers (ich habe mich einmal schwer getäuscht und bin enttäuscht worden, sodass ich seitdem weiß: wir haben nicht immer die richtigen Informationen) und der Rahmen, in dem der Konflikt dieser Entdeckung mit unseren alltäglichen „Überzeugungen“ sichtbar wird (Einzelfallanalyse zum Sammeln von neuen Informationen vs. generelle Untersuchung zum Zusammentragen und Einordnen bisher erkannter Informationen, Einzelkämpfer vs. Gemeinschaftsmitglied), immer deutlicher geworden. Nun können wir uns dem dritten Merkmal der skeptischen Konklusion zuwenden, der Instabilität der Entdeckung des traditionellen Philosophen. „Die Konklusion lässt sich, so wie sie ist, nicht von dem Untersuchungsverlauf abkoppeln [...], das Wissen darum [...] wirkt losgelöst von der Situation [...] »kalt, überspannt und lächerlich« [...]. Lässt es sich irgendwie begreifen, warum die skeptische Konklusion, dass wir von der Existenz der Objekte kein Wissen besitzen, [...] dieses befremdliche Aussehen hat?“ (ebenda, S. 276) Ich persönlich begreife das so, dass uns der traditionelle Philosoph an seinem Erlebnis, welches seiner Entdeckung und heutigen Haltung zugrunde liegt, nicht wirklich, zumindest nicht emotional teilnehmen lässt. Wir können ihn nicht befindlich verstehen. Der Erkenntnistheoretiker (E.T.) zeigt sich uns wie ein Extra-Terrestrischer, der uns nichts von seiner Herkunft offenbart. Daher erscheint uns seine Skepsis befremdlich, kalt, überspannt und lächerlich, sobald wir sie von seinem Untersuchungsverlauf abgekoppelt haben. Weil er so nicht richtig verständlich ist, ist seine Konklusion „nicht ganz natürlich [...], [...] aber auch nicht ganz unnatürlich“ (ebenda, S. 277), wir stehen ihr ambivalent gegenüber.

Cavell wendet sich an dieser Stelle dem Wissen um Fremdpsychisches zu und unterscheidet hier auch zwischen der Situation des generischen und des spezifischen Wissensobjekts, also ob ein anderer überhaupt eine Empfindung hat, oder die eine oder die andere, also ein spezifisches Gefühl. Der Skeptiker fragt hier: „(Wie) können wir wissen, ob jemand anders überhaupt etwas empfindet?“ als Zweifel an der generellen Wissensgrundlage: „An seinem Verhalten“, was hier an die Stelle von „weil ich es sehe“ bei nicht persönlichen Objekten tritt. Da wir von Schauspielern wissen, dass sie nur dann überzeugend, also täuschend echt, eine bestimmte Empfindung darstellen können, wenn sie sich etwas Entsprechendes vorstellen, müsste der Zweifelsgrund genauer heißen: „(Wie) können wir wissen, ob der andere etwas empfindet, was überhaupt etwas mit der augenblicklichen Situation, genauer mit dem, was wir wahrnehmen, zu tun hat?“ Damit haben wir sogar einen doppelten Zweifelsgrund, nämlich den, ob wir alles Wichtige in der Situation, und was dazu geführt hat, wahrnehmen, und ob wir wissen, worauf der Betreffende sich gerade konzentriert, ob er z.B. nicht an eine Ungerechtigkeit denkt, die ihm vor 10 Jahren widerfahren ist und von der wir nichts wissen, sodass er in einer für uns traurigen Situation einen Wutanfall bekommt und wir zweifeln, ob er wirklich wütend ist oder nur so seine Trauer zeigt. Da es sich beim Fremdpsychischen um eine noch komplexere Situation handelt, gibt es noch mehr Möglichkeiten, dass uns für unser Verständnis und damit Wissen entscheidende Informationen fehlen. Man nehme nur das dramatische Beispiel eines Mannes, der seiner Geliebten sagt, er liebe sie nicht und habe ihr alles nur vorgespielt, was sie ernst nimmt und sich umbringt, während er dies nur zu ihr gesagt hat, damit sie wütend auf ihn wird und die Verbindung mit ihm löst, weil seine Familie angedroht hat, seine Geliebte zu töten, wenn die Beziehung zu ihr nicht beendet wird. Hier fehlte der Geliebten die wichtige Information, dass seine Familie sie ermorden und er ihr Leben retten wollte, sodass sie „nur aufgrund seines Verhaltens“ als Wissensgrundlage seine Empfindungen völlig falsch interpretierte. Damit er ihr das richtig vorspielen konnte, hatte er sich vorgestellt, er sage das alles zu der Frau, mit der ihn seine Familie verheiraten wollte und die er tatsächlich nicht liebte und nie geliebt hat. Auch diese wichtige Information fehlte der Geliebten, der sein Verhalten überzeugend, also täuschend echt erschien.

Am Beispiel des Fremdpsychischen kommen uns die Zweifel nicht mehr so paradox vor wie bei Gegenständen. Außerdem stellt sich die Frage, ob wir es tatsächlich mit generischen Objekten zu tun haben, denn wenn ich von mir selbst ausgehe, dann gibt es keine Empfindungslosigkeit außer im Tod, aber dann bin ich nicht mehr, und ich kann daher – das war ja auch im Skeptizismus eingeschlossen – von mir auf den anderen schließen, dass irgendeine Stimmung immer bei ihm vorhanden ist, sodass wir es hier stets mit spezifischen Objekten zu tun haben, zumindest solange wir sicher sein können, dass der andere existiert. Die Wissensgrundlage „durch sein Verhalten“ wird daher angezweifelt durch den „sich ergebenden Kontrast […] zwischen seinem Verhalten und »dem Gemütszustand selbst«, [...] zwischen dem, was ich sehe, und dem, was (oder wieviel) ich wirklich sehe, d.h. der [Kontrast] dazwischen, wie es den Sinnen erscheint und wie es an sich ist“ (ebenda, S. 283). Die Unterschiede bzw. Kontraste, die wir jetzt gefunden haben, sind keine solchen, „mit denen der Philosoph angefangen hat, es sind solche, zu welchen ihn seine Untersuchung geführt hat.“ (ebenda) Damit kann ich wie beim Austin´schen Stieglitz statt Vogelkunde prinzipiell, auch wenn dies bedeutend komplizierter als beim Stieglitz ist, eine Gemütskunde vorantreiben, eine Sparte der Psychologie, die mir die nötigen Kriterien liefert, welche äußeren Merkmale welche Gemütszustände wiederspiegeln. Die Alltagssprache erweist sich für ein derartiges Unterfangen „als nicht besonders vertrauenswürdig“ (ebenda), wird der Erkenntnistheoretiker hier dem Alltagsphilosophen vorhalten, der hält allerdings „das veränderte Kontrastverhältnis für einen Beleg dafür, dass der Philosoph »die Bedeutung der von ihm verwendeten Ausdrücke verändert« oder »die Sprache missbraucht« hat.“ (ebenda)

Ich denke, wir haben jetzt aber einen entscheidenden Denkfehler begangen: Befindlichkeit und Verstehen sind gleichursprünglich (Heidegger, 2006, S. 133) und daher nicht zu trennen, d.h. wir dürfen insbesondere die Befindlichkeit oder den augenblicklichen Gemütszustand nicht von seiner Herkunft und seiner Zukunft (wohin er strebt, wozu er auffordert, welche Vorstellungen und Pläne er hervorruft) trennen, und damit wird der Gemütszustand zu einem „herkünftig-augenblicklich-zukünftigen“ Gemütszustand. Um den Gemütszustand wirklich zu erkennen, reicht es nicht aus, nur das Verhalten des anderen wahrzunehmen, ich muss auch etwas über seine Erinnerungen, Wahrnehmungen und Vorstellungen wissen, und dann habe ich es wieder mit generischen Objekten zu tun: „(Wie) kann ich wissen, ob jemand gerade eine Erinnerung, Wahrnehmung, Vorstellung hat oder nicht und ob und wie das jeweils etwas mit dem augenblicklichen Gemütszustand zu tun hat?“ Wenn der Skeptiker mit dem Kontrast zwischen dem, was ich wahrnehme, und dem, was und wieviel ich wirklich wahrnehme, alle Erinnerungen, Wahrnehmungen und Vorstellungen bei dem jeweiligen Gemütszustand mit einbezieht, dann meinen wir dasselbe.

Nachdem nun klar geworden ist, dass es keine Gemütskunde im obigen Sinn geben kann, und es einleuchtend geworden ist, dass die Alltagssprache nach der verständlichen Meinung des traditionellen Philosophen (noch ist nichts entschieden!) sich für ihn als nicht besonders vertrauenswürdig erwiesen hat, will Cavell auf die Kritik des Sprachmissbrauchs eingehen, was der Alltagsphilosoph dem Erkenntnistheoretiker vorhält. Letzterer glaubt, ohne „die normalen Wissensbegründungsmethoden“ (Cavell, 2006, S. 284) tatsächlich anzugreifen, „dass er gezeigt hat, dass wir in unserem gewöhnlichen Einsatz dieser Methoden nicht sorgfältig und präzise genug verfahren. [...] Er für seinen Teil behauptet nichts weiter, als unter Verwendung derselben Methoden, mit denen wir zu unseren profanen Behauptungen kommen, nachgewiesen zu haben, dass diese Behauptungen nicht buchstäblich oder absolut wahr sind.“ (ebenda) Cavell will nun kritisch untersuchen, ob der traditionelle Philosoph tatsächlich „ganz und gar nach dem Muster einer normalen Prüfung vorgebrachter Behauptungen“ verfährt. Zumindest verdächtig erscheint ihm dabei, dass die Überzeugung, zu der der Erkenntnistheoretiker gelangt, sich von der Untersuchungssituation selbst nicht ablöst. Meiner Meinung nach bringt der Skeptiker von außen nicht erkennbar eine in ihm tief verwurzelte traumatische Erfahrung mit, die als stillschweigende Voraussetzungen mit in sein methodisches Vorgehen einfließt. Damit stellt er für den Alltagsphilosophen meines Erachtens genau das Beispiel dafür dar, wie wenig er über das Fremdpsychische tatsächlich weiß (oder wissen will). Wenn man statistischen Schätzungen glauben darf, dass jedes achte Kind innerhalb der eigenen Familie schwer misshandelt oder sexuell missbraucht wird, dann muss man sich schon wundern, wie wenig diese Fakten in der Alltagssprache präsent sind. Wenn der Alltagsphilosoph dem traditionellen Philosophen Missbrauch vorwirft, dann könnte es durchaus sein, dass er den Splitter beim anderen sieht, ohne den Balken im eigenen Auge zu merken.

Wie oben schon aufgezeigt, eignet sich die Methode des Alltagsphilosophen nicht für eine direkte Kritik am erkenntnistheoretischen Vorgehen. Man kann dies auch daran veranschaulichen, dass eine Gemeinschaft, als deren Mitglied der Alltagsphilosoph sich auch selbst sieht, dem einzelnen Individuum „seinen jeweiligen Platz einnehmen und es durch freiwillige Mitarbeit am Ganzen teilnehmen lassen muss.“ (Tanabe, 2011, S. 177 f.) Außerdem beruht „die Stärke des Vorgehens der Philosophie der Alltagssprache ja gerade auf dem Nachdruck […], mit dem sie behauptet, jeder sprachkompetente Mensch könne der Aufforderung nachkommen »zu sagen, was wir in diesem oder jenem Fall sagen bzw. wie wir diesen nennen würden«. Folglich bedürfte es einer überzeugenden Erklärung dafür, wie es einem sprachkompetenten Menschen entgehen kann, dass er an Bedeutungen herummanipuliert oder ein Wort womöglich ganz um jede Bedeutung gebracht hat.“ (Cavell, 2006, S. 286) Ansonsten müsste der Alltagsphilosoph dem Erkenntnistheoretiker Recht geben, dass die Alltagssprache vage und ungenau ist.

Cavells Vorgehen ist nun folgendes: die Grundlage des traditionellen Philosophen hat sich ja wie oben dargestellt dahingehend verschoben, dass ein Gemütszustand nicht nur augenblicklich ist, sondern seine Herkunft hat und zukünftig irgendwohin drängt. Mit dem Verhalten sehen wir als Ausdruck eines Gemütszustandes daher nur eine uns gerade zugekehrte Oberfläche des zu erkennenden Objektes. Daher will Cavell sich den entsprechenden „Zweifelsgrund einmal vornehmen – nämlich »Aber du siehst ja gar nicht alles, allenfalls einen Teil der dir zugekehrten Oberfläche« –, der, so wie er die Grundlage schwächt und zur Konklusion führt, diese Verschiebung in der Stoßrichtung der Grundlage registrieren muss.“ (ebenda, S. 287) Bevor er zu sagen versucht, „worin die Merkwürdigkeit [eines derartigen Zweifelsgrundes] besteht, und als Vorbereitung auf eine Würdigung ihrer Bedeutung“ (ebenda) will Cavell die Sprachtheorie ausführlicher darlegen. Die Sprachtheorie ist ja ein Teil der Philosophie, die so vorgeht, dass sie sich darauf beruft, wie sprachliche Ausdrücke normalerweise verwendet werden. Sie ist ein Teil der Philosophie des Alltagsphilosophen bzw. liegt seiner Philosophie zugrunde. Mit der ausführlichen Darlegungen der Sprachtheorie will Cavell das anbahnen, um was es ihm geht, um die Inszenierung der „Schlusskonfrontation zwischen der Tradition und ihren neuen Kritikern“ (ebenda).

Exkurs zu Wittgensteins Sprachtheorie, die Entwicklung der Vorstellungskraft und der Hermeneutik

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Was bisher in Bezug auf Wittgenstein Sprachtheorie erörtert wurde, ist das Verhältnis von Grammatik und Kriterien zu »Lebensformen« und die Übereinstimmung von uns allen in unseren Kriterien, d.h. „menschliche Konvention [ist] nicht willkürlich, sondern konstitutiv für bedeutsames Reden und Handeln“ (ebenda, S. 288). „Normalerweise sichert das Vorliegen von Kriterien […] die Existenz ihres Objekts […], aber nicht zwangsläufig“ (ebenda), „eine auf der Grundlage eines Kriteriums gemachte Aussage [ist …] für die normalen Bewohner unserer Welt, für alles, was wir als Teil der Welt anerkennen, wahr“ (ebenda). Jetzt möchte sich Cavell „spezifischer dazu äußern, was an dem, was Wittgenstein über die Sprache entdeckt oder detailliert über sie dargelegt hat […], zu der Art von Problemen führt, die ich recht grob und vage mit den Begriffen »Normalität« und »unsere Welt« charakterisiert habe“ (ebenda).

»Unsere Welt« meint alle die Zusammenhänge, in denen wir leben, und »Normalität« bedeutet die übereinstimmende Verwendung der Normen und Regeln, mit der wir Worte und Sätze kreieren, um uns gegenseitig über diese Zusammenhänge, also über »unsere Welt«, zu verständigen. Dazu lernen wir „Wörter in bestimmten Zusammenhängen, und nach einer Weile erwartet man, dass wir wissen, wann sie angemessen in weiteren Zusammenhängen gebraucht werden (angemessen projiziert werden) […,] und unsere Fähigkeit, angemessen zu projizieren, ist ein Kriterium dafür, dass wir ein Wort gelernt haben“ (ebenda, S. 289 f.). Damit stellen sich zwei Fragen: „(1) Was heißt (was nennen wir) »ein Wort lernen«, insbesondere (um den einfachsten Fall zu nehmen) »den allgemeinen Namen von etwas lernen«, und (2) wodurch wird eine Projektion angemessen oder richtig? (Wiederum ist die klassische Antwort auf (1): »Ein Universalium zu begreifen«, und auf (2): »einen anderen Fall desselben Universaliums zu erkennen« oder »die Tatsache, dass das neue Objekt dem alten ähnlich ist«.)“ (ebenda, S. 290) Die klassische Antwort stellt uns aber vor das so genannte »Universalienproblem«, „solchen Entitäten [wie den Universalien] einen ontologischen Status zuzuweisen oder abzusprechen, unser Wissen davon zu erklären oder zu bestreiten“ (ebenda, S. 289). So wie Cavell es interpretiert, „möchte Wittgenstein uns zu verstehen geben, dass keine solche Antwort eine Erklärung für die Fragen liefern könnte, die zu ihnen führen.“ (ebenda)

Um zu erkennen, wie ein Kind ein Wort lernt, halte ich es für wichtig zu betrachten, wann ein Kind anfängt, Wörter zu lernen, und was es bis dahin schon gelernt hat bzw. wie weit es bis dahin schon entwickelt ist, denn möglicherweise ist ein bestimmter Entwicklungsstand die Voraussetzung dafür, dass ein Kind überhaupt Sprache lernen kann. Nach Fonagy et al. hat ein Kind die Stufe des „intentionalen Selbst“ schon erreicht, wenn es im Alter von etwa 18 Monaten mit der Sprachentwicklung beginnt (Fonagy, Gergely, Jurist, & Target, 2008, S. 244). Bis dahin hat es gelernt, dass es mit seinen wachsenden physischen Fähigkeiten und Fertigkeiten seine physikalische Umwelt verändern kann, dass es auch negative Reaktionen auf sein Verhalten gibt, die es einschränken, dass es den Unterschied zwischen Handlung und Ergebnis gibt und es auch unerwartete Handlungsergebnisse geben kann, dass andere auf bestimmte Weisen handeln, um bestimmte Ergebnisse zu erzielen, und dass es ebenfalls mit entsprechenden Handlungen seine Ziele verfolgen kann, die es auf diese Weise immer besser erkennt. Die Entwicklung des Kindes läuft auch in dieser geschilderten Reihenfolge ab, d.h. ein Kind fängt erst dann an, Wörter zu lernen, wenn es absichtsvoll handeln kann und schon eine „naive Theorie des Mentalen“ (ebenda, S. 245) besitzt. Es hat dann auch eine Motivation, die Sprache der anderen zu lernen, weil es dadurch seine Absichten anderen besser verständlich machen und dadurch besser erreichen kann. Da Verständigung immer ein befindliches Verstehen bedeutet, erfüllt sie nicht nur die Funktion des Mitteilens von Informationen, sondern auch die des Regulierens der Befindlichkeit, also unserer Stimmungen und Gefühle. Der Nutzen, der uns daraus erwächst, dass wir uns mit der Verständigung mit anderen beispielsweise beruhigen können, wenn unsere Erregung zu groß ist, ist eine weitere Motivation, Sprache zu lernen. Insgesamt wird hieraus ersichtlich, wie sehr Sprache schon eingebunden ist in unser Leben als Menschen, sie beeinflusst sowohl unsere Psyche (Befindlichkeit), als auch unseren Geist (unser Denken und Planen), als auch unser Handeln. Wenn man Sprache als Verständigungsmöglichkeit sieht, so haben alle Tiere, die in Gruppen leben, eine Sprache, und auch wir Menschen können mit bestimmten Tieren Verständigungsmöglichkeiten entwickeln, also auch eine Sprache. Was ist also das Besondere an der menschlichen Sprache, an der Art, wie Menschen sich untereinander verständigen? Mit der Antwort auf diese Frage können wir dann sagen, was ein Kind mit der Sprache noch lernt, außer sich mit anderen zu verständigen bzw. wie es die Art der Verständigung mithilfe der Sprache so verbessern kann, dass sie jeder Verständigung unter und mit Tieren weit überlegen ist.

Sprache und Sprechen hängen mit unseren mentalen Fähigkeiten zusammen. Das Einzigartige der menschlichen mentalen Fähigkeit, die Intentionalität von Symbolen (Sprache, bildliche Darstellung, konventionelle Gesten usw.) zu repräsentieren, besteht in der zeitlichen und räumlichen Unabhängigkeit derartiger Repräsentationen. Unabhängig von Raum und Zeit, also unabhängig von der Realität selbst, können Handlungen als durch Repräsentationen der Realität verursacht verstanden werden. Wenn ein Kind, das mit drei Jahren diese Fähigkeit noch nicht entwickelt hat, jemanden beobachtet, der einen Gegenstand in einen Behälter A steckt, danach den Raum verlässt und erst wiederkommt, nachdem ein anderer diesen Gegenstand in einen Behälter B gelegt hat, und es wird dann gefragt, wo die zurückgekehrte Person den Gegenstand zuerst suchen wird, dann antwortet es irrtümlich – aber aufgrund seiner realistischen Beobachtung – Behälter B (ebenda, S. 250). Ein bis zwei Jahre später wird es diesem Irrtum nicht mehr unterliegen und einem anderen falsche Überzeugungen (Repräsentationen der Realität, die von der Realität verschieden und dadurch unzulänglich sind) zuschreiben können. Erst mit dieser Fähigkeit haben Kinder ein autobiografisches Gedächtnis, weswegen wir uns in der Regel erst ab etwa vier Jahren an persönliche Erlebnisse erinnern können. Ohne diese Fähigkeit könnten wir unsere Absichten nicht als Ursache für eine unserer Handlungen sehen (kausale Selbstbezüglichkeit, ebenda, S. 251) und hätten daher Schwierigkeiten mit der Selbstkontrolle, weil wir Absichten, Handlungen und deren Folgen nicht in einen gemeinsamen Zusammenhang bringen könnten, wir hätten „die praktische Schwierigkeit, das Bewusstsein an die Welt zu heften, besonders an die sozio-politische Welt, die Welt der Geschichte“, wie Cavell (Cavell, 2006) es auf Seite 199 ausdrückt. Themen wie Schuld und Scham würde es dann nicht geben. Die Fähigkeit der zeitlich und räumlich unabhängigen Repräsentation ermöglicht uns auch, Belohnungen zu verschieben (delay of reward), und hierbei wird auch sichtbar, dass wir für die Anwendung dieser Fähigkeit Kraft brauchen, und zwar die Vorstellungskraft, um momentanen Versuchungen zu widerstehen. Das erklärt auch, warum es uns so schwer fällt oder sogar unmöglich ist, von der Untersuchungssituation des Erkenntnistheoretikers die sie begleitende Überzeugung abzulösen. Die Merkwürdigkeit des vertrauten Zweifelsgrundes – nämlich »Aber du siehst ja gar nicht alles, allenfalls einen Teil der dir zugekehrten Oberfläche« – besteht meines Erachtens darin, dass er uns eine enorme Vorstellungskraft abverlangt, was dann noch sein könnte, und wenn man den Nutzen mit dem Aufwand vergleicht, dann sind wir aus ökonomischen Gründen meistens nicht bereit, diese Kraft aufzubringen. Durch die enorme Vorstellungskraft wird unsere Individualität zu sehr betont, und wir können nicht mehr richtig handeln und isolieren uns von den anderen, d.h. unser Dasein als Individuum wird übermäßig gestärkt auf Kosten unseres Daseins als Spezies und als Genus, wie Tanabe es ausdrücken würde (Tanabe, 2011).

Wenn ein Kind am Anfang der Sprachentwicklung, also mit etwa 18 Monaten, ein Wort lernt und in der so genannten Ein-Wort-Sprache sich artikuliert, dann sind Wörter noch Namen und Zeichen, die mit bestimmten Gegenständen verknüpft sind. Oft ist auch eine zeigende Geste mit dem Aussprechen eines Wortes verbunden. Auf diesem Entwicklungsniveau ist das Wort für das Kind genauso real wie der Gegenstand, es ist für das Kind noch keine Repräsentation der Realität, sondern es ist die Realität. Der Name und der Gegenstand sind äquivalent. Die Vorstellungskraft des Kindes ist noch nicht so weit entwickelt, dass es sich sowohl eine Welt der Realität und eine Welt der Repräsentationen der Realität (oder sogar mehrere Welten dieser Art) vorstellen kann. Es kann sich ja auch noch keine falschen Überzeugungen vorstellen. Aber es kann in eine Welt der Repräsentationen der Realität wechseln, in der das Kind dann „Wirklichkeit spielt“. In dieser Welt erlebt das Kind seine Befindlichkeit im »Als-ob«-Modus. Insgesamt haben in dieser Entwicklungsphase Gedanken eine große Macht für das kleine Kind, weswegen man das kindliche Denken in dieser Zeit auch als „magisches Denken“ bezeichnet. Parallel zum Spracherwerb entwickelt das Kind immer mehr Vorstellungskraft, so dass die Fähigkeit der zeitlich und räumlich unabhängigen Repräsentation immer mehr zunimmt. Wenn ein Kind später mit vier oder fünf Jahren ein Wort lernt, dann lernt es die Intentionalität dieses Wortsymbols zu repräsentieren, d.h. es kann sich an den Zusammenhang immer wieder erinnern, in welchem das Symbol gebraucht wurde, um eine Absicht zu erfüllen, und wenn es nur die Absicht war, die Aufmerksamkeit (die eigene oder die von anderen) in eine bestimmte Richtung zu lenken. Wörter einer voll entwickelten menschlichen Sprache werden immer öfter als Symbole und immer weniger nur als Zeichen bzw. Namen verwendet, die ich an Gegenstände quasi anhefte (Wittgenstein, 2001, S. 752, §15). Was die Bedeutung des Begriffes Symbol und den Unterschied zum Zeichen betrifft, so folge ich hier meinen Ausführungen zu Tanabe (Kolb, 2012, 2. Kapitel): Ein Symbol ist deutlich mehr als ein Zeichen, welches nur auf etwas hinweisen kann. Wenn ein Wort als Symbol genommen wird, beispielsweise für einen bestimmten Gegenstand, dann wird von dem faktischen Wort als Lautklang oder bisheriges Zeichen oder das, wofür es bisher ein Symbol gewesen ist, vollkommen abgesehen, sein faktisches Sein wird in Nichts verwandelt, und dieser in Nichts verwandelte Lautklang bzw. dieses in Nichts verwandelte Zeichen oder altes Symbol wird dann durch das (neue) Symbol in Sein verwandelt, nämlich in das, was der Sprecher damit meint, in den Begriff mit der Bedeutung, die der betreffende Gegenstand für diejenigen hat, die dieses Wort als Symbol verwenden. Ein Zeichen dagegen bleibt immer es selbst. Den dialektischen Prozess, bei dem die Verwandlung von Sein in Nichts die Verwandlung von Nichts in Sein vermittelt, kann man in Anlehnung an Heidegger (Heidegger, 2006, S. 150 z.B.) auch so beschreiben, indem wir uns in ein kleines Kind hineinversetzen: als Vor-Habe nehmen wir den faktischen Lautklang oder bisherige Bedeutungen, wovon wir schon ein gewisses Vorverständnis haben, weil bestimmte andere für uns wichtige Menschen in unserer Umgebung dieses Wort bzw. diesen Lautklang schon öfter verwendet haben, zur Vor-Habe können aber auch noch andere Informationen über ähnliche Worte oder über ähnliche Zusammenhänge gehören, Zusammenhänge, in denen der neue Lautklang oder das bisherige Wort noch nicht vorgekommen ist; in einer Vor-Sicht sondieren wir dieses Verstandene hinsichtlich einer bestimmten möglichen Auslegbarkeit (wir wissen, dass es beispielsweise mit einem bestimmten Gegenstand zu tun hat, den die anderen für etwas Bestimmtes benutzt haben usw.). Mit der Vor-Habe liegt uns etwas Einzelnes oder bestimmte Einzelheiten vor, woraus wir in der Vor-Sicht etwas Besonderes extrahieren und dadurch vom Faktischen ganz absehen, also dessen Sein in ein Nichts verwandeln. In einem Vor-Griff machen wir uns dann begreiflich, dass wir das „vor-sichtig“ Extrahierte mit der Thematik der Verwendung dieses Gegenstandes allgemein verbinden können, und drücken dann schließlich damit aus, was wir meinen. Das Extrahieren, also die Verwandlung von Sein in Nichts, vermittelt so die Verwandlung von Nichts in Sein. Bei der Dialektik dieses Lernprozesses ist es natürlich wichtig, dass das Kind sich für den betreffenden Gegenstand auch interessiert und lernen will, und indem es diesen Lernprozess vollzieht, weiß es auch zumindest implizit, was Bedeutung ist, wie man sich dadurch verständlich macht und ausdrückt, was man meint, und wie man Informationen darüber bekommen kann, wobei es dann früher oder später auch lernt, danach zu fragen. „Nach der Benennung fragt nur der sinnvoll, der schon etwas mit ihr anzufangen weiß.“ (Wittgenstein, 2001, S. 764, § 31) Dabei lernt das Kind das meiste so, ohne dass wir es explizit etwas lehren. Wir zeigen unseren Kindern, was wir sagen und tun, und akzeptieren das, was sie sagen und tun, als das, was wir sagen und tun (Cavell, 2006, S. 303). Dadurch wachsen sie in unsere Welt hinein, und wenn Cavell fragt, warum sie das tun, warum sie so „folgsam“ sind, ob sie nur die Konsequenz vermeiden wollen, aus unserer Welt ausgeschlossen zu werden, dann gibt es aus meinen bisherigen Überlegungen nur die oben genannten Beweggründe, dass wir in unserer gemeinsamen Welt mehr Möglichkeiten haben, unsere Absichten zu verwirklichen, unser Denken und Planen zu optimieren und unsere Gefühle zu regulieren. Damit ergeht eine Aufforderung an uns und unsere gesamte Gemeinschaft, unseren Kindern auch entsprechende Möglichkeiten zu bieten. Nach Cavell besteht sonst die Gefahr, „dass sie, sehen sie anderswo einen größeren Vorteil, sich entscheiden könnten, dass wir nicht länger zu ihrer Welt gehörten; als hinge unsere geistige Gesundheit davon ab, dass sie uns billigten, Gefallen an uns fänden.“ (ebenda, S. 304)

Der Philosoph der Alltagssprache geht nun von seiner Repräsentation der Realität aus, von seiner »Welt« bzw. von sich selbst aus; „er behauptet etwas als wahr über sich selbst […], wofür er sich selbst, die Einzelheiten seiner Empfindungen und seines Verhaltens, als Autorität anbietet. Wenn er solche Ansprüche erhebt, gegen die sich keine Evidenzen oder formale Logik anführen lassen, dann ist er damit nicht dogmatisch […]. Die Autorität, die jemand hat oder beansprucht, wenn er Initialaussagen zum Ausdruck bringt, wenn er »wir« sagt, steht in einer Beziehung zu der Autorität, die man hat, wenn man seine Versprechen oder Absichten zum Ausdruck bringt oder erklärt. Selbstverständlich können wir uns hinsichtlich dessen irren, was wir sagen und tun oder sagen und tun werden. Doch dieser Irrtum lässt sich nicht durch eine günstigere Beobachtungsposition oder ein vollkommeneres Beherrschen im Erkennen von Objekten berichtigen; er erfordert einen neuen Blick auf sich selbst und eine vollkommenere Erkenntnis dessen, was man tut oder empfindet. Die Äußerung einer Absicht ist […] eine Äußerung über sich selbst (ein sich nach außen Wenden); man tritt ihr nicht dadurch entgegen, dass man sagt, eine Tatsache über die Welt sei anders als angenommen, sondern indem man zeigt, dass jemandes Welt anders ist, als er sie sieht. Wer sich hier irrt, täuscht sich nicht über eine Tatsache, vielmehr ist seine Seele getrübt.“ (ebenda, S. 305) Ich persönlich finde, er sollte nicht nur seine Empfindungen und sein Verhalten als Autorität anbieten, sondern auch die Einzelheiten seines Denkens und Planens, seine Absichten, am besten systematisiert eingeteilt in Erinnertes, augenblicklich Wahrgenommenes und für die Zukunft Vorgestelltes, und wenn jemandes Welt anders ist, als er sie sieht, dann ist sein Dasein als Genus derart, dass seine Seele getrübt ist, sein Dasein als Individuum aber derart, dass sein Geist verdunkelt ist (er plant z.B. dann falsch, da er die Welt anders sieht), und als Spezies derart, dass seine leiblichen Sinne benebelt sind (er merkt nicht, was er wirklich tut und was wirklich um ihn herum geschieht). Dass Cavell hier nur die getrübte Seele erwähnt, „entlarvt“ ihn als Alltagsphilosophen, der nur vom Dasein als Genus ausgeht.

Wie schon erwähnt, lernt ein Kind nicht nur einfach ein Wort, sondern es lernt auch, dieses Wort sinnvoll oder bedeutungsvoll bzw. für andere verständlich in weiteren Zusammenhängen zu verwenden bzw. es in andere noch nicht einmal ähnliche Zusammenhänge zu projizieren. Cavell führt als Beispiel das Wort „füttern“ an (ebenda, S. 307): wir füttern Tiere, kleine Kinder und hilflose Menschen, aber auch eine Parkuhr, ein Vorurteil, eine Hoffnung oder ein Kleid, und alle verstehen, was wir meinen. Wir erweitern so kreativ die symbolische Bedeutung der Ausdrücke: unsere Vor-Habe ist, dass „füttern“ mit etwas zuführen zu tun hat, die Vor-Sicht ergibt, wozu wir im entsprechenden Zusammenhang etwas geben, zum Hegen und Pflegen bzw. schützen oder zum Wachsen, sodass wir uns durch den Vor-Griff begreiflich machen, dass mit der Parkuhr das Einkommen von deren Betreiber wächst, dass auch Vorurteile und Hoffnungen wachsen können und ein Kleid durch „Füttern“ geschützt, gepflegt wird oder auch mehr aufträgt. So können wir dann im jeweiligen Zusammenhang ausdrücken, was wir meinen. Einerseits gibt es bei der Projektion eine Toleranz, andererseits aber auch Grenzen. Das lässt sich gut mit dem hermeneutischen Zirkel beschreiben: der Vor-Griff und damit die endgültige Verwendung ist stets gehalten durch die Vor-Habe und die Vor-Sicht, sodass wir hier den Spielraum, die mögliche Bedeutungsvielfalt und ihre Beschränkungen je nach Situation klar beschreiben können. Weil der hermeneutische Zirkel einen kreativen Prozess beschreibt, wird auch verständlich, warum es keine vollständigen Erklärungen von Wörtern geben kann, wir können nur Äußerliches über die Sprache vorbringen, wie Wittgenstein im § 120 (Wittgenstein, 2001, S. 813) schreibt. Vor-Habe und Vor-Sicht werden durch die jeweilige Lebensform gestaltet bzw. repräsentieren diese. Insofern ist der hermeneutische Zirkel in der Grammatik enthalten. Das Symbolisieren ist in diesem Sinne das Wesen der Sprache, das in der Grammatik ausgesprochen ist (ebenda, §371, Seite 911). Das Gemeinsame der verschiedenen Wortbedeutungen ist kein Universalium, sondern jede neue Wortbedeutung ist eine Folge der vorangegangenen oder bisherigen Bedeutungen, die als Vor-Habe fungieren, und die mit einer Vor-Sicht auf einen neuen Zusammenhang angewendet einen Vor-Griff ergeben, wodurch dann insgesamt eine neue Bedeutung und Verwendungsmöglichkeit entsteht. Das Gemeinsame ist also, dass alle Bedeutungen ähnlich wie bei einer mathematische Folge iterativ gebildet werden in einem jeweils kreativen Akt. Der Bedeutungsgehalt eines Wortes nimmt mit der Zeit also stetig zu. Andererseits können bestimmte Bedeutungen auch wieder vergessen werden, wenn die jeweiligen Zusammenhänge zu lange nicht mehr vorkommen oder andere Begriffe sich dort durchsetzen und so den ursprünglichen Begriff verdrängen konnten („das sagt man nicht mehr“). Wenn Wittgenstein den Begriff „Familienähnlichkeiten“ verwendet (ebenda, §§ 66 und 67, Seite 787), so drückt das diese iterative und kreative Bedeutungsbildung schön aus, die Vorfahren bzw. die Vor-Habe sind die bisherigen Bedeutungen, aus denen Nachkommen entstehen unter Berücksichtigung der dem Zusammenhang entsprechenden Vor-Sicht. Das Ganze entspricht dann nicht so sehr einer mathematischen Folge, sondern vielmehr einem Familienstammbaum, bei dem der Verstorbenen teilweise nur noch gedacht wird und immer wieder neue Bedeutungen geboren werden können. Manchmal kann eine Familie auch ganz aussterben, wie Worte, die nicht mehr verwendet werden. Mit einer Sprache lernen wir also verschiedene Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen. Weil die Verwandtschaftsbeziehungen in verschiedenen Sprachen nicht immer dieselben sind, ergeben sich hieraus typische Übersetzungsschwierigkeiten. Cavell unterscheidet dann noch zwischen Projektionen und Metaphern bzw. zwischen normalem Sprachgebrauch und Dichtung: „für die Projektion eines Wortes ist es wesentlich, dass sie sich natürlich vollzieht oder dazu gebracht werden kann; für eine funktionierende Metapher ist es wesentlich, dass ihre »Übertragung« unnatürlich ist – sie bricht die etablierten, die normalen Richtungen der Projektion auf.“ (Cavell, 2006, S. 321) Dabei wird die Vor-Sicht bei der Metapher deutlich freigeistiger als bei der Projektion. Was Cavell hier mit „natürlich“ meint, ist wohl „von der Mehrheit getragen“ bzw. „ohne zu große Vorstellungskraft verständlich“. Bei manchen Projektionen ist das Wissen darüber, woher sie kommen, wie sie entstanden sind, nur noch wenigen bekannt, z.B. „der springende Punkt“, der über etwas Wichtiges (etwa Sein oder Nichtsein) entscheidet: wenn man ein Hühnerei durchleuchtet und dabei einen springenden Punkt entdeckt, dann weiß man, dass dies das Herz eines werdenden Kükens ist. Ursprünglich entscheidet der „springende Punkt“ also darüber, ob in einem Ei Leben ist oder nicht.

Skepsis, Vorstellungskraft und praktische Hermeneutik

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Ich möchte den Leser an dieser Stelle mit all seiner Vorstellungskraft, aber auch der nötigen Skepsis zu folgendem Gedankengang einladen: Was wäre, wenn der Erkenntnistheoretiker als Kind in seiner Herkunftsfamilie missbraucht (nicht nur sexuelle Übergriffe, auch menschenunwürdige Misshandlungen körperlicher wie seelischer Art zählen für mich als Missbrauch) worden wäre oder damals mitbekommen hätte, dass jemand anderes in seiner Familie etwas derartiges erlebt hätte, jemand womöglich, den oder die er sehr gern gehabt hätte. Kinder erzählen so etwas niemandem, teils aus Angst, dass es ihre Familie zerstören könnte, oder wegen schlimmer Drohungen des Täters, wenn er etwas verriete, oder weil schon andere in der Familie ihm nicht geglaubt hatten und er fürchten müsste, von niemandem ernst genommen zu werden. Dann wird die Erinnerung entweder verdrängt, und der Erwachsene weiß nichts mehr davon, spürt aber immer wieder einen nagenden Zweifel in sich, oder er weiß es, traut sich aber immer noch nicht, den wahren Grund seines Misstrauens und seiner Skepsis darzulegen, da dieser Grund selbst ihm zu ungeheuerlich vorkommt, als dass ihn irgendjemand verstehen und ernst nehmen könnte. Wenn er dann philosophiert und seiner Skepsis Raum und Zeit zum Existieren gibt, fühlt er sich irgendwie besser, als ob er auf diese Weise doch etwas von der Wahrheit seiner Erlebnisse so ausdrücken kann, dass er ernst genommen wird und sogar sich selbst wieder ernst nehmen kann. „Was Wittgenstein am Philosophieren interessiert, ist, dass es dazu neigt, den Philosophierenden aus der Übereinstimmung mit den gewöhnlichen Worten herauszureißen [...], und die Tatsache, dass das, was er dann sagt, nicht sinnlos ist, und mehr noch, dass [...] die von ihm benutzten Worte ihm zwingend wahr zu sein scheinen“ (ebenda, S. 89). Das Philosophieren reißt den Betreffenden aus seinem Alltag des Verheimlichens, Verdrängens und Verleugnens heraus und zwingt ihn, wenigstens den philosophisch verschlüsselten Ausdruck seiner ungeheuerlichen Erlebnisse als wahr zu akzeptieren. Unter dieser Prämisse stellt sich vieles, was Cavell in seinem Buch schreibt und zitiert (vor allem von Wittgenstein), in einem ganz anderen Licht dar. Ich will diese Vorstellung ab Kapitel VIII von Cavell (Cavell, 2006) immer wieder mit heranziehen und fragen, welchen Sinn seine Worte unter einer derartigen Voraussetzung haben. Was würde uns Cavell sagen, was für eine Bedeutung hätten seine Worte, wenn er meinte, Philosophen hätten in ihrer Kindheit ein Missbrauchserlebnis (selbst oder beobachtet) gehabt? Dass sie ein Erlebnis gehabt haben, was sie zu ihrer Skepsis geführt hat, nimmt er ja an. Aber welches, dieser Frage geht er nicht nach. Was wäre, wenn...

Wenn Cavell ausdrückt, dass der Zweifelsgrund „nicht völlig natürlich sein kann“ (ebenda, S. 322), aber er damit nicht sagen will, „er sei völlig unnatürlich“ (ebenda), dann passt das mit meiner Prämisse gut zusammen, denn wenn z.B. ein Vater sein Kind sexuell missbraucht, dann ist das überhaupt nicht „völlig natürlich“, und wenn das Kind sich verstört zurückzieht und niemanden mehr emotional an sich herankommen lässt, dann ist seine Skepsis, sein „Zweifelsgrund“ überhaupt nicht „völlig unnatürlich“. Wenn dann nach außen der Schein gewahrt wird, ist klar, „dass irgendetwas in Bezug auf das Wissen generell – repräsentiert durch ein generisches Objekt – nicht stimmt oder anscheinend nicht stimmt“ (ebenda), wobei der Vater in mehrfacher Hinsicht ein generisches Objekt ist: er ist der Erzeuger des Kindes und der Untat, und das Kind oder jeder, der die Untat mitbekommt, fragt sich ganz natürlich nicht nur, ob er wirklich ein Vater ist (das ist noch nicht generisch), sondern, ob es überhaupt einen Vater gibt, den man als solchen bezeichnen kann, und das ist dann generisch im grammatischen Sinn.

Der klassische Philosoph fing mit der Unterscheidung an zwischen „etwas sinnlich wahrnehmen“ und „etwas vom Hörensagen wissen“ oder zwischen „wissen, was ich fühle“ und „wissen, was jemand anderer fühlt“ (ebenda, S. 323) und gelangt dann zu den Unterscheidungen zwischen „etwas sehen“ und „alles davon sehen“, zwischen „etwas sinnlich wahrnehmen“ und „wissen, wie es an sich ist“ oder zwischen „äußeres Verhalten“ und „das Gefühl selbst“ (ebenda). Unter dem Blickwinkel des Missbrauchs macht dies folgenden Sinn: Ein z.B. vom Vater misshandeltes Kind geht danach zur Mutter und erzählt ihr davon, und dabei erkennt es auf tragische Weise den Unterschied zwischen „etwas selbst sinnlich wahrnehmen“ und wie die Mutter „etwas vom Hörensagen wissen“ oder zwischen „wissen, was ich fühle“ und bei der Mutter „wissen, was ihr misshandeltes Kind fühlt“, wenn die Mutter ihm nicht glaubt. Das Kind zweifelt dann an sich selbst, ob seine Wahrnehmung der demütigenden Misshandlung richtig ist, ob es weiß, wie das Geschehen an sich ist – eine gerechte oder notwendige Maßnahme des Vaters? –, und sein äußeres Verhalten, sein Rückzug, gibt kaum Auskunft über seine eigentliche Empfindung selbst, nämlich teils Angst, teils Trotz, und das Gefühl, vom Glauben abgefallen zu sein, vom Glauben an das Gute im Menschen. Aber auch bei den Eltern gibt es diese Unterschiede: sie sehen nur etwas an ihrem Kind und an sich selbst, aber nicht alles, sie nehmen etwas sinnlich wahr von ihrem Kind, von sich selbst und dem Geschehen, wissen aber nicht, wie es an sich ist, und sie erkennen nur das äußere Verhalten ihres Kindes und ihr eigenes und nicht sein und ihr eigenes Gefühl selbst. In jedem Fall ist das Kind mehr oder weniger außerhalb der Familie, seiner Gemeinschaft, so wie auch der Erkenntnistheoretiker als solcher mehr als Individuum denn als Genus in der Welt ist.

Bei der Beschreibung der Zusammenhänge der Untersuchung des traditionellen Philosophen hat man nach Cavell das Gefühl, sie seien unvollständig beschrieben, ohne angeben zu können, „was wir alles in diese Beschreibung aufzunehmen haben“ (ebenda). Unter meiner Prämisse betrachtet liegt das an dem philosophisch verschlüsselten Ausdruck des Missbrauchserlebens, und diese Vorerfahrung ist zwar in die Beschreibung aufgenommen, aber verschlüsselt bis zur Unkenntlichkeit. Insgesamt darf, so Cavell, „die Unnatürlichkeit für sich genommen [...] nicht für eine bündige Abfertigung dieser Fragen in diesem Zusammenhang gehalten werden, da das dieser Art Kritik zugrundeliegende Sprachverständnis selbst diese flache Art der Zurückweisung verhindern muss“ (ebenda), denn der Exkurs zu Wittgensteins Sprachtheorie ergab ja, wie wichtig die hintergründigen Zusammenhänge von Bedeutungen sind, und der „springende Punkt“ ist, dass es keine feste Regeln oder Universalien gibt zur Gewährleistung richtiger Projektionen, sodass neue Zusammenhänge für Projektionen sprachlicher Ausdrücke offen und tolerant sein müssen, die jeweilige Projektion muss nur verständlich sein, d.h. dass der Erkenntnistheoretiker „relevante Erläuterungen gibt, wie sie zu verstehen ist, d.h., wieso der neue Zusammenhang ein Anwendungsfall der bereits bekannten Vorstellung ist“ (ebenda, S. 324). Wenn der Erkenntnistheoretiker den Missbrauch zugeben würde, würde der Alltagsphilosoph ihn einerseits verstehen können, aber er würde daraus wahrscheinlich – zumindest mag das die Angst des Philosophen sein – als Genus ein praktisches Problem machen, wie man in Zukunft so etwas Menschenunwürdiges verhindern kann, und der traditionelle Philosoph würde sich mit seinen eigenen Schwierigkeiten und seiner Würde und Bürde als Individuum schon wieder alleingelassen, wertlos und verraten vorkommen. Daher muss der Missbrauch für ihn ein Geheimnis bleiben, ein großes Dilemma und eine Wiederholung der Vergangenheit, als man ihn nicht verstand und ernst nahm, als er sich mitteilte und von dem Missbrauch erzählte.

Cavell führt nun aus, dass wenn man das Natürlichkeitsdefizit zur Kritik bemüht, man auch nachweisen müsse, dass der traditionelle Philosoph „gar nicht meint, wovon er denkt, er meine es“ (ebenda), „dass die Art, in der er seinen Zusammenhang für diese Projektion hergestellt hat, es per se unmöglich macht, dass er das meint, was er intendiert und was er allerdings auch intendieren muss, wenn seine Konklusion das bedeuten soll, was sie besagt“ (ebenda, S. 325). Bedeutet „nicht alles sehen“ in dem vom Erkenntnistheoretiker hergestellten Zusammenhang wirklich „nicht sehen“? Im Fall eines Missbrauchs, wenn man nicht alles davon sieht, kann es wirklich sein, dass der Missbrauch als solcher nicht gesehen wird, vor allem wenn man sich so etwas aufgrund seiner Ungeheuerlichkeit auch gar nicht vorstellen kann. (Dass man etwas nicht sehen kann, was man sich nicht vorstellen kann, zeigt das Beispiel der Indianer, die das Schiff von Kolumbus nicht sehen konnten, als er es ihnen vom Ufer aus zeigte, sondern erst, als er mit ihnen in einem Boot dort hinruderte.) Hier zeigt sich eine Schwierigkeit im Begriff des Sehens: betrifft „sehen“ alles das, was an Informationen vom Auge aufgenommen wird, oder nur das, was gehalten in Erinnerung und Vorstellung von uns weiterverarbeitet wird, und wie sieht es mit der subliminalen Wahrnehmung aus, wenn im Kino ein Produkt ein paar Mal so kurz eingeblendet wird, dass niemand es direkt bemerkt, in der Pause aber dieses Produkt überzufällig oft, öfter als sonst, gekauft wird? Da subliminales Sehen Erinnerung voraussetzt, kann es unter dem Sehen, das in Erinnerung und Vorstellung gehalten ist, subsummiert werden, und normalerweise verstehen wir darunter das Sehen. Weiterhin liegt beim Sehen und beim Wahrnehmen allgemein die Schwierigkeit darin, dass es einem hermeneutischen Zirkel unterworfen ist, es braucht Wissen als Grundlage und fördert das Wissen und entwickelt sich daher ähnlich wie und parallel zur Sprache und zum Selbst. Insofern ist das Sehen bzw. die sinnliche Wahrnehmung einerseits das elementarste Mittel, um zu wissen, es fördert das Wissen, wie ich in der Welt existiere, andererseits bedarf es aber auch eines solchen Wissens, damit ich noch mehr und besser sehen oder wahrnehmen kann, wie ich in der Welt existiere. Wenn der Philosoph aber daraus ein Wissen macht, „was alles in der Welt existiert“, und das Sehen „zur Grundlage eines bestimmten Wissensanspruchs“ (ebenda), dann schließt er sich einerseits selbst aus, als ob er nicht in der Welt existiert, als ob es nicht er ist, der sieht oder wahrnimmt, es ist dann ein unpersönliches „man“, das sieht oder wahrnimmt, und erst durch diese Verschiebung bzw. Projektion, in der das Sehen „zur Grundlage eines bestimmten Wissensanspruchs“ wird, entsteht der Zweifel „ja siehst du es denn ganz, siehst du alles, was zum tatsächlichen Erkennen nötig ist“. Der Zusammenhang der persönlichen Beteiligung wird plötzlich aufgehoben, und damit entgleitet dem Philosophen die Kontrolle darüber, was er sagen will bzw. meint. Im Zusammenhang mit einem Missbrauch macht das wiederum einen besonderen Sinn, denn viele Missbrauchsopfer tendieren dahin, ihr Erleben zu entpersönlichen, d.h. sich selbst nicht mehr als Beteiligte zu sehen, sich abzuspalten, und sich dann zu fragen, ob sie es denn wirklich so sehen, wie es war. Ich erinnere mich an eine Patientin, die Träume über Missbrauch hatte und sich fragte, wie so etwas kommen könne, so etwas sei doch nie passiert. Sie zweifelte also, ob sie das richtig sehe, bis ihr ihre Sandkastenfreundin klar machte, dass dem wirklich so war und die Patientin es der Freundin damals alles brühwarm erzählt hatte. Ohne ihre Freundin war der Patientin die Kontrolle darüber entglitten, was sie sagen wollte und was sie meinte, nämlich dass sie tatsächlich missbraucht worden war.

Wenn Cavell am Ende dieser Diskussion auf Seite 326 fragt, was die Bedeutung eines Wortes ist, so kann man in meinem letzten Beispiel auch fragen, was die Bedeutung eines Traumes ist, und in beiden Fällen antworten: „die Bedeutung ist sein Gebrauch“. Der Zweifelsgrund des Philosophen macht die vorangehende Projektion des Wortes „sehen“ oder „wahrnehmen“ genauso nötig wie der Zweifel meiner Patientin die Projektion des sexuellen Missbrauchs in einen Traum – beides dient wohl zum Schutz vor der Verzweiflung an der Wirklichkeit. Letzteres ist bei meiner Patientin wohl einsichtig, beim Philosophen aber, ist es da genauso, insbesondere wenn man von meiner Prämisse absieht? Wenn man beim Philosophen nur davon ausgeht, dass er seine Zweifel hat, dann dient seine Projektion dazu, diese Zweifel möglichst vielen anderen verständlich zu machen, und je mehr er sie mit anderen teilen kann, desto weniger bedrücken sie ihn (geteilter Druck ist deutlich geringerer Druck), sodass er sich dadurch davor schützt, dass aus seinem Zweifel eine richtige Verzweiflung an der Wirklichkeit wird.

Cavell untersucht nun, wie angemessen die Projektion des Philosophen ist, wenn er die zweifelnde Frage stellt, ob wir denn alles Wichtige sehen. Auf den ersten Blick ergibt die Frage keinen klaren Sinn, da nicht deutlich wird, was wichtig ist. Sie allein deswegen aber abzulehnen, „ist prima facie schwächer als der Grund, den der Philosoph hat, die Frage zu stellen“ (ebenda, S. 332). Aber der Philosoph muss klar machen, warum die Frage adäquat ist, und das geschieht, wenn er sagt, dass wir nur die Oberfläche sehen und nicht, was noch dahinter ist. Diese Erläuterung ist weder bizarr noch unverständlich, aber in ihrer Abstraktheit insofern störend, weil wir uns generell vorstellen sollen, was wir sehen und was vielleicht nicht. Es erfordert ein unübliches Maß an Vorstellungskraft, wenn der Philosoph den Begriff des „Sehens“ strikter als üblich gebraucht, das ist in der Praxis nicht mehr ökonomisch, und damit ist „womöglich auch schon die Ursache dafür berührt, dass seine Konklusionen so »instabil« sind“ (ebenda, S. 334). Dieses Argument der mangelnden Ökonomie habe ich schon früher erwähnt. Wenn man allerdings davon ausgeht, dass es sich bei der Abstraktheit um die Abstraktion eines Missbrauchserlebnisses handelt, ist einerseits die Ökonomie gewahrt, und die Konklusionen sind stabil, aber beschränkt auf ausschließlich die Bereiche, in denen inhumanes Verhalten verborgen vorkommen kann.

Abgesehen davon wie angemessen die Projektion des Philosophen ist, sie führt auch in ein Dilemma: die erläuternde Feststellung, dass wir nicht sehen, was dahinter ist, muss bedeuten, was sie üblicherweise bedeutet, nämlich dass es etwas gibt, was „verborgen, versteckt, nicht einsehbar“ (ebenda) ist, „denn sonst würde der Philosoph nie davon ausgegangen sein, das entdeckt zu haben, wovon er doch ausgeht, es entdeckt zu haben“ (ebenda). Einerseits ist dieses Verborgene, Versteckte, nicht Einsehbare etwas Bestimmtes – es ist ja entscheidend dafür, ob wir tatsächlich erkennen, worum es geht –, andererseits aber kann der Philosoph nicht sagen, was genau es ist, er kann nur sagen, die philosophische Untersuchung mache kenntlich, was verborgen, versteckt, nicht wahrnehmbar ist. Darauf erwidert Cavell zweierlei: zum einen wechseln wir häufig unsere Standpunkte, sodass auch das wechselt, was nicht wahrnehmbar ist, d.h. „dass das, was die Philosophen »die Sinne« nennen [...] von einem Wesen gehabt und gebraucht werden, das sich praktisch verhalten muss“ (ebenda, S. 339), eine weitere Erklärung für die schon wiederholt „so befremdlich aufgestoßene »Instabilität« der skeptischen Konklusion überhaupt“ (ebenda). Zum andern, wenn wir annehmen, die philosophische Untersuchung mache wirklich etwas ursprünglich nicht Wahrnehmbares kenntlich, dann führt die Formulierung der Konklusion zu einem Dilemma: „Entweder dem Modell, im Hinblick auf das sowohl wir als auch er seine Aussagen verstehen müssen, fehlt die Anwendbarkeit auf das Ausgangsobjekt, so dass es zum Modell von gar nichts würde: Dann müssten wir es anwendbar machen – sei es durch ein verdrehtes Verständnis davon, was es heißt, unter Objekten zu leben [in der Welt zu leben] [...], sei es dadurch, dass wir uns von »den Sinnen« einen Begriff machen, der sie entkörperlicht. Oder aber das Modell passt getreulich auf das Ausgangsobjekt: In diesem Fall hätte es keine Bedeutung für die Geltung unseres Wissens überhaupt“ (ebenda, S. 340), d.h. es gäbe keine allgemeine skeptische Konklusion. Im Fall eines Missbrauchs wäre das nicht Wahrnehmbare das, was der Täter unter Ausschluss von Zeugen seinem Opfer antut, und wir hätten meist nur Aussage gegen Aussage und könnten oft nicht entscheiden, wem wir glauben sollen bzw. wer die Wahrheit sagt. Dieselbe Situation haben wir auch bei den vielen nicht aufgeklärten Verbrechen und bei vielen anderen rätselhaften Geschehnissen, die aller Wahrscheinlichkeit nach nie geklärt werden können. Da es sich hier um eine größere Anzahl von Fällen handelt, kann man sagen, die skeptische Konklusion ist zwar nicht vollkommen allgemein, sie hat aber schon in mehreren großen Bereichen Geltung, sodass man sie eher allgemein als spezifisch nennen kann.

Damit ist der Skeptizismus also nicht widerlegt, denn wie Cavell zugibt: „zu viel ist hier [bei seinen bisherigen Überlegungen] ausgespart“ (ebenda): Erstens fehlt eine Klärung, „inwiefern die hier in Frage kommenden verschiedenen Zusammenhänge einen modifizierenden Einfluss darauf haben, »wieviel gesehen« wird. Zweitens haben wir noch nicht die Frage angeschnitten, welche Relevanz die erkenntnistheoretische Untersuchung im Licht der Phänomenologie unserer Objekterfahrung hat, sondern sind darauf nur soweit eingegangen, als es um die Interpretation der Behauptung ging, man wisse um die Existenz von Objekten“ (ebenda, S. 340 f.). Cavell will nun begreiflich machen, dass der Philosoph bei seiner Untersuchung, wenn er sich an die normale Ausdrucksweise und Semantik hält, „dazu gezwungen wird, einen Zweifelsgrund aufzutischen, welcher zu einem Dilemma der eben beschriebenen Art führt“ (ebenda, S. 341). Dazu muss die Grundlage erneut betrachtet werden, auf die sich der Zweifelsgrund bezieht.

Es ist also erst einmal ein Problem und reicht noch nicht für eine Widerlegung, wenn „der Erkenntnistheoretiker voraussetzt, es würde aus der »Tatsache«, dass jemand etwas [...] nicht sieht, folgen, dass deswegen das, was man effektiv gesehen hat, irgend etwas anderes ist (eine andere Art von Objekt)“ (ebenda, S. 343). Der Erkenntnistheoretiker bezieht sich dabei allgemein auf Behauptungen von Menschen, etwas Bestimmtes zu wissen, wobei er aber in seiner Allgemeinheit den Kontext außer Acht lässt, in dem eine solche Behauptung geäußert wird, insbesondere vernachlässigt er, was der Betreffende mit seiner Behauptung meint oder beabsichtigt. Die kommunikative Absicht macht aus einer Äußerung einer Behauptung das Umsetzen eines Plans, es ist eine Handlung und betrifft daher unser Dasein als Spezies. Der Plan oder die Absicht ist jeweils unser eigener bzw. unsere eigene als Individuum, und die Beurteilung unserer Handlung, die wir mit den Sinnen wahrnehmen, kommt von uns als Genus, d.h. hier kommen die Wittgenstein’schen Kriterien zum Zug, und hier muss auch der traditionelle Philosoph zu demselben Urteil kommen, wenn er die Begriffe genauso anwendet, wie sie normalerweise von allen angewendet werden, die die Begriffe verwenden. Will er also seinen Zweifelsgrund und damit seine Konklusion aufrecht erhalten, dann muss er die Begriffe anders als normal verwenden, das aber bedeutet, er bezieht sich nicht mehr auf das, was mit der Behauptung tatsächlich gemeint war. Wir haben also ein ähnliches Dilemma wie oben. Damit wir im Gespräch nicht aneinander vorbei reden, wird häufig die Kommunikationsregel aufgestellt, bei Fragen an einen anderen auch zu erklären, wie wir auf diese Frage gekommen sind. Ich komme an dieser Stelle jedenfalls zu der Feststellung, dass der traditionelle Philosoph und der Alltagsphilosoph aneinander vorbei reden; „ohne die Veranlassung einer Äußerung zu verstehen, können wir nicht verstehen, was jemand meint“ (ebenda, S. 345). Bei der Sprache geht es nach Wittgenstein um Verständigung und nicht um Begriffsbestimmungen, und dies ist nach Cavells Ansicht der „»tiefste Streitpunkt« zwischen Tradition und der neuen Philosophie“ (ebenda, S. 347).

Cavell meint dann auf Seite 351, dass manche philosophischen Aussagen nicht informativ seien, weil sie nichtssagend seien, weswegen Wittgenstein sie verwerfe und nicht, weil sie nicht verifizierbar seien. Auch wenn die Aussagen etwas bedeuteten, die Philosophen würden nicht wissen, was sie damit meinten und begriffen nicht, dass sie nichts meinten. Dem möchte ich folgendes entgegenhalten: Schon Freud soll sich eine Zeitlang darin engagiert haben nachzuweisen, dass niemand ganz zufällig irgendwelche Zahlen sagen kann, sondern dass diese immer (er sagte unbewusst) determiniert sind, also etwas zu sagen haben über die betreffende Person. Wenn ich also entsprechend etwas sage, dann drückt das etwas aus von mir, es repräsentiert etwas von mir, es spricht aus mir heraus. Von daher möchte ich behaupten: Niemand kann nichtssagende Aussagen machen, nur manchmal versteht niemand – sogar der Betreffende selbst nicht –, was er damit meint. Nicht zu kommunizieren, geht nicht. Damit erhebt sich die Frage bzw. es stellt sich das Problem, was meint der Skeptiker, wenn er die allgemeine skeptische Konklusion äußert, er zweifle daran, ob wir wirklich wissen, wovon wir behaupten, wir wüssten es. Da wir von ihm selbst keine uns befriedigende Antwort bekommen, kann uns seine Konklusion in dieser Allgemeinheit nicht richtig verständlich werden, und womöglich versteht er es selbst auch nicht richtig. Meine Vermutung geht ja, wie schon geäußert, in die Richtung, dass in seiner Biographie ein Missbrauch eine Rolle spielt, und der Skeptiker mit seinen Zweifeln einerseits diesen Missbrauch kundtun will, andererseits aber entweder diesen Umstand nicht mehr im autobiographischen Gedächtnis hat (verdrängt, abgespalten, vergessen) oder deswegen nicht in irgendeiner Form abgestempelt oder abgewertet werden möchte. Cavell fordert nun auf Seite 354, dass jeder, sobald er oder sie merkt, wie befremdlich das klingt, was man gerade zum Ausdruck bringen möchte, möglichst alles das auf den Begriff bringt, was einen dazu treibt, sich so auszudrücken. Wenn dies allerdings nicht geschieht, was aus psychologischen Gründen wie eben dargestellt passieren kann, dann sind wir selbst aufgefordert, entsprechend nachzuforschen. Anhaltspunkte können wir einerseits in der Biografie der betreffenden Person finden und andererseits darin, welche anderen Personen sich durch diese Personen angesprochen fühlen. Um Nietzsche besser zu verstehen, ist es hilfreich zu wissen, dass er als Kind von seinen beiden Tanten, bei denen er aufwuchs, mit der Peitsche im Pferdestall schwer misshandelt worden ist (Miller, 1996, S. 41 f.). Wenn dann Menschen, die Ähnliches erlebt haben, von Nietzsche besonders stark sich angesprochen fühlen, etwa von seiner Vision des Übermenschen, nachdem man derartig demütigende Erlebnisse machen musste, dann ist dies ein weiteres Indiz dafür, dass die Misshandlungen in der Kindheit die Philosophie von Nietzsche nachdrücklich beeinflusst haben. Auch Wittgenstein, der sich über die große Übereinstimmung der Menschen bezüglich der grammatischen Kriterien wundert, wird besser verständlich, wenn man weiß, dass er homosexuell war und damit mit vielen Menschen nicht übereingestimmt hat, und dies scheint ein Problem in seinem Leben gewesen zu sein, da er seine Homosexualität erfolgreich geheim gehalten hat.

Nach Cavell ist das Vorgehen des Philosophen derart, dass er eine Aussage aus einem sinnvollen Zusammenhang heraus nimmt, dann Umstände definiert oder eine Theorie konstruiert, mit der er auf eine andere Art für einen nachvollziehbaren Sinn dieser Aussage sorgt. Cavell beharrt dann immer wieder auf der Frage, wieso der traditionelle Philosoph „sich nur mit seiner eigenen Weise zufrieden“ (ebenda, S. 355) gibt. Für mich zeigt sich hier wieder der Unterschied, dass der Erkenntnistheoretiker als Individuum unterwegs ist, während Cavell – und das scheint mir eine amerikanische Eigenart zu sein – aus dem Modus des Genus heraus argumentiert. In einer Tradition, in der die Gemeinschaft von Minderheiten beherrscht wird, ist die Gedankenfreiheit, nämlich auf eigene Weise zu denken, die einzige Freiheit, die es gibt. Wenn man nicht in einer Demokratie lebt, wird man als Genus von Mächten beherrscht, die ihre Überzeugungen durch Wiederholung verbreiten, so dass die Menschen, die unter einer solchen Herrschaft stehen, suggestiv dadurch beeinflusst werden, und die Überzeugungen, die gar nicht ihre eigenen sind, sind tatsächlich nur „durch Wiederholung erzeugte psychische Zustände“ (ebenda, S. 356). Was Cavell als die Sprachtheorie der Erkenntnistheoretiker bezeichnet, ist in Wirklichkeit eine Theorie der Herrschaftssprache, die tatsächlich entweder logisch formalisierbar als Verwaltungssprache fungiert oder »rein psychologisch« suggestiv ist oder zur Einschüchterung dient. (Bei den frühen Hypnoseversuchen in Frankreich, wenn ein Adliger seine Dienstmagd hypnotisierte, spielte das Herrschaftsgefälle eine große Rolle und erklärt aus heutiger Sicht viele suggestive Phänomene.) Wenn Heidegger von der „Befreiung der Grammatik von der Logik“ (Heidegger, 2006, S. 165) spricht, dann hofft er auf das Existenzial der Rede, durch deren Eigentlichkeit die Herrschaft des Man vielleicht beendet werden kann.

Es ist nun typisch für die Sprache der Unterdrückten, „dass etwas zu sagen etwas »implizieren« kann, was von dem Gesagten für sich genommen nicht impliziert würde“ (Cavell, 2006, S. 358). Als Beispiel folgende Anekdote: Im Dritten Reich pries eine Fischverkäuferin ihren Fisch mit den Worten an: „Hering, Hering, so fett wie der Göring.“ Daraufhin wurde sie für einen Tag inhaftiert. Als sie danach wieder zu ihrem Marktstand kam, rief sie: „Hering, Hering, so fett wie vorgestern.“ Für sich genommen implizieren diese Worte nur, dass der Hering genau so fett sei wie zwei Tage zuvor. Im Zusammenhang aber implizieren sie, dass die Fischverkäuferin ihre Anspielung auf Göring immer noch beibehielt. Herrschaftssprachen sind in dieser Hinsicht brutal offen. Die normale Sprache aber kennt beides, Offenheit und Anspielung. Wenn nun der Erkenntnistheoretiker in seinem individualistischen Rahmen so offen auftritt, dass seine Sprache wie eine Herrschaftssprache wirkt, so erscheint uns das vielleicht deswegen so befremdlich und unsympathisch. (Wenn aber meine These stimmt, dass er missbraucht wurde, dann enthält seine Sprache entsprechende Anspielungen, die häufig übersehen werden.) Je nachdem ob wir uns unterdrückt fühlen oder nicht, werden wir ängstlich oder wütend. Der Philosoph „möchte ohne die Verpflichtungen sprechen, die das Sprechen nun einmal auferlegt“ (ebenda, S. 360). Einem unterdrückten Menschen erscheint dies revolutionär, einem Demokraten aber arrogant, befremdlich und unsympathisch. Legt man die These des erlebten Missbrauchs zu Grunde, so erscheint es auch nur allzu verständlich, wenn jemand, der etwas so Schlimmes erlebt hat, sich gegen jegliche Herrschaftsansprüche sträubt, damit er nie wieder so etwas erdulden muss. Er kann auch keiner Mehrheit vertrauen, da sie ja den Missbrauch geduldet hat.

Wenn der traditionelle Philosoph seine Gedanken formuliert, dann ist seine Tätigkeit kein konkretes Handeln als Spezies (im Sinne Tanabes (Tanabe, 2011)) sondern ein hypothetisches Planen als Individuum, d.h. er lässt es nicht zu einer Tat kommen, die etwas Konkretes in der Welt bewirkt. Von daher sind seine Formulierungen nicht als Sprache im üblichen Sinne zu verstehen, da sie nicht als Sprechakt in einem konkreten Zusammenhang und damit nicht als eine alltägliche Handlung betrachtet werden können. Es ist ein von Wittgenstein so genanntes »Sprechen außerhalb von Sprachspielen«. Wenn z.B. Descartes seine Meditationes beschreibt, wird klar, „dass der Erkenntnistheoretiker bei seiner Meditation allein ist“ (Cavell, 2006, S. 368) und nicht wie Austin bei seinen Untersuchungen, bei denen er höchstens zufällig allein ist. Als Individuum ist jeder Mensch ein Einzelner, als Genus aber in einer Gemeinschaft. Von der Alltagssprache aus betrachtet hat Cavell Recht, wenn er feststellt, dass „keine konkrete Behauptung in der klassischen Untersuchung je eine Rolle spielt“ (ebenda, S. 363). Der Zusammenhang, in welchem der Philosoph die Dinge betrachtet, ist rein hypothetisch, Cavell nennt es einen „Zusammenhang der Nicht-Behauptung“ (ebenda). In diesem Sinne ist auch Wittgenstein zu verstehen, wenn er feststellt, dass man über philosophische Thesen nicht diskutieren kann (Wittgenstein, 2001, S. 815, § 128). Da praktisch und konkret nichts geschieht, kann man es auch nicht richtig beurteilen. Der Erkenntnistheoretiker stellt die Bürde der Verantwortung menschlichen Handelns fest und verweist dann auf die Menschenwürde mit dem Appell, erst zu denken und dann zu handeln, wobei er auch in Kauf nimmt, dass das Handeln stark verzögert oder gar blockiert wird nach dem Zitat von Günter Eich: „Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!“ Meines Erachtens meint der Philosoph diese Dinge, wenn er seine skeptische Konklusion äußert. Die Gefahr, die dabei meines Erachtens besteht, ist, dass der Erkenntnistheoretiker zu sehr bei den vielen Möglichkeiten des Seinkönnens (Heidegger, 2006) und, was alles sein kann, verweilt, also den Geist zu stark betont, und seine Befindlichkeit nicht ausreichend beachtet, sie abwehrt, für nicht so wichtig hält, vor allem will er sich nicht von ihr beherrschen lassen, d.h. er zweifelt an der Psyche, am Psychischen mehr oder weniger, sieht seine Gefühle womöglich als Schwäche an. Der Erkenntnistheoretiker greift aber die Psyche nicht direkt an, sondern das, was zur jeweiligen Befindlichkeit führt, unsere Sinneswahrnehmung, die wir als Genus mit Hilfe der Alltagssprache und deren Kriterien beurteilen, und wenn wir etwas als Erfolg beurteilen, freuen wir uns oder haben Spaß, wenn als gewesene Schädigung, dann empfinden wir Wut oder Zorn, wenn als auf uns zukommende Bedrohung, empfinden wir Angst oder Furcht, wenn wir uns als getrennt von dem beurteilen, was wir uns wünschen oder dessen wir bedürfen, dann ist unsere Befindlichkeit Leid oder Trauer, und wenn wir etwas verurteilen, dann empfinden wir Abscheu oder Ekel. Die allgemeine skeptische Konklusion „Nimmst du wirklich alles Wichtige wahr, sodass du dich auf dein Urteil verlassen kannst?“ greift also indirekt die Psyche an. Damit wehrt der traditionelle Philosoph insbesondere seine Bedürfnisse ab, und auf diese Art sind Probleme vorprogrammiert, wenn das Individuum als Objekt der Psyche an dieser zu zweifeln beginnt und als geistiges Subjekt mithilfe seiner Macht über den Geist gegen den Einfluss der Psyche zu handeln beginnt. Ganz allgemein betrachtet erleidet ein Zweifler die Folgen seines Handelns, indem er getrennt ist (das erzeugt Leid) von seinen Bedürfnissen und damit von der Befindlichkeit der Freude, und wenn er die Folgen seines Handelns nicht sich selbst sondern der mahnenden Psyche zuschreibt, empfindet er Trauer und Zorn (uneigentliche Befindlichkeiten). Die Umstände und Situationen, in die er sich geworfen fühlt, also die Welt der Materie mit all ihren Widersprüchlichkeiten, erscheint ihm dann insgesamt widerwärtig und seine (uneigentliche) Befindlichkeit ist abwertender Ekel. Seine gesamte Befindlichkeit, d.h. seine Psyche verwandelt sich so im Extremfall immer mehr in etwas Negatives, gegen das er entweder vergeblich kämpft, dem er sich lethargisch und Verantwortung abgebend passiv-aggressiv überlässt, oder das er an andere vermittelt, sodass diese die Folgen zu tragen haben und er selbst so lange, wie andere die Konsequenzen tragen, davon befreit ist und womöglich noch seinen Spaß daran hat, dass andere für ihn leiden. Das alles muss nicht unbedingt so geschehen, aber die Gefahr besteht und kann im Wahn enden. Die einzige Lösung dieses Dilemmas besteht darin, dass ein derartiger Zweifler wieder bereit ist, auf die Psyche zu hören, also auf den Ruf seines Gewissens, sodass ein Prozess der Umkehr eingeleitet und durchgeführt werden kann, was man vereinfacht und stichwortartig mit Reue, Wiedergutmachung und Vorkehr gegen falsche Zweifel umreißen kann. Dann kann der Geist wieder aufhellen und zur Umkehr zu seinem eigentlichen Selbst benutzt werden. Die Gefahr besteht in diesem Fall also im Zweifel an der Dynamik der Emotionen, was als Uneigentlichkeit der Befindlichkeit bzw. der Psyche zu einem Anhaften an der Welt geführt hat, die Befindlichkeit ist ja uneigentlich, d.h. die jeweilige Stimmung macht sich an etwas in der Welt fest und nicht am eigenen Sein. Der Geist bzw. das geistige Potenzial des Daseins ist ebenfalls nicht mehr geschützt vor den Widersprüchlichkeiten der Welt und verfällt entsprechend, d.h. es können Geisteskrankheiten bzw. Psychosen wie Paranoia, Größenwahn oder wahnhafte Depressionen entstehen. Auf der gesellschaftlichen Ebene kann sich so der Totalitarismus ausbreiten, und Menschen in kollektivistischen Gesellschaften sind hierfür besonders anfällig. Andererseits wenn wir nur unserer Befindlichkeit vertrauen, dem, was der Alltagsphilosoph als Genus durch die Beurteilung seiner Sinneswahrnehmung mit Hilfe der Kriterien der Alltagssprache erzeugt, und den eigenen Vorstellungen unserer Möglichkeiten zu wenig Beachtung schenken, besteht eine andere Gefahr, nämlich dass wir uns völlig unseren Empfindungen hingeben und unsere Erwartungen (Geist) auf das Materielle und auf andere, also ebenfalls nach außen auf die Welt, ausrichten. Dabei ist die Psyche bzw. die Befindlichkeit des Individuums nicht vor den Widersprüchen der Welt geschützt und verfällt ihrer Herrschaft, wird also uneigentlich, wie Heidegger es nennt (Heidegger, 2006), so dass alle möglichen neurotischen Erkrankungen entstehen können wie zum Beispiel Suchterkrankungen, Ängste und neurotische Depressionen. Auf der gesellschaftlichen Ebene kann sich so Anarchie ausbreiten, und Menschen in individualistischen Gesellschaften sind hierfür besonders anfällig. Nur wenn das Individuum unter anderem wieder Vertrauen in seine eigenen Fähigkeiten, in sein eigenes Seinkönnen, in sein geistiges Potenzial gewinnt, ist der Prozess der Umkehr eingeleitet, und die Psyche kann wieder dazu mahnen, dass das Individuum wieder für sich selbst sorgt und die Verantwortung für sich selbst entsprechend übernimmt.

An dieser Stelle möchte ich auf einen Einwand eingehen, der mir selbst gekommen ist, als ich die Lebensgeschichte von Rousseau gelesen habe, so dass ich an diesem Beispiel näher erläutern kann, welche Erscheinungsweisen das Ungleichgewicht von Psyche und Geist haben kann. Von Rousseau wird ja behauptet, er sei ein „Gefühlsdenker“ (Weischedel, 2011, S. 176 ff.), und das Prinzip seines philosophischen Entwurfs „ist nicht der Verstand, sondern das Ursprüngliche im Menschen: das Gefühl“ (ebenda, S. 182). Wenn bei ihm also das Gefühl bzw. die Psyche den Vorrang besäße, dann müsste er laut meinen Ausführungen eher neurotisch gewesen sein. Er war aber eher paranoid, also wahnhaft, und auch die Menschen der französischen Revolution, die sich von ihm stark angesprochen fühlten, haben ein totalitäres Gesellschaftssystem geschaffen. Um diesen Widerspruch aufzulösen, muss man sich die Lebensgeschichte von Rousseau näher betrachten: in seinen »Bekenntnissen« beschreibt er als eindrückliches und entscheidendes Erlebnis – zumindest seiner sexuelle Entwicklung – die Misshandlung durch seine Erzieherin (ebenda, S. 177). Einerseits führte dies zu masochistischen Fantasien, mit denen er die Misshandlung abzuwehren (innerer Spannungsabbau) suchte, andererseits war ihm vermutlich irgendwie vermittelt worden, dass er im Grunde doch ein guter Mensch gewesen sei, der so eine schlimme Behandlung nicht verdient hatte. So bewältigte er die Misshandlung, indem er im Kontakt mit anderen Menschen diesen in seiner Philosophie vermittelte, dass sie im Grunde genommen alle gut seien, nur die Gesellschaft, die solche schrecklichen Erzieherinnen hervorbringt, verdirbt das Gute im Menschen. Wahrscheinlich glaubte seine Mutter an ihn, so dass er eine Muttersehnsucht entwickelte, die ihn vor der kalten, gefühllosen und aufgeklärten Erzieherin schützen sollte. Dies wird auch in seiner Philosophie deutlich, denn seine Gesellschaftskritik lässt sich als Kritik an dieser Erzieherin interpretieren, die das aufgeklärte Denken der damaligen Gesellschaft für ihn repräsentierte, und sein Ruf »Zurück zur Natur« beinhaltet eine Mutterübertragung auf die Natur, eine häufige Übertragung von frühkindlichen Mutterprojektionen der ersten Lebensjahre, in denen die Mutter noch ein mediales Objekt darstellt, auf »Mutter Natur«. Bei Rousseau beherrscht also der Geist mit der fixen Idee, zurück zu seiner Mutter in die frühe symbiotische Beziehung zu gelangen, seine Psyche, so dass seine Befindlichkeit uneigentlich geworden ist. Sein Zorn über das erlittene Unrecht, also seine Herkunft, treibt ihn dazu, immer wieder Streit mit allen Menschen um ihn herum zu beginnen, so dass er im übertragenen Sinne viele Schläge und Misshandlungen einstecken muss und so in einer Art Wiederholungszwang immer wieder die Misshandlung durch seine Erzieherin bzw. durch die Gesellschaft erneut erlebt. So endet er schließlich, von allen Menschen verlassen, in Hybris und Wahn. Mit seinen eigenen fünf Kindern macht Rousseau leider etwas Ähnliches wie seine Mutter mit ihm, er erzieht sie nicht selbst, sondern bringt sie „ins Findelhaus, weil sie ihm zu viel Lärm machen und zu hohe Kosten verursachen“ (ebenda, S. 178), ein weiterer Wiederholungszwang. Wie dieses Beispiel zeigt, geht es nicht darum, wie emotional oder rational ein Mensch handelt, sondern ob der Geist die Psyche beherrscht, zum Beispiel mit fixen Ideen, oder ob die Psyche den Geist beherrscht, indem lähmende Gefühle von Angst und Ohnmacht (ohnmächtiger Zorn, niederdrückende Trauer, Scham- und Schuldgefühle) das Selbstverständnis, also den Geist, daran hindern, Möglichkeiten des Seinkönnens zu entwickeln, die dann in der Tat verwirklicht werden könnten. Auch hier kann der Geist äußerst rege sein, kommt aber zu keinen Ergebnissen, die in die Tat umgesetzt werden können, weil von der Psyche zum Beispiel »Ich schaffe es nicht« kommt.

Mit dem Erkenntnistheoretiker und dem Alltagsphilosophen stehen sich also ein Kritiker und ein Verteidiger der Psyche gegenüber und behaupten jeweils ihr Recht gegenüber dem anderen. Der Erkenntnistheoretiker führt gegen die Psyche ins Feld, dass unsere Wahrnehmung von der Welt und unsere Meinung über die Welt „von der Wirkung unserer Sinnesausstattung“ (Cavell, 2006, S. 368) abhängig ist, während der Alltagsphilosoph dagegen argumentiert, seine Skepsis sei kalt und unmenschlich, arrogant und elitär. Wie oben dargelegt bestehen bei beiden Haltungen jeweils typische Gefahren, vor denen wir uns am besten dadurch schützen, dass wir weder dem Geist noch der Psyche die Alleinherrschaft über unser Handeln geben. Wird der Anspruch der Vernunft nur vom Geist und gegen die Psyche gestellt, so ist er kalt und unmenschlich, und es besteht die Gefahr des Totalitarismus, gegen den sich dann der Schrei der Vernunft wenden sollte, wenn dagegen der Schrei nach Liebe nur von der Psyche kommt und sich gegen den Geist richtet, kann das zur Anarchie führen, und dagegen hilft nur der Anspruch auf Liebe, der den Geist beansprucht, immer mehr sich selbst und andere im jeweiligen Worumwillen echt und unmittelbar zu verstehen. Beides ist wichtig, der Schrei nach Liebe und der Anspruch der Vernunft bzw. der Anspruch auf Liebe und der Schrei der Vernunft.

Was aber bringt einen Menschen dazu, die Psyche und damit sein Gefühlsleben mit solcher Skepsis zu betrachten? Eine mögliche Antwort darauf ist: ein Missbrauchserleben in der Kindheit, wenn wir von anderen abhängig sind, von deren Urteilen ihrer eigenen und unserer Sinneseindrücke, denn dabei bildet sich unser Gefühlsleben aus. Gleichzeitig muss das Kind von wem auch immer vermittelt bekommen haben, dass der Missbrauch bzw. die Misshandlung nicht in Ordnung gewesen ist. Daher ist es verständlich, wenn jemand, der das erlebt hat in seiner Kindheit, der Psyche und menschlicher Gemeinschaft äußerst skeptisch gegenübersteht. Umgekehrt können wir auch sagen, dass jemand dann seinem Gefühlsleben und menschlicher Gemeinschaft nicht traut, wenn er in einer solchen Gemeinschaft etwas erlebt hat, was die Dynamik seiner Gefühle verletzt und aus dem Gleichgewicht gebracht hat und ihm das irgendwie auch klar war. Und was bringt einen Menschen dazu, am Geist und damit an seinen eigenen Fähigkeiten zu zweifeln, etwas auch unabhängig von der Meinung und Unterstützung von anderen, notfalls sogar gegen deren Meinung, zu planen und zu erreichen, und sich lieber mit dem Alltäglichen zu begnügen? Eine mögliche Antwort: Engstirnigkeit, Dogmatismus, Unterdrückung in der Kindheit, wobei dem Kind vermittelt wurde, dass das vollkommen in Ordnung sei, sogar notwendig. Wenn etwas Negatives als positiv dargestellt wird, muss das den Geist eines Kindes verwirren, und es wird ihm misstrauen und sich eher auf seine Gefühle verlassen. Obwohl ihm seine Familie nichts Gutes getan hat, vertraut er der menschlichen Gemeinschaft, und etwas Derartiges bei anderen zu sehen, reizt natürlich den Erkenntnistheoretiker, an der Psyche und der Gemeinschaft zu (ver-)zweifeln.

Cavell geht nun noch einmal auf die Frage ein, wie der Erkenntnistheoretiker mit Sprache umgeht, was es bedeutet, wenn er in Wittgensteins Ausdrucksweise „außerhalb von Sprachspielen“ spricht aufgrund eines „Initialerlebnisses“, wenn er sich von der Welt abgeschnitten fühlt. Wittgenstein beschreibt dieses „Sprechen außerhalb von Sprachspielen“ außerdem noch als „die Sprache feiern“ (Wittgenstein, 2001, S. 769, §38) und bezeichnet die daraus entstehenden Probleme im Typoskript als „philodophisch“ statt „philosophisch“, dass die Sprache „leerläuft“ (ebenda, S. 816, §132), d.h. sie „arbeitet“ (ebenda) nicht, sie ist ihres Zusammenhangs bzw. „ihrer gewöhnlichen Anwendungskriterien beraubt“ (Cavell, 2006, S. 377), aber nicht ihrer Bedeutung. Damit ist sie auch ihrer Geschichte beraubt, die Wörter sind aus ihrem „Familienzusammenhang“ gerissen, der durch Projektion mittels hermeneutischer Zirkel entstanden ist. Cavell zitiert dann aus dem § 47 von Wittgensteins Untersuchungen, bei dem es um „die einfachen Bestandteile, aus denen sich die Realität zusammensetzt“ (Wittgenstein, 2001, S. 773) geht. Wittgenstein kommt zu dem Schluss, es habe „gar keinen Sinn von »einfachen Bestandteilen [...] schlechtweg« zu reden“ (ebenda, S. 774). Mit den „einfachen Bestandteilen“ ist es wie mit den Universalien, das führt zu größeren Problemen als die, die sie lösen sollen. Auch wenn der Erkenntnistheoretiker fragt, was wir denn wirklich sehen, verkennt er, was „sehen“ im praktischen Alltag bedeutet, es ist genauso wie die Sprache eingebettet in hermeneutische Zirkel, der Vorgang unseres Sehens ist gehalten von unseren Vorerfahrungen und unseren Absichten und Zielen, jegliche Wahrnehmung ist in diesem Sinne höchst bedeutungsvoll. Das ist der wesentliche Unterschied zwischen dem, was der Philosoph sich als „Sehen“ konstruiert und was „Sehen“ in der Praxis tatsächlich ist.

Die Hermeneutik bzw. der hermeneutische Zirkel, in dem sich die Bedeutung von Worten und unsere Wahrnehmung entwickelt, muss noch um einen wesentlichen Schritt ergänzt werden: der Zirkel besteht nicht nur wie oben nach Heidegger ausgeführt aus Vor-Habe, Vor-Sicht und Vor-Griff, sondern der Vor-Griff muss sich in der praktischen Anwendung bewähren. Auf die Sprache bezogen heißt das, die neue Bedeutung muss von der Sprachgemeinschaft als praktikabel oder auch nur als gefällig oder gefallend akzeptiert werden, und auf die Wahrnehmung bezogen entsprechend, dass die neue Sichtweise das Handeln in irgendeiner Weise verbessert. Das ist dann wie bei einem neuen Lebewesen, das mehr oder weniger lang überlebt, sich entwickelt, stärker oder schwächer, gesund oder krank werden kann je nach eigener Dynamik oder äußeren Einflüssen und Zusammenhängen. Je nachdem wie sich ein sprachlicher Ausdruck oder eine bestimmte Sichtweise bzw. Wahrnehmungsweise in der Praxis bewährt, wir also eine Auskunft über die jeweilige Anwendbarkeit erhalten durch eigene Erfahrungen und im Austausch mit anderen, entwickeln sich Sprache und Wahrnehmung. Aufgrund der Bedeutung der Praxis bei diesen Entwicklungsprozessen möchte ich diese Bedeutungslehre praktische Hermeneutik nennen.

Indem die cartesianische Untersuchung auf einer Weltsicht beruht, dass sich die Realität aus einfachen Elementen zusammensetzt, was impliziert, dass wir Menschen durch künstliche Intelligenzen (KI) oder Roboter ersetzbar wären, setzt sie eine statische Substanz-Ontologie voraus, die es so nicht geben kann. Dagegen haben schon Heidegger (Heidegger, 2006) und Tanabe (Tanabe, 2011) argumentiert, und auch Penrose hat mathematisch bewiesen, dass ein Computer einen Menschen noch nicht einmal nachahmen kann, nach endlich vielen Fragen ist der Unterschied feststellbar (Penrose, 2002 (Original 1989)), (Penrose, 1995 (Original 1994)). Auch Wittgensteins Ausführungen im § 47 gehen in diese Richtung. In gewisser Weise widerlegt sich der Cartesianer selbst, wenn er meint, wir sähen keine physischen Objekte, weil es diese außer in unserer Vorstellung u.U. gar nicht gibt. Daher setzt sich die Realität auch nicht derart zusammen. Mit dem cartesianischen Weltbild als Grundlage lässt sich also die Skepsis des Erkenntnistheoretikers nicht begründen.

Wenn man nun unsere Wahrnehmung nicht unter dem Entwicklungsaspekt betrachtet, sondern zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Art Querschnittsanalyse betreibt, um als Momentaufnahme „so den Inhalt unserer gewöhnlichen Wahrnehmung freizulegen“ (Cavell, 2006, S. 381), dann ist ein Zweifel „die normale Reaktion jedes vernünftigen Wesens auf jede Behauptung, in Bezug auf die es einen »vernünftigen Grund gibt, um daran zu zweifeln« (oder in Bezug auf die ein solcher geltend gemacht wird)“ (ebenda, S. 382). Der Zweifel ist eine Art „introspektive Reduktion“ (ebenda, S. 381) auf den Augenblick der Wahrnehmung, und er ist in der Situation, als die Behauptung aufgestellt wurde, deshalb implizit schon enthalten. Der Zweifel, »was wir wirklich sehen«, ist damit „eine Sache der Grammatik von »eine Grundlage angeben«, »einen Zweifel anbringen« usw.“ (ebenda, S. 382).

Wie Cavell daraus folgernd richtig feststellt (ebenda, S. 383), macht der traditionelle Philosoph keine reale Entdeckung, dazu müsste er in der Praxis tatsächlich handeln, er bleibt in der Welt der Vorstellungen und entwickelt dort eine große Vorstellungskraft, sodass er wegen dieser privaten Welt leicht für einen Exzentriker gehalten werden kann. Er stellt sich eine mögliche Untersuchung vor, betrachtet mögliche Behauptungen, deren Grundlage unsere möglichen Sinneswahrnehmungen sind, wobei „Sinne“ in dieser Welt sein erfundenes Konstrukt sind (es sind nicht unsere fünf Sinne, wie wir sie im praktischen Handeln mit Dingen, uns und anderen verwenden), so wie alles in dieser Vorstellungswelt konstruiert und erfunden ist, und alle, die dem Philosophen so weit gefolgt sind, kommen dann zu einer „in ihren Implikationen katastrophalen Entdeckung, durch die unsere bisherigen Gewissheiten so komplett vernichtet würden“ (ebenda, S. 371), zu einer katastrophalen konstruierten und hypothetischen „Entdeckung“, wir könnten unsere Individualität verlieren, was man letztlich als Angst vor dem Tod interpretieren kann, denn spätestens im Tod verlieren wir alle unsere Individualität. Die Psyche scheint wie bei Heidegger nur noch aus Angst zu bestehen, bzw. das scheint ihre wichtigste Komponente zu sein und ihre ganze Dynamik zu bestimmen. Der Philosoph blickt nur noch angstvoll in die Zukunft, was für Möglichkeiten auf ihn zukommen könnten, bis ihn die Todesangst erfasst hat, mit der er sich als Existentialist dann „heldenhaft“ auseinandersetzen kann. Auch hier ist ein in der Kindheit erlebter Missbrauch ein „vernünftiger“ Zusammenhang, der dieses Phänomen erklären kann, der das „Verrückte“ wieder zurecht rücken kann, der uns von der exzentrischen Erscheinung des Philosophen befreien und ihn in seinem gewesenen Leid wieder menschlich erscheinen lassen kann. Was Philosophen auf jeden Fall entwickelt haben, ist eine große Vorstellungskraft, und damit scheinen sie sich auch zu identifizieren. Der berühmte Satz von Descartes müsste eigentlich lauten: „Ich stelle mir etwas zusammen mit mir kräftig vor, also bin ich.“ (Das lateinische „cogitare“ kommt von „co-agitare“, „agitare“ ist ein forciertes Agieren oder auch ein kräftiges Sich-Vorstellen, das zum Handeln auffordert, „co“ bedeutet zusammen, sodass die Übersetzung von „cogito“ als „ich stelle mir etwas zusammen mit mir kräftig vor“ statt „ich denke“ gar nicht so abwegig ist.) Einige Philosophen (mir fallen hier vor allem Nietzsche und Heidegger ein) sind vom Philosophischen ins Dichterische gegangen, was ich dahingehend interpretiere, dass sie damit vermittelst ihrer großen Vorstellungskraft den psychischen Bereich wieder stärken wollten, damit er ins Gleichgewicht mit dem Geistigen kommen kann. Ich halte das aber nicht für den optimalen Weg, weil sie so im imaginären Bereich und damit in ihrer phantastischen Welt hängen bleiben, und Nietzsche wurde dann auch tatsächlich psychotisch. Für meine Begriffe kann nur das praktische Handeln die Psyche stärken und so das Gleichgewicht zwischen dem Geist und ihr wiederherstellen, denn beim Handeln kommen wir in Kontakt mit unseren Gefühlen, direkt und ohne Vorstellungen: es gelingt uns etwas – wir freuen uns, es geht etwas haarscharf daneben – wir ärgern uns, etwas steuert auf ein Unglück zu – wir bekommen Angst, wir wünschen uns etwas und bekommen Sehnsucht danach, wir entdecken beim Handeln unsere Schattenseiten und empfinden Scham und Schuld. Wenn wir schließlich so mit unseren Gefühlen immer besser zurecht kommen können, weil wir mit den Widersprüchlichkeiten, die uns beim Handeln begegnen, immer besser umgehen können, sodass die Angst vor dem Tod, die Wut über unsere Vergangenheit und das Leid wegen Getrenntheit von anderen immer geringer werden und wir immer öfter Begeisterung im Alltag erleben, dann verstehen wir uns und andere immer echter und unmittelbarer und kommen so immer mehr zu dem, was ich Liebe genannt habe (Kolb, 2011), (Kolb, 2012).

Wenn es dem Erkenntnistheoretiker um die Existenzfrage geht, also darum, ob die Vorstellung, mit Gewissheit von der Existenz von etwas zu wissen, ein Pendent in der Wirklichkeit hat, dann stellt sich nach Cavell (Cavell, 2006, S. 376) die Frage, was das für eine Vorstellung von »um die Existenz von etwas zu wissen« ist. In der Vorstellung des Philosophen muss Existenz einen Sinn haben, er ringt also in der Vorstellung um das Verständnis des Worumwillens von etwas, und das Pendent in der Wirklichkeit dazu ist das echte und unmittelbare Verstehen des Worumwillens von diesem „etwas“, was ich das Lieben von etwas genannt habe (Kolb, 2012). Damit ist die Bedeutung der Existenzfrage die, ob es Liebe gibt, und was das ist (für ein Missbrauchsopfer besonders brisant). Auf diese Weise, also mit diesen Überlegungen, könnte man den Erkenntnistheoretiker zum praktischen Handeln bringen, denn nur so kann er herausfinden, ob es das gesuchte Pendent gibt. Wenn er sich dann dabei immer wieder mit den Fragen konfrontiert, „wer bin ich?“, „was ist Leben?“, „wer oder was ist ein anderer?“ und „was ist Lieben?“, und dabei jeweils darauf aus ist, eine echte und unmittelbare Erfahrung von sich, vom Leben, vom anderen und vom Lieben zu machen, dann kann er möglicherweise eine Antwort auf die Existenzfrage bekommen (ebenda, 10. und 11. Kapitel).

Neben den Cartesianer, der in der Gewissheit die Abwesenheit des Zweifels bzw. die Natürlichkeit der Grundlage einer Behauptung sieht, stellt Cavell noch den Verifikationisten, der den Grad der Gewissheit am empirischen Verifikationsgrad misst. So wie das eine die Unmöglichkeit ist, den „Teufel des Zweifels“ zu vertreiben, so unmöglich ist das andere, nämlich die Totalität des „Seins wie Gott“. Anstatt den Baum der Erkenntnis, die Frage nach Wissen und Gewissheit, zu meiden, isst der Erkenntnistheoretiker davon, gibt uns allen ebenfalls davon zu essen, und so werden wir alle aus dem Paradies vertrieben. Dabei spielt die Sprache, die gespaltene Zunge der Schlange, eine wichtige Rolle: die Sprache ist abgespalten von ihren gewöhnlichen Anwendungskriterien, sie klingt befremdlich, gezwungen und absurd, aber wenn uns nicht bewusst ist, was daran so seltsam ist, solange wir das nicht richtig ausdrücken können, so lange wird der Zweifel in uns nagen, entweder an der Psyche oder am Geist, und uns zu Fall bringen, sodass wir uns immer mehr absondern in die Individualität. Das jedenfalls ist meine Interpretation der Geschichte vom Sündenfall. Eine weiterführende Interpretation dieser Geschichte ist in „Die Philosophie der Kyôto-Schule“ im 9. Kapitel zu finden.

Neben der Existenz will der Verifikationist auch noch sichere Prognosen haben, das ist seine Totalität des „Seins wie Gott“, aber aufgrund der sich stets wiederholenden Erfahrung, wie zufällig die Existenz doch ist, wie tief die Kontingenz ist, dass sowohl die Dinge als auch wir selbst (spätestens Freud hat uns darüber die Augen geöffnet) kontingent sind, so wie sie sind, sind Prognosen oft nicht möglich. Daher ist es wichtig für uns, uns bei den Prozessen in Gelassenheit zu üben, die trotz vieler äußerer Einflüsse auf ein festes Ziel hin konvergieren, mutig auf die Prozesse Einfluss zu nehmen, die wir von außen beeinflussen können, weil sie divergent sind und je nach Einfluss sich in die eine oder andere Richtung entwickeln können, und immer mehr Erfahrungen zu sammeln, welche Prozesse unter welchen Bedingungen konvergent oder divergent sind. Je mehr wir uns dahin entwickeln, desto mehr sind wir in der Liebe mit ihrer Doppelnatur: Entschlossenheit und Hingabe, Leitung und Begleitung, Mut und Gelassenheit (Kolb, 2011, Vorwort).

Bei allem aber fragt sich Cavell immer noch: „Wie kommen Philosophen nur darauf, dass ein Ausdruck wie »Dies existiert« irgendetwas bedeute, irgendwie informativ sei, und mehr noch, etwas bedeute, wofür wir den Beweis antreten können oder müssen?“ (Cavell, 2006, S. 394) Dabei ist eine schlüssige Evidenz kein Beweis, darauf lässt der Philosoph sich nicht ein. „Wodurch kommt jemand dazu, wie Kant (Vorrede zur 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft [...]) sagt, es für gut zu halten, an ihrer Existenz (nämlich der Dinge außer uns) zu zweifeln?“ (ebenda, S. 395) (Meines Wissens wendet sich Kant hier gegen den Dogmatismus: „Dogmatism ist also das dogmatische Verfahren der reinen Vernunft, ohne vorangehende Kritik ihres eigenen Vermögens.“ (B XXXVI) Andererseits kritisiert Kant ebenso den Skeptizismus von D. Hume, der „aber unsern Verstand nur einschränkt, ohne ihn zu begrenzen, und zwar ein allgemeines Mißtrauen, aber keine bestimmte Kenntnis der uns unvermeidlichen Unwissenheit zu Stande bringt“ (A 767, B 795).) Cavell hat diesen Zweifel charakterisiert als einen, „der empfunden werden muss und nicht empfunden werden kann“ (ebenda). Es sei die Folge eines Erlebnisses, bei dem der Philosoph von der Welt abgekapselt ist und verzweifelt versucht, „eine absolut tragfähige Verbindung mit diesem Weltobjekt herzustellen“ (ebenda, S. 396), die sonst im Alltag gewährleistet ist. Wie im Vorwort bereits erwähnt, kommt mir bei diesen Andeutungen des fraglichen Erlebnisses sofort die Möglichkeit des Missbrauchs hoch oder die eines Traumas, einer als lebensbedrohlich erlebten Situation für sich selbst oder einen anderen. Ein solches Erlebnis ergäbe einen klaren Sinn für den Zweifel des Philosophen. Es würde etwas bedeuten, dass es dieses Ereignis gegeben hat, und dass der Philosoph einen Beweis dafür haben muss, da ihm sonst niemand glaubt. Der Zweifel kann auch deswegen gut sein, weil er uns etwas schützt vor der ungeheuren Wucht des Ereignisses (Trauma heißt ja Schlag). Damit das Erlebnis verarbeitet werden kann, muss es empfunden werden bei gleichzeitiger Beruhigung bzw. Herabsenkung des Erregungsniveaus – ein Ergebnis der neurobiologischen Hirnforschung –, aber meist wird es in höchster Erregung empfunden, und das führt zu einer Retraumatisierung, geht also überhaupt nicht. Erinnerung bei gleichzeitiger Beruhigung ist nur bei einer absolut tragfähigen Verbindung zu einem anderen Menschen möglich, die sonst im Alltag durchaus gewährleistet ist. Das Problem ist nur, solche Erlebnisse „übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft“ (Kant, Critik der reinen Vernunft, 1781 (A), zweite Auflage 1787 (B), S. VII A). Wer so etwas nicht erlebt hat, kann es nicht erfassen, er sieht nur, „‘‘wie es sich mir darstellt‘‘“ (Cavell, 2006, S. 397), aber nur von außen und meist Jahre später, es ist keine direkte Erfahrung wie bei demjenigen, der dabei war und es wirklich erlebt hat.

Um die Bedeutung von »Dies existiert« in der Alltagssprache herauszufinden, betrachtet Cavell, wie die Existenz von etwas normalerweise ausgedrückt wird. Im Englischen heißt es „There is“, auf Deutsch „Da ist“, und fragt sich, ob das Problem der Existenz sich dabei reduziert „auf das Problem zu wissen, wie man es lokalisiert“ (ebenda, S. 399). Er führt dann noch an, dass es in anderen Sprachen ganz anders ausgedrückt wird, z.B. in Deutschen durch „Es gibt“. Dem ist noch hinzuzufügen, dass es auf Französisch „Il y a“, auf Deutsch „Es hat dort“, heißt. Ich würde das Französische so interpretieren: „Es hat sich dort ereignet und existiert nun“, so wie Heidegger im Deutschen das „Es“ als Ereignis, das wir mit eigenen Augen gesehen haben, deutet, welches uns die Existenz gibt. (Kant schreibt in seinen Werken noch „Eräugnis“ statt „Ereignis“.) Damit ist die Existenz nicht nur ein lokales sondern auch ein zeitliches Problem. (So betrachtet weist das Alltägliche der Sprache auf etwas hin, was ich schon früher aufgezeigt habe: Der Sinn von Existenz bzw. Sein ist prozesshaft mit seinen vier Ekstasen Herkunft, Zukunft, Ankunft und Auskunft (Kolb, 2011, Kapitel 9), bzw. Existenz oder Sein ist charakterisiert durch Aufgabe als Auskunft gebende Herkunft, Ideal als Auskunft verlangende Zukunft und Lösung als Auskunft erzeugende Ankunft (Kolb, 2012, Kapitel 5).) Cavells Gedanke, „dass zu wissen, was etwas »ist«, letztlich eine Sache davon ist, es »lokalisieren« zu können, zu wissen, wann es »dasselbe« ist, und seine Eigenschaften zu kennen“ (Cavell, 2006, S. 400), trifft zum Beispiel nicht auf eine Raupe zu, die sich in einen Schmetterling verwandelt und »dasselbe« bleibt, denn hier müssen wir die Zeit beachten, was „es gibt“. Hier zeigt sich meines Erachtens wieder einmal der Unterschied zwischen dem Alltagsphilosophen als Genus, der das Sich-Einlassen auf die Gemeinschaft und damit die Örtlichkeit von Ereignissen betont, während für den traditionellen Philosophen als Individuum die Zeitlichkeit von Ereignissen im Vordergrund steht und er sich nicht auf die Handlungsebene einlässt.

Sowohl Heidegger als auch Wittgenstein haben „beide die Frage nach dem Mysterium der Existenz oder des Seins der Welt immerhin“ (ebenda) zugelassen, und haben beide übereinstimmend festgehalten (Cavell hat dies „die Wahrheit des Skeptizismus“ (ebenda, S. 401) genannt und meinte, es auch „die Moral des Skeptizismus“ (ebenda) nennen zu können), „dass nämlich die Grundlage des Menschen in der Welttotalität, seine Beziehung zur Welt als solcher, nicht kognitiver Art ist oder jedenfalls nicht von der Art, was wir uns darunter vorstellen. […] Sowohl Wittgenstein als auch Heidegger stehen durch ihre jeweilige Interpretation in der Tradition von Kants Einsicht, dass die Schranken des Wissens keine Defizite sind“ (ebenda). Heidegger interpretiert dabei stärker die Beziehung zur Welt und sieht die größte Gefahr darin, an die Herrschaft des Man zu verfallen, also nur noch als Genus zu existieren und seine Individualität zu verlieren – typischerweise hält Cavell diese Darstellung im vierten Kapitel von Sein und Zeit (Heidegger, 2006) „für die oberflächlichsten Abschnitte in diesem so ungleichmäßigen Buch“ (Cavell, 2006, S. 401) –, während Wittgenstein kritisch darauf hinzuweisen scheint, welche negativen Folgen es hat, wenn wir uns der andauernden Versuchung hingegeben, wissen zu wollen, das heißt er fragt nach dem Preis, den wir für unsere Individualität zahlen müssen. Da uns mit unserer Individualität gleichzeitig unsere Sterblichkeit gegeben ist (Kolb, 2011), haben wir meines Erachtens nur die Wahl zwischen der Auseinandersetzung mit dem Tod, oder wir müssen Sisyphos-Arbeiten verrichten, also uns sinnlos anstrengen (Sisyphos hat den Tod überlistet und damit seine Grenzen überschritten, so dass er entsprechend bestraft wurde). Letzteres bedeutet geistiger Verfall, mit dem sich Wittgenstein befasst hat, „dass wir z.B. nicht wissen, was wir gerade sagen, dass unsere Behauptungen leer sind, dass wir nur die Illusion haben, etwas Bestimmtes zu meinen, dass wir uns auf eine unmögliche Privatsprachlichkeit herausreden“ (Cavell, 2006, S. 401). Sowohl Wittgenstein, den ich eher im Modus des Genus sehe, als auch Heidegger, der vor allem im Modus des Individuums Philosophie betrieben hat, sehen vor allen Dingen als Gefahr den „Identitäts- und Selbstverlust“ (ebenda). Der einzige Ausweg aus diesem Dilemma bzw. der beste Schutz vor solchen Gefahren scheint mir die Auseinandersetzung mit dem Tod bzw. die Auseinandersetzung mit unserer Existenz, also mit uns selbst zu sein. Damit bin ich wieder bei der Übung mit meinen vier Fragen: „wer bin ich?“, „was ist Leben?“, „wer oder was ist ein anderer?“ und „was ist Lieben?“ (siehe oben). Dabei geht es bei dieser Übung nicht um Wissen und Gewissheit, sondern um eine unmittelbare Erfahrung von einem selbst, vom Leben, vom anderen und vom Lieben.


Moral und Ethik

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These: Was die Vorstellungskraft für den Geist, ist das Wir-Gefühl für die Psyche, und beides bedarf der Bewährung in der Praxis, damit Wissen und Moral sich bilden können.

Abgesehen von ihrer Verwendung als ethischer Begriff (Ethik kommt vom Griechischen Ethos, Charakter, Sinnesart, und bedeutet als éthiké épistémé sittliches Verständnis) hat Moral in der Alltagssprache noch die Bedeutung von Lehre oder Konsequenz (»die Moral von der Geschichte«) und von Mut, Stimmung oder Motivationslage (Arbeitsmoral, Kampfmoral). Etymologisch kommt das Wort aus dem Lateinischen und ist abgeleitet von „mos, moris“, was Wille oder Sitte bedeutet und wahrscheinlich mit dem Wort Mut verwandt ist. Ethik wird häufig mit dem deutschen Wort Sittenlehre übersetzt, deren Grundlage, die Moral, von Kant auch als „Guter Wille“ bezeichnet wird (Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785 (A), zweite Auflage 1786 (B), S. 1), und damit kommt auch so etwas wie Freiwilligkeit und Freiheit mit ins Spiel. In der Philosophie, wie mir scheint, bedeutet Ethik eine Lehre von einer idealen Weise des Zusammenlebens, mit deren Hilfe der einzelne, eine bestimmte Gruppe oder die Gemeinschaft aller Menschen Missstände im Zusammenleben erkennen, entsprechende Zielvorstellungen entwickeln und dazugehörige Lösungswege finden können. Das Zusammenleben kann bestimmte Gruppen von Menschen, aber auch von Menschen mit anderen Lebewesen oder in der Natur im Allgemeinen betreffen. Entscheidend dabei ist, dass die beteiligten Menschen sich und die am Zusammenleben beteiligten Lebewesen als Gemeinschaft betrachten. Wenn es zum Beispiel heißt: „Quäle nie ein Tier zum Scherz, denn es fühlt wie du den Schmerz“, dann betrachtet jeder, der diesen Spruch akzeptiert, ein anwesendes Tier als zur Gemeinschaft gehörig, denn die Annahme, dass es genauso wie man selbst Schmerz empfinden kann, erzeugt ein Wir-Gefühl. Wenn andererseits im Wikipedia Milgram-Experiment (die jeweilige Versuchsperson wird vom Versuchsleiter angewiesen, eine unsichtbare, im Nebenzimmer befindliche Person, die in Wirklichkeit nur ein Schauspieler ist, mit immer stärker werdenden Stromstößen zu bestrafen, wenn sie eine Lernaufgabe nicht erfüllt) die Mehrheit der Versuchspersonen bis zu einer lebensgefährlichen Stromstärke bei dem Versuch mitmacht, dann lässt sich das so interpretieren, dass die Versuchspersonen nur mit dem Versuchsleiter ein Wir-Gefühl hatten, nicht aber mit der Person im Nebenzimmer, so dass sie ihre Moral nicht auf diese Person angewendet haben. Ähnlich lassen sich auch Gruppenexperimente interpretieren, wie sie zum Beispiel in dem Kinofilm Wikipedia Das_Experiment_(Film) dargestellt werden, wobei hier Studenten in die beiden Gruppen Gefangene und Gefängniswärter per Zufall eingeteilt worden sind, und die Gefängniswärter dabei die Gefangenen teilweise sehr grausam und unmenschlich behandelt hatten.

Moralische Handlungen sind also immer mit einem Wir-Gefühl verbunden, erfordern also damit auch eine entsprechende Vorstellungskraft von einer Gemeinschaft, richten sich dann nach einem Idealbild dieser Gemeinschaft und können schließlich vom einzelnen ausgehen, oder aber von einer Gruppe initiiert werden. Als Ideal wird meistens vollkommene Harmonie innerhalb der Gemeinschaft zusammen mit höchster geistiger, materieller und psychischer Zufriedenheit (Optimierung der Interessen, des materiellen und emotionalen Wohlergehens) aller beteiligten Menschen angenommen. Sobald wir mit einem anderen Menschen ein Wir-Gefühl haben, verstehen und beurteilen wir ihn nach denselben Kriterien wie uns selbst, und je mehr wir uns selbst in unserem Worumwillen echt und unmittelbar verstehen, desto mehr auch diesen anderen, mit dem wir uns durch ein Wir verbunden fühlen. Das Ideal der Ethik ist also genau dann erreicht, wenn jeder sich selbst und andere in ihrem jeweiligen Worumwillen echt und unmittelbar versteht. Mit dem Wir-Gefühl kommt also die Liebe mit ins Spiel, wie ich sie als echtes und unmittelbares Verstehen im jeweiligen Worumwillen bezeichnet habe. Mit der Liebe wird das Wir-Gefühl universal, da Selbst-Liebe und Fremd-Liebe einander bedingen (Kolb, 2011). Da jede Unzufriedenheit eines einzelnen die Harmonie der Gemeinschaft stört, kann man als moralisches Ideal auch einfach nur die vollkommene Harmonie der Gemeinschaft nehmen. Eine momentane Lösung ist die jeweils optimal erreichbare Annäherung an dieses Ideal, und Lösungswege werden vernünftigerweise aufgrund früherer Erfahrungen entsprechend geplant und begangen. An dieser Stelle kommt also die Vernunft ins Spiel. Dadurch entstehen bestimmte Regeln und Prinzipien bzw. Sitten und Gebräuche. Je mehr diese sich in der Praxis bewährt haben, desto allgemeingültiger, verbindlicher und verpflichtender werden sie vernünftigerweise gemacht.

Eine Moral, die sich vor allem an Verpflichtungen orientiert und damit die Tradition betont, nennt man deontologisch, eine Moral dagegen, die Ausnahmen solcher Regeln, Verbindlichkeiten und Verpflichtungen duldet und eine Handlung am Ergebnis misst, nennt man teleologisch, und den entsprechend Urteilenden einen Utilitaristen. Moralische Beurteilungen von Handlungen können unabhängig vom jeweils Handelnden gemacht werden, dann nennt man sie Akteur-neutral, oder aber der Handelnde wird mit einbezogen, dann nennt man sie Akteur-relevant. Wenn der Handelnde innerhalb der Gemeinschaft eine Vorbildfunktion innehat, zum Beispiel ein Priester, dann wird eine Akteur-relevante Beurteilung eines Diebstahls wesentlich negativer ausfallen als bei einem arbeitslosen Familienvater mit vier Kindern. Wenn umgekehrt ein achtjähriges Kind ein anderes Kind vor dem Ertrinken rettet, dann wird dies Akteur-relevant wesentlich positiver beurteilt als bei einem Bademeister. Akteur-relevante Beurteilungen können auch vollkommen gegenteilig zu Akteur-neutralen Beurteilungen sein: wenn jemand Böses will und dabei Gutes schafft, wie zum Beispiel jemand, der einen anderen aus dem Fluss zieht und ihm so das Leben rettet, nur um ihn zu berauben, und dann feststellt, dass der Betreffende nichts bei sich hat; oder wenn jemand Gutes will und dabei Böses schafft, wie etwa jemand, der einem Bettler Geld gibt, der sich davon Drogen kauft und daran stirbt. Bei der Akteur-relevanten Beurteilung einer Handlung spielen also die Position bzw. die Herkunft, die Absicht bzw. die Zukunftspläne und die momentane Situation (in welcher er gerade angekommen ist wie etwa der arme Familienvater) des Handelnden eine wichtige Rolle, d.h. erst im Zusammenhang mit den drei zeitlichen Ekstasen Herkunft, Zukunft und Ankunft lässt sich die Auskunft, die eine bestimmte Handlung gibt, Akteur-relevant beurteilen. Da es einem Deontologen nur um die Pflicht geht, interessiert ihn an einer Akteur-relevanten Beurteilung keine andere Absicht als die der Pflichterfüllung. Herkunft und momentane Situation spielen nur dann eine Rolle, wenn die Pflichterfüllung dadurch besonders vorbildhaft auf andere wirkt, so dass Pflichten immer mehr erfüllt werden. Die für ihn einzig relevante Auskunft, die die Handlung gibt, ist die, ob alle Pflichten erfüllt wurden oder nicht. Wenn man Akteur-neutrale Beurteilungen als typisch für eine teleologische Ethik betrachtet, dann übersieht man die Tragweite und den Einfluss auf andere Menschen innerhalb der betreffenden Gemeinschaft, die die Besonderheit eines bestimmten Akteurs auf die Moral im Sinne von Motivationslage bzw. Mut hat, und das gehört genauso zum Ergebnis der Handlung wie deren direkte Folgen, so dass auch Akteur-relevante Beurteilungen für den Utilitaristen bedeutsam sind. Während Akteur-neutrale Beurteilungen hauptsächlich wichtig für die Entwicklung der Moral der gesamten Gemeinschaft sind, damit alle aus den Konsequenzen einer bestimmten Handlung lernen können, ist die Akteur-relevante Beurteilung vor allem wichtig für die Entwicklung der Moral des einzelnen, damit er seine Handlungen immer besser planen und durchführen kann, um mitzuwirken beim Erreichen des moralischen Ideals der Gemeinschaft (größtmögliche Harmonie untereinander und größtmögliche Zufriedenheit des einzelnen).

Um das Thema Moral vom einzelnen her noch tiefgründiger zu erörtern, möchte ich betrachten, wie sie sich von Kindheit an beim Menschen entwickelt. Die Grundvoraussetzung dafür, dass man bei einem Menschen von Moral reden kann, ist, dass er sich selbst als absichtsvollen Akteur erlebt, denn erst dann ist er überhaupt in der Lage, eigene und fremde Absichten zu erkennen und somit ein Zusammenleben mit anderen willentlich mit zu gestalten, und das ist erst die Vorstufe zu moralischem Verhalten. Er kann dann auch gemeinsame Absichten erkennen und gemeinsam mit anderen handeln. Wie oben aufgeführt, beginnt ein Kind auf dieser Entwicklungsstufe des intentionalen Selbst mit der Sprachentwicklung, was auch dazu passt, dass gemeinsames Handeln nur dann möglich ist, wenn man sich miteinander verständigen kann. Da auch Tiere, die in Gruppen leben, sich verständigen und gemeinsam handeln können (und auch wir Menschen mit manchen Tieren), stellt sich auch an dieser Stelle die Frage: Was ist das Besondere am gemeinsamen Handeln von Menschen im Unterschied zu dem von Tieren? Ich denke, wenn wir diesen Unterschied herausgearbeitet haben, dann wissen wir wesentlich mehr über moralisches Handeln.

Was beim gemeinsamen Handeln von Menschen und dem von Tieren einander ähnelt, ist, dass mit gemeinsamem Handeln etwas gelingt, was ein einzelner nicht fertig bekommt. Durch gemeinsames Handeln werden also Fähigkeiten und Fertigkeiten potenziert. Gemeinsames Handeln weckt auch Interessen und kann jemanden gefühlsmäßig in einen besseren Zustand versetzen. Es beeinflusst also die Zufriedenheit des einzelnen in vielerlei Hinsicht. Verbesserte Technik und gesteigertes Wohlbefinden aufgrund gemeinsamen Handelns finden wir also sowohl bei Mensch als auch bei Tier, wodurch die Motivationslage (die Moral der Gemeinschaft) schon verbessert ist. Das aber, wozu die menschliche Vernunft im Unterschied zur tierischen in der Lage ist, besteht darin, dass wir Handlungen, deren Intentionalität, deren Folgen und deren Umstand, ob und mit wem wir jeweils gemeinsam gehandelt haben, unabhängig von Raum und Zeit – und damit unabhängig von der Realität selbst – repräsentieren können. Diesen Repräsentationen der Realität oder Teilen davon können wir unabhängig von Raum und Zeit, also unabhängig von der aktuellen Situation, so viel Kraft geben, dass sie unser Handeln bestimmen. Ein Wir-Gefühl ist zum Beispiel Teil einer solchen Repräsentation, und wenn wir dem genügend Kraft geben, dann kann dies unser Handeln derart bestimmen, dass wir die Harmonie in unserer Gemeinschaft vergrößern und auf diese Weise moralisch handeln. Wenn wir umgekehrt von der Absicht geleitet sind, die Harmonie in unserer Gemeinschaft zu vergrößern und damit moralisch zu handeln, müssen wir auch eine Repräsentation unserer Gemeinschaft haben, und diese enthält immer ein Wir-Gefühl. Damit ist aufgezeigt, dass ein entsprechend starkes Wir-Gefühl – und das können die Tiere in dieser zeit- und raumunabhängigen Form nicht entwickeln – bei uns Menschen unabdingbar mit moralischem Handeln verknüpft ist. Handlungsführende Repräsentationen sind erst auf der Entwicklungsstufe des repräsentationalen Selbst möglich, erst dann gibt es die kausale Selbstbezüglichkeit, und erst dann kann ein Kind sein Verhalten derart kontrollieren, dass es Scham oder Schuld empfindet, wenn seine Verhaltenssteuerung misslingt. Das Wir-Gefühl als Teil einer Repräsentation der Gemeinschaft, in der jemand Mitglied ist, führt bei entsprechender Stärke zu Handlungen von ihm, bei denen es seine Absicht ist, die Harmonie der Gemeinschaft zu vergrößern, und je mehr der Betreffende das Worumwillen von sich selbst und den anderen echt und unmittelbar versteht, desto erfolgreicher ist er auch in seiner Absicht. Die Stärke des Wir-Gefühls bestimmt also das Ausmaß, in dem es dem einzelnen um das Sein der anderen geht, und daher auch das Maß des Moralischen seiner Handlung, und das Maß seiner Liebe bestimmt deren Erfolg.

Unter welchen Umständen geben wir einem Wir-Gefühl immer mehr Kraft? Doch nur dann, wenn es in der Realität auch genügend Gemeinsamkeiten mit denjenigen gibt, zu denen wir ein solches Gefühl haben, d.h. dieses Wir-Gefühl muss sich in der Realität bewährt haben. Damit dies geschehen kann, müssen bestimmte Rahmenbedingungen erfüllt sein, und hier kommt die Gemeinschaft als Ganzes ins Spiel, die für solche Bedingungen zu sorgen hat, andernfalls erreicht das Wir-Gefühl bei ihren Mitgliedern nicht die nötige Stärke, die den Erhalt und die Weiterentwicklung der Harmonie und damit die Existenz der Gemeinschaft sichert. Diese Rahmenbedingungen müssen dafür sorgen, dass innerhalb der Gemeinschaft Gleichheit und Gerechtigkeit herrschen, und dass jeder die Freiheit und Selbstständigkeit hat, bei der Entwicklung der Harmonie der Gemeinschaft mitzuwirken. Gleichheit und Gerechtigkeit sind deswegen wichtig, damit es keine Privilegierten gibt, die dann beneidet werden, was die Harmonie stört und das Wir-Gefühl zwischen Privilegierten und Nicht-Privilegierten schwächt oder zerstört. Weil die Harmonie innerhalb einer Gemeinschaft von der Zufriedenheit der einzelnen abhängig ist, ist es notwendig, dass jeder sich selbst erforschen und herausfinden kann, was er für seine Zufriedenheit braucht, um dann entsprechend für sich selbst zu sorgen oder wo nötig andere um Mithilfe zu bitten. Auch sich gegenseitig behilflich zu sein und die Verantwortung zu übernehmen, nicht nur für sich sondern auch für seine Beziehungen zu anderen, ist nur bei entsprechender Freiheit und Selbstständigkeit möglich. Um bei der Erhaltung und Weiterentwicklung der Harmonie innerhalb der Gemeinschaft mitzuwirken, ist es also unbedingt erforderlich, dass jeder sich eigenständig und frei entfalten kann. Hier haben wir allerdings das Problem, dass Freiheit und Gleichheit einander widersprechen. Diesen Gegensatz kann eine Gemeinschaft als Ganzes nicht lösen, dies kann nur in der persönlichen Begegnung von Menschen geschehen.

Wenn eine Gemeinschaft zu sehr die Gleichheit betont, dann wird sie schnell totalitär, wenn sie dagegen die Freiheit zu sehr betont, dann kann leicht Anarchie entstehen. So kann sie nur einen mehr oder weniger schlechten Kompromiss finden bei dieser Gratwanderung zwischen Anarchie und Totalitarismus. Auch der einzelne in einer Gemeinschaft kann dieses Problem für sich allein nicht lösen, denn es ist nicht nur ein Problem des einzelnen, sondern auch ein Beziehungsproblem. Der kategorische Imperativ (Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785 (A), zweite Auflage 1786 (B), S. 52 AB) ist daher zwar eine gute Richtschnur für die Arbeit des einzelnen an sich selbst, aber weder Freiheit noch Gleichheit werden dabei „bis zum letzten Grunde vollzogen“ (Nishitani, Vom Wesen der Begegnung, 2011, S. 245), es gibt dort „kein wahres Begegnen der Menschen“ (ebenda) und damit keine Lösung des Beziehungsproblems von Freiheit und Gleichheit. In der Beziehung zweier Menschen sind beide als Ich und Du, als Individuen, geistige Subjekte und damit zwei absolute Herrscher darüber, ob sie moralisch handeln, also Harmonie herstellen wollen oder nicht. Als Objekte der Psyche (unseren Gefühlen sind wir weitgehend ausgeliefert) dagegen sind sie absolut aufeinander angewiesen, ob der andere jeweils moralisch handelt oder nicht. Als Herrscher haben beide die freie Wahl, dem anderen gegenüber entfremdet zu bleiben, ja sogar sein Todfeind zu sein, oder umzukehren zur Liebe dem anderen gegenüber, sogar wenn dieser Todfeind ist oder bleibt. Gleichzeitig sind beide als Objekte der Psyche der Dynamik der Liebe ausgeliefert, im Fall der Todfeindschaft einem u.U. verborgenen „unendlichen Schrecken“ (ebenda, S. 251), im Fall der Umkehr zur Liebe dem Empfinden einer „unendlichen Schönheit“ (ebenda, S. 253). Zur wahren Begegnung und zum wahren moralischen Handeln können wir nur dadurch kommen, dass wir durch den Streit hindurch gehen bzw. ihn aufgeben und damit auch das Konzept unserer „Selbstverhaftung oder Selbstanhänglichkeit“ (ebenda, S. 254) loslassen. Liebe, so wie ich dieses Wort verwende, ist kein neues Konzept, es ist die Aufforderung, alle Konzepte loszulassen und echt und unmittelbar das Worumwillen von allem Seienden zu verstehen. Dadurch ist sowohl das Prinzip der Freiheit als auch das der Gleichheit absolut verwirklicht. Mit Liebe entsteht keine neue Metaphysik, sie ist sogar antimetaphysisch, so dass mit ihr auch der kategorische Imperativ überwunden ist.

Der kategorische Imperativ ist sicherlich ein notwendiges Durchgangsstadium bei der Entwicklung von moralischem Handeln, wir dürfen hier nur nicht stehen bleiben, sonst vereinsamen wir (wie Kant). Ich sehe hier eine deutliche Parallele zu der Geschichte »Der Ochs und sein Hirte. Eine altchinesische Zen-Geschichte« (Ueda, 2011), die „den Vorgang der Selbstrealisierung des Menschen in zehn Stationen“ (ebenda, S. 440) beschreibt und in Bildern symbolisch darstellt. Während in der siebten Station alle körperlichen Abhängigkeiten überwunden werden (»Der Ochse ist vergessen«), geschieht dies in der achten Station auch mit allen anderen Abhängigkeiten (»Doppelte Vergessenheit«), und diese Station wird durch den leeren Kreis als Bild symbolisiert. Meines Erachtens entspricht dies dem kategorischen Imperativ, denn in beiden Fällen ist der Mensch mit sich allein und setzt sich mit sich selbst auseinander. Sowohl bei Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ als auch bei der Ochsengeschichte stellen die achte Station und der kategorische Imperativ jeweils einen Höhe- bzw. Wendepunkt dar, und in beiden Fällen überwindet der Mensch in der achten Station und in der Verwirklichung des kategorischen Imperativs alle seine Abhängigkeiten. Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied, der in einem Unterschied zwischen „östlichem“ und „westlichem“ Denken wurzelt. Am besten kann man diesen dadurch aufzeigen, dass man die jeweiligen Vorstellungen des Jenseits betrachtet: Im christlichen Abendland ist die Ewigkeit, also die Zeitlosigkeit, das Charakteristische des Jenseits, während es durchaus noch den Raum gibt, in dem z.B. Himmel und Hölle voneinander getrennt sind. Im Buddhismus dagegen ist das Nirwana leer und damit raumlos, es gibt dort auch kein „gut und böse“ wie im christlichen Jenseits. Diesen Unterschied zwischen Räumlichkeit und Zeitlichkeit sehe ich auch zwischen dem kategorischen Imperativ und der achten Station der Ochsengeschichte: Der kategorische Imperativ von Kant beansprucht zeitlose Gültigkeit, ist also ewig, als Imperativ aber fordert er auf, sich einzulassen („Du sollst …“). Sich-Einlassen ist räumlich. Das „Du sollst“ schränkt auch die Freiheit ein, was ebenfalls räumlich aufzufassen ist, und erhöht so die Gefahr des Totalitarismus. Das Symbolbild der achten Station ist leer, also raumlos wie das Nirwana. Gleichzeitig heißt es im dazugehörigen Text, man solle rasch weitergehen, also nicht zu lange verweilen, und „Weile“ ist ein zeitlicher Begriff. Wenn man zu lange verweilt, lösen sich die Strukturen auf, und es besteht die Gefahr der Anarchie. Der kategorische Imperativ ist also zeitlos und räumlich mit der Gefahr des Totalitarismus, während die achte Station raumlos und zeitlich ist mit der Gefahr der Anarchie. Damit entspricht der kategorische Imperativ insofern dem leeren Kreis der Ochsengeschichte, als dass beides der jeweiligen Vorstellung des Jenseits entspricht, und das ist auch der Unterschied zwischen beiden, der kleine Spalt zwischen beiden, wie man es nennen könnte, der sehr tief sein kann, je nachdem ob und wie man die Gegensätzlichkeit von Räumlichkeit und Zeitlichkeit überwindet. Dies gelingt letztlich nur mit Liebe als dem echten und unmittelbaren Verstehen des Worumwillens von allem Seienden, also durch das absolute Nichts, wie ich es aufgezeigt habe (Kolb, 2012). Die Ochsengeschichte thematisiert in der neunten Station das Leben, wie es sich von sich selbst lebt, und schließlich in der zehnten Station die persönliche Begegnung mit anderen Menschen, die in dieser Begegnung mit Liebe angeregt werden, sich selbst zu realisieren, so dass die Geschichte wieder von vorne beginnt und damit zeitlos ist. Entsprechend müsste auf den kategorischen Imperativ die Auseinandersetzung mit dem Leben und mit anderen folgen, bis schließlich in der Liebe das „Du sollst“ überwunden und Raumlosigkeit erreicht ist. „Der Anspruch der Vernunft“ ist zwar der auf Harmonie in der Gemeinschaft bzw. auf der ganzen Welt, aber mit Vernunft allein kommt man nicht ans Ziel, wobei der kategorische Imperativ sicherlich schon sehr weit geführt hat. Ohne wahre Begegnung und den „Schrei nach Liebe“ vereinsamen wir und erreichen keine wirkliche Harmonie.

Nachdem ich das Thema Moral und Ethik auf diese Weise umrissen habe, möchte ich mich den Darlegungen Cavells zuwenden (Cavell, 2006) und die dort aufgegriffenen Themen über Moral mit meinen Auffassungen vergleichen. Da es Cavell um Vernunft oder Wissen geht, ist für ihn die Frage der Moral eine Frage der besonderen Beschaffenheit moralischer Reflexionen und moralischer Argumente und des Wissens von sich selbst und anderen. Meines Erachtens geht es bei Moral außerdem um Beziehungsgestaltung und wahre Begegnung.

Das Fundament der Moral

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Wenn es um Wissen oder Vernunft geht, gibt es bei dem Thema Moral nach Cavell zwei große Probleme. Sobald die Frage auftaucht „Was soll ich tun?“, denkt man zumindest als Philosoph meistens an Moral, und das kommt daher, dass wir keine Einzelwesen sind, und daher alles, was wir tun, immer auch Auswirkungen auf andere hat. Und genau dann, wenn wir nicht nur an uns selbst sondern auch an andere denken, denken wir moralisch, und wenn wir auch noch mit Rücksicht auf andere handeln, dann ist auch unser Handeln moralisch. Wenn wir moralisch denken und mit anderen oder mit uns selbst entsprechend argumentieren, dann stellen wir schnell fest, „dass derartige Argumente stets und entmutigenderweise zum Kollabieren neigen oder in eine Sackgasse münden und dass die das Argument auslösende Frage entweder keine oder unvereinbare Antworten erhält, die auch durch weitere Argumente scheinbar nicht aufgelöst werden“ (ebenda, S. 407). Das liegt meines Erachtens daran, dass das Wissen, welches man bei derartigen Argumentationen braucht, das Wissen um einen selbst, um den anderen und um die gemeinsame Beziehung ist, und allein schon das Wissen um das Fremdpsychische ist sehr problematisch, wie wir schon unter Punkt 2.1.4 gesehen haben. Das zweite große Problem betrifft die Tatsache, dass es oft unstrittig ist, was zu tun und was zu lassen ist, und trotzdem handeln wir nicht danach. Dies hat natürlich mit dem ersten Problem insofern etwas zu tun, weil es hier um das Wissen von einem selbst geht, und solange ich noch nicht vollständig realisiert habe, was und wer ich bin, kann es immer wieder vorkommen, dass ich meine, etwas tun oder nicht tun zu können, was gar nicht der Fall ist, so dass ich nicht das tue oder lasse, wovon ich glaube, dass es moralisch richtig ist. In beiden Fällen ist also das Wissen um das Psychische, was einen selbst, den anderen und die gemeinsame Beziehung betrifft, das entscheidende Problem und nicht so sehr das Wissen um andere Dinge. Da in einem selbst immer dann das Böse entsteht, wenn Psyche und Geist miteinander in Konflikt stehen und das eine das andere unterdrückt (Kolb, 2012), so kann man mit Sokrates sagen, dass niemand freiwillig Schlechtes tut, wenn zwischen Psyche und Geist Frieden ist. Daraus lässt sich dann die moralische Empfehlung ableiten, stets für Frieden zwischen Psyche und Geist zu sorgen sowohl bei sich selbst als auch bei allen anderen, soweit man kann. Dazu ist es wichtig, sich auf der einen Seite nicht über seine eigenen Gefühle und die der anderen zu stellen, und auf der anderen Seite prinzipiell seiner eigenen Liebesfähigkeit (Geist) und der der anderen zu vertrauen.

Aufgrund der Begrenztheit unseres Wissens kann die Vernunft kein vernünftiges Fundament der Moral liefern. Ich denke das haben meine obigen Ausführungen auch schon gezeigt. Was die Vernunft aber kann, ist, dass sie einen vernünftigen Rahmen abstecken kann, gewisse Grenzen, so dass die Ungleichheit und die Ungerechtigkeit in einer Gemeinschaft nicht zu groß werden und die Freiheit und Eigenständigkeit des einzelnen nicht zu sehr beschnitten werden. Man kann vernünftige „Methoden zur Beilegung sozialer Konflikte“ (Cavell, 2006, S. 408) entwickeln und bestehende Institutionen innerhalb einer Gemeinschaft immer mehr verbessern, man kann die Verbindlichkeit gemeinschaftlicher Regeln stärken und durch positive Sanktionen (etwas Unangenehmes tun müssen, bei dem man etwas lernt und sich weiter entwickelt) mehr Möglichkeiten und Raum geben, dass der einzelne sich immer mehr selbst realisieren kann, man kann die Möglichkeiten des Erfahrungsaustauschs darüber stärken, wie man immer mehr Zufriedenheit im Leben erreichen kann, und man kann durch vielerlei kulturelle Anregungen die Beschäftigung mit Begriffen und Themen anregen wie zum Beispiel Schuld, Verantwortung, Willensschwäche und Gewissen. Zum Teil ist es Sache der Politik und der Wissenschaft, zum Teil Sache der Kultur, wobei ich hierzu auch die Religion zähle (bis hierhin folgte ich Cavell, Seite 408 f.). Bei diesen Rahmenbedingungen gibt es Bereiche, bei denen man entscheiden muss, was richtig und was falsch ist (es ist sicherlich falsch, unter Alkoholeinfluss Auto zu fahren und damit andere Menschen zu gefährden, und es ist sicherlich richtig, einer erkennbar hilfsbedürftigen Person zu helfen) und was daher unabdingbar notwendig ist, und Bereiche, bei denen man sich überlegen muss, was förderlich ist und was nicht (Freizeitangebote für Jugendliche sind für deren Entwicklung förderlich, zu viele Diätenerhöhungen bei Politikern schüren Neid und sind daher nicht sehr förderlich für den Zusammenhalt in der Gemeinschaft) und wo man sich dann überlegen muss, ob und wie viel man in der jeweiligen Richtung investiert.

Den Unterschied zwischen teleologischen bzw. utilitaristischen und deontologischen Moraltheorien habe ich schon erwähnt, ersteren geht es um die Folgen einer Handlung und damit um den Begriff des Guten, letzteren geht es um Absichten und Motive und um den Begriff des Rechten. Wir haben es hier letztlich mit dem alten Streit zwischen Fortschrittsdenken und Tradition zu tun. Dieser Streit, denke ich, lässt sich im Einzelfall mit Vernunft von beiden Seiten beilegen. Wo dies nicht möglich ist, sollte man auch kein moralisches Urteil fällen. An dieser Stelle fällt mir die Geschichte von einem buddhistischen Abt ein, der mit seinen Mönchen von einer Räuberbande gefangen genommen wurde, wobei der Räuberhauptmann zuerst alle Gefangenen umbringen wollte. Nach langen Verhandlungen gelang es dem Abt den Hauptmann dazu zu bewegen, dass nur einer umgebracht werden sollte, aber der Abt sollte den Betreffenden aussuchen. Der Abt überlegte nun hin und her, ob er sich selbst opfern sollte, das wäre deontologisch seine Pflicht, andererseits aber gab es unter den Mönchen einen, der wesentlich dümmer war als die anderen, so dass es teleologisch betrachtet für die Mönchsgemeinschaft der geringere Schaden gewesen wäre, ihn den Räubern auszuliefern. Er überlegte auch, dass er sich selbst gegenüber verantwortlich war und daher auch für sich sorgen sollte, und dass er nicht die Verantwortung über Leben und Tod von irgendeinem Menschen tragen konnte. Schließlich ging der Abt zu dem Räuberhauptmann und erklärte ihm, dass und warum er keine Entscheidung treffen könne. Dieser Konflikt führt nun zu zwei Fragen, die Cavell besonders interessieren, und sie „betreffen zum einen das Wesen der Vernunft und ihre Rolle im moralischen Urteil und im moralischen Verhalten und zum anderen das Wesen der Moral oder die Funktion des moralischen Urteils selbst“ (ebenda, S. 410). Die teleologische Entscheidung in dem Beispiel von dem buddhistischen Abt könnte man durchaus als barbarisch bezeichnen, die deontologische ist zwar selbstlos und heroisch, kann aber mit Vernunft und Logik nicht begründet werden, und die Überlegungen bezüglich seiner Verantwortung über Leben und Tod erscheinen logisch unbegreiflich, weil sie selbst schon ein moralisches Urteil voraussetzen, nämlich das Urteil darüber, was die Verantwortung alles betreffen soll. Das Vernünftigste an der Handlungsweise des Abtes war, dass er eingestand und auch begründete, dass er keine Entscheidung treffen könne. Man kann das Ganze auch unter dem Aspekt des dialektischen Verhältnisses von Freiheit und Gleichheit betrachten: hätte der Abt irgendeinen seiner Gemeinschaft, sich selbst eingeschlossen, ausgesucht, hätte er gegen das Prinzip der Gleichheit verstoßen. Gleichzeitig nahm er sich die Freiheit, sich nicht zu entscheiden. Damit hat er das Problem grundlegend gelöst. Unsere Logik hat allerdings mit dem Verhältnis von Freiheit und Gleichheit derartige Schwierigkeiten – die Logik kann nämlich in diesem Fall weder deduktiv noch induktiv sein –, dass uns moralische Argumente nicht vollkommen rational erscheinen. Das Wesen der Moral oder die Funktion des moralischen Urteils selbst besteht in der Aufgabe, den Gegensatz von Freiheit und Gleichheit aufzulösen.

Damit kommen wir nun zu Cavells nächster Frage nach den Unterschieden „zwischen den Bewertungen unserer gewöhnlichen Wissensansprüche und unserer moralischen Ansprüche aneinander […], die im einzelnen solche Unterschiede zwischen der Erkenntnistheorie und der Moralphilosophie erklären könnten“ (ebenda, S. 411). Einer der Unterschiede besteht darin, dass der Gegensatz zwischen Freiheit und Gleichheit starke Emotionen freisetzen kann, die dann die Bewertungen unserer moralischen Ansprüche aneinander entsprechend verzerren können, so dass es auch zu Zusammenbrüchen der Kommunikation kommen kann. Gewöhnliche Wissensansprüche führen, wenn sie bestritten werden, lediglich zu so genannten Sachkonflikten. Moralische Ansprüche aneinander aber können zu Interessenkonflikten und im schlimmsten Fall sogar zu persönlichen Konflikten führen. Auch das liegt an dem Gegensatz von Freiheit und Gleichheit, denn wenn zwei Menschen dasselbe wollen, was aber nur einmal vorhanden ist, dann lässt sich dieser Konflikt nicht rational entscheiden, wenn beide aufgrund ihrer Gleichheit dasselbe Recht haben. Beide haben aber auch die Freiheit, dasselbe zu wollen. Wenn sie sich dann gegenseitig ihre Freiheit, dasselbe zu beanspruchen, übel nehmen, dann haben sie einen persönlichen Konflikt miteinander. Nur wenn es gelingt, sich auf irgendeine Konklusion darüber zu einigen, was zu tun ist, kann dieser Konflikt durch einen entsprechenden Kompromiss gelöst werden. Wichtig dabei ist, dass ein solcher Kompromiss von allen akzeptiert wird, und zwar freiwillig, damit sowohl Freiheit als auch Gleichheit erfüllt sind. An dieser Stelle setzen dann die verschiedenen Methoden der Konfliktbewältigung ein, worauf ich jetzt allerdings nicht näher eingehen möchte. Sobald eine der Konfliktparteien sich zu sehr in ihrer Freiheit beschnitten oder sich ungerecht, also zu wenig nach dem Prinzip der Gleichheit behandelt fühlt, kann sie alle moralischen, aber auch sonstigen Argumente der Gegenseite kollabieren lassen.

Während die Wissenschaft nach dem Schema Wenn-Dann in den verschiedenen Bereichen ihre Untersuchungen durchführt und beim wissenschaftlichen Urteil auf nichts anderes Rücksicht nehmen muss, muss man beim moralischen Urteil immer auch beachten, dass die Freiheit des einzelnen möglichst unberührt und die Gleichheit unter allen Beteiligten möglichst gewahrt bleibt. Ein moralisches Urteil muss daher immer auch in der Hinsicht begründet werden, dass alle Beteiligten davon überzeugt sind bzw. werden, dass Freiheit und Gleichheit so gut wie möglich (und das ist immer die Schwierigkeit) gewährleistet sind. Cavell zitiert nun Stevenson, für den „jeder Versuch, den irgend jemand unternimmt, um eines anderen Einstellung zu verändern, zu den Daten einer Theorie des moralischen Urteils“ (ebenda, S. 421) gehört. Wenn ich nun jemanden davon überzeuge, dass er ein bestimmtes Produkt kauft, um mehr Ansehen zu haben als andere, dann überzeuge ich ihn zwar davon, dass er mit mehr Ansehen vielleicht mehr Freiheiten besitzt, aber die Gleichheit wird dabei verletzt, und er zieht vielleicht den Neid von anderen auf sich. Das Urteil, dieses Produkt zu kaufen, ist also nicht moralisch. Der entsprechende Versuch der Einstellungsänderung ist höchstens ein Datum dafür, wie man ein nicht-moralisches Urteil erreicht. Können Daten, wie ein Einsiedler lebt, zu einer Gesellschaftstheorie gehören? Damit ist Stevenson widerlegt, bzw. man muss bei seiner Behauptung ergänzen, dass bei einer moralischen Einstellungsänderung von jemandem dieser am Ende die Überzeugung haben muss, dass Freiheit und Gleichheit so gut wie möglich gewährleistet sind. Bei moralischen Regeln oder Prinzipien, die von einer Gemeinschaft vorgegeben werden, ist das Maß ihrer Moralität immer an die Art ihrer Anwendung gebunden und richtet sich danach, ob die Harmonie innerhalb der Gemeinschaft dadurch gefördert wird oder nicht. Dabei ist im Einzelfall darauf zu achten, ob dabei mehr auf die Freiheit des einzelnen oder mehr auf die Gleichheit der verschiedenen betroffenen Mitglieder der Gemeinschaft zu achten ist. Diese Art der Moralvorstellung ist weder teleologisch noch deontologisch: Wenn wir zum Beispiel die Regel »Ein Versprechen muss man halten« nehmen, und als Einzelfall, dass sich für denjenigen, der ein Versprechen gegeben hat, unzumutbare Umstände ergeben haben, dann würde es dessen Freiheit zu sehr beschneiden, wenn man ihn zum Einhalten seines Versprechens zwingen würde. Wenn man ihm also die Erfüllung seines Versprechens erlässt, dann wäre diese moralische Anwendung der Regel teleologisch und nicht deontologisch. Wenn aber der Betreffende in demselben Fall schon vorher immer wieder Versprechen nicht gehalten hat, dann kann es im Sinne der Gleichheit und Gerechtigkeit sein, dass er gezwungen wird, sein Versprechen einzuhalten, damit er lernt, wie die anderen (Gleichheit!) vorsichtiger mit Versprechen zu sein und mehr einzuplanen, dass etwas Unvorhersehbares dazwischen kommen kann. Es ist ja äußerst unwahrscheinlich, dass es immer nur ein und derselben Person passiert, dass sie Versprechen nicht einhalten kann, und den anderen nicht. Eine derartige moralische Anwendung der Regel wäre dann deontologisch, da es um die Pflicht und Verantwortung des Betreffenden geht, Unwägbarkeiten besser mit einzuplanen. Von daher sind die hier entwickelten Moralvorstellungen weder teleologisch noch deontologisch oder aber beides. Was die Aufgaben einer Gemeinschaft in Bezug auf die Herstellung von größtmöglicher Harmonie betrifft, so geht es bei den von ihr zu schaffenden Rahmenbedingungen nicht nur um eine Reglementierung, es ist moralisch genauso wichtig und für die Harmonie der Gemeinschaft förderlich, wenn die Gemeinschaft Möglichkeiten der Begegnung und konstruktiven Beziehungsgestaltung fördert und schafft. Dies sind alles Themen der Politik.

Wenn wir uns nun wieder dem einzelnen und seiner Moral zuwenden, dann geht es hier vor allen Dingen um die Verantwortung, die er sich selbst gegenüber und gegenüber seinen Beziehungen zu allen anderen innerhalb seiner Gemeinschaft hat. Hier zitiert Cavell (ebenda, S. 422 ff.) zwei unterschiedliche Auffassungen, zum einen die von Ross, der bei der Verhaltensbeurteilung einer Person deren Intentionen in den Vordergrund rückt, was mich an das Goethe-Zitat erinnert: »Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen« (Faust II, 11936-11937), und zum anderen die von Stevenson, der moralische Auseinandersetzungen darüber bestimmen will, wie wir mit Einstellungen im Unterschied zu Meinungen umgehen.

Ross führt zum Beispiel ins Feld, dass es bei Versprechen nur darum gehe, dass der Betreffende sich darum bemüht, sein Versprechen zu halten, und dass dies implizit von jedem in der Alltagssprache auch so akzeptiert werde. Diesen letzten Punkt bestreitet Cavell, indem er anführt, wenn ihm jemand etwas verspricht, dann verlässt er sich auf diese Aussage und richtet sein Verhalten darauf ein, er rechnet also nicht damit, dass der andere sich lediglich bemüht. Ich denke, dass bei dem Goethe-Zitat das Wort »strebend« die entscheidende Rolle spielt, denn dieses Wort bedeutet meiner Meinung nach, dass jemand, wenn er trotz aller Bemühungen ein Versprechen nicht halten kann, in der Folge danach strebt, die Umstände seines Versagens zu erkennen und die nötigen Konsequenzen zu ziehen, damit sich etwas derartiges nicht wiederholt. Er strebt also nach der Verlässlichkeit, um die es Cavell im Gegensatz zu Ross geht. Bei der Verhaltensbeurteilung einer Person kommt es nicht nur auf Reize in der äußeren Situation und die davon teils abhängigen, teils unabhängigen Absichten dieser Person, sondern auch auf die Folgen einer Handlung an. Sich für die Auswirkungen seiner Handlungen auf andere nicht zu interessieren, wird in der Alltagssprache meist als unsozial bezeichnet und entsprechend moralisch verurteilt.

Die Auffassungen von Stevenson führen zu tieferen Problemen, die Cavell dann im Einzelnen diskutiert. Dem vorausgehend würde ich die Unterteilung von Stevenson in Einstellungen und Meinungen etwas anders und für meine Begriffe klarer formulieren als den Unterschied von Interessen und Urteilen darüber, ob, was, wann, wo, wie, in welchen Zusammenhängen usw. jemand oder etwas ist. Während es bei der Erkenntnistheorie darum geht, ob derartige Urteile richtig oder falsch sind, geht es in der Ethik darum, ob bestimmte Interessen in bestimmten Situationen moralisch vertretbar oder sogar positiv im Sinne von förderlich für die Harmonie in der Gemeinschaft sind oder nicht. Wenn es also Uneinigkeit hinsichtlich der Interessen gibt, dann versucht man in der Ethik Lösungen zu finden, die die Harmonie zumindest nicht beeinträchtigen, und bei denen der einzelne sich möglichst gleich bzw. gerecht behandelt und sich möglichst nicht zu etwas gezwungen fühlt, was ihm total widerstrebt. Solche Lösungen sind nicht immer leicht zu finden, und oft hilft auch die Zeit, in der man sich noch nicht auf eine Lösung einigen konnte, denn je länger ein solcher Zustand anhält, desto unangenehmer ist er in der Regel für alle Seiten, so dass nach einer Weile Lösungen, die am Anfang von niemandem angenommen werden konnten, schließlich doch besser sind als der Zustand ohne Lösung. Tarifstreitigkeiten laufen meist in dieser Weise ab. Die umstrittenen Behauptungen von Stevenson lassen sich nun analog zu Cavell so formulieren (ebenda, S. 426):

1. Jede Uneinigkeit hinsichtlich der Interessen ist eine moralische Uneinigkeit.
2. Jegliche Uneinigkeit, die nicht (rational) beizulegen ist (nicht mit einer Konklusion endet, die alle Parteien als richtig anerkennen), ist irrational.
3. Ein Grund, der weder deduktiv noch induktiv mit einem Urteil verbunden ist, ist »daher« »nur« »psychologisch« auf dieses Urteil bezogen.
4. Die Wissenschaft ist deshalb rational, weil sie in Urteilen über Tatsachenfragen gründet – und folglich über Methoden für ein rationales Klären von Uneinigkeit verfügt.

Das Beeindruckende an der Wissenschaft im Gegensatz zur Ethik, „ist die Tatsache der Einigkeit, die sich in logischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen erzielen lässt“ (ebenda, S. 427). Was aber führt zu dieser „beneidenswerten Einigkeit […], die in Logik und Wissenschaft erreicht wird“ (ebenda)? Ich denke, es ist dasselbe Moment, das auch zu der erstaunlichen von Wittgenstein bewunderten Einigkeit der Kriterien unserer Alltagssprache führt: sowohl in der Wissenschaft als auch in der Alltagssprache geht es um Verständigung, und um sich vernünftig (rational) verständigen zu können, muss man sich eben einig sein hinsichtlich bestimmter Kriterien (Konventionen). Ganz anders bei der Ethik, bei der es um die Einigkeit geht, was zu tun ist, denn das hat ganz andere Konsequenzen als die Einigkeit bei der Verständigung. Ich kann durchaus wissenschaftlich mit jemandem einig sein darüber, wie lange und bei welcher Temperatur ein Steak gebraten werden muss, damit es noch blutig, medium oder durchgebraten ist, aber wenn es darum geht, wie es nun tatsächlich gebraten werden soll, wenn wir es gemeinsam essen wollen, dann kann große Uneinigkeit aufkommen. Wenn es um Interessen geht, dann geht es auch immer darum, was ganz konkret zu tun ist. Insofern ist die vierte Behauptung von Stevenson abgehandelt; die Wissenschaft ist deshalb rational, weil es hier um die Verständigung über Tatsachenfragen geht, so dass man sich über Methoden einig sein muss, um gegenseitig zu verstehen, was der andere meint. Deswegen aber muss eine Uneinigkeit über Interessen, die nicht beizulegen ist, nicht gleich irrational bzw. unvernünftig sein. Die Uneinigkeit liegt in der Natur der Sache, weil verschiedene Menschen unterschiedliche Interessen haben, und Geschmäcker sind nun einmal verschieden. Ethik ist nun eine rationale bzw. vernünftige Herangehensweise oder Methodik, um derartige Streitigkeiten so beizulegen, dass jeder sich möglichst gerecht behandelt und sich in seiner Freiheit so wenig wie möglich beschnitten fühlt (dieser Punkt ist deswegen so wichtig, weil sonst die Harmonie nicht stabil ist und aus dem alten Streit dann schnell wieder neue Streitigkeiten entstehen können). Insofern hat Ethik viel mit Pädagogik und Psychologie zu tun, und da es ihr darum geht, Streitigkeiten beizulegen, fördert sie die Harmonie in der Gemeinschaft und ist daher als moralisch zu bezeichnen, solange sie diesen Zweck auch erfüllt. Man könnte Ethik auch das Verständnis von Methoden nennen, die sich in der Vergangenheit bewährt haben, Streitigkeiten innerhalb der Gemeinschaft beizulegen. Diese Methoden sind im Grunde die Sitten, Gebräuche und Rituale der Gemeinschaft. Diese Bedeutung von Ethik kommt auch dem griechischen Ursprung des Wortes (éthiké épistémé, sittliches Verständnis oder Verständnis der Sitten) am nächsten. Ethik ist deswegen auch als vernünftig zu bezeichnen, weil sie auf Erfahrung beruht, und vernünftig, was ja von dem Wort »vernehmen« kommt, bedeutet, dass ich das Vernommene, die Erfahrungen bei meinen Handlungen beachte. Je weiter entwickelt eine Ethik ist, je mehr effektive Methoden sie beinhaltet, um Streitigkeiten so beizulegen, dass jeder sich möglichst gerecht behandelt und sich in seiner Freiheit so wenig wie möglich beschnitten fühlt, desto weniger Interessenkonflikte wird es geben in dieser Gemeinschaft, die sich nicht beilegen lassen. Man kann aber nicht wie Stevenson behaupten, dass jeder Interessenkonflikt, der nicht zu lösen ist, irrational ist, man kann höchstens sagen, dass das Problem noch nicht gelöst ist, diesen Konflikt rational zu lösen. Nicht gelöste und sogar unlösbare Probleme gibt es auch in der Wissenschaft, weswegen man sie oder ein unlösbares Problem nicht gleich als irrational bezeichnen wird. Damit ist der zweite Punkt von Stevenson widerlegt.

Wenn es darum geht, einen Interessenkonflikt beizulegen, dann bedeutet das, sich auf etwas zu einigen, was getan werden soll, d.h. es müssen verschiedene Handlungsweisen beurteilt werden. Hieraus ergibt sich eine besondere Schwierigkeit, denn Handlungsweisen müssen auch nach dem gemeinschaftlichen Kontext und damit nach den Sitten und Gebräuchen der betreffenden Gemeinschaft beurteilt werden. Wenn wir nun nach ethischen Prinzipien eine Handlungsweise beurteilen sollen, um einen Interessenkonflikt beizulegen, und diese betreffende Handlungsweise aufgrund derselben ethischen Prinzipien schon von vorneherein eine bestimmte ethische Wertigkeit besitzt, dann bewerten sich die ethischen Prinzipien selbst. Nehmen wir als Beispiel die so genannte Jungfrauenbeschneidung, wie sie in mehreren afrikanischen Ländern noch heute durchgeführt wird: wenn ein Mädchen, an dem diese Prozedur vorgenommen werden soll, Angst davor hat und sich weigert, weil ihre ältere Schwester ein Jahr zuvor daran gestorben ist, dann gibt es hier einen Konflikt darüber, was getan werden soll. Die beiden Handlungsweisen, um die es dabei geht, sind das Tun und das Lassen der Jungfrauenbeschneidung. In der Gemeinschaft, in der das Mädchen lebt, ist es aber Sitte und wird als ethisch positiv bewertet, wenn die Jungfrauenbeschneidung durchgeführt wird, und als ethisch negativ, wenn nicht. Nach der Ethik, wenn danach dieser Konflikt beigelegt werden soll, müsste das Mädchen sich also beschneiden lassen, was in der Regel auch tatsächlich geschieht. Eine derartige Ethik kann nach meinen Kriterien nicht als moralisch gelten, da sie zwar die Gleichheit gewährleistet, aber nicht die Freiheit, und daher ist sie auch nicht offen für die Erfahrung, die nämlich gemacht werden könnte, wenn man die Jungfrauenbeschneidung nicht mehr erzwingen würde. Daher ist diese Art Ethik auch nicht rational oder vernünftig, sondern von Versessenheit beherrscht. Von einer moralischen, d.h. nach Harmonie, sowie Gleichheit und Freiheit strebenden und daher auch vernünftigen Ethik ist daher zu fordern, dass sie nicht nur alte Erfahrungen berücksichtigt, sondern so offen ist, dass neue Erfahrungen immer möglich sind. Durch die Gleichheit werden alte Erfahrungen berücksichtigt, und durch die Freiheit sind neue Erfahrungen immer möglich. Handlungsweisen, wenn sie beurteilt werden sollen, müssen zwar auch nach den bisherigen ethischen Prinzipien betrachtet werden, aber nicht nur. Eine moralische Ethik muss daher stets im Wandel sein, und daher kann es im Unterschied zur Erkenntnistheorie keinen »idealen« Fall geben, „in dem wir wissen können (oder uns darauf einigen), dass etwas gut oder schlecht, richtig oder falsch ist“ (ebenda, S. 432). Eine lebendige Gemeinschaft ist stets im Wandel und entwickelt sich, während die Bereiche, mit denen sich die Erkenntnistheorie bzw. die Wissenschaften beschäftigen, praktisch keine Veränderungen zeigen (das, womit sich die Physik heute beschäftigt, war auch schon zu einer Zeit so beschaffen, als es uns Menschen noch gar nicht gab). Noch vor 60 Jahren war es bei uns üblich, Kinder zu schlagen, heute ist dies gesetzlich verboten, weil man neue Methoden gefunden hat, Kinder besser zu erziehen (ein Problem dabei ist jedoch, dass viele diese neuen Methoden nicht kennen oder nicht gelernt haben, sie wirksam durchzuführen).

Von den umstrittenen Behauptungen von Stevenson sind nur noch die erste und die dritte noch nicht behandelt und werden nun im Folgenden diskutiert. Insgesamt meint Cavell: „was ich betrachte, sind Thesen über moralische Gründe und nicht vollständige Moraltheorien, […] und ich habe, wie ich hoffe nicht unfair, die Theorien so formuliert, dass die explizite oder implizite These über die Relevanz von Gründen fassbar wird, die eine jede enthält. Ich sollte jedoch noch hinzufügen, dass mein Interesse an diesen Thesen von der Überzeugung geleitet ist, dass sie für einen theoretischen Standpunkt zentral und bestimmend sind“ (ebenda, S. 444). Es sind insgesamt drei Thesen, die Cavell formuliert, und diese werden nun in den folgenden drei Unterkapiteln abgehandelt, wobei im ersten gleichzeitig die erste Behauptung von Stevenson und im letzten seine dritte Behauptung diskutiert wird.

Der Begriff von Moral

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Wenn Stevenson sagt: »Jede Aussage über irgendeine Tatsache, von der irgend jemand meint, sie würde eine Einstellung [bei mir: ein Interesse] verändern, kann als ein Grund für oder gegen ein ethisches Urteil angeführt werden« (zitiert nach ebenda, S. 446), dann ist das insofern richtig, als dass ethische Urteile Interessenkonflikte lösen sollen, und daher jede Aussage, die ein Interesse verändert, das entweder dieselbe Lösung wie die Ethik unterstützt, so dass die Aussage als Grund für das entsprechende ethische Urteil angeführt werden kann, oder aber das sich gegen die Lösung der Ethik wendet, so dass die Aussage als Grund gegen das entsprechende ethische Urteil spricht. Damit ist aber eine solche Aussage weder moralisch noch unmoralisch. Ist sie ein Grund für ein ethisches Urteil, dann ist sie so moralisch oder unmoralisch wie dieses Urteil (eine Ethik, welche die Jungfrauenbeschneidung zwingend vorschreibt, ist beispielsweise unmoralisch), ist sie dagegen ein Grund gegen ein ethisches Urteil, dann kann sie trotzdem moralisch sein, wenn sie zu mehr Gleichheit und Freiheit und damit zu einer größeren und stabileren Harmonie in der Gemeinschaft führt. Es gibt aber noch eine andere Art von Aussage, von der man meinen kann, sie würde ein Interesse verändern, die aber nichts mit einem ethischen Urteil zu tun hat: wenn ich z.B. meine, die Aussage »Raupen sind langsamer als Schmetterlinge« führt dazu, dass jemand, der sich vorher für Raupen interessiert hat, stattdessen Schmetterlinge beobachtet, welches ethische Urteil wird dann durch diese Aussage unterstützt oder unterminiert? Auch die Behauptung von Stevenson, jede Uneinigkeit hinsichtlich der Interessen sei eine moralische Uneinigkeit, lässt sich nur dann vertreten, wenn die Beteiligten des jeweiligen Interessenkonflikts sich dadurch aufgerufen sehen, diesen Konflikt moralisch zu lösen, d.h. eine Lösung zu finden, bei der sich alle gerecht behandelt und zu nichts gezwungen fühlen. Wenn die Konfliktparteien den Interessenkonflikt aber zu einem persönlichen Konflikt machen, sich gegenseitig als Feinde sehen und gegeneinander Krieg führen, dann spielt Moral keine Rolle mehr, sie wird auch von keinem mehr intendiert. Die Behauptung von Stevenson kann ich nicht einmal dann unterstützen, wenn ich das Unmoralische zur Moral dazurechne, denn es gibt noch das Nicht-Moralische, welches nicht als unmoralisch gesehen werden kann. Die Auffassung von Stevenson erweist sich in dem Moment als völlig unhaltbar, wenn er jeden Grund für oder gegen ein Interesse als moralisch betrachtet und damit Moral und Propaganda bzw. den Propagandisten und den Moralisten auf eine Stufe stellt (ebenda, S. 463). Wie wichtig die Unterscheidung zwischen Moral und Propaganda ist, macht Cavell folgendermaßen deutlich: „Im Namen der Moral etwas zu propagieren ist nicht unmoralisch; es verneint die Moral überhaupt. Und wird die Propaganda sentimental aufgeladen, dann nimmt man ihr gerade das, was sie, sofern sie gerechtfertigt ist, allein rechtfertigt: ihre praktische Dringlichkeit und extreme Nützlichkeit“ (ebenda, S. 466). Deswegen muss Moral vom Nicht-Moralischen streng getrennt werden, und ich kann Cavell nur Recht geben, wenn er sagt, bei Stevenson fehle ein Begriff von Moral.

Cavell versucht nun zu erklären, wie Stevenson zu seiner Auffassung gekommen ist. „Es scheint eine unmittelbare Reaktion […] auf eines von Moores bekannten Argumenten zu sein (es besagt, wenn ethische Behauptungen Aussagen über die eigenen Gefühle sind, dann werden sich zwei, von denen der eine behauptet »X ist richtig« und der andere »X ist falsch«, nicht widersprechen, »es gibt nie irgendeine Meinungsverschiedenheit zwischen ihnen« (Moore, Ethics, S. 100))“ (ebenda, S. 470). Aus diesem Grund hat Stevenson den Begriff Einstellung in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen gerückt und dafür plädiert, die Gefühle aus allem herauszuhalten. Indem ich stattdessen den Begriff Interesse gewählt habe, bei dem Emotionen wieder eine Rolle spielen, habe ich versucht, wieder die Balance zwischen Geist und Psyche herzustellen. Ohne diese Balance kann es keine Vernunft geben, und die Moral ist der daraus entstehenden Irrationalität, die entweder neurotische oder psychotische Züge trägt (Kolb, 2012, 2. Kapitel), nicht mehr gewachsen. Propaganda und Moral gleichzusetzen, ist schon ungeheuerlich und hat etwas Wahnhaftes an sich (nach dem Motto »Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst«), und Moores Argument, wenn der eine behauptet »X ist richtig« und der andere »X ist falsch«, gebe es nie irgendeine Meinungsverschiedenheit zwischen ihnen, wenn dies ethische Behauptungen über die eigenen Gefühle seien, verleugnet oder verdrängt Konflikte, und das ist neurotisch, denn es verschleiert das mangelnde Vertrauen in die Fähigkeiten, Konflikte zu lösen, die es ja angeblich nicht gibt.

Moralische Regeln und ihre Gründe, der Regelutilitarismus

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Die nun zu behandelnde These besagt, es gebe „zwei Arten von moralischen Gründen, bei der einen ist eine Handlung als in sich moralisch angemessen oder bindend gerechtfertigt, bei der anderen ist eine Handlung aufgrund ihrer Folgen gerechtfertigt oder empfehlenswert“ (ebenda, S. 444). Wenn es um eine in der Gemeinschaft verbindliche moralische Regel oder eine verbindliche allgemeine soziale Praxis geht, dann ist eine darunter fallende Handlung deontologisch begründet und damit in sich moralisch angemessen. Eine Handlung, die nicht unter eine soziale Praxis fällt, kann nur aufgrund ihrer Folgen moralisch begründet sein, und wenn die Handlung unter eine soziale Praxis fällt, dann „ist ein utilitaristischer Grund nur dann angemessen, wenn er sich auf die Praxis selbst richtet“ (ebenda, S. 444 f.). Dieser so genannte Regelutilitarismus oder eingeschränkte Utilitarismus wendet sich gegen die beiden Einwendungen, „dass es kein akzeptabler Grund ist, ein Versprechen zu brechen, weil es im Ganzen besser ist, es nicht zu halten; und dass ein Unschuldiger nicht zu behandeln ist, als wäre er schuldig“ (ebenda, S. 473), die viele Philosophen gegen die Überhöhung der Nützlichkeit in der Philosophie des Utilitarismus vorgebracht haben. „Diese sich auf die Unterscheidung von Praxis und Handlung, Regel und Einzelfall stützende Interpretation [des Utilitarismus] bietet daher nicht nur ein plausibles Argument zugunsten des Utilitarismus, sondern hat zudem den großen Vorteil, die deontologische Richtung in der Moraltheorie als Ergänzung zu verstehen statt als unvereinbare Alternative zum Utilitarismus, und zwar als Ergänzung in der entscheidenden Bedeutung, dass man von beiden zeigt, dass sie jeweils eine andere Dimension einer Sensibilität oder einer Reihe von Überzeugungen klarmachen, die unmittelbar als moralische erkannt werden“ (ebenda, S., 473 f.). Cavell konzentriert sich nun vor allem auf die Formulierung von John Rawls in dessen Aufsatz »Two Concepts of Rules« (ebenda, S. 474), dessen Stoßrichtung er völlig teile, den er aber in zweierlei Hinsicht kritisiert: (1) die in dem Aufsatz formulierte Theorie „lokalisiert den Konflikt zwischen Utilitarismus und Deontologie hinsichtlich der Begriffe des Versprechens und der Strafe nicht genau genug; und (2) der zentrale Begriff der Regel bleibt, obwohl er, wie gesagt, für die Moraltheorie sehr erhellend ist, unklarer als nötig, und damit werden die erkenntnistheoretischen Probleme verfehlt, die mit unserem Wissen, was wir oder ein anderer tut, verbunden sind“ (ebenda).

Was den Konflikt zwischen Utilitarismus und Deontologie hinsichtlich des Begriffs des Versprechens betrifft, so glaubt Rawls diesen Konflikt mit der Feststellung gelöst zu haben, dass ein Versprechen eine soziale Praxis sei. Als soziale Praxis bezeichnet er „eine »Tätigkeitsform« […], die »durch ein Regelsystem spezifiziert ist, das Pflichten, Rollen, Maßnahmen, Strafen, Verteidigungen usw. definiert und das der Tätigkeit ihre Struktur gibt«“ (ebenda, S. 475). Er begründet dies damit, dass »Ich verspreche« eine performative Äußerung ist. Dem hält Cavell verschiedene andere performative Äußerungen entgegen wie zum Beispiel »Ich warne dich, ich beschwöre dich ...«, die keine sozialen Praktiken sind. Ein Versprechen ist eine Verpflichtung, aber bei Verpflichtungen gibt es verschiedene Abstufungen der Verpflichtung: die vage Äußerung »Ich werde tun, ich beabsichtige«, ein Versprechen oder eine feste Abmachung bzw. ein Vertrag. Nur Letzteres kann man als soziale Praxis bezeichnen. Ein Versprechen als soziale Praxis zu werten, bedeutet, „alle menschlichen Beziehungen eher als Verträge denn als persönliche“ (ebenda, S. 483) darzustellen. Wir haben hier also den Fall, dass die Gemeinschaft als Ganze sich bei Versprechen nicht einmischen sollte, weil es eine persönliche Beziehungsangelegenheit ist, die nur die Betroffenen lösen können. Was jemand riskiert, der öfter seine Versprechen nicht hält, ist, dass er für unzuverlässig gehalten wird und man ihn dann entsprechend behandelt. Was das Thema feste Abmachungen betrifft, stimmt Cavell Rawls absolut zu, „die Praxis ist bestimmt, und ein konkreter Konflikt lässt sich entscheiden (schlichten)“ (ebenda, S. 483). Indem sich sowohl der Utilitarismus als auch die Deontologie bei Versprechen heraushalten und den Konflikt den Betroffenen überlassen, gibt es hier keinen Konflikt der beiden Positionen.

Das Strafen ist „ein klarer Fall einer sozialen Institution oder schließt sie ein“ (ebenda, S. 484). Man kann es als Institution begreifen, die einer Gemeinschaft eine allgemeine Struktur gibt und die es in jeder menschlichen Gemeinschaft gibt, oder als eine jeweils spezifische Institution, die eine Gemeinschaft von einer anderen unterscheidet. Cavell meint nun, der Utilitarismus könne die allgemeine Institution der Strafe als solche nicht rechtfertigen, er könne das Strafen nur als spezifische Institution einer Gemeinschaft als nützlich betrachten, in welcher es bei Verbrechen noch der Abschreckung bedarf und Bestrafungen eine wirksame Abschreckung darstellen. „Der vollkommene Verzicht auf Strafe ist tatsächlich nur der Idealfall einer wo immer machbaren Strafminderung, und das ist das Ziel des Utilitarismus“ (ebenda, S. 485). Hier bin ich vollkommen anderer Meinung: wenn es das Ziel ist, in einer Gemeinschaft Harmonie herzustellen und für möglichst große Gleichheit von allen und möglichst große Freiheit des einzelnen zu sorgen, dann würde es gegen das Prinzip der Gleichheit gehen, wenn es bei Verbrechen keine Sanktionen geben würde, der Verbrecher wäre dann insofern privilegiert, als dass er Dinge tun kann, bei denen andere moralische Skrupel hätten und die sie mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren könnten. Da Ungleichheit Spannungen und Disharmonie erzeugt, ist die Institution des Strafens nützlich und kann daher von einem Utilitaristen durchaus gerechtfertigt werden. Im Idealfall stellt eine Strafe eine so genannte positive Sanktion dar, wie sie durchaus auch in psychotherapeutischen Kontexten verwendet wird: der zu Sanktionierende sollte etwas tun, was für ihn hinreichend unangenehm ist, so dass die Gleichheit in der Hinsicht, dass er sich durch seine Tat ein Privileg verschafft hat, gegenüber den anderen wiederhergestellt ist, und die Sanktion sollte ihn darin unterstützen, sich derart weiter zu entwickeln, dass sein moralisches Bewusstsein und seine Handlungskompetenzen einen möglichst gleichen Stand mit denen der anderen erlangen, so dass auch in dieser Hinsicht mehr Gleichheit innerhalb der Gemeinschaft erreicht wird. Als Beispiel ein Fall aus meiner Praxis: ein früherer Patient von mir hatte einer Fahrradfahrerin mit einem Baseballschläger auf den Kopf geschlagen, so dass diese schwer verletzt in ein Krankenhaus musste. Er bekam eine entsprechende Freiheitsstrafe und nahm im Gefängnis an einer therapeutischen Gruppe zur Aggressionsbewältigung teil, bei der er lernte, über sich und seine Gefühle zu reden. Wegen guter Führung wurde er früher aus der Haft entlassen mit der Auflage, sich therapeutische Unterstützung zu holen, um das in der therapeutischen Gruppe Erlernte zu festigen und zu erweitern. Vor seiner Tat war mein Patient mit einer Frau verheiratet, die ihn „an die Wand geredet hatte“ und ihn so vollkommen beherrscht und unterdrückt hatte, dass er seine Aggressionen, über die er auch mit niemandem reden konnte, nicht mehr in den Griff bekam und in einen tranceartigen Zustand geriet, in dem er dann die Tat verübte. Ich denke, dass die Strafe, die er erhalten hatte, zumindest bei ihm persönlich nicht der Abschreckung gedient hatte, denn unter normalen Umständen hätte er die Tat bestimmt nicht verübt. Aber ohne diese Strafe wäre er nie auf die Idee gekommen und hätte so auch nie die Gelegenheit gehabt, sich weiter zu entwickeln und zu lernen, über sich und seine Gefühle zu reden. Ich denke, eine derartige Praxis des Strafens müsste von jedem Utilitaristen unterstützt werden. Mein Patient hatte auch das Gefühl, dass es gerecht war, dass seine Freiheit im Gefängnis entsprechend eingeschränkt war, denn seinem Opfer, das im Krankenhaus ans Bett gefesselt war, erging es ja ähnlich. So hatte er das Gefühl, für seine Tat gesühnt zu haben und dadurch wieder allen anderen gleichgestellt zu sein. Eine Strafe kann daher auch für das psychische Gleichgewicht des Täters wichtig sein, so dass auch in dieser Hinsicht die Praxis des Strafens von einem Utilitaristen gerechtfertigt werden kann. Hier wird auch der Unterschied zwischen Sühne als Wiederherstellung der Gleichheit auf der einen Seite und Vergeltung bzw. Rache, die nur der persönlichen Genugtuung eines Opfers dient, auf der anderen Seite sichtbar, und der Utilitarist kann natürlich nur das eine und nicht das andere für gut heißen. Cavell wirft nun zum Schluss seiner Behandlung des Themas Strafe ein: „Für einen konsistenten Utilitaristen gibt es der Art nach keinen Unterschied zwischen zivilrechtlichen und kriminellen Verstößen“ (ebenda, S. 488), um dadurch zu zeigen, „dass der Utilitarismus die Institution der Strafe als solche nicht rechtfertigt“ (ebenda), wobei er eine Unterscheidung zwischen Sanktion im zivilrechtlichen und Strafe im kriminellen Bereich macht. Dies impliziert aber, dass Strafe immer eine Vergeltung sei. Da meiner moralischen Auffassung nach bei einer Strafe nicht Rache, sondern stattdessen Sühne eine Rolle spielen sollte, sehe ich keinen Unterschied zwischen Strafe und Sanktion, so dass in diesem Zusammenhang der Unterschied zwischen Zivil- und Strafrecht irrelevant ist. Somit lässt sich auch bei der Institution der Strafe der Konflikt zwischen Utilitarismus und Deontologie im konkreten Fall schlichten.

Kommen wir nun zum Regelbegriff, den Cavell in Anlehnung an Rawls durch den Vergleich von Spiel und moralischem Leben genauer klären und erhellen möchte. Wenn man sich auf ein Spiel einlässt, dann muss man bestimmte Regeln darüber befolgen, was erlaubt ist und was nicht, und was unter bestimmten Bedingungen getan werden muss. Diese Regeln nennt Cavell regulatorische und definierende Regeln (ebenda, S. 493). Ansonsten gibt es noch taktische und strategische Regeln, die insbesondere bei Wettkampfspielen Empfehlungen geben, wie man am besten das Ziel des Spiels erreicht. Cavell nennt dies Prinzipien und Maximen (ebenda). Der erste große Unterschied zwischen einem Spiel und dem (moralischen) Leben ist der, dass man sich auf ein Spiel einlassen kann oder nicht, während man ins Leben schon von Anfang an hineingeworfen worden ist. Regulatorische und definierende Regeln, die bei einem Spiel essentiell sind, sonst hat man sich nicht auf das Spiel eingelassen, gibt es nicht im Leben, denn hier kann und darf jede Regel bestritten werden, das gehört zur Würde des Individuums bzw. zur Freiheit des Menschen, und wenn es nur seine Gedankenfreiheit ist. Das Ziel im moralischen Leben ist wie schon öfters erwähnt die Harmonie innerhalb einer Gemeinschaft bzw. letzten Endes unter allen Menschen, und in diesem Ideal ist die Gleichheit von allen und die Freiheit des einzelnen enthalten. Von daher gibt es durchaus taktische und strategische Regeln als Empfehlungen, wie man diesem Ziel am besten so nahe wie möglich kommt. Diese betreffen den einzelnen, wie er sich selbst am besten und so weit wie möglich realisieren kann, wie er seine Beziehungen zu anderen so harmonisch wie möglich gestalten kann, und wie die Gemeinschaft insgesamt verschiedene soziale Praktiken und Institutionen fördern und schaffen kann, um optimale Rahmenbedingungen für die einzelnen Mitglieder der Gemeinschaft herzustellen. Damit der einzelne sich selbst und seine Beziehungsfähigkeit so gut wie möglich entwickeln kann, hat es sich in der Praxis bewährt, nur relativ wenige Handlungen des moralischen Lebens durch soziale Praktiken zu regulieren. Deswegen ist es auch wichtig, weniger verbindliche Verpflichtungen wie etwa Versprechen nicht durch soziale Praktiken festzulegen, damit es für den einzelnen genug Möglichkeiten gibt, sich selbst und seine sozialen Kompetenzen in persönlichen Beziehungen weiter zu entwickeln. Aus demselben Grund – und hier spreche ich vor allen Dingen für meine eigene Profession als Psychotherapeut – sollte man Psychotherapie nicht zu sehr reglementieren, damit noch Raum für die persönliche Begegnung bleibt. In diesem Sinne halte ich es nach dem Motto »Regeln sind für den Menschen da und nicht umgekehrt der Mensch für die Regeln«.

Manche Moralphilosophen, meint Cavell (ebenda, S. 495), berufen sich auf Regeln, um damit zu erklären, warum ein Versprechen „uns bindet. Doch wenn man dafür eine Erklärung braucht, wenn es das Gefühl gibt, dass etwas mehr als persönliche Verpflichtung nötig ist, dann kommt die Berufung auf Regeln zu spät. Denn Regeln sind ihrerseits in Abhängigkeit von unserer Verpflichtung bindend“ (ebenda). Regeln selbst können das moralische Leben eben nicht definieren. Auch die definitorischen Regeln eines Spieles können nicht definieren, was es heißt, ein Spiel zu spielen. Genauso können Regeln eine soziale Praxis definieren, aber nicht, was generell eine soziale Praxis ist. Gewisse Lebensformen müssen schon vorhanden sein, so dass man daraus eine entsprechende soziale Praxis machen kann. Da Regeln nicht im Stande sind, moralisches Leben zu definieren, sondern wir damit nur Rahmenbedingungen abstecken können, damit sich moralisches Leben vielleicht besser entwickeln kann, verdunkelt die Berufung auf Regeln die Probleme des einzelnen in Bezug auf seine Selbstrealisation, die unabdingbar verknüpft ist mit der Gestaltung seiner persönlichen Beziehungen. Diese beginnen schon am Anfang des Lebens mit der Entwicklung des Selbst in der persönlichen Beziehung des Kindes zu seiner Mutter (Fonagy, Gergely, Jurist, & Target, 2008). Eines der Hauptprobleme bei persönlichen Beziehungen ist der Unterschied von menschlichem Handeln gegenüber dem von Tieren, dass menschliches Handeln unabhängig von der Realität allein durch Repräsentationen der Realität geleitet sein kann (ebenda, S. 249 ff.). Bei einem Spiel steht meistens die Realität derart im Vordergrund, dass es „keine Lücke zwischen Absicht und Handlung [gibt], die zählt“ (Cavell, 2006, S. 501). Im normalen Leben aber können sich unterschiedliche Repräsentationen der Realität zwischen Absicht und Handlung schieben (ich werde plötzlich an eine frühere Erfahrung erinnert), so dass es Raum für akrasia (Unbeherrschtheit, Willensschwäche) gibt, d.h. dass ein sogar für den Handelnden selbst unter Umständen unvorhersehbares Auftauchen einer bestimmten Repräsentation der Realität die Handlung leitet. Unter akrasia (von griechisch kratos, Stärke oder kratein, herrschen) verstehe ich die fehlende Stärke für das Beherrschen des Flusses der Repräsentationen der Realität. Für Moral und Ethik ist es daher unabdingbar nötig, dass der einzelne sich selbst immer mehr realisiert bzw. sich in seinem Worumwillen immer echter und unmittelbarer versteht, also sich selbst immer mehr liebt, wozu er immer wieder auch persönliche Beziehungen mit anderen braucht, die er auf diese Weise auch immer mehr lieben lernt. Dann bekommt er auch immer mehr die Stärke, den Fluss der Repräsentationen der Realität zu beherrschen. Insbesondere nehmen seine Vorstellungskraft und sein Wir-Gefühl immer mehr zu.

Der Sinn von Moral und Ethik

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Die letzte These, die Cavell für betrachtenswert hält, „ist die bekannte These über die Autonomie der Moral: Eine Tatsachenbehauptung stellt nur dann einen Grund für ein moralisches Urteil dar, wenn sie sich auf einen moralischen Satz bezieht, in Verbindung mit dem das Urteil ableitbar ist“ (ebenda, S. 445). Wenn ein moralisches Urteil, welches ja immer das abstrakte Schema von »Du sollst …« hat und damit ein Imperativ ist, nur aus Tatsachenbehauptungen ableitbar ist, dann ist dieses Urteil nach Kant ein hypothetischer und kein kategorischer Imperativ (Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785 (A), zweite Auflage 1786 (B), S. 40 AB). Die befürwortete Handlung ist dann nur ein Mittel, um etwas Technisches (im Sinne von Problemlösung) zu erreichen oder eine Neigung zu befriedigen, und nicht an sich gut und damit nicht moralisch im Sinne von Kant. Die kritische Frage hierbei ist natürlich, ob es eine derart an sich gute Handlung überhaupt gibt, wobei es sich hier gar nicht um die Handlung an sich dreht, sondern nur darum, dass keine Absicht dabei ist, etwas Technisches zu erreichen oder eine Neigung zu befriedigen. Selbst die Absicht, etwas Gutes zu tun, könnte technisch sein (ein Problem aus der Welt schaffen) oder der Neigung, gut zu sein, entsprechen. So betrachtet kann Kant eigentlich nur das absichtslose Handeln meinen, das Wikipedia Wu_wei des Wikipedia Daoismus. Moral bezieht sich damit auf ein utopisches Ziel, was in der Realität nicht zu erreichen ist. Dies ist auch bei meinem Moralbegriff der Fall, da die vollkommene Harmonie unter den Menschen mit der vollkommenen Gleichheit von allen und der vollkommenen Freiheit jedes einzelnen, wobei alle Menschen sich hin zur Liebe entwickelt haben, Liebe als das echte und unmittelbare Verstehen des Worumwillens von allem Seienden, ebenfalls ein utopisches Ziel ist, was in der Realität nicht erreicht werden kann. Wenn man diese Bezogenheit der Moral als Autonomie bezeichnet, und »Du sollst dieses utopische Ziel immer anstreben« als den moralischen Obersatz, der immer benötigt wird, damit aus einer Tatsachenbehauptung zusammen mit dem Obersatz ein moralisches Urteil abgeleitet werden kann, dann stimme ich der These über die Autonomie der Moral zu. Hier zeigt sich im Übrigen auch die Bedeutung „Mut“ von Moral, denn es gehört einiges an Mut dazu, ein utopisches Ziel anzustreben. Inwiefern aber macht es Sinn, diesen Mut zu haben bzw. aufzubringen?

Bevor ich dieses Thema weiterführe, möchte ich zuerst einmal untersuchen, wie Stevenson mit dem Thema der Autonomie der Moral umgeht, wobei seine oben erwähnte dritte Behauptung eine Schlüsselstellung einnimmt: Stevenson beginnt mit der Behauptung, „dass »eine der Eigentümlichkeiten ethischer Argumente in dem Schluss von einer Tatsachenaussage auf eine ethische Konklusion besteht«, und […] dass, »da der Schluss, laut Hypothese, weder deduktiv noch induktiv gültig« (S. 153) ist, die einzig interessante Frage ist, ob wir solche Schlüsse gültig oder ungültig nennen müssen. Stevenson befindet bekanntermaßen, dass wir es nicht können“ (Cavell, 2006, S. 447 f.). Daraus schließt Stevenson, „dass die Beziehung zwischen Grund und Konklusion »daher« psychologisch sein muss und »daher« kausal und dass »ein Moralist … jemand ist, der Einstellungen beeinflussen will« (S. 243)“ (ebenda, S. 448). Damit ist es seiner Ansicht nach also eine Frage der Psychologie, wie ich eine kausale Beziehung zwischen Grund und Konklusion herstelle, und die Frage, welche Methode und dafür verfügbare Gründe ich wählen soll, ist demnach eine psychologische. Wenn es um Interessen geht – ich bevorzuge in diesem Fall diesen Ausdruck gegenüber dem Begriff der Einstellungen und hoffe damit, Stevenson gegenüber nicht unfair zu sein, sondern bestimmte Zusammenhänge nur deutlicher und fassbarer zu machen –, so muss man hier tatsächlich die Psychologie für eine grundlegendere Klärung des Sachverhalts bemühen (wir bleiben damit aber immer noch auf der Ebene der Tatsachenbehauptungen, die von der Wissenschaft der Psychologie untermauert sind): jeder Mensch hat unterschiedliche Interessen, die sich teilweise auch widersprechen können und die sich in hierarchischen Strukturen einordnen lassen, die je nach Auffassung einer Situation und anderen Repräsentationen der Realität, die bei dem Betreffenden gerade wirksam sind, unterschiedlich sein können. Bestimmte Interessen können ständig vorhanden sein, manche nur momentan. Ein Moralist, wenn es ihm wirklich um die Moral geht, will nun nicht irgendwelche Einstellungen ändern oder irgendwie in die Struktur der Interessen eines Menschen eingreifen und dabei unter Umständen irgendwelche neuen Interessen wecken, sondern er versucht, bei dem Betreffenden das Interesse am Verständnis von anderen, an der Harmonie innerhalb der Gemeinschaft, sowie an Gleichheit und Gerechtigkeit für alle und Freiheit für den einzelnen zu wecken und diesen Interessenkomplex an eine möglichst hohe Stelle innerhalb der Hierarchie aller Interessen dieses Menschen zu bringen. Dabei geht es nicht um Überredung, sondern um Überzeugung, und zwar um die Überzeugung, dass eine derartige absolut moralisch zu nennende Haltung besser ist und langfristig dem Betreffenden, wenn er danach lebt, auch selbst mehr Vorteile bringt, als wenn er nur an sich selbst denkt. Erst wenn die entsprechende Überzeugung vorhanden ist, geht es dann darum, den Betreffenden dazu zu überreden bzw. zu bewegen, auch nach seinen Überzeugungen zu handeln. Dann kommen erst entsprechende andere Tatsachenbehauptungen ins Spiel. Bei der Methodenwahl – und das ist wirklich psychologisch, aber weder unlogisch noch unwissenschaftlich zu nennen – geht es also zuerst darum, die inneren Haltungen und die Interessen von jemandem zu erkennen bzw. am besten sogar seine gesamte Psychodynamik zu erfassen, um ihn dann von der oben erwähnten moralischen Haltung überzeugen zu können, weil man dadurch weiß, welche Gründe ihm schon geläufig sind und welche nicht, und aufgrund welcher Selbstblockaden oder Erfahrungen, die vielleicht auf die jetzige Situation gar nicht mehr übertragbar sind, er an bestimmten Überzeugungen noch festhält, die nicht mehr adäquat sind. In der Weise, in der Psychologie eine Wissenschaft ist, ist diese Methodenwahl logisch und wissenschaftlich, so dass Ethik durchaus als Wissenschaft betrieben werden kann.

In der Ethik, so wie sie von mir aufgefasst wird, finden wir ein Seinsverständnis, in welchem der Mensch als In-einer-Gemeinschaft-Sein verstanden wird, dessen Wesen als solches Sein Ergriffenheit, Erwartung und Täuschung ist. Der Sinn dieses Seins ist die Prozesshaftigkeit, die oszillierende Entwicklung, die zwischen den Richtungen auf Liebe hin und von Liebe weg hin und her schwankt (Kolb, 2011), so dass die Konflikte zwischen den Mitgliedern der Gemeinschaft mal mehr und mal weniger gelöst oder beigelegt sind. Thematisiert wird in der Ethik als Hauptthema, wie man Interessen- und persönliche Konflikte am besten löst. Das utopische Ziel, der Sinn der Ethik ist das Erreichen vollkommener Harmonie in der Gemeinschaft aller Menschen, so dass alle in vollkommener Zufriedenheit leben, vollkommene Gleichheit unter allen herrscht und jeder einzelne vollkommene Freiheit genießt. Mit dieser „grundbegrifflichen Ausarbeitung des führenden Seinsverständnisses determinieren sich die Leitfäden der Methoden, die Struktur der Begrifflichkeit, die zugehörige Möglichkeit von Wahrheit und Gewissheit, die Begründungs- und Beweisart, der Modus der Verbindlichkeit und die Art der Mitteilung. Das Ganze dieser Momente konstituiert den vollen existenzialen Begriff der Wissenschaft“ (Heidegger, 2006, S. 362 f.). Somit ist Stevensons Vorwurf an die Ethik, ihre Schlüsse seien nicht gültig, auch vom existenzial-phänomenologischen Wissenschaftsbegriff Heideggers her zurückzuweisen. Apropos Utopie: auch die Naturwissenschaften haben ein utopisches Ziel, nämlich alles Wissenswerte über die Natur herauszufinden.

Wenn dieser Sinn der Ethik, ihr utopisches Ziel, wirklich Sinn macht, dann macht es auch Sinn, den Mut aufzubringen, dieses Ziel anzustreben, und somit ist dieser Mut der Sinn der Moral, der Rahmen, in dem Moral verständlich wird, denn erst dieser Mut, nach Freiheit, Gleichheit, Verständnis, Harmonie und Liebe zu streben, lässt uns moralisches Denken und Handeln verstehen. Das utopische Ziel der Ethik, die vollkommene Harmonie zwischen allen Menschen, macht nur dann Sinn bzw. ist nur dann vernünftig, wenn es dabei hilft, persönliche und Interessenkonflikte zwischen Menschen zu lösen. Das ist aber offensichtlich: wie oben schon erwähnt, ist es für die Harmonie zwischen Menschen unabdingbar, dass sie einerseits ein starkes Wir-Gefühl entwickeln und dafür andererseits sich selbst und andere immer echter und unmittelbarer in ihrem jeweiligen Worumwillen verstehen, also sich selbst und andere immer mehr lieben. Je mehr dies alles erreicht ist, desto einfacher und leichter lassen sich alle zwischenmenschlichen Konflikte lösen. Das allein aber reicht noch nicht aus dafür, dass ein utopisches Ziel sinnvoll und vernünftig ist. Ein solches Ziel muss auch für die meisten attraktiv sein, und es muss einen Weg geben, auf dem man Fortschritte machen und sich so diesem Ziel immer mehr nähern kann, auch wenn man es niemals vollkommen erreicht, so dass man den Weg oder einen dieser Wege zur Utopie sich zum Ziel machen kann. Ich denke, die Anziehungskraft des Ziels dürfte unumstritten sein, denn wer wünscht sich nicht Liebe, Verständnis, Freiheit und Gleichheit – die Ziele der französischen Revolution waren ja auch Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit –, und die Attraktivität besteht ja auch schon alleine darin, dass das Streben nach diesem Ziel persönliche und Interessenkonflikte zwischen Menschen beseitigen helfen kann. Was die möglichen Wege betrifft, auf denen man dem utopischen Ziele immer näher kommen kann, so gibt es hier schon verschiedene soziale Praktiken und Praktiken für den einzelnen in den verschiedenen Kulturen, und es mag die Aufgabe der Sozialwissenschaften oder einer Art von praktischer Philosophie sein (für die griechischen Philosophen des Altertums waren praktische Übungen genauso wichtig wie theoretische Studien), diese zu evaluieren und neue Praktiken zu finden, wobei Letzteres deswegen wichtig ist, weil jeder Mensch anders ist und von daher eine Vielfalt von Wegen anzustreben ist, damit sich jeder etwas für ihn oder sie individuell Passendes aussuchen kann. Ich persönlich halte gemeinsame Praktiken wie beispielsweise Selbsthilfegruppen oder Partnermeditationen für besonders wichtig, und dass hier noch mehr entwickelt wird, denn Praktiken für den einzelnen gibt es schon viele, und einer ihrer Hauptnachteile ist der, dass sie sehr viel Selbstdisziplin erfordern, mehr als die sozialen. Außerdem brauche ich andere Menschen, wenn ich üben will, Beziehungen zu gestalten.

Bis jetzt habe ich das Thema Moral und Ethik von einem generellen Standpunkt aus betrachtet, aber Moral und Ethik spielen gerade in den persönlichen zwischenmenschlichen Beziehungen eine wichtige Rolle. Da hier die Alltagssprache eines der wichtigsten Mittel der Verständigung ist, möchte ich einmal genauer hinsehen, wie moralischer Urteile und ihre Begründungen im persönlichen Bereich ausgedrückt werden, und ob und wie derartige Handlungen selbst, die ja eine Konfrontation des anderen darstellen, moralisch sind und dem ethischen Anspruch dienen, persönliche und Interessenkonflikte zu lösen. Eine entsprechende Formulierung – und hier wird es natürlich sehr psychologisch – kann das Gegenüber veranlassen, sich zu öffnen oder zu verschließen, so dass die nachfolgenden Begründungen ganz gut oder überhaupt nicht aufgenommen werden. Verschiedene Ausdrucksformen sind zum Beispiel »Es ist wünschenswert«, »Du solltest«, »Du musst«, »Kannst/könntest du mal«, »Ich würde mich freuen, wenn«, »Du würdest mir einen großen Gefallen tun, wenn«, »Es ist deine Pflicht, dass« und »Du hast die Aufgabe, dass«. Dabei kommt es unter anderem darauf an, inwieweit ich als Konfrontierender mich einmischen darf (wenn es mich zum Beispiel gar nichts angeht und ich mich damit über den Konfrontierten stelle) oder sogar muss (unterlassene Hilfeleistung, wenn der Konfrontierte einen anderen, der sich nicht wehren kann, ungerecht behandelt) – hier geht es um das Prinzip der Gleichheit – und inwieweit ich den Konfrontierten zu sehr unter Druck setze und etwas von ihm erzwingen will, was dann gegen das Prinzip der Freiheit verstößt. Wenn der Betreffende, der einen moralischen Anspruch erhebt, dies nicht auf moralisch verantwortungsvolle Weise vorbringt, dann entzieht er sich selbst die Gründe für seinen moralischen Anspruch. Dieser Punkt ist vielleicht noch ein weiterer Hinweis auf die Autonomie der Moral, denn Gutes wollen und auf verantwortungslose Weise etwas Schlechtes dabei schaffen, ist nicht moralisch. „Wenn ich einen anderen konfrontiere, dann muss ich ihn nicht mögen, ich muss nur, aus welchem Grund auch immer, bereit sein, seine Position zu berücksichtigen und die Folgen zu tragen“ (Cavell, 2006, S. 523). Dabei bedeutet »seine Position zu berücksichtigen«, sein Recht auf Freiheit zu beachten, und »die Folgen zu tragen« meint, dass ich mich auf die gleiche Stufe mit ihm stelle, also das Prinzip der Gleichheit nicht vernachlässige.


Getrennt-Sein voneinander und die Überwindung von Vorurteilen, Ideen von Exklusivität und Aspektblindheit

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Die Repräsentationen der Realität haben verschiedene Aspekte, die sich anhand des Schemas Psyche-Geist-Materie (Kolb, 2012, 2. Kapitel und Schaubild) philosophisch genauer untersuchen lassen. Der eine Aspekt ist von der Psyche her betrachtet die Ergriffenheit, die in der jeweiligen Repräsentation liegt, ein anderer vom Geist her betrachtet die Erwartung, und eine dritte Sichtweise, unter der man Repräsentationen von der Materie her analysieren kann, ist die Täuschung bzw. die Nicht-Entsprechung mit der Realität, d.h. ihr Versagen in der Praxis. Diese drei Aspekte der Repräsentationen der Realität sind insofern auch umfassend, als dass das „Sein des Daseins zur Welt […] wesenhaft Ergriffenheit, Erwartung und Täuschung“ (Kolb, 2011) ist. Solange die Ergriffenheit sich nicht an etwas Bestimmtem in der Welt festmacht, sondern eine Ergriffenheit vom In-der-Welt-Sein und damit eigentlich ist, drängt sie dazu, alles Seiende in seinem Worumwillen immer echter und unmittelbarer zu verstehen, also zu lieben, das heißt die Psyche als die Dynamik der Liebe (Kolb, 2012, 2. Kapitel) fordert dazu auf, sich immer mehr hin zur Liebe zu entwickeln und das Getrennt-Sein zu überwinden. Die Erwartung besteht dann darin, immer mehr Möglichkeiten des Seinkönnens zu entwickeln, zur Liebe zu kommen, d.h. der Geist als Aspekt der Rückkehr zur Liebe (ebenda) entfaltet sich immer mehr. In der praktischen Verwirklichung dieser Möglichkeiten zeigen sich dann die Widersprüchlichkeiten in der Materie, denn wir stellen fest, dass wir im Umgang mit der Realität von der Liebe entfremdet sind – die Materie ist ja die Entfremdung der Liebe von sich selbst (ebenda) –, so dass die Täuschung der eigenen Repräsentationen der Realität von uns erlebt wird. Wenn dieses Erleben uns mit anderen zusammenführt bzw. unser Zusammen-Sein stärkt, wenn also auf diese Weise ein Wir-Gefühl entsteht bzw. gestärkt wird, dann wird unsere Moral (als Mut) gestärkt, weiterhin von unserem In-der-Welt-Sein derart ergriffen zu sein, dass es uns weiter drängt, unsere Liebe zu entwickeln.

Wenn sich aber unsere Ergriffenheit an etwas Bestimmtem in der Welt festmacht, dann wird sie uneigentlich und zur Versuchung, die uns dazu auffordert, anstelle von Liebe Macht zu entwickeln. Unsere Erwartung bzw. unser Machtstreben im praktischen Umgang lässt unsere Täuschung dadurch zur Verblendung werden, d.h. wir werden vor lauter Machtstreben blind dafür, dass wir in der Realität von der Liebe entfremdet sind. Wenn unser Machtstreben dann frustriert wird, entzweien wir uns mit anderen, sind wir aber erfolgreich, dann sind andere frustriert und entzweien sich mit uns, das heißt in jedem Fall wird das Wir-Gefühl geschwächt und das Getrennt-Sein gestärkt, so dass die Moral, sich zur Liebe hin zu entwickeln, immer mehr verschwindet. Unsere Psyche gerät immer mehr in Versuchung, nur noch aus Herrschsucht bei erfolgreichem und aus Rachsucht bei erfolglosem Machtstreben zu bestehen. Wenn das Beherrschen oder die Rache sich gegen andere richten, dann planen wir immer mehr entsprechende Möglichkeiten und geben so dem Geist eine Vormachtstellung über die Psyche, in der jegliches Mitgefühl abgetötet werden muss. Wenn es sich aber gegen einen selbst richtet, dann verurteilen wir unsere Fähigkeiten und Fertigkeiten und damit auch unser geistiges Potenzial, das heißt wir schwächen den Geist und geben so unseren ohnmächtigen Gefühlen und damit der Psyche die größere Bedeutung für uns. So entsteht also durch die Versuchung ein Ungleichgewicht zwischen Geist und Psyche und damit das „Böse“ (ebenda), das Getrennt-Sein wird immer stärker, auch bei sich selbst als Getrennt-Sein von Geist und Psyche.

Unsere Repräsentationen der Realität können somit Ergriffenheit von unserem gesamtem In-der-Welt-Sein beinhalten und damit eine Erwartung und ein Streben, sich zur Liebe hin zu entwickeln, um so die Widersprüchlichkeiten und unser Getrennt-Sein im Umgang mit der Realität, die sich uns in unseren Täuschungen zeigen, zu überwinden, oder diese Repräsentationen stellen für uns eine Versuchung dar, die uns zum Machtstreben verführt, so dass in der dadurch entstehenden Verblendung die Gegensätzlichkeiten und unser Getrennt-Sein nur noch verschärft werden, wir uns mit anderen immer mehr entzweien und in der Absonderung (das ist meines Erachtens die eigentliche Bedeutung von Sünde) enden. Ich hoffe, dass ich auf diese Weise die Bedeutung unserer Repräsentationen der Realität für unser Getrennt-Sein, sowie für Moral und Ethik und damit für das menschliche Dasein insgesamt nachdrücklich darstellen konnte. Aufgrund der starken Ambivalenz, ob die Ergriffenheit eigentlich ist oder nicht, ob ich selbst oder ein anderer nach Macht oder nach Liebe strebt, bekommt die skeptische Haltung des traditionellen Philosophen eine besondere Brisanz. Genau diese Ambivalenz entsteht auch im misshandelten oder missbrauchten Kind, welches der Bezugsperson anfänglich bedingungslos vertraut hat, sie würde das Kind lieben, um dann erleben zu müssen, dass sie nur auf Macht und Ausbeutung aus ist.

Da viele Menschen glauben, dass sie nur aufgrund der Realität handeln, und ihnen ihre eigenen Repräsentationen der Realität (z.B. Vorurteile) gar nicht als solche klar sind, und weil sie von anderen ebenfalls meistens annehmen, sie reagierten auf die Realität bzw. müssten auf diese so reagieren, wie sie selbst sie für sich repräsentiert haben, wissen sie kaum etwas über „das richtige Verhältnis von Innen und Außen, zwischen der Seele und ihrer Gesellschaft“ (Cavell, 2006, S. 527), zwischen öffentlich und privat, und zwar sowohl bei sich selbst als auch bei anderen. Genau das aber scheint nach Cavell (ebenda) das Thema der Philosophischen Untersuchungen (Wittgenstein, 2001) im Ganzen zu sein. Wenn Wittgenstein schreibt: „Von mir kann man überhaupt nicht sagen (außer etwa im Spaß) ich wisse, dass ich Schmerzen habe“ (ebenda, § 246), „dann scheint das die Privatheit der Seele zu kompromittieren“ (Cavell, 2006, S. 528). Man stelle sich aber einmal folgenden Dialog vor: „Weißt du, dass du Schmerzen hast?“ – „Ja, ich weiß, dass ich Schmerzen habe.“ Was kommt uns bei diesem Dialog seltsam vor? Schon die Frage wirkt befremdlich, denn wie kann ich in demselben Moment Schmerzen haben und nichts davon wissen, das ist doch schizophren! Genauso verrückt, obwohl es den meisten von uns nicht klar ist, ist es zu sagen: „Ich habe einen Körper.“ Wir haben weder Körper, Geist noch Seele, wir sind höchstens Körper, Geist und Seele, bzw. dies sind Sichtweisen auf oder Aspekte von uns Menschen. Körper, Geist und Seele sind so privat und so öffentlich wie wir selbst. Im Seelischen bzw. Psychischen ist es daher die Frage, wie privat und wie öffentlich unsere Empfindungen bzw. unsere Emotionen sind. Wenn wir den Begriff Empfindung verwenden, dann weist dies auf etwas hin, mithilfe dessen man etwas bei dem Betreffenden, der dieses empfindet, finden kann. Wenn ich mit meiner Empfindung allein bin, dann ist diese Selbst-Erforschung privat. Sie ist es aber nur deswegen, weil ich alle anderen ausgeschlossen habe und mit mir exklusiv allein bin. Wenn ich statt Empfindung den Begriff Emotion verwende, dann bedeutet dies, dass aus demjenigen, der diese Emotion hat, sich etwas nach außen bewegt, also ausdrückt. Eine Empfindung ist daher als Ausdruck immer öffentlich, wenn irgendjemand dabei ist. Dasselbe besagt auch der Ausspruch »Man kann nicht nicht-kommunizieren«. Die Emotion, der Ausdruck, und das, was ausgedrückt wird, die Empfindung, sind ein und dasselbe. Der Ausdruck bzw. die Emotion ist der ontische Aspekt, die Empfindung bzw. das, was ausgedrückt wird, ist der ontologische Aspekt, die Vorstellung über das Wesenhafte des Ausdrucks. Das Wesenhafte ist nur vorstellungsmäßig und nicht wahrnehmbar, und weil auch von mir selbst nicht wahrnehmbar, ist es weder privat noch öffentlich; der Ausdruck dagegen ist wahrnehmbar und je nach Grad der Exklusivität mehr privat oder mehr öffentlich.

Wenn Wittgenstein im § 297 das Beispiel des Bildes eines Wasserkochtopfs verwendet, auf dem nur der Kochtopf und der Wasserdampf darüber zu sehen ist, um dann in den folgenden Paragraphen diese Parabel auf die Empfindung des Schmerzes anzuwenden, dann will er genau das ausdrücken, dass die eigentliche Empfindung eine Vorstellung ist und nicht etwas, auf das man zeigen und auf diese Weise direkt wahrnehmen kann, im Gegensatz zum Ausdruck der Empfindung, der Emotion. Daher kann auch nur Letzteres öffentlich oder privat sein. Dem Ausdruck entspricht der bildlich dargestellte Dampf über dem Wasserkochtopf, der Empfindung das kochende Wasser im Topf, worauf man aber, weil es unsichtbar ist, nicht zeigen kann und das man sich nur vorstellen kann. Empfindungen können nicht lokalisiert werden. Obwohl dies beim Schmerz anders zu sein scheint, so bedeutet es doch, wenn ich sage »Hier tut es weh«, dass sich »Hier« nur die Ursache bzw. der Auslöser der Schmerzempfindung befindet. Wo genau die Empfindung des Schmerzes ist, kann niemand sagen. Die Parabel vom Wasserkochtopf des § 297 ist eine Antwort auf den Einwand des § 296, es gebe da doch ein Etwas, was den Ausruf des Schmerzes begleite. Derjenige, der diesen Einwand vorbringt, würde nach Wittgenstein auch darauf insistieren, dass im Bild des Topfes etwas kochen müsse. Wie Wittgenstein im § 298 weiter ausführt, beharren wir so gerne auf dem Inneren, was wir für das Wesenhafte halten: „Dass wir so gerne sagen möchten »Das Wichtige ist das« – indem wir für uns selbst auf die Empfindung deuten, – zeigt schon, wie sehr wir geneigt sind, etwas zu sagen, was keine Mitteilung ist.“ (§ 298) Was das Ontologische bzw. Wesenhafte betrifft, also dieses „Wichtige“, wozu wir unwiderstehlich neigen, es zu sagen, so sind wir zu derartigen Annahmen nicht gezwungen und sehen einen Sachverhalt weder unmittelbar ein noch wissen wir etwas darüber (siehe § 299), und damit ist es auch keine Mitteilung von etwas Realem. Etwas Ontologisches, eine Vorstellung des Wesentlichen, eine Repräsentation der Realität ist nichts Reales, aber etwas Reales kann dem allen entsprechen (frei nach § 301). Dass wir Repräsentationen der Realität bilden, ist weder leer noch verrückt, wir müssen dies notwendigerweise tun, um uns in der Realität zurechtzufinden, aber Wittgenstein fordert uns auf, jede unserer Repräsentationen immer wieder auf ihre Brauchbarkeit, inwieweit und wie angemessen sie tatsächlich etwas Realem entspricht, zu überprüfen und nicht versessen auf ihr zu beharren. Auch Cavell meint auf Seite 536 (Cavell, 2006), „dass das Verrückte und Leere daran (an der Kochtopf-Parabel) dieses Beharren konstituiert.“ Wenn wir die Äußerung »Das ist ein Ausdruck einer Empfindung bzw. der Seele« als kohärente Behauptung aufgrund eines bestimmten Benehmens eines anderen oder von uns selbst meinen, dann ist dies leer und verrückt. Es gibt keine Situation, in der wir einem anderen dadurch wirklich etwas mitteilen. Entweder der andere versteht den Ausdruck der Empfindung oder er versteht ihn nicht. Eine zusätzliche Äußerung wird daran nichts ändern, sie ist leer, und je beharrlicher sie geäußert wird, desto verrückter erscheint sie.

Mich erinnert das an folgende Geschichte: Ein Arzt wird zu einer Frau gerufen, bei der die erste Geburt eines Kindes unmittelbar bevorsteht. Nachdem er sie untersucht hat, geht er nach nebenan und spielt mit dem werdenden Vater, der dort nervös wartet, eine Partie Schach. Auf einmal stöhnt die Frau im Nebenzimmer: „Oh, tut das weh!“ Der Mann schaut den Arzt erschrocken an, der aber ganz seelenruhig seinen nächsten Zug überlegt. So geht das mehrere Male, und der Ehemann wird immer nervöser und fragt schließlich den Arzt, ob er denn nicht nach seiner Frau sehen wolle. Der Arzt aber beruhigt ihn, es sei noch lange nicht so weit. Etwa eine Stunde später fängt die Frau fürchterlich an zu schreien und um Hilfe zu rufen. Da steht der Arzt auf und sagt: „Jetzt ist es langsam soweit.“ Er geht gemütlich hinüber zur Frau und kommt genau im richtigen Moment, um ihr zu helfen, ihr Kind gesund zur Welt zu bringen. Wenn die Frau stöhnt und äußert: „Oh, tut das weh!“, dann ist diese Äußerung eine leere Behauptung für den Arzt, er bestreitet aber nicht, dass die Frau etwas hat, dass sie etwas damit ausdrückt. Es ist nur für ihn ohne Belang. Entsprechend der Reaktion ihres Mannes ist die Frau nur ängstlich und nervös, neben den Schmerzen kann sie sich noch Gedanken machen, ob die Geburt wohl bald einsetzen wird. Durch sein Verhalten antwortet der Arzt, dass es noch nicht so weit ist, was er dann dem Ehemann gegenüber auch verbal ausdrückt. Sprache und Verhalten drücken Empfindungen und Gedanken parallel nebeneinander aus. Erst als die Frau richtig schreit und vor lauter Schreien nur noch um Hilfe rufen und nicht mehr denken kann, erkennt der Arzt nicht nur den Ausdruck der Frau an, sondern auch das, was er ausdrückt, dass nämlich jetzt der Schmerz so groß ist, dass es gleich zur Geburt kommt. Der Schmerz ist so groß, dass sie nicht mehr denken kann. Die Frau kann nur noch ihr Empfinden ausdrücken, und der Arzt versteht und weiß, was zu tun ist. Der Ausdruck der Frau, und das, was er ausdrückt, sind nicht „zwei verschiedene Dinge“ (ebenda, S. 541), und jeder Kommentar darüber ist keine echte Mitteilung und daher leer, wenn er als kohärente Behauptung gemeint ist. Eine solche Behauptung kann höchstens „etwas inkohärent meinen […] – z.B. ironisch, parabolisch, metaphorisch; d.h. die Möglichkeit, sie wirklich so zu meinen, aber sie auf eine falsche Weise zu meinen oder in einem nicht erkannten Sinn“ (ebenda, S. 538). Im Fall der Frau ist der Kommentar „Oh, tut das weh!“ von ihr nicht erkannter Ausdruck ihrer Angst und Verunsicherung, ist also nicht kohärent mit der Schmerzempfindung, aber sie meint es als Schmerzäußerung. Die Vorstellung dessen, was an Empfindungen ausgedrückt wird, ist kein Bild „und im Sprachspiel auch nicht durch etwas ersetzbar, was wir ein Bild nennen würden“, §300 (Wittgenstein, 2001). Es gibt schon Vorstellungen, die durch Bilder ersetzbar sind, aber Vorstellungen von Empfindungen, von der Seele oder vom Geist und den entsprechenden Prozessen nicht. Wenn ich sage »Er empfindet etwas«, dann ist das „meine Reaktion auf einen Ausdruck“ (Cavell, 2006, S. 542) von seiner Empfindung. Meine Vorstellung dieser Empfindung gehört zu dieser Äußerung, zu meinem Ausdruck meiner Reaktion auf den Ausdruck seiner Empfindung, „aber metaphysisch wird dadurch nichts klarer, denn jetzt haben wir es mit zwei Reaktionen auf“ (ebenda) dieselbe Empfindung zu tun. Was der Mann und der Arzt ausdrücken, das ist jeweils ihre Reaktion auf den Ausdruck der Frau, und diese Reaktionen können durchaus verschieden sein.

Bei dem sprachlichen Ausdruck von Empfindungen und den entsprechenden Reaktionen und Antworten eines Gegenüber neigen wir dazu anzunehmen, der sprachliche Ausdruck repräsentiere die Art und Weise, wie wir über die betreffende Empfindung denken, was sie bedeute, und meinen dabei, „die Sprache funktioniere immer auf eine Weise, diene immer dem gleichen Zweck: Gedanken zu übertragen“, §304 (Wittgenstein, 2001). Diese Art von Grammatik verwirft Wittgenstein als Fiktion (ebenda, § 307). Sie ist zu sehr von der Logik des Denkens beherrscht. Ich bin überzeugt davon, dass auch Heidegger diese Art von Grammatik meint, wenn er schreibt, er hoffe mit der Fundierung der Sprache im Existenzial der Rede auf eine „Befreiung der Grammatik von der Logik“ (Heidegger, 2006, S. 165). Im § 308 beschreibt Wittgenstein, wie es zum philosophischen Problem der seelischen Vorgänge und Zustände kommt: „Wir reden von Vorgängen und Zuständen, und lassen ihre Natur unentschieden! Wir werden vielleicht einmal mehr über sie wissen – meinen wir. Aber eben dadurch haben wir uns auf eine bestimmte Betrachtungsweise festgelegt. Denn wir haben einen bestimmten Begriff davon, was es heißt: einen Vorgang näher kennen zu lernen. (Der entscheidende Schritt im Taschenspielerkunststück ist getan, und gerade er schien uns unschuldig.) – Und nun zerfällt der Vergleich, der uns unsere Gedanken hätte begreiflich machen sollen. Wir müssen also den noch unverstandenen Prozess im noch unerforschten Medium leugnen. Und so scheinen wir also die geistigen Vorgänge geleugnet zu haben. Und wollen sie doch natürlich nicht leugnen!“ Einen Vorgang näher kennen zu lernen, darunter verstehen wir in der Regel, ihn vollständig gedanklich zu analysieren, eine Idee zu bekommen, mit der wir den Vorgang erfassen können. Auch Cavell scheint auf dieses Taschenspielerkunststück hereingefallen zu sein, wenn er schreibt: „Kein einzelnes Wort würde diese Idee [des Leidens] vollständig erfassen; oder vielleicht sollte ich sagen, wir haben bis jetzt noch nicht die Grundlage, von der aus wir zwischen den Worten wählen könnten. Das Wort würde unseren Zugang zueinander festhalten müssen, dass wir überhaupt einen solchen Zugang haben.“ (Cavell, 2006, S. 543) Die Sprache soll in diesem Fall gar nicht eine Idee des Leidens erfassen, sie drückt das Leid selbst aus, und das ist unser Zugang zueinander. Cavell spricht aber an anderer Stelle von der „Allegorie der Worte“ (ebenda, S. 566) und meint damit die andere Verwendungsweise von Sprache als Ausdruck der Empfindungen.

Worte und Sätze dürfen nicht von ihrem Urheber, der als lebendiges Wesen immer irgendwie empfindet, getrennt werden, sonst wird es paradox: wenn ich ein Schild mit der Aufschrift »Dieses Schild bitte nicht beachten!« unabhängig von seinem Verfasser lese, ist es für mich nur paradox. Mit seinem Urheber betrachtet, kann es Sinn machen, der Betreffende will vielleicht die Leser foppen, macht sich einen Spaß daraus, andere zu verwirren, oder er will beachtet werden, dass Menschen fragen, von wem dieses Schild sei. Wenn sie die Paradoxie erkannt haben, werden sie allerdings eher fragen, wer denn diesen Blödsinn verzapft habe. Somit kann selbst so ein Schild Ausdruck von Empfindungen sein (Sehnsucht nach Beachtung) und bei anderen Empfindungen wecken (»So ein Blödsinn!«). Wenn das Existenzial der Rede (auch hier sind Urheber und sprachlicher Ausdruck vereint) die Grammatik von der Logik befreien soll, dann muss die Auslegung der gegenseitigen Rede, das Miteinander-Sprechen unsere Befindlichkeit und deren befindliches Verstehen von beiden Seiten her jeweils ausdrücken und auf diese Weise einen Zugang zueinander schaffen, und genau das alles leistet die Auslegung der Rede auch. Da das Existenzial der Rede, in dem die Sprache gründet, Befindlichkeit und Verstehen verbindet im befindlichen Verstehen, überträgt die Sprache nicht nur Gedanken, sondern auch Empfindungen, sodass ihre Grammatik von der Herrschaft der Gedanken-Logik befreit ist und stattdessen auch von einer Psycho-Logik geleitet und begleitet wird. Dann sind Psyche (bzw. Psycho-Logik) und Geist (bzw. Gedanken-Logik) auch im Sprachlichen im Gleichgewicht, und durch Sprache kann auf diese Weise nichts Böses entstehen oder das Getrennt-Sein vertieft werden. Äußerst fatal wird unsere Neigung zu der Annahme, der sprachliche Ausdruck repräsentiere nur unsere Art und Weise, wie wir Gedanken übertragen, wenn z.B. ein vom Vater missbrauchtes Kind zur Mutter kommt, ihr davon erzählt, und die Mutter ihm nicht glaubt und daran herum deutet, was ihr Kind wohl denkt und ihr so vermitteln will. Dann verlieren Mutter und Kind den Zugang zueinander, weil das gegenseitige befindliche Verstehen und damit die Vertrauensbasis gestört sind. Vertrauen kommt von trauen und ist mit dem deutschen Wort „treu“, d.h. zueinander halten, den Zugang zueinander bewahren, und dem englischen „true“ verwandt, was „wahr“ bedeutet. Mit der Störung des Vertrauens kommen Zweifel an der Wahrheit auf, und genau das ist Skeptizismus. Die Neigung zu der Annahme, dass Sprache nur Gedanken übertrage, ist eine Überbetonung des Geistes und Schwächung der Psyche, der so zu wenig Raum in der Sprache und damit im Zwischenmenschlichen gegeben wird. Bei einem Kind, dem die Mutter wie geschildert begegnet, entstehen entweder Zweifel an seinen Fähigkeiten, seine Erfahrungen zu verarbeiten und dann „treu“ und „wahr“ zu schildern, also Zweifel an seinem Geist, oder aber Zweifel an seinen Empfindungen, also an seiner Psyche. Diese unsere Neigung kann zu einem Ungleichgewicht zwischen Geist und Psyche in beiden Richtungen führen bzw. es verstärken. Daher ist sie eine Versuchung, die zu Bösem führen kann, wie oben erwähnt, oder die eine Spaltung bei uns zwischen Geist und Psyche schafft.

Cavell schreibt: „Es geht um das Wissen, dass ein Körper, der Schmerzbenehmen zeigt, der Körper eines lebenden Geschöpfes, eines lebenden Wesens ist.“ (Cavell, 2006, S. 544). Normalerweise legt der Begriff des Wissens abstraktes Denken nahe, und diese Art Wissen lehnen sowohl Wittgenstein als auch Heidegger ab, weil es das eigentliche Wissen, das befindliche Verstehen, von Leben bzw. Dasein verleugnet. „Die Philosophie hat ihre charakteristischen Weisen und ihre eigenen Beweggründe, dieses Wissen zu vermeiden. Und genauso haben Religion und Politik ihre spezifischen Weisen. Aber wie kann man die Verbindung von Körper und Seele bestreiten?“ (ebenda) Der einzige Beweggrund, den ich mir vorstellen kann, ist Machtstreben, das Monopol zu behalten darüber, was gedacht, geglaubt und getan werden soll und darf. Und wenn man die Verbindung von Körper und Seele bestreitet, dann ist dies ein probates Machtmittel nach dem Motto „Teile und herrsche“. Auch Wittgenstein wendet sich mit Entsetzen gegen dieses Machtstreben: „Wie kann ich denn mit der Sprache noch zwischen die Schmerzäußerung und den Schmerz treten wollen?“ (§ 245) Entweder die Mutter glaubt ihrem Kind, oder sie glaubt ihm nicht, versucht aber in jedem Fall nach Möglichkeit zu erkennen, was wirklich geschehen ist. Wenn aber, was leider sehr oft passiert, die Mutter das Kind zu beschwichtigen sucht, dann versucht sie, zwischen Empfindung und Äußerung des Kindes zu kommen und damit die Empfindungen ihres Kindes zu blockieren, und das ist ganz klar eine Manipulation. Natürlich können die Beweggründe der Mutter vielfältig sein, sie hat vielleicht Angst vor ihrem Mann, ist ihm hörig, auf sein Geld angewiesen usw., aber sie handelt auf Kosten des Kindes. Etwas anderes ist es allerdings, wenn die Mutter mehr von ihrem Kind erfahren will, was geschehen ist und was das Geschehene mit ihrem Kind gemacht hat. Dann wird keine Sprache zwischen die Empfindung des Kindes und seine Äußerung hineingezwängt, sondern die Kluft zwischen Mutter und Kind wird mit Sprache überbrückt, bis die Mutter ihr Kind immer echter und unmittelbarer befindlich verstehen kann. Die erste Äußerung des Kindes hat bei der Mutter vielleicht noch zu keinem brauchbaren befindlichen Verstehen geführt. Im Fall eines Missbrauchs ist allerdings von Seiten der Mutter ein großes Fingerspitzengefühl notwendig, denn die Gefahr und die Versuchung, zwischen Empfindung und Äußerung ihres Kindes zu gehen, ist sehr groß, und das ohnehin stark traumatisierte Kind würde auf das geringste Eindringen in seine Seele so verletzt reagieren, dass es sich verschließen würde, und das wäre wirklich sehr schlimm, unter Umständen sogar eine Retraumatisierung. Die Versuchung gründet in unserer Neigung, gedanklich in den anderen eindringen zu wollen, statt ihn bei uns selbst bleibend befindlich zu verstehen (wozu haben wir denn verdammt nochmal unsere Spiegelneuronen, die uns genau das ermöglichen?!). Je besser wir uns selbst befindlich verstehen, desto besser auch einen anderen. Hinter dem Wunsch, in den anderen einzudringen, steht letztlich der Wunsch, uns selbst immer besser zu verstehen, aber es ist ein Trugschluss, dass wir so ein besseres befindliches Verstehen von uns selbst erreichen. Wenn Cavell sich ein Wahrheitsserum ausdenkt, wodurch „jemand darin gehindert wird, eine Rolle in seiner Äußerung zu spielen“ (Cavell, 2006, S. 546), dann demonstriert dies die Stärke dieses Wunsches, zwischen Empfindung und Ausdruck zu kommen, um die ganze Wahrheit über die Seele zu wissen, die Seele vollständig erfassen und interpretieren zu können. Nicht für umsonst aber gibt es zum Schutz gegen einen derartigen Einbruchsversuch in die Seele eines anderen die zwischenmenschliche Kontaktregel „Ich-Botschaften statt Du-Botschaften“, denn jede Du-Botschaft ist eine Interpretation des anderen, die zwischen Empfindung und Ausdruck dringen soll, und stellt damit einen Angriff auf ihn dar. Der Wunsch, in den anderen einzudringen, ist ein Kontaktwunsch, der aber als Angriff gegenüber dem anderen den Kontakt zu ihm zerstört oder zumindest stört. In den anderen einzudringen, ist eine Art und Weise der Kontaktgestaltung, die man mit Heidegger auch einspringend-beherrschend nennen kann, im Gegensatz zu einem Kontakt, der vorspringend-befreiend ist.

Die Benennung von seelischen Prozessen und Zuständen ist keine Beschreibung, sondern ersetzt andere Arten des Ausdrucks, so dass Außenstehende schneller begreifen können, wie es dem Betreffenden geht, gegangen ist oder unter bestimmten Umständen vielleicht gehen wird. Sprache dient eben nicht nur zur Übertragung von Gedanken. Schon im § 244 schreibt Wittgenstein, „der Wortausdruck des Schmerzes ersetzt das Schreien und beschreibt es nicht.“ Wie lernt nun ein Kind diese Art des sprachlichen Ausdrucks? Anfänglich kann es seine Befindlichkeit nur durch Schreien ausdrücken, und seine Mutter errät und findet immer besser heraus, wie es ihrem Kind helfen kann, ein Wohlbefinden zu erreichen (Windeln wechseln, füttern, in den Schlaf wiegen, etwas zum Spielen geben usw.), und wie die Mutter es in Zukunft verhindern kann, dass ihr Kind sich noch einmal so unwohl fühlt. Beide lernen dabei, sich dadurch immer besser aufeinander einzustellen, dass einerseits das Kind verschiedene Arten des Schreiens entwickelt und die Mutter auf bestimmte Weisen des Schreiens gleichermaßen reagiert. Diese Art der Verständigung entwickelt sich kontingent und ist sogar zwischen derselben Mutter und ihren verschiedenen Kindern unterschiedlich. So entwickelt das Kind für seine verschiedenen seelischen Vorgänge und Zustände verschiedene Arten des Ausdrucks, bis es dann jeweils im Rahmen der Sprachentwicklung entsprechende sprachliche Ausdrücke erlernt, damit es nicht nur von der Mutter, sondern auch von anderen verstanden werden kann. Wenn ein anderer Mensch uns gegenüber einen seiner seelischen Vorgänge oder Zustände sprachlich ausdrückt, dann können wir eigentlich nur wissen und lernen (wie anfänglich die Mutter), wie wir unter Umständen diesem Menschen helfen können, sich wohler zu fühlen, wenn es ihm nicht gut geht, und wie diese Befindlichkeit entstanden ist, so dass wir uns in Zukunft besser verhalten können. Das sind vorerst die einzig vernünftigen Schlussfolgerungen, die wir aus diesem allgemeinen Entwicklungsprozess ziehen können: abhelfen und vorbeugen. Fürs erste reicht dies auch vollkommen aus, um immer besser für sich selbst und andere sorgen zu können. Insofern ist auch jede Privatsprache witzlos, und ich denke, genau das meint Wittgenstein mit seinem so genannten Privatsprachenargument. Mit Hilfe einer Privatsprache können wir nicht lernen, besser mit uns selbst umzugehen als mit der normalen Sprache. Im Gegenteil, durch den Austausch mit anderen können wir unter Umständen unsere eigenen Lebensstrategien verbessern, indem wir je nachdem die Praxis der anderen in unserer eigenen Lebenssituation ausprobieren. Die Zwecklosigkeit einer Privatsprache zeigt Wittgenstein zum einen im § 268, wenn seine rechte Hand seiner linken Hand Geld gibt mit Schenkungsurkunde und Quittung und er am Ende fragt: »Nun, und was weiter?«, zum anderen im § 269, wenn er feststellt, dass eine Privatsprache dadurch gekennzeichnet wäre, dass zwar kein anderer sie versteht, ich sie aber nur »zu verstehen scheine«, weil es keine Kriterien dafür geben kann (das Regulativ durch die anderen fehlt), dass ich die Worte meiner Privatsprache richtig verstehe. Im § 271 schließlich heißt es: „das Rad gehört nicht zur Maschine, das man drehen kann, ohne dass Anderes sich mitbewegt.“ Eine Privatsprache kann nichts bewegen, kein anderer versteht sie, und auch ich kann mir nicht sicher sein, ob ich sie richtig verstehe, so dass man sie eigentlich gar nicht Sprache nennen kann.

Die Sprache als Ausdruck der Befindlichkeit besitzt noch eine weitere Bedeutung, die sie unersetzlich macht: Gerade beim Schmerzempfinden stoßen Mediziner immer wieder auf das Problem, dass bei demselben Befund der eine Patient sich vor Schmerzen krümmt, während ein anderer Patient überhaupt nichts spürt. Offensichtlich erleben verschiedene Menschen dieselben Umstände völlig verschieden, d.h. ihre Befindlichkeit kann sich sehr stark unterscheiden. Das gilt zum Beispiel auch für das Empfinden bei der Farbwahrnehmung: Menschen haben verschiedene Lieblingsfarben und bestimmte andere Farben mögen sie überhaupt nicht. Ohne die Sprache könnten wir diese Phänomene gar nicht oder nur sehr schwer verständlich machen oder beim anderen erkennen. Wir können nämlich ohne die Sprache nur sehr schwer und umständlich eine Verneinung ausdrücken (es tut nicht weh), was beispielsweise auch die teilweise sehr komplizierten Begrüßungszeremonien in verschiedenen Kulturen zeigen, mit denen man sich gegenseitig ausdrückt, dass man dem anderen nichts tun will.

Was die Entwicklung des Kindes bezüglich des Ausdrucks seiner Befindlichkeit betrifft, so geht es dabei natürlich nicht nur um den Umgang mit Empfindungen (Abhilfe und Vorbeugung), sondern dadurch, dass die Mutter sich in ihr Kind hinein versetzt und ihm seine Befindlichkeit wiederspiegelt (sie markiert ihren Ausdruck (Fonagy, Gergely, Jurist, & Target, 2008, S. 182 ff.), so dass ihr Kind begreift, dass es sich nicht um den Ausdruck der eigenen Befindlichkeit handelt, sondern um den der Befindlichkeit des Kindes), vermittelt sie ihrem Kind alle möglichen Eigenschaften und Eigenarten der verschiedenen Empfindungen. Auf diese Weise kann das Kind nach und nach die psychologischen Kenntnisse seiner Mutter immer besser lernen und anwenden. Dabei geht es darum, wie und wodurch eine Empfindung entstehen und wo sie herkommen kann (Herkunft), was auf einen zukommen kann, wenn man nichts tut oder bestimmte Möglichkeiten verwirklicht (Zukunft), wo man jetzt mit dieser Empfindung angekommen ist, inwieweit sie einen z.B. fördert oder beeinträchtigt (Ankunft), und was diese Empfindung über die eigene Person, die eigene Wirkung und die eigene Selbstentwicklung aussagt (Auskunft). Weil dadurch alle vier Ekstasen der Prozesshaftigkeit (Kolb, 2011) angesprochen sind, kann dadurch der Seinssinn der Empfindungen bzw. der Befindlichkeit, also der Rahmen, in welchem Empfindungen verständlich werden, vollständig erforscht werden, und mehr kann über Empfindungen nicht erkannt oder gewusst werden. Was die Auskunft über die eigene Selbstentwicklung betrifft, so können wir dabei immer besser befindlich verstehen, welche Gegensätzlichkeiten, Widersprüche und Konflikte wir noch nicht überwunden haben, und zwar auf der Entwicklungsebene des physischen Selbst, inwieweit wir unsere Eigenwüchsigkeit (das ist die Übersetzung des griechischen Wortes Physis), also die Entfaltung unserer Fähigkeiten und Fertigkeiten behindern oder zu stark oder zu schwach fördern, und ob wir uns dabei zu sehr auf etwas in der Welt fixieren, anstatt uns auf unser In-der-Welt-Sein zu besinnen (die Gegensätzlichkeit aktiv-passiv, Eigentlichkeit-Uneigentlichkeit bzw. Selbstbestimmtheit-Fremdbestimmtheit), ferner auf der Ebene des sozialen Selbst, inwieweit wir Konflikte mit anderen lösen können, uns nicht zu sehr einengen lassen, aber auch nicht selber andere einengen und so insgesamt die Widersprüchlichkeit objektiv-subjektiv überwinden, weiterhin auf der Ebene des teleologischen Selbst, inwieweit wir eine gewisse Kontinuität und Sicherheit in unserem Leben aufbauen, ohne aber dabei zwanghaft zu werden, so dass wir offen für Neues bleiben (Überwindung der Gegensätzlichkeit Kontinuität-Diskontinuität), außerdem auf der Ebene des intentionalen Selbst, wie wir mit unseren Sehnsüchten und Bedürfnissen umgehen, wie viel Geduld und Gelassenheit wir aufbringen können und wann wir mutig nach vorne gehen (der Gegensatz linear-zirkulär), und schließlich auf der Ebene des repräsentationalen Selbst, wie wir mit Scham, Schuld und Abscheu umgehen, wie wir urteilen, beurteilen und verurteilen, und wie wir uns und andere im jeweiligen Worumwillen zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten immer echter und unmittelbarer befindlich verstehen, also lieben können und dadurch die Gegensätzlichkeit räumlich-zeitlich überwinden. (Die Zusammenhänge der Gegensätzlichkeiten mit den verschiedenen Entwicklungsstufen des Selbst habe ich in meinen Ausführungen über die Kyôto-Schule (Kolb, 2012) im ersten Kapitel aufgezeigt.)

Wenn die Mutter ihrem Kind seine Empfindungen spiegelt, dann kann das Kind mit dieser Spiegelung deswegen etwas anfangen, weil es dabei den Zusammenhang entdecken kann (Kontingenzentdeckung) zwischen dem, wie seine Mutter sich verhält und den eigenen Empfindungen. Prinzipiell ist jede Art von solchem sozialem Spiegeln attraktiv für das Kind, es gibt dabei aber eine bemerkenswerte Besonderheit, „dass bei einem normalen menschlichen Säugling nach etwa drei Lebensmonaten der Kontingenzentdeckungsmechanismus auf ein anderes Zielsetting »umgeschaltet« wird, so dass er fortan nach hohen, aber unvollkommenen [statt perfekten] Kontingenzgraden sucht.“ (Fonagy, Gergely, Jurist, & Target, 2008, S. 195) Diese Umschaltung interpretiere ich so, dass ein Kind nach etwa drei Monaten anfängt, sich mit seinen Empfindungen auseinanderzusetzen und aktiv seinen eigenen Ausdruck und später bei der Sprachentwicklung auch die eigenen Worte für seine Empfindungen zu finden. Etwas Ähnliches geschah bei einem Zwillingspaar, bei dem der eine Zwilling dem anderen sofort das richtige Wort vorsagte, sobald dieser anfing zu stottern. Erst als der normal sprechende Zwilling konsequent falsche Wörter ergänzte, fand der andere seine eigenen Worte und hörte mit dem Stottern auf. Es geht also nicht um eine Privatsprache, sondern um die eigenen Worte und den eigenen Sprachstil. „Meine Worte sind meine Äußerungen meines Lebens. Auf die Worte anderer reagiere ich als auf ihre Äußerungen, d.h., ich reagiere nicht nur auf das, was ihre Worte bedeuten, sondern auch auf ihre Bedeutung der Worte. Ich nehme an, dass sie etwas mit ihren Worten meinen (»implizieren«) oder dass sie ironisch reden usw. Natürlich können meine Äußerungen und meine Reaktionen nicht zutreffend sein. Sich eine Äußerung vorzustellen (die Bedeutung eines Wortes zu erleben) heißt, sich vorzustellen, dass sie einer Seele Ausdruck verleiht.“ (Cavell, 2006, S. 566) Wenn Cavell fragt: „Gibt es also gar kein Problem mit »meinen Empfindungen« und damit, ob andere sie haben und folglich wissen können?“ (ebenda, S. 567), so muss dies einerseits verneint werden, denn insbesondere im Fall eines traumatisierten Menschen ist es meistens zu schwer für einen anderen, der nie im Leben ein Trauma erlebt hat, entsprechende Empfindungen befindlich zu verstehen. (Diese Problematik zeigt auch den besonderen Wert von Selbsthilfegruppen.) Was andererseits die Einzigartigkeit »meiner Empfindungen« betrifft, so „scheint wahr zu sein: Wichtig an meiner Empfindung ist, dass ich sie habe. Die fragliche Einzigartigkeit verweist nicht auf einen notwendigen Unterschied zwischen meiner Empfindung und deiner […], sondern auf den notwendigen Unterschied, dass ich ich bin und du du bist, auf die Tatsache, dass wir zwei sind“ (ebenda, S. 567 f.).

Wenn wir uns auf die Welt, auf andere oder auf uns selbst beziehen, dann tun wir dies nicht nur durch unsere leiblichen Sinne, sondern vor allem mittels Symbolen, wozu auch insbesondere Worte gehören, also der sprachliche Ausdruck. Indem wir mithilfe von Symbolen die Realität unter gewissen Gesichtspunkten bzw. Aspekten, wie Wittgenstein es nennt (Wittgenstein, 2001, S. 1054 bzw. S. 547 der Originalfassung von 1953, in Zukunft PU 547), darstellen und so unsere eigenen Repräsentationen der Realität kreieren, können wir besser mit allem umgehen. Diese Repräsentationsfähigkeit hängt also davon ab, unter welchen Aspekten wir etwas sehen bzw. wahrnehmen können, welche verschiedenen Perspektiven wir einnehmen können. Damit geht es also um unsere praktische Gestaltungsfähigkeit von Bildern und Vorstellungen der Realität („Der Begriff des Aspekts ist dem Begriff der Vorstellung verwandt“ (ebenda, S. 1058, PU 551)), und darum, wodurch diese Fähigkeit eingeschränkt sein kann, so dass wir zum Beispiel von einer Aspektblindheit, wie Wittgenstein es nennt (ebenda), befallen sind. Wir können aber auch für bestimmte Aspekte übersensibilisiert sein, wie dies insbesondere für traumatisierte Menschen gilt. Wittgenstein nimmt hier den so genannten Hasen-Enten-Kopf (ebenda, S. 1025, PU 519 f.) als Beispiel, ich halte aber das Kipp-Bild für lehrreicher, bei dem einerseits zwei Gesichter im Profil sich anschauen, und bei dem andererseits diese Profil-Linien auch die Seiten eines Kelches sein können. Als ich 1978 Praktikum in der Psychosomatischen Klinik Bad Herrenalb gemacht habe, habe ich es selbst erlebt, wie die meisten Patienten mit depressiven Symptomen nur den Kelch sehen konnten, weshalb er auch der Kelch des Leidens genannt wurde, obwohl sie darauf hingewiesen wurden, dass man auch zwei Gesichter sehen könne, die Begegnung von zwei Menschen. Nur mit viel Anstrengung und Konzentration konnten sie die beiden Gesichter sehen, aber wenn sie kurz wegschauten und dann das Bild wieder ansahen, erkannten sie wieder nur den Kelch. Erst als es den Betreffenden besser ging, konnten sie auch den Aspekt der menschlichen Begegnung in dem Bild für längere Zeit sehen. Dieses Beispiel demonstriert meines Erachtens eindrücklich sowohl das Phänomen der Aspektblindheit als auch das der Aspektfixiertheit, die sich hier beide ergänzen.

Von dieser Perspektive aus betrachtet, bedeutet der Satz „Der menschliche Körper ist das beste Bild der menschlichen Seele“ (ebenda, S. 1002, PU 496), dass der menschliche Körper die Befindlichkeit des Betreffenden ausdrückt. Um ganz allgemein ein anderes Geschöpf zu verstehen, muss ich nach Cavell „die Physiognomie deuten, das Geschöpf gemäß meiner Deutung sehen und es gemäß meines Sehens behandeln“ (Cavell, 2006, S. 568). Ich denke, dass dieser Prozess etwas anders abläuft: durch die sinnliche Wahrnehmung der Physiognomie auf der materiellen Ebene entsteht bei mir ein erster Eindruck, eine erste Beurteilung und Bewertung von der Psyche her; diesen Eindruck muss ich dann vom Geist her befindlich verstehen, um zwischen den verschiedenen Möglichkeiten, unter welcher Perspektive ich auf welche bestimmten Aspekte achten kann, mich zu entscheiden und die Physiognomie erneut mithilfe meiner körperlichen Sinne von der Materie her zu betrachten und mir weitere Eindrücke von der Psyche her so zu verschaffen; wenn ich dann durch stetige Wiederholung dieses Prozesses der Meinung bzw. Ansicht bin, mir ausreichend Eindrücke verschafft und genügend Aspekte betrachtet zu haben, dann habe ich eine entsprechend ausgereifte Einstellung zu ihm bzw. zu seiner Seele und kann dann vom Geist her unter den verschiedenen Möglichkeiten, wie ich das betreffende Geschöpf behandeln kann, etwas auswählen und auf der materiellen Ebene entsprechend verwirklichen. Wenn dieses Geschöpf ein Mensch ist und wir uns sprachlich austauschen können, dann wird der ganze Prozess deutlich komplexer, denn nun ist es nicht nur die Physiognomie sondern auch der sprachliche Ausdruck der uns gegenseitig beeindruckt und dadurch auch den weiteren sprachlichen Ausdruck beeinflusst. Natürlich findet auch im oben beschriebenen Prozess eine wechselseitige Beeinflussung statt, denn je nachdem wie ich den anderen betrachte, kann er ja auch seinen körperlichen Ausdruck, die Physiognomie als Reaktion auf meine Betrachtungsweise verändern, so dass ich neue und andere Eindrücke bekomme. Psychologische Untersuchungen haben aber gezeigt, dass die ersten Eindrücke deutlich schwerer wiegen als die letzten, und dass wir dazu neigen, uns ein möglichst einfaches Bild vom anderen zu machen. Einerseits ist uns diese Tendenz nicht unbedingt klar, andererseits bestehen die ersten Eindrücke meistens aus Übertragungen von früheren Erfahrungen auf die jetzige Situation bzw. auf den anderen, und auch das wird von uns meistens nicht erkannt, so dass ich, wenn ich nach einer Begründung für meine Überzeugung bzw. mein »Wissen«, wie der andere ist, gefragt werde, ehrlicherweise antworten muss: „Ich weiß nicht, wieso ich es weiß.“ Aber selbst wenn ich selbstkritisch genug bin und es mir nicht zu einfach mache, und wenn ich mir auch meiner Übertragung bewusst bin und sie so gut wie möglich überprüfe, selbst wenn ich mich also durch ausreichende Evidenz davon überzeugt habe, „dass Einer sich in dem und dem Seelenzustand befinde, dass er z.B. sich nicht verstelle [, …] es gibt hier auch »unwägbare« Evidenz.“ (Wittgenstein, 2001, S. 1085, PU 575) Und selbst wenn es eine »wägbare« Evidenz ist, kann ich gänzlich unfähig sein, irgendetwas dazu zu sagen (frei nach ebenda, S. 1086, PU 576).

Auch wenn ich dazu in der Lage bin, meine Überzeugungen zu begründen, kann es etwas geben, was mich davon zurückhält. Cavell führt beispielsweise an: „Es gibt einfach Dinge, von denen ich gerne möchte, dass du sie weißt, die ich dir aber nicht erzählen möchte (vielleicht bestimmte Wünsche oder Bedürfnisse von mir). Man könnte sagen: Ich möchte, dass du es wissen möchtest, und zwar in einem bestimmten Geist, nicht etwa nur aus Neugier. Ein solcher Wunsch geht in Thoreaus Auffassung von Freundschaft ein. Es ist ein Wunsch, der übertrieben werden kann.“ (Cavell, 2006, S. 572) Es kann auch Schamhaftigkeit oder Schüchternheit dahinter stecken: „Meine Fehleinschätzungen der eigenen Person [aber auch andere Fehleinschätzungen] sagen über mich genauso viel aus wie meine richtigen Einschätzungen“ (ebenda, S. 573). Ich denke, insgesamt steckt der Wunsch dahinter, möglichst echt und unmittelbar verstanden, also geliebt zu werden. Es sollte zumindest erkannt und anerkannt werden, dass ich ein Individuum bin, unteilbar und eine Einheit, versehen mit der menschlichen Würde, außerdem, dass ich etwas Besonderes und Einzigartiges bin mit spezifischen Fähigkeiten und Fertigkeiten, und weiterhin, dass ich dazu gehöre, Mitglied eurer Gemeinschaft bin mit denselben Rechten und Pflichten wie alle anderen auch. Insofern sind meine Empfindungen bzw. meine Befindlichkeit oder der seelische Aspekt von mir etwas Individuelles, also allein zu mir gehörig, meine Empfindungen sind die Meinigen und charakterisieren mich, sie sind aber auch allgemein und können mit anderen geteilt werden. An dieser Stelle muss ich daher Cavell ergänzen, wenn er schreibt: „Die Seele ist unpersönlich“ (ebenda, S. 575): der körperliche, der seelische und der geistige Aspekt von mir bzw. Körper, Seele und Geist sind sowohl persönlich (subjektiv, individuell und einzigartig) als auch unpersönlich (objektiv, generell). Auf der materiellen Ebene unseres Körpers ist dies besonders einsichtig, denn wir bestehen alle aus denselben Atomen und Molekülen, aber die jeweilige Zusammensetzung ist sehr spezifisch und sie lässt sich am lebendigen, individuellen Leib nicht einfach so aus Neugier sezieren, das verbietet zumindest die Würde des Menschen und kann den Leib bzw. den Menschen töten oder schwer verletzen.

Weil jede menschliche Äußerung, insbesondere jede sprachliche, nicht nur eine Übertragung von Gedanken, sondern auch Ausdruck von Empfindungen sein kann, müssen sie und die menschliche Gestalt bzw. Physiognomie gedeutet werden. Was sich dadurch jeweils ausdrückt, kann die Mitteilung einer Behauptung, ein Kommentar, der Ausdruck einer Empfindung sein, und insbesondere kann dadurch etwas absichtlich ausgedrückt bzw. etwas gemeint sein, oder dies geschieht unabsichtlich bzw. unwillkürlich, wobei dem Betreffenden dies klar sein kann oder auch nicht. Jemand kann auch etwas Bestimmtes meinen und dabei unabsichtlich etwas anderes ausdrücken wie die schwangere Frau vor der Geburt, als sie ihren Schmerz meinte und wahrscheinlich unabsichtlich ihre Angst und Unsicherheit ausgedrückt hat. Alles das ist natürlich immer jeweils meine Deutung, und dabei kommt es auf meine Gestaltungsfähigkeit an, auf meine Perspektive und darauf, auf welche Aspekte ich achte und auf welche nicht. Wenn ich nun etwas äußere und ich selbst oder ein anderer dies als Ausdruck meiner Befindlichkeit bzw. meiner Seele deutet und dies entsprechend sprachlich ausdrückt, so kann seine oder meine Ausdrucksweise dieser Deutung natürlich nur metaphorisch sein, das heißt Empfindungen, die Befindlichkeit und die Seele können nur beschrieben und ausgedrückt werden durch Symbole, Metaphern und Mythen, wobei für mich Symbole wie Worte, Metaphern wie Ausdrücke und Mythen wie Redewendungen, Sätze oder Geschichten sind, die in diesem Fall einen oder mehrere seelische Prozesse oder Zustände beschreiben und deuten. Symbole, Metaphern und Mythen sind die hauptsächlichen Bestandteile von Märchen, die außerdem noch dadurch charakterisiert sind, dass sie eine teils pädagogische, teils psychotherapeutische Absicht verfolgen.

Eine weit verbreitete und häufig vorkommende Kategorie von Mythen über Empfindungen, Gefühle oder das Seelische sind die so genannten Mond-Mythen. Derartige Mythen haben alle ein ähnliches Motiv, von dem sie erzählen: es geht um Entstehen und Vergehen, Kommen und Gehen, Trennung und Vereinigung, so wie der Mond ab- und zunehmend sich am Himmel bewegt und sich einmal mit der Sonne vereinigt, dabei vergeht, sich wieder trennt und dabei neu entsteht, und um Verdunklung und Gefahr, Reinigung und neue Klarheit und Freiheit durch Feuer wie beim Phönix aus der Asche, durch Wasser wie bei der Jungfrau im Bade oder durch Wind wie bei Pegasus, dem geflügelten Pferd, welches einen pfeilschnell aus allen dunklen Gefahren in strahlende Höhen bringt. Nicht nur Feuer, Wasser und Luft, auch das vierte Element Erde kann in Mond-Mythen eine Rolle spielen, wenn etwa der Berg, hinter dem sich der Mond versteckt, in sieben Tagen (so lange dauert eine Mondphase) abgetragen wird bzw. abgetragen werden muss. Alle diese Erzählungen, die einerseits Deutungen der verschiedenen Mond-Phänomene sind, beschreiben und deuten andererseits auch Prozesse, wie sie bei Empfindungen bzw. im Seelischen vorkommen können. Sehr schön, wie ich finde, verarbeitet sind diese und noch weitere Mond-Mythen im Märchen Nr. 57 aus der Grimmschen Sammlung, das ist das Märchen »Der goldene Vogel«, welches von Drewermann tiefenpsychologisch gedeutet wurde (Drewermann & Neuhaus, 1993) als die Geschichte eines Mannes in mittleren Jahren, der erkennt, dass er bisher zwar in seinen Beziehungen zur Außenwelt recht erfolgreich gewesen ist, dabei aber sein Seelenleben vernachlässigt hat und nun unter vielen Irrungen und Wirrungen lernt, damit umzugehen und glücklich zu werden. In dem Märchen stehen sich sozusagen Geist und Psyche gegenüber, der Geist verkörpert durch das logische und verstandesmäßige Handeln des Protagonisten und die Psyche durch den schlauen Fuchs, der eine Ähnlichkeit mit dem ägyptischen Schakalgott Anubis besitzt, und der sich am Ende des Märchens in einen Menschen verwandelt, das heißt die Psyche wird vermenschlicht. Damit werden dann Geist und Psyche als gleichwertig nebeneinander gestellt, was auch meiner Analyse entspricht, dass Böses entsteht, wenn dem nicht so ist. Wie ist es denn nun überhaupt zu verstehen, dass wir Menschen so komplexe und komplizierte Ausdrucksweisen benutzen, um etwas über unser Wesen auszudrücken? Anscheinend reicht unsere normale Sprache des Alltags in dieser Hinsicht nicht aus. Um zu verstehen, was es mit Märchen und Mythen auf sich hat, geht es darum, den Rahmen abzustecken, in dem uns das Sein solcher Erzählungen verständlich wird, das heißt es betrifft den Sinn ihrer Existenz. Es geht also zum einen um deren Herkunft, wie sie überhaupt entstanden sind und was Menschen dazu motiviert hat, sie zu erfinden und zu erzählen, es geht um deren Zukunft, was für Möglichkeiten sich uns mit ihnen eröffnen, die noch auf uns zukommen können, es geht darum, worauf es dabei ankommt (Ankunft) und woran wir heute mit ihnen sind in Abhängigkeit von ihren Entstehungsbedingungen und Zukunftsmöglichkeiten, und schließlich geht es um deren Auskunft, was uns die Existenz von Mythen und Märchen über uns selbst als Menschen sagt.

Im Vorwort schreibt Drewermann, „obwohl ursprünglich an Erwachsene gerichtet, sind Märchen, diese Überreste aus den Kindertagen der Menschheit, dem Verständnis von Kindern eigentümlich verwandt“ (ebenda, S. 5). Das liegt daran, dass Kinder „die »psychische Realität« in zwei verschiedenen Modi repräsentieren, die wir als Modus der »psychischen Äquivalenz« beziehungsweise als „Als-ob«-Modus bezeichnen“ (Fonagy, Gergely, Jurist, & Target, 2008, S. 258), und Märchen und Mythen entsprechen eindeutig dem „Als-ob«-Modus, und werden von Kindern auch so verstanden. Dabei ist es für Kinder wichtig, dass solche Erzählungen nicht zu nah an der Realität sind, sonst bekommen sie Angst. Im Schutz des „Als-ob«-Modus kann ein Kind nämlich „zum Beispiel die Beziehung zwischen seinen Eltern oder die imaginierten Konsequenzen des Ausagierens gefährlicher Wünsche“ (ebenda, S. 267) im Spiel als „ein verkleidetes Stück »ernster« Realität“ (ebenda) zum Ausdruck bringen. Märchen und Mythen sind also schon sehr früh in der Menschheitsgeschichte erfunden und erzählt worden und waren ursprünglich ein spielerisches Umgehen mit der Realität, der man sich teilweise auch hilflos ausgeliefert fühlte. Sie machten Mut und gaben auch Anleitung, wie man mit der Realität umgehen kann. So viel zur Herkunft von Märchen und Mythen. Die Möglichkeiten, die sie uns eröffnen, liegen nun darin, dass unsere Befindlichkeit, unser seelischer Zustand reguliert und harmonisiert wird und unser Horizont sich dadurch öffnen kann, so dass wir bestimmte Erfahrungen besser verarbeiten können und so zu mehr Kreativität angeregt werden (Stichwort Träumen). Zum Teil gibt es Anleitungen zum Handeln in den Märchen, die auch heute noch aktuell sind. Worauf es bei Märchen und Mythen ankommt und woran wir heute mit ihnen sind, liegt in Folgendem: Durch die zum Teil rhythmischen Wiederholungen von Worten und Reimen wird die Aufmerksamkeit des Zuhörers geweckt, und ihre Mitteilungen werden immer besser befindlich verständlich, so dass ein Zuhörer sich an manchen Stellen immer mehr freut und lacht. Die Situation bleibt aufgrund einer gewissen Distanz zum Geschehen leicht und unbeschwert, auch wenn traurige oder grausige Dinge passieren. Obwohl Situationen bedrohlich sein können, bleibt der Zuhörer emotional geschützt, wenn die Erzählung an besonders eindrücklichen Stellen z.B. auf die Weise der rhythmischen Wiederholung damit umgeht. Der Erzähler macht sich teilweise kindlicher, als er ist, und durch die Lösung im positiven Ausgang der Erzählung vermittelt er Hoffnung. Die rhythmischen Wiederholungen haben nicht nur etwas Befreiendes, sondern auch etwas Großartiges und Erhebendes. Im Märchen kann die Welt dem Zuhörer nicht nur nicht schaden, die entsprechenden Wiederholungen ähnlicher Motive (meistens dreimal) zeigen ihm, dass die Welt ihm auch Anlass zu Lustgewinn bietet (aller guten Dinge sind drei). Die empfundene Gefahr wird durch den Handlungsaufbau des Märchens gewollt inszeniert und für den Zuhörer manchmal überraschend umspielt. Insgesamt vertieft dieses Spielen die Gemeinschaft der Zuhörer und die des Erzählers mit ihnen. Die Erzählung zeigt uns Menschen unsere Schwächen und Stärken, Unzulänglichkeiten und Möglichkeiten, und wie man damit praktisch umgehen und diese Gegensätze verbinden kann.

Eine meines Erachtens ganz wichtige Eigenart von Märchen und Mythen ist die, dass gerade aufgrund der Komplexität und Kompliziertheit und der häufigen Wiederholungen sich die Aussagen und die Moral besonders stark – und man kann durchaus schon sagen in hypnotischer Art und Weise – in unserem Gedächtnis verankern. Man weiß zum Beispiel von Gedächtniskünstlern, dass sie sich in ihrer Wohnung mehrere Stellen genau einprägen und dort in ihrer Vorstellung bestimmte Gegenstände ablegen, um diese Stellen sich möglichst differenziert ins Gedächtnis rufen zu können. Wenn sie sich dann bestimmte Dinge merken wollen, dann legen sie sie an diesen Stellen bildlich gesprochen ab, und haben sie dann in exakter Reihenfolge im Gedächtnis. Erhöhte Komplexität, wenn wir sie uns einmal antrainiert haben, erhöht unsere Gedächtnisleistung also enorm. Genauso ist es auch mit den Märchen und Mythen, je ausführlicher die Geschichte, je mehr Wiederholungen und Reime, desto besser können wir sie uns merken. Die Botschaften des Märchens »Der goldene Vogel«, dass es nicht nur um den äußeren Erfolg im Leben geht, sondern auch um die emotionale bzw. seelische Zufriedenheit, und dass das Vernünftige nicht unbedingt immer das Richtige sein muss, bleiben dadurch ganz tief in unserem Gedächtnis verankert. Auch dass wir uns die Bedeutung von Märchen teilweise recht mühsam erarbeiten müssen aufgrund gewisser Widersprüchlichkeiten, fördert diese die Verankerung im Gedächtnis, denn je länger wir uns mit etwas befassen, desto öfter und eher erinnern wir uns daran, denn unsere Gedächtnisfähigkeit hängt von der Zeit und der Häufigkeit ab, mit der wir uns mit dem jeweiligen Gedächtnisinhalt beschäftigen. Dass Märchen und Mythen auch heute immer noch aktuell sind und nichts von ihrer einstigen Faszination verloren haben, zeigt sich in ihrer Beliebtheit, während die Brisanz ihrer Inhalte meist erst in den entsprechenden Interpretationen sichtbar wird. Wenn wir zum Schluss noch fragen, was es uns sagt, dass wir Menschen auch heute noch fasziniert sind von Märchen und Mythen, so ist dies zum Teil schon durch das Vorangegangene beantwortet, und ich kann dem Ganzen nur noch hinzufügen, dass diese Faszination uns zeigt, wie groß unsere Sehnsucht nach echtem und unmittelbarem Verständnis, also nach Liebe ist, denn um dieses Thema geht es mehr oder weniger immer wieder in diesen Erzählungen, und insbesondere durch ihre Irrationalität, die sich nur durch eine entsprechende Interpretation auflösen lässt, wird uns der generelle Hinweis von Märchen und Mythen gegeben, dass wir uns, wenn wir die Liebe erreichen wollen, nicht ausschließlich auf unseren Verstand, unseren Geist verlassen dürfen, sondern unserer Psyche dieselbe Wichtigkeit geben sollten. So wie es für ein kleines Kind ein wichtiges Entwicklungsziel ist, den Modus der »psychischen Äquivalenz« mit dem „Als-ob«-Modus zu integrieren, so ist es für uns Erwachsene wichtig, dass Psyche und Geist ein ausbalanciertes Verhältnis zueinander haben, damit wir uns in Richtung Liebe entwickeln.

Am Beispiel des Märchens lässt sich demonstrieren, dass jemand etwas erzählen kann und damit etwas meint, was ich nicht verstehe, und trotzdem fasziniert es mich, und mein Handeln und Denken wird dadurch beeinflusst, ohne dass mir dieser Umstand bewusst wird. Ich bin auf einmal mutiger und offener, mache etwas »Verrücktes«, was ich mich sonst nie getraut hätte, und es stellt sich heraus, dass es genau richtig war. Es gibt auch den umgekehrten Fall, den ich als Psychotherapeut schon öfter erlebt habe, dass ich zu einem Patienten etwas gesagt habe, irgend eine dahingeworfene Bemerkung, womit ich gar nichts Besonderes gemeint habe, für ihn aber war es der Schlüssel, womit er ein wichtiges Problem für sich lösen und eine wichtige Entscheidung für sein Leben treffen konnte. Die Sache mit dem Seelischen scheint immer verwirrender zu werden. Auf der einen Seite sind wir manchmal derart getrennt voneinander, jeder scheint nur noch auf seiner privaten Insel zu leben, und dann öffnen sich Grenzen, ohne dass wir etwas davon merken, und wir erleben eine Verbundenheit wie im Märchen. Manchmal können wir es uns erklären, aber manchmal sind wir auch gänzlich unfähig, irgendetwas dazu zu sagen. Vielleicht blitzt hier so etwas wie ein echtes und unmittelbares Verstehen auf, so dass mir nur noch das Zitat aus der Zauberflöte einfällt: „Die Liebe ist eine Himmelsmacht.“

Cavell betrachtet nun nochmals Wittgensteins Mythos »Der menschliche Körper ist das beste Bild der menschlichen Seele« und stellt ihm den Mythos vom Körper als Schleier vor Seele und Geist gegenüber. Cavell fasst Wittgensteins Position folgendermaßen zusammen: „Nicht der Körper des anderen verstellt meinen Blick auf den anderen, sondern meine Unfähigkeit oder fehlende Bereitschaft, ihn richtig zu interpretieren oder zu beurteilen, die richtige Verbindung herzustellen. Behauptet wird: Ich leide unter einer Art Blindheit, aber ich entziehe mich dem Problem, indem ich die Dunkelheit auf den anderen projiziere.“ (Cavell, 2006, S. 586) Wittgenstein führt hier das Thema der Aspekte ein und bezeichnet diese Blindheit als Aspektblindheit, eine Fixiertheit, in der man „eine Art Analphabetentum […], einen Mangel an Bildung“ (ebenda) sehen kann. Ein Aspekt „ist nicht eine Eigenschaft des Objekts, es ist eine interne Relation zwischen ihm und anderen Objekten“ (Wittgenstein, 2001, S. 1056, PU 549), die ich aus der einen Perspektive, aus der einen Art und Weise, wie ich die verschiedenen Objekte anordne, wie und als was ich sie ansehe, erkennen kann und aus der anderen nicht. Wenn eine Mutter die Not ihres missbrauchten Kindes nicht sieht und dafür blind ist, und sich dem Problem dadurch entzieht, dass sie ihr Kind nicht ernst nimmt, für dumm und unwissend hält, annimmt, dass es lügt, oder sonst etwas auf es projiziert, dann ist sie entweder unfähig oder ihr fehlt die Bereitschaft, ihr Kind richtig zu verstehen. Sie ist vielleicht darauf fixiert, dass ihre Welt sich nicht verändern darf, und ihr Kind stellt daher eine entsprechende Störung für sie dar, die sie entweder schlicht ignoriert oder noch schlimmer bekämpft. Am Beispiel des Kipp-Bildes vom Hasen-Enten-Kopf zeigt sich: „Ein Aspekt verbirgt einen anderen Aspekt, also etwas auf derselben Ebene. Daher können wir sagen: Das, was den Geist verbirgt, ist nicht der Körper, sondern der Geist selbst – seiner den seinigen oder meiner den seinigen und umgekehrt“ (Cavell, 2006, S. 587).

Das von mir erwähnte Kipp-Bild vom Kelch des Leidens und den sich gegenseitig anschauenden Gesichtern im Profil zeigt dasselbe für die Psyche bzw. die Seele: Wenn ich für gewisse Empfindungen meiner Seele unempfindlich bin, weil ich auf andere (zum Beispiel meine Niedergeschlagenheit) fixiert bin, dann sind mir bestimmte Aspekte der Äußerungen oder des Ausdrucks (das Sich-Anschauen der beiden Gesichter im Profil) nicht erkennbar und somit bestimmte Empfindungen (Freude an der Begegnung) nicht vorstellbar. Wenn ich auf bestimmte Empfindungen fixiert bin, dann sind mein Geist und mein Handeln und damit auch mein körperlicher Ausdruck eingeschränkt, und die sinnliche Wahrnehmung meines Körpers macht einen derartigen Eindruck auf meine Seele, führt also zu entsprechenden Werturteilen der Psyche, so dass ich mir bestimmte Empfindungen und damit bestimmte seelische Bereiche bei anderen oder bei mir nicht mehr vorstellen kann. Insofern ist also mein Körper an der Verschleierung beteiligt, aber ursprünglich geht sie von der Seele selbst aus. Entsprechendes gilt auch für den Geist: wenn ich auf bestimmte Aspekte und damit auf bestimmte Möglichkeiten meines Seinkönnens fixiert bin, dann sind mein Handeln und mein körperlicher Ausdruck eingeschränkt, was wiederum meine seelischen Eindrücke und Empfindungen beschränkt und dadurch dem Geist nur bestimmte Probleme zum Lösen weitergibt, so dass dieser auf bestimmte Aspekte fixiert bleibt und alle anderen Bereiche ausgeblendet sind. Auch hier ist der Körper an der Verschleierung beteiligt, ursprünglich aber geht sie vom Geist selbst aus. Wenn wir jeweils nur unsere körperlichen Aspekte als Grund der Verschleierung betrachten, wenn wir also glauben, unser Wissen sei dadurch beschränkt, dass wir durch unseren Körper von allem zu sehr getrennt sind, oder wenn wir bei psychischen Störungen von Arzt zu Arzt rennen, weil wir glauben, wir hätten nur eine rein körperliche Erkrankung, dann geben wir die Verantwortung ab und machen uns zum Opfer unseres Körpers. Wir sind „für alles, was zwischen uns tritt, verantwortlich; wenn nicht dafür, es verursacht zu haben, so doch dafür, es fortzusetzen; wenn nicht dafür, es zu leugnen, dann doch dafür, es zu bejahen; wenn nicht dafür verantwortlich, dann doch dem gegenüber verantwortlich“ (ebenda, S. 588). Mit anderen Worten: Es ist keine Schande, getrennt zu sein, aber es ist eine Schande, nichts dagegen zu tun. (In abgewandelter Form war dies ein Ausspruch in der Psychosomatischen Klinik Bad Herrenalb, den ich dort während meines Praktikums 1978 gehört habe: „Es ist keine Schande krank zu sein, aber es ist eine Schande, nichts dagegen zu tun.“) Auf dieselbe Art, wie wir von anderen getrennt sind, können wir auch von uns selbst getrennt sein.

Wir haben nun mithilfe von Wittgenstein drei verschiedene Arten aufgezeigt, wie wir uns ausbremsen und die Verantwortung dafür abgeben können, unser Getrennt-Sein zu überwinden. Da ist zum einen die Annahme bzw. die Unterstellung, dass der Körper, statt das beste Bild der Seele zu sein, ein Schleier oder ein Hindernis ist, den anderen oder sich selbst zu erreichen. Dieses Urteil fällen wir als psychisches Subjekt, es ist ein Vorurteil, das uns entmutigt und die Motivation nimmt, über unser Getrennt-Sein hinwegzukommen. Das zweite ist die Vorstellung, es könnte so etwas wie eine Privatsprache geben. Dahinter steckt die geistige Idee, dass wir etwas Besonderes sind, etwas Exklusives, weswegen wir nach Möglichkeiten des Seinkönnens suchen, wie wir andere ausschließen und von uns fernhalten können. Dahinter steht der Entschluss, uns abzusondern oder getrennt zu bleiben, den wir als geistiges Subjekt treffen. Als drittes fungiert die Aspektblindheit, das ist ein Zustand der Unfähigkeit (Schwäche) oder der Weigerung, eine andere Perspektive einzunehmen, wodurch wir bestimmte Aspekte sehen könnten, für die wir in der momentanen Perspektive blind sind. Die Aspektblindheit betrifft also unser Handeln als körperlich tätiges bzw. als materielles Subjekt. Sie umfasst damit zwei Phänomene, die aktive Weigerung, die Perspektive zu ändern und dadurch andere Aspekte zu sehen, was man auch als Verblendung oder Versessenheit bezeichnen kann, und eine Willensschwäche, die Perspektive zu ändern, und damit eine psychische Störung, weil Mut und Motivation fehlen (der Wille bekommt seine Kraft durch eine entsprechende Ergriffenheit, also aus dem Psychischen, und seine Richtung aus der Erwartung, also vom Geistigen), was man dann eigentliche Aspektblindheit nennen kann. Wenn irgendein Vorurteil uns den Mut und die Motivation nimmt, unser Getrennt-Sein zu überwinden, dann suchen wir auch nicht nach entsprechenden Möglichkeiten, und haben daher auch weder Mut noch Motivation für irgendeinen Perspektivenwechsel, so dass wir aspektblind im eigentlichen Sinne sind. Dies würde ich als neurotischen Zug bezeichnen. Wenn wir dagegen den Entschluss getroffen haben, andere auszuschließen und von uns fernzuhalten, dann weigern wir uns, unsere Perspektive zu wechseln, und sind somit verblendet und versessen. Dieser Zustand hat etwas Wahnhaftes und damit Psychotisches an sich. Ich finde, Wittgensteins Philosophische Untersuchungen haben sehr viele Ergebnisse gebracht, aber leider lebte er nicht lange genug, um diese Ergebnisse zu ordnen und entsprechende Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Er hatte wohl auch noch kein passendes Ordnungsschema gefunden. Vielleicht wollte er aber auch keines verwenden, um die Freiheit der Grammatik von der Logik zu demonstrieren. Im Unterschied zu Cavell, der als Hauptthema von Wittgensteins Untersuchungen „das richtige Verhältnis von Innen und Außen, zwischen der Seele und ihrer Gesellschaft“ (ebenda, S. 527), zwischen öffentlich und privat ansieht, denke ich, dass sein Hauptthema der Gegensatz zwischen den erstaunlichen zwischenmenschlichen Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen, wie sie sich in der menschlichen Sprache und deren Grammatik aufzeigen lassen, und den starken Tendenzen hin zum Getrennt-Sein ist, die sich in der Aspektblindheit, der Vorstellung einer Privatsprache und der Ablehnung der Vorstellung, dass der Körper das beste Bild der Seele sei, offenbaren. Dies entspricht auch der von mir aufgezeigten Oszillation der Entwicklung des Daseins von der Liebe weg und zu ihr hin (Kolb, 2011).

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass wir unser Getrennt-Sein voneinander nur dann überwinden können, wenn wir auf der psychischen Ebene uns von allen Vorurteilen befreien, die uns den Mut zu lieben nehmen, auf der geistigen Ebene alle Ideen von Exklusivität bescheiden aufgeben und auf der materiellen bzw. praktischen Handlungsebene immer wieder die Perspektive des anderen einnehmen. Auch wenn diese Ausführungen zum Thema Getrennt-Sein recht abstrakt sind, so bekommen sie doch eine enorme Brisanz, wenn man sie im Alltag konkret anwendet. Cavell greift dazu das Thema Sklaverei und Rassentrennung auf und zeigt, dass ein Sklavenhalter seine Sklaven durchaus als Menschen sehen kann, er betrachtet sie aber nicht als Seinesgleichen, er schließt sie also aus und weigert sich, eine andere Perspektive einzunehmen, die ihm sichtbar machen würde, dass alle Menschen gleich sind. Es ist also eine wahnhafte, den anderen ausschließende Verblendung oder Versessenheit. Wenn man einen Menschen als Menschen sieht, dann sollte man keinen Aspekt der Menschlichkeit ausschließen. Entsprechendes gilt auch für die Kindererziehung: Kinder sind genauso Menschen und sollten mit demselben Respekt behandelt werden wie Erwachsene, d.h. insbesondere dass sie genauso wenig wie Erwachsene körperlich oder seelisch gedemütigt, beleidigt oder schlecht gemacht werden sollten. Damit ist keine Form von körperlicher Züchtigung oder seelischer Verletzung vertretbar und auch als Erziehungsmaßnahme nicht zu rechtfertigen. Früher hat man diesen Aspekt nicht beachtet, weil die meisten Eltern entweder nicht in der Lage waren oder sich geweigert haben bzw. von niemandem auf die Idee gebracht wurden und auch nicht von alleine darauf gekommen sind, immer wieder auch die Perspektive eines Kindes einzunehmen. Außerdem herrschten bestimmte Vorurteile vor wie zum Beispiel, dass jedes Kind am Anfang seines Lebens noch vom Teufel beherrscht werde, dass es als Verbrecher zur Welt komme, dass Schläge und Beschimpfungen dem Kind nichts ausmachten, weil es das sowieso schnell vergessen würde, und dass so etwas noch nie jemandem geschadet habe, schließlich sei aus allen ja etwas geworden. Deswegen wurden auch Misshandlungen und sexueller Missbrauch von Kindern in früheren Zeiten nicht ernst genommen. Kinder wurden auch systematisch aus dem Leben der Erwachsenen ausgeschlossen mit Sprüchen wie „Wenn Erwachsene reden, haben Kinder zu schweigen“ oder „Quod licet Jovi, non licet bovi“, d.h. „Was dem Jupiter erlaubt ist, ist dem Ochsen nicht erlaubt“, als ob die Erwachsenen Götter und Kinder nur Tiere wären. So gab es also Kindern gegenüber schlimme Vorurteile, Erwachsene grenzten sich überheblich von ihnen ab und weigerten sich oder waren unfähig, die Perspektive von Kindern einzunehmen. In der Philosophie war man früher bemüht, den Menschen als etwas Besonderes zu betrachten und ihn gegenüber anderen Lebewesen abzugrenzen, und dies führte dazu, dass lange Zeit das Denken als der wesentliche Unterschied zwischen Mensch und Tier im Vordergrund stand und dass man Sprache nur unter dem Aspekt verstand, dass dadurch Gedanken übertragen werden. Dieser Haltung fiel schließlich auch der Philosoph selbst zum Opfer, indem skeptische Äußerungen von ihm nicht auch als Ausdruck seiner Empfindungen verstanden wurden, so dass er von anderen Menschen getrennt war und ihm sogar der Zugang zu sich selbst auf diese Weise blockiert war. Daher ist die Abgrenzung des Menschen gegenüber anderen Lebewesen äußerst kritisch zu betrachten, d.h. wir sollten nicht aspektblind sein gegenüber dem, was uns mit anderen Lebewesen verbindet, was uns allen gemeinsam ist. Was wir in Bezug auf Tier- und Umweltschutz schon unternommen haben, sind in dieser Hinsicht wichtige Schritte in die richtige Richtung, obwohl es hier sicherlich noch viel zu tun gibt.

Selbstfindung durch Überwindung der Gegensätzlichkeiten konkurrierender Aspekte

[Bearbeiten]

Wenn wir noch einmal den Hasen-Enten-Kopf (Wittgenstein, 2001, S. 1025, PU 519) betrachten, und jemand sagt »dies ist eine Ente«, dann ist das „weder wahr noch falsch, es ist keine Tatsache.“ Aber es „scheint die Tatsache die zu sein, dass »dies ist eine Ente« für ihn wahr ist. »Wahr für ihn« fordert jedoch anscheinend den Gegensatz »wahr für mich« heraus. Aber die Tatsache scheint nicht die zu sein, dass »dies ist eine Hasenente« für mich wahr ist. Dass es eine Hasenente ist, ist einfach der Tatbestand.“ (Cavell, 2006, S. 601) Bei verschiedenen miteinander konkurrierenden Aspekten wie in diesem Fall ist der Tatbestand einfach der, dass es verschiedene Sichtweisen gibt, die auch ganz gegensätzlich sein und sich gegenseitig verbergen können wie zum Beispiel die beiden Sichtweisen, dass Menschen fremdbestimmt und dass sie selbstbestimmt sind. Bei der Hasenente verbirgt der dargestellte Aspekt des Sprechens (Entenschnabel) den des Hörens (Hasenohren) und umgekehrt, und dieser Gegensatz kann durch beredtes Zuhören und zuhörendes Reden überwunden werden. Wird er nicht überwunden, dann sind Hören und Reden einander entfremdet. Tatbestand bedeutet, dass wir uns auf der Ebene der körperlichen Handlung, nämlich des Sehens und/oder Hörens z.B., also auf der Ebene der Materie befinden, nach Tanabe also auf der Ebene der Selbstentfremdung des Absoluten Nichts (Tanabe, 2011) bzw. der Liebe (Kolb, 2012).

Ich behaupte nun, dass wir Menschen uns selbst und damit auch den anderen genau dann finden können, wenn wir die Gegensätzlichkeit bestimmter konkurrierender bzw. sich gegenseitig verbergender Aspekte unseres Selbst überwinden (siehe ebenda, 1. und 2. Kapitel). Unser Selbst konstituiert sich auf den Entwicklungsebenen des physischen Selbst, des sozialen Selbst, des teleologischen Selbst, des intentionalen Selbst, des repräsentationalen Selbst und des geschlechtlichen Selbst (ebenda). Die verschiedenen je Entwicklungsebene zentralen konkurrierenden Aspekte unseres Selbst sind der Aspekt der Eigenaktivität im Gegensatz zu dem des passiven Beobachtens und Aufnehmens eines Geschehens in unserer angrenzenden Umwelt, der Aspekt, dass Objekte sich nicht selbst bestimmen, im Gegensatz zu dem, dass Objekte sich selbst bestimmen, der Aspekt der Vorhersehbarkeit bzw. Kontrollierbarkeit im Gegensatz zu dem der Unvorhersehbarkeit bzw. der fehlenden Kontrollmöglichkeiten, der Aspekt des stetigen Fortschritts im Gegensatz zu dem der ständigen Wiederholung, der Aspekt der Freiheit und Schuldhaftigkeit im Gegensatz zu dem der Abhängigkeit und Unschuld und der Aspekt der Notwendigkeit der Selbst-Hingabe im Gegensatz zu dem der Notwendigkeit der Selbst-Konsolidierung. Die Überwindung dieser Gegensätzlichkeiten ist zumindest eine notwendige Bedingung zur Selbstfindung, denn solange eine dieser Gegensätzlichkeiten noch besteht, nehmen wir unser Selbst aufgrund der sich gegenseitig verbergenden Aspekte entweder so oder aber ganz anders wahr, das heißt wir finden immer nur einen Teil von uns selbst und wissen nicht wirklich, woran wir insgesamt mit uns selbst sind. Dass dies auch hinreichend ist, folgt daraus, dass wir durch die Überwindung all dieser Gegensätzlichkeiten uns selbst (und auch andere) in unserem Worumwillen echt und unmittelbar verstehen (ebenda), also zu uns selbst (und zu anderen) gefunden haben und uns (und andere) lieben. Sich selbst oder andere gefunden haben und sich oder andere lieben sind also ein und dasselbe.

Wie und wodurch bemerken wir die verschiedenen Aspekte und auf welche Weise kann es uns denn gelingen, die Gegensätzlichkeit dieser konkurrierenden Aspekte zu überwinden? Am Anfang unseres Lebens entwickelt sich zuerst das passive Beobachten und Aufnehmen des Geschehens um uns herum, so dass wir erst einmal nur diesen Aspekt bemerken und darauf reagieren, indem wir uns mit unseren Sinnen dem jeweiligen Geschehen zuwenden. Wenn wir uns dann immer mehr selbst bewegen können, bemerken wir auf einmal einen neuen Aspekt, nämlich dass wir selbst eigene Aktivitäten entwickeln können. Dabei sind für ein kleines Kind, bei dem dieser Aspekt zum ersten Mal auftaucht, die eigene Aktivität und das Beobachten und Aufnehmen des Geschehens um es herum konkurrierende Aspekte, d.h. der eine Aspekt verbirgt den anderen. Wenn wir diesen Prozess des Bemerkens dieser beiden Aspekte der Eigenaktivität und des passiven Beobachtens und Aufnehmens in dem Schema Psyche-Geist-Materie bzw. Individuum-Spezies-Genus analysieren, dann ist da das sinnliche Wahrnehmen entweder der eigenen Aktivitäten oder aber des Geschehens in der angrenzenden Umwelt, was der kleine Säugling als Objekt der Materie, also der Welt einschließlich des eigenen Daseins, und als Teil der Welt bzw. im Modus des Genus aufnimmt, dadurch angeregt wird, das Wahrgenommene als psychisches Subjekt zu bewerten, das heißt seine Aufmerksamkeit wird geweckt, und er empfindet das Wahrgenommene zum Beispiel als Störung oder als etwas Freude Erweckendes. Je nach Empfindung als Objekt der Psyche im Modus des Individuums sucht er dann als geistiges Subjekt nach Reaktionsmöglichkeiten und entscheidet sich schließlich als Objekt des Geistes im Modus der Spezies für eine dieser Möglichkeiten – am Anfang werden es vor allem Körperbewegungen sein, um das bislang Wahrgenommene noch besser wahrnehmen zu können – und handelt gemäß seiner Fähigkeiten und Fertigkeiten als materielles Subjekt bzw. als Subjekt, welches sich in einem Verhältnis zur Welt befindet. Der Säugling kann aber seine eigenen Aktivitäten und das Geschehen in der angrenzenden Umwelt noch nicht in Relation setzen. Es sind für ihn zwei konkurrierende Aspekte seines In-der-Welt-Seins. Erst durch Hilfe von außen, wenn zum Beispiel seine Mutter ihn spiegelt und eine seiner Aktivitäten nachahmt, und zwar auf eine irgendwie markierte Art und Weise, zum Beispiel mit eher kleinen und unbeholfenen Bewegungen, die sich deutlich von ihrer sonstigen Handlungsweise unterscheiden, gelingt es dem Säugling, wenn er die Aktivität seiner Mutter zusammen mit den Veränderungen wahrnimmt, welche dadurch hervorgerufen werden, eigene Aktivitäten und das Geschehen in seiner angrenzenden Umwelt miteinander in Verbindung zu bringen, und in dem Moment, in dem diese beiden Aspekte nicht mehr konkurrieren, sondern ihre Gegensätzlichkeit überwunden ist und sie gemeinsam wahrgenommen werden können, hat er etwas von seinem physischen Selbst gefunden. Da die Mutter sich über die Entwicklung ihres Kindes freut, freut sich auch das Kind, je mehr es auf diese Weise die verschiedenen Bereiche seines physischen Selbst und damit die sich immer weiter entwickelnden Fertigkeiten und Fähigkeiten entdeckt bzw. findet. Entsprechend findet es auf dieser Ebene auch seine Mutter und damit den anderen. Deswegen wiederholt es seine Aktivitäten immer wieder, will auch immer wieder die Spiegelung der Mutter und ist fasziniert davon, wenn es immer wieder einen anderen Aspekt bemerkt. Diese Faszination, Freude und Spaß sind auch wichtig für die Entwicklung und Entfaltung seiner Fähigkeiten und Fertigkeiten, denn sonst hätte ein Kind später nicht die nötige Ausdauer, um beispielsweise Laufen zu lernen.

Als physisches Selbst hält das Kind es für wahr, dass es mit den Objekten in der Welt alles machen kann, was ihm seine Fähigkeiten und Fertigkeiten erlauben, das heißt es sieht die Welt nur unter diesem Aspekt, bis es plötzlich von außen und nicht durch die eigene Physis Grenzen gesetzt bekommt, weil manche Objekte in der Welt sich selbst bestimmen (Menschen mit eigenen Interessen). Auch hier verbirgt dieser Aspekt den vorangegangenen, d.h. das Kind sieht seine Möglichkeiten in der Welt entweder nur durch seine eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten begrenzt, oder aber nur vor allem durch andere Menschen in seiner Umwelt, mit denen es entsprechende Erfahrungen gemacht hat. Es sieht sich vor eine unlösbare Aufgabe gestellt, weil es als Objekt der Materie im Modus des Genus immer wieder erkennen muss, dass es sich getäuscht hat und trotz aller Anstrengungen nicht nach seiner eigenen Physis handeln konnte, und bekommt daher als psychisches Subjekt aufgrund der Bewertung der Situation als Überforderung Wut über sein In-der-Welt-Sein. Auch hier ist das Kind wieder auf die Hilfe seiner Mutter angewiesen, die wieder in die Rolle des Kindes schlüpft, ihm seine Handlungsweise vorspielt und Alternativen aufzeigt, wie das Kind besser erkennen kann, durch welche seiner Aktivitäten es negative Reaktionen bei anderen Menschen auslösen kann, z.B. durch die beispielhafte Vermittlung des Sprichwortes „Was du nicht willst, was man dir tu´, das füg´ auch keinem andern zu“ (streicheln ist besser als schlagen). Dadurch kann das Kind dann die Gegensätzlichkeit der beiden Aspekte überwinden, dass es einmal nur durch die eigene Physis Grenzen gesetzt bekommt und ein andermal durch andere Menschen in seiner Umwelt, und kann beide Aspekte gemeinsam wahrnehmen, indem es z.B. durch eigene Aktivitäten die Reaktionen anderer beeinflussen kann. Somit hat es etwas von seinem sozialen Selbst gefunden. Seine Wut kann es nun konstruktiv nutzen, indem es sich mit anderen Menschen auseinandersetzt, um herauszufinden, wie es sie beeinflussen kann, so dass es im Laufe seiner Entwicklung immer mehr Bereiche seines sozialen Selbst findet. Entsprechend findet es auf dieser Ebene auch seine Mutter und damit den anderen.

Als soziales Selbst hält das Kind es nun für wahr, dass es vorhersehbar bzw. kontrollierbar ist, zu welchen Ergebnissen seine Aktivitäten und Handlungen führen können, solange es sich nur ausreichend mit den Menschen in seiner Umgebung auseinandersetzt und seine physischen Grenzen beachtet, bis es plötzlich einen anderen Aspekt bemerkt, dass es trotz aller Auseinandersetzungen mit seiner physischen und sozialen Umwelt das, was geschieht, nicht vorhersehen bzw. kontrollieren kann. Für das Kind verbirgt dieser Aspekt den vorangegangenen, d.h. es kann die Gegensätzlichkeit der beiden Aspekte nicht überwinden. Als psychisches Subjekt bewertet es die als Objekt der Materie wahrgenommene Situation nicht als Überforderung, dass es noch mehr tun müsste, als es kann, sondern als Situation der Hilflosigkeit, in der es nichts tun kann, so dass es Angst bekommt wegen seines In-der-Welt-Seins. Mithilfe seiner Mutter oder einer anderen wichtigen Bezugsperson, die wiederum in die Rolle des Kindes schlüpft und ihm spielerisch aufzeigt, dass man bei allem, was man tut, immer auch gewisse Risiken und Eventualitäten mit einplanen und sich so immer besser absichern kann, lernt es dann die Gegensätzlichkeit der beiden Aspekte zu überwinden und beide gemeinsam wahrzunehmen, sowie Risiken immer besser abzuschätzen und einzuplanen. Somit hat es etwas von seinem teleologischen Selbst gefunden. Seine Angst kann es nun konstruktiv nutzen, indem es vorsichtig und voraussehend Erfahrungen sammelt, um mögliche Gefahren immer besser einschätzen zu können, so dass es im Laufe seiner Entwicklung immer mehr Bereiche seines teleologischen Selbst findet. Entsprechend findet es auf dieser Ebene auch seine Mutter und damit den anderen.

Als teleologisches Selbst hält das Kind es nun für wahr, dass es immer mehr Fortschritte macht, seine Ziele zu erreichen und sich seine Wünsche, Sehnsüchte und Bedürfnisse zu erfüllen, solange es nur immer mehr lernt, Risiken und Gefahren richtig einzuschätzen, und solange es sich nur ausreichend mit den Menschen in seiner Umgebung auseinandersetzt und seine physischen Grenzen beachtet, bis es plötzlich einen anderen Aspekt bemerkt, dass es trotz aller Erfahrungen in der Welt nicht vorwärts kommt, sondern sich im Kreis dreht. Für das Kind verbirgt dieser Aspekt den vorangegangenen, d.h. es kann die Gegensätzlichkeit der beiden Aspekte nicht überwinden. Als psychisches Subjekt bewertet es die als Objekt der Materie wahrgenommene Situation nicht als Situation der Hilflosigkeit, in der es nichts tun kann, sondern als Situation der Hoffnungslosigkeit, in der es sich einsam und verlassen fühlt, so dass es Leid empfindet wegen seines In-der-Welt-Seins. Mithilfe seiner Mutter oder einer anderen wichtigen Bezugsperson, die wiederum in die Rolle des Kindes schlüpft und ihm spielerisch aufzeigt, dass man bei allem, was man tut, immer auch Vertrauen auf andere, Geduld und Beharrlichkeit braucht, um schließlich dann doch noch sein Ziel zu erreichen, lernt es die Gegensätzlichkeit der beiden Aspekte zu überwinden und beide gemeinsam wahrzunehmen, sowie immer mehr Vertrauen auf andere, Geduld und Beharrlichkeit zu entwickeln. Somit hat es etwas von seinem intentionalen Selbst gefunden. Sein Leid kann es nun konstruktiv nutzen, indem es sich darin übt, diese gegenwärtige Empfindung zu ertragen, um sich auf diese Weise immer mehr Vertrauen auf andere, Geduld und Beharrlichkeit anzueignen, so dass es im Laufe seiner Entwicklung immer mehr Bereiche seines intentionalen Selbst findet. Entsprechend findet es auf dieser Ebene auch seine Mutter und damit den anderen.

Als intentionales Selbst hält das Kind es nun für wahr, dass es auf andere, insbesondere auf seine Eltern vertrauen und sich verlassen kann, sich also von ihnen abhängig machen und geduldig und beharrlich seine Ziele verfolgen darf in aller Unschuld, bis es plötzlich einen anderen Aspekt bemerkt, dass es nämlich im naiven Verfolgen seiner Ziele, wenn es etwa die Eltern gegeneinander ausspielt, verantwortlich für Streit und Entzweiung der Eltern werden kann. Es kann sich auf einmal nicht mehr auf beide Eltern verlassen und aufgrund dieser Freiheit und Unabhängigkeit besteht die Gefahr, jeglichen Halt zu verlieren. Es sieht sich in der Verantwortung, dass es prinzipiell schuldhaft handeln kann, weil es wegen seiner Bedürfnisse, Sehnsüchte und Wünsche prinzipiell unzulänglich ist. Aufgrund des Eindrucks des Alleingelassenseins, also der Enttäuschung seines Vertrauens, sieht es auch die Unzulänglichkeit von anderen. Genau genommen sieht es erst die Unzulänglichkeit der anderen und erkennt erst danach die eigene. Für das Kind verbirgt dieser Aspekt den vorangegangenen, d.h. es kann die Gegensätzlichkeit der beiden Aspekte nicht überwinden. Als psychisches Subjekt bewertet es die als Objekt der Materie wahrgenommene Situation nicht als Situation der Hoffnungslosigkeit, in der es sich einsam und verlassen fühlt, sondern als Situation der eigenen Unzulänglichkeit oder der der anderen, so dass es Abscheu, Scham und Schuld empfindet wegen seines In-der-Welt-Seins. Mithilfe seiner Mutter oder einer anderen wichtigen Bezugsperson, die wiederum in die Rolle des Kindes schlüpft und ihm spielerisch aufzeigt, dass man bei allem, was man tut, immer auch berücksichtigen muss, wie andere die Realität sehen und welche Überzeugungen, Interessen, Wünsche und Bedürfnisse sie zum Beispiel haben, lernt es die Gegensätzlichkeit der beiden Aspekte zu überwinden und beide gemeinsam wahrzunehmen, sowie immer mehr Verständnis zu entwickeln, wie die Repräsentationen der Realität das Fühlen, Denken und Handeln von Menschen beeinflussen und wie man daher Missverständnisse, unnötige Konflikte und Verletzungen vermeiden kann. Auf diese Weise lernt das Kind auch, seine eigenen Repräsentationen der Realität immer mehr an die Gegebenheiten der Welt, in der es lebt, anzupassen. Somit hat es etwas von seinem repräsentationalen Selbst gefunden. Seine Gefühle von Abscheu, Scham und Schuld kann es nun konstruktiv nutzen, indem es sich darin übt, die eigenen Äußerungen und die von anderen immer mehr als Ausdruck von Repräsentationen der Realität zu verstehen, die ihm Auskunft über die Verhältnisse verschiedener Repräsentationen, über damit verbundene unterschiedliche Aspekte der Realität und damit auch darüber geben können, wie die Realität in der Praxis den Repräsentationen entspricht, woher etwas kommt, was auf es zukommen kann und worauf es im Moment ankommt und woran es gerade ist. Dadurch findet es im Laufe seiner Entwicklung immer mehr Bereiche seines repräsentationalen Selbst. Entsprechend findet es auf dieser Ebene auch seine Mutter und damit den anderen.

Nachdem der betreffende Mensch sowohl sein physisches, sein soziales, sein teleologisches, sein intentionales als auch sein repräsentationales Selbst gefunden und immer weiter entwickelt hat, kommt er als Jugendlicher in die Pubertät, und es erwacht die Sexualität und ein entsprechend neues Interesse an den anderen Menschen in seinem Umfeld. Von entsprechenden Empfindungen, also von der Psyche beherrscht, verneint er entweder die Materie oder den Geist. In der Verneinung der Materie bzw. bei dem Versuch, unabhängig von der Erfüllung eigener Wünsche und der Befriedigung eigener Bedürfnisse zu werden, verhält sich die betreffende Person auf der Ebene des physischen Selbst passiv (sie lässt geschehen, hält inne und beobachtet, sie verneint ihre Selbstbestimmung), akzeptiert auf der Ebene des sozialen Selbst voll und ganz die Selbstbestimmung der anderen (sie betrachtet ihre Wirkung auf andere, ist offen für die Befindlichkeit der anderen, unterstützt sie und schließt sich mit ihnen zusammen), auf der Ebene des teleologischen Selbst kontrolliert und regelt sie mit einer gewissen Rigidität vor allem die zwischenmenschlichen Beziehungen (sie hält kontinuierlich unter teilweise großen Verzichtleistungen an der Gemeinschaft und am Wir-Gefühl mit den anderen fest), auf der Ebene des intentionalen Selbst erkundet sie wiederholt dasselbe von verschiedenen Seiten und wartet geduldig Gelegenheiten ab, bis die anderen zufrieden gestellt sind und sie dann auch ihre eigenen Ziele verwirklichen kann, und auf der Ebene des repräsentationalen Selbst lässt sie sich ein, teilt sozusagen den Raum mit anderen und tauscht sich ausgiebig mit ihnen darüber aus, wie man die Realität repräsentiert und entsprechend erlebt, und wenn jemand sie verletzt oder ihr schadet, dann wandelt sie ihren Zorn darüber durch Reaktionsbildung in Verständnis um (der andere habe das bestimmt nicht persönlich gemeint, vielleicht habe sie ihn dazu eingeladen, z.B. sie auszunutzen, oder er habe etwas, weswegen man ihm helfen sollte), d.h. sie interpretiert seine Verhaltensweise so, dass sie ihm verzeihen kann oder dass er sogar unschuldig ist. Diese altruistische Lebensstrategie, die sehr auf andere ausgerichtet ist, beruht auf einer Perspektive, aufgrund der die betreffende Person es für wahr hält, dass zuerst die generelle Not und die Probleme der anderen beseitigt werden müssen, bevor sie selbst ihre persönlichen Wünsche und Bedürfnisse anmelden darf. Ich bezeichne diesen Aspekt als den Aspekt der Notwendigkeit der Selbst-Hingabe. Die entsprechende Kombination von Einstellungen und Verhaltensweisen kann man weibliches Prinzip nennen, weil sie mehrheitlich bei Frauen vorkommt, aber nicht nur. In der Verneinung des Geistes bzw. bei dem Versuch, den Geist, das eigene Denken, derart zu beherrschen, dass der Betreffende sich vor allem auf sich selbst und seine eigenen Belange konzentriert und sich von anderen weder beirren noch ablenken lässt, verhält er sich auf der Ebene des psychischen Selbst aktiv (er probiert aus, bejaht seine Selbstbestimmung), akzeptiert auf der Ebene des sozialen Selbst vorrangig die eigene Selbstbestimmung (er geht vor allem von sich selbst aus), auf der Ebene des teleologischen Selbst probiert er spontan und sprunghaft, also ohne direkten Plan oder Kontrolle, alles Mögliche aus und lässt sich kaum auf kontinuierliche Beziehungen ein, weil sie ihm entweder zu langweilig oder zu anstrengend sind und ihm daher nichts bringen, auf der Ebene des intentionalen Selbst will er Ergebnisse sehen und ist um geradlinigen Fortschritt bemüht, und auf der Ebene des repräsentationalen Selbst geht es ihm um immer stimmigere eigene Repräsentationen der Realität, er forscht nach, woher Probleme kommen und wodurch Aufgaben sich ihm stellen, welches zukünftige Ideal erstrebenswert ist und welche gegenwärtigen Lösungsschritte er dazu durchführen muss (er bewegt sich frei in den drei zeitlichen Ekstasen Gewesenheit bzw. Herkunft, Zukunft und Gegenwart bzw. Ankunft, um die Technik seines Handelns immer mehr zu verbessern). Diese auf das eigene Selbst zentrierte Lebensstrategie der Selbst-Konsolidierung, beruht auf einer Perspektive, aufgrund der der Betreffende es für wahr hält, dass zuerst die eigene Position gefestigt sein muss, bevor er sich der Not und den Problemen der anderen zuwenden kann. Die entsprechende Kombination von Einstellungen und Verhaltensweisen kann man männliches Prinzip nennen, weil sie mehrheitlich bei Männern vorkommt, aber nicht nur. Diese beiden Aspekte der Notwendigkeit der Selbst-Hingabe und der der Selbst- Konsolidierung schließen sich zunächst einmal aus und verbergen sich gegenseitig, d.h. die betreffende Person kann die Gegensätzlichkeit der beiden Aspekte nicht überwinden. Als psychisches Subjekt bewertet sie die als Objekt der Materie wahrgenommene Situation, wenn sie aus ihrer Perspektive nur den Aspekt der Notwendigkeit der Selbst-Hingabe bemerkt und die Probleme und Not der anderen nicht lindern kann, wenn sie realisiert, dass ihre Lebensstrategie scheitert, nicht als Situation der eigenen Unzulänglichkeit oder der der Welt, sondern als Situation der eigenen Wertlosigkeit (Enttäuschung über sich selbst) – als sei sie es nicht wert, geliebt zu werden, wenn sie sich nicht nützlich machen kann für andere – oder als Enttäuschung über die Welt, die ihr die eigenen Anstrengungen und Verzichtleistungen nicht dankt (sie hat mehr gegeben als bekommen), so dass sie sich für nichts mehr begeistern kann. Wenn der Betreffende aber aus seiner Perspektive nur den Aspekt der Notwendigkeit der Selbst-Konsolidierung bemerkt und seine Position nicht festigen kann, wenn er realisiert, dass seine Lebensstrategie scheitert, bewertet er ebenfalls die wahrgenommene Situation nicht als Situation der eigenen Unzulänglichkeit oder der der Welt, sondern als Situation der eigenen Wertlosigkeit (Enttäuschung über sich selbst) – als sei er es nicht wert, geliebt zu werden, wenn er noch nicht einmal für sich selbst sorgen kann – oder als Enttäuschung über die Welt, die ihm nicht genug Entfaltungsmöglichkeiten gibt, so dass er sich für nichts mehr begeistern kann. Bei einem Beziehungspartner, der jeweils die gemeinsame Situation aus einer anderen Perspektive sieht und so den jeweils alternativen Aspekt bemerkt, können beide die Vor- und Nachteile der eigenen Lebensstrategie und der des anderen erkennen und dadurch die Gegensätzlichkeit der beiden Aspekte überwinden und immer mehr Erfahrungen sammeln und dahingehend weiser werden, wann welche der beiden alternativen Lebensstrategien die bessere ist. Somit haben beide etwas von ihrem geschlechtlichen Selbst gefunden. Ihre Gefühle der Enttäuschung bzw. Wertlosigkeit können sie nun konstruktiv nutzen, indem sie sich darin üben, immer wieder die Alternativen begeistert auszuprobieren, so dass sie sich im Laufe ihrer Entwicklung auf der Ebene ihres geschlechtlichen Selbst immer mehr finden, und dabei kann sich dann die Liebe zum anderen und zu sich selbst immer besser entwickeln. Wenn dann der Gegensatz Selbst- und Fremdfürsorge überwunden ist, ist die Liebe erreicht, und man hat den anderen und sich selbst gefunden.

Meine bisherige Beschreibung betrifft natürlich nur den Idealfall der menschlichen Entwicklung zur Liebe hin. Störungen kann man auf den verschiedenen Entwicklungsebenen an Folgendem erkennen: wenn auf der Ebene des physischen Selbst eine Störung vorliegt und der Betreffende hier sich nicht mehr weiter findet oder sich selbst gar verloren hat, merkt er in manchen Bereichen nicht, was er mit seinem Verhalten bewirkt oder auslöst (Materie), er kann seine Lage nicht erkennen und daher vieles nicht richtig fühlen (Psyche), und er weiß auch nicht, wie er das Ganze verstehen soll und welche Maßnahmen er ergreifen könnte (Geist); entsprechend auf der Ebene des sozialen Selbst merkt er in manchen Bereichen nicht, wie sehr er andere z.B. ärgert, stört, belästigt, verletzt, behindert, gefährdet oder gar schädigt (Materie), er betrachtet das Geschehen so, als werde nur er beeinträchtigt und ist darüber wütend (Psyche) und sinnt in der Regel vergeblich auf Möglichkeiten, sich zu rächen (Geist), da er sich ungerechterweise benachteiligt fühlt aufgrund schlechter Lebensbedingungen – er hadert sozusagen mit seiner Herkunft; auf der Ebene des teleologischen Selbst merkt er in manchen Bereichen nicht, wie wenig planvoll er sein Leben organisiert hat (Materie), er beurteilt dieses Geschehen so, als herrsche um ihn herum Chaos oder als ob er einfach hilflos sei und fühlt entsprechend große Angst (Psyche) und sucht oft vergeblich nach Möglichkeiten, wie er sich am besten schützen bzw. sich helfen kann (Geist) – er hat Angst vor der Zukunft; auf der Ebene des intentionalen Selbst merkt er in manchen Bereichen nicht, wie wenig Geduld und Vertrauen er hat, wie wenig er abwarten kann (Materie), er beurteilt dieses Geschehen so, als ob es nur Rückschläge gebe und alles hoffnungslos sei, so dass er vor allem Leid deswegen empfindet (Psyche), und sucht meist vergeblich nach Möglichkeiten, wie er seine Verzweiflung aushalten kann (Geist) – er hat das Gefühl, in einer leidvollen Welt angekommen zu sein (leidvolle Ankunft); auf der Ebene des repräsentationalen Selbst merkt er in manchen Bereichen nicht, dass andere die Realität anders bei sich repräsentieren, unter anderen Gesichtspunkten wahrnehmen als er (Materie), er beurteilt das Geschehen so, als ob entweder er oder die anderen daran schuld seien, so dass er hauptsächlich Abscheu, Scham und Schuld deswegen empfindet (Psyche), und sucht meist vergeblich nach Möglichkeiten, wie er seine Unzulänglichkeit oder die der Welt überwinden kann (Geist) – er hat das Gefühl, in einer Welt zu existieren, die Auskunft über zu viele Abscheulichkeiten (die eigenen oder andere) gibt; auf der Ebene des geschlechtlichen Selbst merkt er in manchen Bereichen nicht, dass die eigene Einstellung, dass nur Selbst-Hingabe oder aber nur Selbst-Konsolidierung notwendig sei, nicht angemessen ist (Materie) und mit der Zeit zu einer Erschöpfungsdepression oder zu Egozentrik führen kann, und wenn seine Lebensstrategie versagt, beurteilt er das Scheitern so, als ob er oder die Welt wertlos sei, so dass er eine tiefe Enttäuschung deswegen empfindet (Psyche), und sucht meist vergeblich nach Möglichkeiten, wie er seine Wertlosigkeit oder die der Welt überwinden kann (Geist) – er hat das Gefühl, in einer Welt zu leben, in der er keine Auskunft bekommt, durch die er sich für etwas begeistern kann. Aus einer derartigen Enttäuschung kann sich aber ein Schrei nach Liebe entwickeln, der von anderen gehört und verstanden werden kann.

Immer wieder zu merken, was ich auslöse, den Zorn über Ungerechtigkeiten, die Angst vor der Zukunft, insbesondere vor dem Tod, das Leid über die momentane Situation und Scham- und Schuldgefühle und die Abscheu vor der Welt konstruktiv zu nutzen und dadurch zu überwinden, und mich immer wieder für den Alltag zu begeistern – solange mir das gelingt, und das muss der Anspruch der Vernunft sein, bin ich auf dem Weg zur Liebe, der und die das Ziel ist.

Geist, Seele, Körper, Ich und Selbst im alltäglichen Sprachgebrauch

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Ich habe oben schon erklärt, dass Seele, Geist und Körper jeweils verschiedene Aspekte eines jeden Menschen darstellen. Ich und Selbst bezeichnen Aspekte des Bezugs zur eigenen Person. Als Aspekte sind all diese Begriffe Vorstellungen bzw. Repräsentationen der Realität oder Teile davon und als solche nicht ableitbar aus der Realität, sondern nur aus dem praktischen Leben, aus unserem Umgang mit der Realität, nämlich daraus, ob und inwieweit unsere Vorstellungen der Realität im praktischen Leben brauchbar der Realität entsprechen. Somit stellt sich die Frage, wie diese Begriffe im Alltag verwendet werden, was also ihre Bedeutung in der Alltagssprache ist (die Bedeutung ist ja ihr Gebrauch) und was das über uns und unser Verständnis von uns selbst und anderen aussagt. Wittgenstein meint, wir sprechen da von Geist (ich denke, er meint hier ein unkörperlich vorgestelltes Wesen, häufig mit menschenähnlichen Zügen und übernatürlichen Fähigkeiten), wo wir etwas vermuten, wo aber nichts ist. „Wo unsere Sprache uns einen Körper vermuten lässt, und kein Körper ist, dort, möchten wir sagen, sei ein Geist.“ (§ 36) (Wittgenstein, 2001) Wenn wir bei einem Menschen ein Gehirn (einen Körper) mit viel Intelligenz erwarten, wir aber feststellen müssen, dass da nichts ist, zumindest kein Gehirn mit viel Intelligenz, dann heißt das nicht, dass dieser Mensch sehr geistreich ist – hier bezeichnet Geist pauschal alle kognitiven Fähigkeiten des Menschen. Es kann aber sein, dass wir dann erschaudern und ergriffen und aufgeregt sind, was der indogermanischen Wurzel „gheis-“ von Geist entspricht. Der Geist der Ahnen kann in bestimmten Gemäuern noch wehen – das erinnert an das griechische „Pneuma“, Wind oder Atem. Der Geist der Französischen Revolution hat ganz Europa in Atem gehalten. Der Geist in alkoholischen Getränken, deren Wirkung uns etwas vermuten lässt, was wir nicht sehen, nur riechen können, kann den Geist im Sinne unserer Denkfähigkeit beeinträchtigen. Cavell spricht davon, „dass es einen Geist gibt, in dem Worte gemeint sein können“ (Cavell, 2006, S. 602). Der Geist ist hier ein Merkmal einer Sprachgemeinschaft und erinnert an den „objektiven Geist“ von Hegel, der sich in Gemeinschaften manifestiert, so wie dieser Begriff auch in Max Webers Rede vom „Geist des Kapitalismus“ verwendet wird. Geist ist im Sprachgebrauch also etwas Individuelles, wenn ich von meinem Geist rede und dem, was ich denke und meine, er ist etwas Spezifisches von mir, wenn ich damit meine kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten meine, und er ist etwas Generelles, wenn er einer Gemeinschaft gegenüber steht, die sich an ihm orientiert. Da er als Orientierung eine Richtung gibt und so auf etwas Höheres hinweist (und im Christentum als der Heilige Geist, der alle Menschen vereint, damit sie zurück zu Gott finden), kann man ihn mit Tanabe als Aspekt der Rückkehr zum Absoluten Nichts (Tanabe, 2011) bzw. zur Liebe (Kolb, 2012) bezeichnen. Interessant ist auch, dass der Geist männlich ist, was dem traditionell männlichen Anführer entspricht, dem so genannten „Task-Leader“ in der Sozialpsychologie.

Dagegen ist die Seele weiblich, und als die Seele in einer Gemeinschaft – im Gegensatz zu einem Geist, der über oder einer Gemeinschaft gegenüber steht – entspricht sie dem so genannten „Social- Emotional-Leader“ in der Sozialpsychologie. Die Seele ist das Charakteristikum aller belebten Wesen und damit ein Symbol für lebendige Dynamik und für das Leben insgesamt, und das, was Mensch und Tier lebendig macht, sind die Empfindungen. Insofern werden Seele und Psyche auch synonym verwendet. Im Gegensatz zum Geist, der nach oben strebt, ist die Seele tiefgründig. Es ist so, „als sei es ein unumstößlicher grammatischer Punkt, dass eine Seele mindestens so hoch auf der Skala des Seienden anzusiedeln ist wie der Körper, in dem sie gerade steckt. Die Seele mag unter ihr Niveau gehen, aber niemals darüber hinaus. Sie kann nur heruntergezogen werde.“ (Cavell, 2006, S. 603) Worte sind in einem bestimmten Geist gemeint und können etwas Seelisches ausdrücken. Die Seele ist im Sprachgebrauch etwas Individuelles, wenn ich damit mein Leben und meine Empfindungen meine, sie ist etwas Spezifisches, wenn sie mir je nachdem Kraft und Motivation gibt, einen Plan bzw. eine Handlung durchzuführen, und sie ist etwas Generelles, wenn sie als Seele in einer Gemeinschaft gemeinsame Werte schafft, so dass gemeinsame Ziele verfolgt werden. Die Seele gibt also insgesamt die Kraft, damit die vom Geist vorgegebene Rückkehr zum Absoluten Nichts bzw. zur Liebe vollzogen werden kann. Daher habe ich die Seele bzw. die Psyche als die Dynamik des Absoluten Nichts bzw. der Liebe bezeichnet (Kolb, 2012). Hier wird noch einmal klar und deutlich, dass Geist und Psyche zusammenarbeiten müssen, damit die Entwicklung des Daseins in Richtung Liebe geht. In ihrer Tiefgründigkeit geht die Seele hinunter bis zum geringsten Lebewesen und bündelt so alle Kräfte, um zur Liebe zu gelangen. In der griechischen Mythologie wird die Tiefgründigkeit der Seele dadurch ausgedrückt, dass sie nach dem Tod in die Unterwelt geht, so wie Jesus nach seinem Tod auch erst hinab gefahren ist in die Hölle. Wenn wir uns Seele und Geist parallel zu Frau und Mann vorstellen, dann ist in dem Zusammenhang, dass die Seele tiefgründig eine Verbindung mit dem Totenreich und dem Tod eingeht und der Geist nach oben zu Gott und dem Ursprung des Lebens tendiert, die folgende Vorstellung passend: die Frau erlebt im Orgasmus eine Hingabe wie im Tod, während der Mann im Orgasmus auf die „primitivste Stufe der Objektbeziehung“ (Balint, 1988, S. 128 unten) regrediert, das heißt auf die ursprünglichste Stufe der Existenz, wie sie zu Beginn seines Lebens, seiner ursprünglichen Unverfügbarkeit vorherrschte. Im Orgasmus verbindet sich die Frau also mit dem Tod, und der Mann strebt empor zum Anfang allen Lebens. Was beim Orgasmus des Mannes geschieht, ist bei Balint ganz gut beschrieben, während der Orgasmus der Frau zum Beispiel im Mythos von Persephone und Hades als Tod dargestellt wird. Auch der keltische Mythos vom Harlekin deutet den Tod als ultimativen Orgasmus der Frau (McClelland, 2006). Man könnte es auch so formulieren: Der Mann strebt im Orgasmus zum göttlichen Ursprung des Lebens hin, während die Frau sich im Orgasmus dem Tod und damit ihrer Sterblichkeit hingibt. Indem sich beides zusammenfügt, Anfang und Ende des Lebens, Mann und Frau, Geist und Seele, kann einer befruchteten Eizelle neues Leben eingehaucht werden.

Der menschliche Körper stellt den materiellen Aspekt des Menschen dar. Über das Verhältnis zu Seele und Geist gibt es entsprechende Mythen bzw. Entstehungsgeschichten. Für unsere christliche Kultur ist die biblische Schöpfungsgeschichte prägend: Der Körper als Lehmmasse wird durch den Atem Gottes beseelt, und durch den Sündenfall, als Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis aßen, teilte sich diese ursprüngliche und vollkommene Seele (der Atem Gottes) auf in unsere heutige Seele und den Geist. Diese Entzweiung oder Absonderung von Geist und Seele ist der Ursprung des Bösen bzw. der Sünde, die Erbsünde, weil diese Trennung von Geist und Seele sich immer weiter vererbt hat. Hier hat der Mensch geteilt, was von Gott her eins war. Beides wieder zusammenzufügen ist unsere Aufgabe, die wir nur „im Schweiße unseres Angesichts“ lösen können, also nur mit Hilfe unserer materiellen Grundlage, die uns immer wieder mit schonungsloser Offenheit zeigt, an welcher Stelle wir uns gerade in unserer Entwicklung befinden bzw. in welcher Hinsicht Geist und Seele noch gegensätzlich sind. Da der Geist männlich und die Seele weiblich sind, geht es so betrachtet um die gleichberechtigte Vereinigung von Mann und Frau. Wenn Heidegger vom befindlichen Verstehen redet und Wittgenstein die Sprache nicht nur als Mittel der Gedankenübertragung sondern auch als Ausdrucksweise von Empfindungen sieht, so kann man darin jeweils dieselbe Tendenz erkennen, nämlich das Bestreben, diese Vereinigung von Geist und Seele herzustellen, was meiner Analyse nach nur im echten und unmittelbaren Verstehen des Worumwillens unseres Seins, also nur in der Liebe möglich ist. Solange Seele und Geist sich noch gegensätzlich gegenüberstehen, offenbart der menschliche Körper die entsprechenden Gegensätze und stellt damit die Entfremdung der Liebe (Kolb, 2012) bzw. des Absoluten Nichts (Tanabe, 2011) dar. Der menschliche Körper ist in diesem Mythos bzw. in dieser Vorstellung das vermittelnde Element zwischen Seele und Geist, mithilfe dessen Geist und Seele wieder zueinander finden können. Diese Entstehungsgeschichte passt zu Wittgensteins Vorstellung, dass der menschliche Körper das beste Bild der menschlichen Seele ist. Der menschliche Körper ist insofern individuell, als ich ihn als den meinigen wahrnehmen kann, er ist insofern spezifisch, als er sich auf eine bestimmte Weise entwickelt hat und immer weiter entwickelt, mit bestimmten Fähigkeiten und Fertigkeiten, die jeweils entstehen und vergehen, und er ist insofern generell, als er bei allen Menschen aus den gleichen Atomen und Molekülen aufgebaut ist, von allen als menschlicher Körper erkannt wird und in ähnlicher Weise etwas Geistiges oder Seelisches ausdrückt.

Cavell dagegen hat sich einen ganz anderen Mythos ausgedacht (Cavell, 2006, S. 603 ff.): Menschen seien ursprünglich körperlose Wesen gewesen, die sich gewisse Gestalten, menschliche Gestalten, ausgesucht hätten, in die sie hineingeschlüpft seien, teils aus Jux und Tollerei, teils weil sie einen gewissen Nutzen daraus gezogen hätten. Anfänglich habe man jederzeit den Körper, die Gestalt wechseln können, nur wenn man zu lange eine Gestalt angenommen habe, habe man die Gestalt nur noch durch den Tod des Körpers wechseln können. Inzwischen sei der Trick, in Gestalten zu schlüpfen, verschwunden, und jeder sei ein Leben lang an seinen Körper gebunden. Ohne einen Menschen sei die menschliche Gestalt ein Zombie, aber man könne dies nicht von einem Menschen in menschlicher Gestalt unterscheiden, es sei denn, man öffnete den Körper und schaute nach. Allerdings habe die Natur vor der Geburt eine Körperschale so kunstvoll um den Körper gebildet, dass niemand mehr eine menschliche Gestalt von einem Menschen unterscheiden könne. „Die Schale wurde hauchdünn, und würde man sie öffnen, fände man kein getrenntes menschliches Wesen, sondern bloß, was man zu finden erwarten würde, wenn man einen altmodischen Menschen ohne Schale öffnen würde.“ (ebenda, S. 604) Da das Wissen um diese Vorkommnisse vergessen worden sei, „scheint es sogar schwer vorstellbar, wie wir jemals auf die Idee verfallen konnten, dass jemand da drinnen ist, dass wir die wahre Sachlage erfasst haben.“ (ebenda, S. 605) Und wenn Menschen heute sagen, es sei niemand drinnen im Körper, „das hält nur den Drang nachzuschauen wach. [(Absatz)] Halten wir uns selbst für (möglicherweise) bewohnte Körper, für Menschen in nicht abzustreifender menschlicher Gestalt?“ (ebenda) Der menschliche Körper stellt also ein Hindernis dar, der unseren Blicken verbirgt, was im Inneren eines Menschen vorgeht. Damit stellt dieser Mythos bzw. diese Vorstellung des menschlichen Körpers den oben im 4. Kapitel der Vorstellung Wittgensteins gegenübergestellten Mythos dar, der uns entmutigt und die Motivation nimmt, unser Getrennt-Sein zu überwinden. Wir sind in der Annahme dieser Vorstellung auch hoffnungslos von uns selbst getrennt: „ich kann sowenig meiner selbst intim habhaft werden wie du. Und die Erinnerung wäre hier auch nur ein Strohhalm. Niemand von uns erinnert sich an seine Geburt, obwohl jeder von uns weiß, dass er, wenn mir der Ausdruck erlaubt ist, gebürtlich ist. Oder etwa nicht?“ (ebenda) Unser Körper ist uns entfremdet, wir nehmen ihn in Besitz wie ein Kleidungsstück, und er versperrt uns die Möglichkeiten, sowohl den anderen als auch uns selbst zu erkennen. „Damit erhält das Problem des Fremdpsychischen wieder einmal eine bekannte erkenntnistheoretische Form, die von Kant in der Nachfolge Lockes und Leibniz´ hinterlassene Form, der zufolge ich in den Kreis meiner Erfahrungen eingeschlossen bin, ohne je (aus eigener Kraft) zu wissen, ob diese Erfahrungen mit einer unabhängigen Wirklichkeit übereinstimmen.“ (ebenda, S. 606) Wenn ich diese Vorstellung in Bezug auf mich selbst annehme, „dann möchte ich diesem Körper […] nicht entkommen, um […] seine Reaktionen mit meinem Inneren zu korrelieren […], ich möchte meine Reaktionen vielmehr offenlegen. […] Warum aber sollte ich das wünschen wollen, es vielleicht heftig genug wünschen, um dafür zu sterben, indem ich diesen Körper verlasse?“ (ebenda)

Wenn Cavell an dieser Stelle vermutet, dass es vielleicht darum geht, erkannt bzw. anerkannt zu werden, um eine Bestätigung „der Existenz meines Leidens und meines Tuns“ (ebenda) zu bekommen, dann muss ich nur die Perspektive eines misshandelten oder missbrauchten Kindes einnehmen, und alles passt perfekt zusammen. Wenn mir als einem derart misshandelten Kind nicht geglaubt wird, dann ist es die Regel, „dass ich nicht an die Äußerung meiner selbst glaube, an meine Fähigkeit, mich so zu präsentieren, dass mir Anerkennung zuteil wird“ (ebenda, S. 607). Aus dieser Perspektive heraus gebe ich auf und äußere nichts mehr, indem ich zu mir sage: „Es nicht zu tun, dafür gibt es einen guten Grund. Du könntest entdecken, dass du nicht wichtig bist.“ (ebenda, S. 608) Wenn wir aus der Perspektive des Missbrauchs den gesamten Mythos von Cavell noch einmal betrachten, dann schildert dieser Mythos die Geschichte, wie sich ein Missbrauch ereignen kann. Der Täter, ein erwachsener Mensch, benutzt einen menschlichen Körper, nämlich ein schutzloses kleines Kind, um seinen Spaß daran zu haben. Dabei hält er das Kind häufig für ein empfindungsloses Wesen, einen Zombie, der hinterher nichts mehr weiß und dem das alles nichts ausmacht. Je länger er das macht, desto schlimmer die Folgen, bis das Kind in seinem misshandelten Körper hoffnungslos gefangen ist und am liebsten nur noch sterben möchte, um dem Ganzen zu entkommen. „Der da drinnen erleidet alles, was dem Körper zustößt, und noch mehr.“ (ebenda, S. 605) Wenn das Kind dann erwachsen ist, sind die Zeiten des Missbrauchs zwar schon lange vorüber, aber alle, „die jetzt in einer menschlichen Gestalt stecken, sind ein Leben lang daran gebunden“ (ebenda, S. 604), sie müssen ein Leben lang mit dieser schrecklichen Erfahrung leben, auch wenn jegliche Evidenz dafür fehlt, die Erfahrung also abgespalten oder verdrängt ist. Aber obwohl sie sagen oder sagen möchten »Da ist niemand drinnen«, wird der Drang nachzuschauen trotzdem wach bleiben. Um das Trauma des Missbrauchs zu verarbeiten, reicht es nicht aus, „bloß anzuerkennen, wie es um einen selbst steht, und folglich anzuerkennen, dass man sich wünscht, der andere möge sich darum kümmern, zumindest darum, es zu wissen. Es heißt auch anzuerkennen, dass deine Äußerungen tatsächlich dich zum Ausdruck bringen, dass es deine sind, dass du in ihnen enthalten bist. Das bedeutet, du musst es zulassen, verstanden zu werden, etwas, was du stets unterdrücken kannst. Es nicht zu unterdrücken heißt, wie ich sagen möchte, deinen Körper und den Körper deiner Äußerungen als deinen anzuerkennen, als das, was du hier auf Erden bist, als alles, was es je von dir geben wird.“ (ebenda, S. 608) Wenn der Körper also als Hindernis empfunden wird, Menschen (sich selbst oder andere) zu erkennen, dann kann dies ein Indiz dafür sein, dass die betreffende Person in ihrer Kindheit misshandelt oder missbraucht wurde bzw. Zeuge war, als dies einem anderen Menschen geschah.

Kehren wir zurück zu der alternativen Vorstellung, dass der menschliche Körper das beste Bild der menschlichen Seele ist, bzw. dass unser Verhältnis zu oder unsere Vorstellung von ihm uns zeigt, welche Konflikte zwischen Seele und Geist noch nicht gelöst sind. Den Konflikt, den uns unser Bezug zu unserem Körper deutlich macht, wenn wir ihn als Hindernis empfinden, Menschen zu erkennen, können wir so umreißen, dass unsere Seele sich wünscht, verstanden zu werden, unser Geist dies aber unterdrückt. Die Gründe für die jeweiligen Positionen von Seele und Geist sind oben geschildert und Möglichkeiten der Konfliktlösung sind zumindest grob angedeutet worden. Was für eine Art von Konflikt wird deutlich, wenn jemand seinen Körper als Besitz oder gar als Leibeigenen versteht, wenn es ihm ganz wichtig ist, „dass der eigene Körper nicht einem fremden Willen untertan ist“ (ebenda, S. 608 f.), auch wenn daraus noch nicht zwingend folgt, „dass der eigene Körper dem eigenen Willen unterworfen sein soll“ (ebenda, S. 609)? Hier geht es meines Erachtens um ein Machtstreben, das entweder vom Geist oder von der Seele ausgeht und so einen Konflikt zwischen beiden heraufbeschwört. „Jede Vorführung oder jede Tat kann durch Willen oder durch Anmut zustande kommen“ (ebenda), also entweder durch Macht- (Wille) oder durch Harmoniestreben (Anmut). Wenn etwas gewollt ist, dann liegen Seele und Geist im Streit und das Ganze ergibt nur einen „Wulst“, wenn dagegen Seele und Geist miteinander harmonieren, dann ist das Ganze gekonnt und damit Kunst. Wenn Seele und Geist in Harmonie sind, dann haben wir nichts zu verlieren, weil uns alles und nichts gehört, und somit sind wir wirklich frei. Wenn ein Imperativ technisch oder hypothetisch ist im Sinne von Kant (Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785 (A), zweite Auflage 1786 (B)), dann dominiert entweder der Geist oder die Seele. Nur beim kategorischen Imperativ sind Seele und Geist im Gleichgewicht, und wir sind frei. Damit wird klar, dass der kategorische Imperativ von Kant, das taoistische Wu wei (absichtsloses Tun), die absolute Harmonie bzw. Einheit von Geist und Seele, das echte und unmittelbare Verstehen des Worumwillens unseres Seins, also das Lieben und das Absolute Nichts alle auf dasselbe hinauslaufen.

Unser Sprachgebrauch gründet auf unseren Vorstellungen, unseren Repräsentationen der Realität und damit auf unserem befindlichen Verständnis von ihr. Unser Erleben, unser Verstehen und Empfinden, können wir sprachlich ausdrücken, indem wir unsere Deutung unseres befindlichen Verstehens (Heidegger nennt dies Rede (Heidegger, 2006)) sprachlich auslegen. Der herkömmliche Grammatikbegriff setzt erst bei der sprachlichen Auslegung an, während Wittgensteins grammatische Kriterien die Deutung mit einbeziehen. So betrachtet kann man den gesamten hermeneutischen Zirkel bestehend aus Vor-Habe, Vor-Sicht, Vor-Griff und praktischer Auslegung zur Grundlage dieser Grammatik machen. Wenn es uns um unsere Existenz geht, dann erwarten wir (Vor-Sicht, Geist), auch noch in der Zukunft existieren zu können, d.h. es geht uns um die Möglichkeiten unseres Seinkönnens – Heidegger nennt dies Existenzialität. Wir sind aber auch von dem, was bisher geschehen ist und was unsere Existenz bedingt, ergriffen (Vor-Habe, Psyche bzw. Seele) – Heidegger nennt dies Faktizität. Existenzialität und Faktizität liegen unseren Repräsentationen der Realität (Vor-Griff) zu Grunde, und je weniger brauchbar diese Vorstellungen der Realität entsprechen, um unsere Aufgaben im praktischen Leben (Auslegung, Körper bzw. Materie) zu bewältigen, je mehr unsere Repräsentationen der Realität widersprechen, statt ihr zu entsprechen, desto größer ist unsere Täuschung bezüglich der Realität, desto größer ist unser Scheitern und die damit verbundene Enttäuschung – wenn wir uns damit nicht entschlossen auseinandersetzen, dann entsteht etwas, was Heidegger als Verfallenheit bezeichnet. Genau dann, wenn es keinen Gegensatz bzw. Widersprüchlichkeit zwischen unseren Vorstellungen und der Realität gibt und damit auch keine Täuschung, genau dann ist unsere Ergriffenheit von unseren Existenzbedingungen im Einklang mit unseren Erwartungen von unserem möglichen Seinkönnen, d.h. Seele und Geist bilden eine Einheit. Wir sind es jeweils selbst, die aus bestimmten Bedingtheiten herkommen, auf die bestimmte Möglichkeiten unseres Seinkönnens zukommen, die bei bestimmten Repräsentationen der Realität ankommen, und die im praktischen Leben mit all dem auskommen müssen. Damit ist die Vorstellung von dem Wesen unseres Selbst geklärt, dass wir eigentlich ständig immer jeweils wir selbst sind, denn mit der Ganzheit von Herkunft, Zukunft, Ankunft und Auskunft haben wir den Rahmen, in dem dieses unser Selbst verständlich ist. Unsere jeweilige Ergriffenheit und Erwartung, aus denen wir uns unsere Vorstellung der Realität bilden, sind nicht aus der Realität ableitbar, sondern nur aus unserem praktischen Leben. Die Ergriffenheit und die Erwartung sind jeweils die von uns selbst, so dass sie das Phänomen unseres Selbst schon in sich bergen, d.h. das Selbst ist phänomenal in unserer Seele und unserem Geist enthalten und nur aus unserem praktischen Leben, unserem Körper ableitbar. Wenn Seele und Geist von uns sich im Widerstreit befinden, dann ist unser Selbst zerrissen und uneigentlich. Unser Selbst ist nur dann ganz und einheitlich, also ursprünglich, wenn Seele und Geist eine absolute Einheit bilden, wie das nach dem Mythos vom Sündenfall in dem Moment der Fall gewesen ist, als Gott mit seinem göttlichen Atem Adam zum Leben erweckte.

Wenn Cavell nun nach den verschiedenen Beziehungen zu unserem Selbst fragt (Cavell, 2006, S. 610), dann muss erst einmal gefragt werden, wie dessen Konstitution gerade ist, ob es zerrissen und uneigentlich oder ganz und eigentlich und damit ursprünglich ist. Im zweiten Fall sind Geist und Seele im absoluten Einklang und wir verstehen uns selbst echt und unmittelbar, d.h. wir lieben uns und damit auch unser Selbst. Ich und Selbst sind eins, und die Selbstliebe ist gleichzeitig auch die Liebe zu den anderen und zeigt sich in der dankbaren Annahme und Hingabebereitschaft der eigenen Existenz. Ich selbst betone dann weder meine Subjektivität noch meine Individualität. Ich sage nicht »Ich liebe mich« und frage auch nicht, ob ich von mir geliebt werde. Wenn Narziss „an unerwiderter oder nicht zu erwidernder Liebe“ (ebenda, S. 611) starb, dann bedeutet das, dass sein Selbst gespalten war und er sich selbst nicht echt und unmittelbar verstanden hat, dass also Liebe gar nicht im Spiel war. Im Fall eines zerrissenen und uneigentlichen Selbst gibt es keine einheitliche Beziehung, sondern verschiedene Beziehungen zu den verschiedenen Teilen unseres geteilten Selbst. Mit einem Teil identifizieren wir uns und sagen zu ihm »Ich-Ich«, indem wir unsere Subjektivität und paradoxerweise unsere Individualität betonen (ein Teil betont die Unteilbarkeit), und mit den anderen Teilen unseres Selbst hat dieser Teil mehr oder weniger positive Beziehungen und ist ihnen gewöhnlich eher indifferent gegenüber oder vergisst sie einfach in einer Art Selbstvergessenheit. Gewöhnlichkeit in den Selbstbeziehungen entspricht dann teilweise dem Man-Selbst bei Heidegger, nämlich dann, wenn die Psyche bzw. Seele, die durch Mitgefühl mit den anderen von den gemeinsamen Werturteilen geprägt ist, den Vorrang hat und den Geist zumindest partiell lähmt. Der Teil des zerrissenen Selbst, mit dem der Betreffende sich identifiziert, hat stärkere seelische Anteile als geistige. Wenn dagegen der Geist dominiert und das Mitgefühl der Seele ignoriert oder sogar bekämpft und unterdrückt, dann betrifft die Selbstvergessenheit vor allem bestimmte seelische Anteile, und das Ich, deutlich freier von gesellschaftlichen Werten und Normen, kann abwechselnd in die drei Rollen Opfer, Täter und Helfer springen (das sind dann alles Selbst-Anteile, mit denen der Betreffende sich identifiziert), so dass eine Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Selbst erfolgreich vermieden wird. Diese Variante der Gewöhnlichkeit kommt wahrscheinlich genauso häufig vor wie die des Man-Selbst. (Es sind auch Überschneidungen möglich, dass jemand, der von gemeinschaftlichen Werturteilen beeinflusst ist, „im Dreieck Opfer-Täter-Helfer springt“, dabei aber seltener in die Täter-Rolle geht, wenn offene Aggressionen gesellschaftlich verpönt sind.) Dass Heidegger auf diesem Auge blind war, ein Fall von Aspektblindheit, zeigt bzw. passt damit zusammen, dass bei ihm der Geist über die Seele dominierte. Bei seiner Vorstellung der Befindlichkeit und des befindlichen Verstehens sah er sich bzw. das eigentliche Dasein nur als Objekt der Psyche und als geistiges Subjekt (insgesamt als Individuum) und als Objekt des Geistes, das einen Auftrag zu entschlossenem Handeln bekommt. Er wehrte es aber ab, sich bzw. das eigentliche Dasein als psychisches Subjekt zu sehen, welches im Mitgefühl mit anderen bestimmte Wertvorstellungen teilt. Vermutlich hatte er zu große Ängste vor einer Abhängigkeit von anderen.

Wenn Tonio Kröger Hans Hansen wegen dessen Gewöhnlichkeit beneidet, dann bedeutet das, dass er indifferente Beziehungen zu Teilen seines Selbst und Selbstvergessenheit als wesentlich angenehmer empfinden würde als seine kritischen bzw. negativen Beziehungen zu den Teilen seines Selbst. „Ist das Gewöhnliche deshalb frei von Schicksal, mal abgesehen davon, dass es in Selbstvergessenheit lebt?“ (ebenda, S. 614) Natürlich nicht, denn die Abwehr eines Problems kann dieses nicht lösen. Das Komplizierte an unseren Selbstbeziehungen ist, dass der Teil unseres Selbst, mit dem wir uns identifizieren und von dem wir »Ich« sagen, nicht immer derselbe ist und teilweise sogar ständig wechseln kann. Nicht nur, aber auch darin zeigen sich unser mangelndes Selbstverständnis und unsere fehlende Liebe. Wir können uns selbst direkt nicht beneiden, aber wenn wir einen anderen wegen einer Eigenschaft oder Disposition beneiden, die ein Teil unseres Selbst ebenfalls besitzt, den wir aber vergessen haben, dann könnte man das als indirektes oder unbewusstes Selbst-Beneiden bezeichnen. Man kann sich auch nicht bei sich selbst entschuldigen, man kann aber bereuen, kann sich selbst bzw. den entsprechenden Teil seines Selbst immer echter und unmittelbarer in seinem Worumwillen verstehen und damit auch immer mehr verzeihen, so dass dieser Teil immer mehr zusammen integriert ist mit dem Teil, mit dem man sich identifiziert. Auf diese Weise kann die Zerrissenheit des Selbst immer mehr abgebaut werden, so dass es immer mehr ganz und einheitlich wird. Tonio Kröger bezeichnet das Leben als »ewigen Widerspruch von Geist und Kunst«, und da Kunst vor allem mit Ergriffenheit und damit mit der Seele zu tun hat, kann man diesen Ausspruch so interpretieren, dass Thomas Mann derselben Ansicht ist, dass das Leben aus der Aufgabe besteht, den utopischen Zustand von absoluter Einheit von Geist und Seele zu erreichen. Was Humes skeptischen Zweifel nennt, ist auch eine Beschreibung der Differenzen zwischen Geist und Seele, und wenn er diesen Zweifel als »eine Krankheit, die niemals vollständig geheilt werden kann« bezeichnet (ebenda), dann scheint auch er die Utopie zu erkennen, Geist und Seele in absoluten Einklang zu bringen. Utopische Ziele verfolgen wir vernünftigerweise allerdings nur dann, wenn wir auch schon auf dem Weg dorthin etwas Nützliches, nützliche Verbesserungen beim Lösen von praktischen Aufgaben und Problemen, erreichen können. Da die absolute Einheit von Geist und Seele gleichbedeutend mit Liebe ist, ist dieser Punkt schon in 2.3.4 beantwortet.

Cavell geht auf Seite 616 genauer auf das Thema der Gewöhnlichkeit und der Selbstvergessenheit ein und fragt, ob die Gewöhnlichkeit nicht auf die Behauptung hinauslaufe, „ich sei derjenige, der dazu verurteilt ist, in einer gewissen (durchschnittlichen) Unwissenheit über mich selbst zu verharren“ (ebenda), und ob wir diese Unwissenheit „als das Bewahren eines Geheimnisses denken“ (ebenda) müssen. An dieser Stelle wird jeder, denke ich, der jemals mit Missbrauchsopfern therapeutisch gearbeitet hat, an die Paradoxie erinnert, dass Opfer sich häufig für schuldig halten, als seien sie verurteilenswert, weil sie den Täter angeblich vielleicht provoziert und verführt hätten. Psychodynamisch erklärt man sich diese Paradoxie damit, dass sie der Angstbewältigung dient, denn wer schuldig ist, kann die Situation kontrollieren, und das Gefühl der Kontrolle vermindert die Angst. Dass der Missbrauch als Geheimnis bewahrt werden muss, das erzwingt der Täter durch Einschüchterung und schlimme Bedrohungen. So verurteilt sich das Missbrauchsopfer selbst zum Schweigen, lässt sich selbst im Dunkeln, indem es sich selbst verdunkelt; der Aspekt des Missbrauchs, für den es blind ist, ist für das Opfer dunkel, und die Gestalten des Opfers und Täters, deren Aspekt der Missbrauch ist, sind für das Opfer unkenntlich (frei nach ebenda).

Wenn Cavell fragt, was es bedeutet, sein Selbst zu kennen, dann ist eine Antwort nicht aus der Realität ableitbar, sondern nur aus dem praktischen Leben, genauso wie dies auch beim Selbst der Fall ist. Im praktischen Leben, in seinen Bedingungen, in seinen Möglichkeiten und in seinen Lösungen, liegt der Schlüssel zu (also die Auskunft über bzw. der Ausdruck) meiner Identität, und davon leben nahezu vollständig Drama, Tragödie und Komödie (frei nach ebenda, S. 617), indem sie im Nachspielen des praktischen Lebens aufzeigen, wie die Identität der verschiedenen Personen in den jeweiligen Szenen erfahren wird. „Das [die Identität] nicht zu wissen und es dann zu erfahren beschleunigt die Katastrophe oder wendet sie ab. Im Drama geht es darum, ob die Gleichsetzung [der Identität] rechtzeitig erfolgt. Die naheliegende Szene dafür ist der Augenblick des Wiedererkennens.“ (ebenda) Cavell fragt nun, wie man die beiden folgenden Beziehungen ausdrücklicher und brauchbarer formulieren könne: zum einen die Beziehung zwischen der „Tatsache, dass Skeptizismus und Tragödie mit der Bedingung menschlicher Isolierung enden, [… und] der Entdeckung, dass ich ich bin“ (ebenda, S. 618); zum andern die Beziehung zwischen Anerkennung und Vermeidung des anderen aufgrund der „Tatsache, dass die Alternative zu meiner Anerkennung des anderen nicht ist, dass ich ihn nicht kenne, sondern dass ich ihn meide, man könnte auch sagen, dass ich ihn verleugne“ (ebenda).

Wenn der Skeptizismus und die Tragödie mit der Bedingung menschlicher Isolierung geendet haben, dann bleibt mir als dem isolierten Menschen, wenn ich mich mir selbst zuwende, nur noch das leere »Ich bin ich«. Dies kann erst dann ekstatisch werden, wenn ich diesen Gedanken wieder zurückkehren lasse zu seinem Ursprung, in welchem Denken und Sein verschwinden – das ist dieses »Ich bin Nicht-Ich« –, dann bin ich vom substanzialisierenden Denken und Sein zumindest für den Augenblick befreit, in dem ich eine echte und unmittelbare Erfahrung von mir selbst mache. „Dass ich ich bin, besagt daher, dass ich nicht einmal ich bin – ein heiteres oder vielmehr ekstatisches Aufscheinen der Möglichkeit, dass alle Definitionen und Beschreibungen, die mir die Welt von mir gibt, mich nicht erschöpfen.“ (ebenda, S. 619) »Echt und unmittelbar« bedeutet genau das, nämlich dass ich mich von allen Identifikationen löse, mich disidentifiziere, mich so von allen Teilen meines Selbst löse und nichts bevorzuge, indem ich sage, „das bin ich“, sodass mein zerrissenes Selbst ganz werden kann. »Echt und unmittelbar« besagt nicht, dass ich mir nicht glaube, was auch grammatisch nicht geht: ich kann an mich glauben, das ist Selbstvertrauen, ich kann etwas glauben (oder nicht), was ich sage, dann ersetzt Glaube Wissen, aber ich kann mir z.B. nicht glauben, dass ich Schmerzen habe, das ist genauso schizophren, wie wenn ich sage, ich weiß, dass ich Schmerzen habe. Wenn ich bei dem »Ich bin Ich« stehen bleibe, dann kann sich „Hass gegen Andere, Grundblindheit über sich selbst und Habgier“ (Ueda, 2011, S. 442) entwickeln, die „dreifache Selbstvergiftung [...] als die Grundverkehrtheit und der Unheilsgrund des Menschen“ (ebenda). Substanzialisierend ist ja im Grunde auch dasselbe wie identifizierend, sodass jede Disidentifikation zur Befreiung vom substanzialisierenden Denken und Sein beiträgt. »Echt und unmittelbar« besagt daher ebenfalls, dass „die entsubstanzialisierende Bewegung des absoluten Nichts [...] eine reine Bewegung des Nichts in zusammenhängender Doppelrichtung“ (ebenda, S. 442 f.) ist. »Unmittelbar und echt« ist „Negation der Negation im Sinne der weiteren Verneinung der Negation, ohne zur Bejagung umzukehren, weit ins unendliche offene Nichts“ (ebenda, S. 443), und »unmittelbar und echt« ist zugleich „Negation der Negation im Sinne der Umkehr zur Bejahung ohne jede Spur der Vermittlung“ (ebenda), denn ich bin nicht immer, überall und in jeder Hinsicht mittelbar oder unecht. „So ereignet sich in diesem Nichts als dem Nichts des Nichts dann eine Grundwendung und völlige Umkehr wie in »Stirb und Werde« oder im »Tod und Auferstehung«“ (ebenda). Damit ist also die Ekstase der Zukunft im Sinne von Heidegger angesprochen.

Als isolierter Mensch habe ich, da alles, was mir zustößt oder zugestoßen ist, mein Leben ist, nur noch das leere »Leben ist Leben«, welches ebenfalls ekstatisch werden kann, wenn ich diesen Gedanken wieder loslasse, ihn verlöschen und zurückkehren lasse zu seinem Ursprung, in welchem Denken und Sein verschwinden – das ist dieses »Leben ist Nicht-Leben« –, dann bin ich vom substanzialisierenden Denken und Sein zumindest für den Augenblick befreit, in dem ich eine echte und unmittelbare Erfahrung vom Leben selbst mache. Dass Leben Leben ist, besagt daher, dass Leben nicht einmal Leben ist – ein heiteres oder vielmehr ekstatisches Aufscheinen der Möglichkeit, dass alle Definitionen und Beschreibungen, die mir die Welt vom Leben gibt, das Leben nicht erschöpfen (frei nach Cavell). Wenn ich bei dem »Leben ist Leben« stehen bleibe, dann kann sich wie oben ebenfalls „Hass gegen Andere, Grundblindheit über sich selbst und Habgier“ (ebenda, S. 442) entwickeln, die „dreifache Selbstvergiftung [...] als die Grundverkehrtheit und der Unheilsgrund des Menschen“ (ebenda). Bei dieser Erfahrung vom Leben handelt es sich „um eine völlig neue Realität als eine Vergegenwärtigung des selbstlosen Selbst“ (ebenda, S. 443) aus seiner wahren Herkunft heraus. Damit ist also die Ekstase der Herkunft (der Gewesenheit nach Heidegger) angesprochen. Es handelt sich um die Herkunft bzw. „die Auferstehung aus dem Nichts, um die radikale Wendung von der absoluten Negation zum großen »Ja«“ (ebenda). »Leben« „ist hier also, so wie es sich ereignet, zugleich ein Spielen der selbstlosen Freiheit des Selbst“ (ebenda).

In der menschlichen Isolierung bleibt mir dem anderen gegenüber nur noch das leere »Der andere ist anders«, und auch das kann erst ekstatisch werden, wenn ich diesen Gedanken wieder loslasse, ihn verlöschen und zurückkehren lasse zu seinem Ursprung, in welchem Denken und Sein verschwinden – das ist dieses »ein anderer ist nicht anders« –, dann bin ich vom substanzialisierenden Denken und Sein zumindest für den Augenblick befreit, in dem ich eine echte und unmittelbare Erfahrung der Andersheit des anderen bzw. vom Geheimnis der zwischenmenschlichen Begegnung mache. Dass ein anderer anders ist, besagt daher, dass ein anderer nicht einmal anders ist – ein heiteres oder vielmehr ekstatisches Aufscheinen der Möglichkeit, dass alle Definitionen und Beschreibungen, die mir die Welt vom anderen gibt, seine Andersheit nicht erschöpfen (frei nach Cavell). Wenn ich bei dem »ein anderer ist anders« stehen bleibe, dann kann sich wie oben ebenfalls „Hass gegen Andere, Grundblindheit über sich selbst und Habgier“ (ebenda, S. 442) entwickeln, die „dreifache Selbstvergiftung [...] als die Grundverkehrtheit und der Unheilsgrund des Menschen“ (ebenda). Bei dieser Erfahrung vom Geheimnis des anderen „wirkt und spielt das wahre Selbst, vom Nichts auferstanden, zwischen Mensch und Mensch als selbstlose Dynamik des »Zwischen« [...], oder auch: das Selbst, durch das absolute Nichts aufgeschnitten, geöffnet, entfaltet sich als das »Zwischen«“ (ebenda, S. 444). Damit ist also die Ekstase der Ankunft (der Gegenwart nach Heidegger) angesprochen. »Begegnung« ist hier also, so wie sie sich ereignet, zugleich „der eigene Spielraum, Spielinnenraum des Selbst“ (ebenda, S. 444).

In der menschlichen Isolierung bleibt mir im praktischen Leben, wenn es mir um Anerkennung oder Zuwendung im Gegensatz zu Vermeiden und Verleugnen geht, also um Verstehen und Lieben, nur noch das leere »Lieben ist Lieben«, das erst dann zur Ekstase werden kann, wenn ich diesen Gedanken wieder loslasse, ihn verlöschen und zurückkehren lasse zu seinem Ursprung, in welchem Denken und Sein verschwinden – das ist dieses »Lieben ist Nicht-Lieben« –, dann bin ich vom substanzialisierenden Denken und Sein zumindest für den Augenblick befreit, in dem ich eine echte und unmittelbare Erfahrung vom Lieben mache. Dass Lieben Lieben ist, besagt daher, dass Lieben nicht einmal Lieben ist – ein heiteres oder vielmehr ekstatisches Aufscheinen der Möglichkeit, dass alle Definitionen und Beschreibungen, die mir die Welt vom Lieben gibt, das Lieben nicht erschöpfen (frei nach Cavell). Wenn ich bei dem »Lieben ist Lieben« stehen bleibe, dann kann sich ein Selbstbewusstsein etablieren, andere geliebt und womöglich sogar dadurch noch gerettet zu haben, was innerlich schon wieder alles verderben würde, und es kann sich wie oben ebenfalls „Hass gegen Andere (, die sich womöglich von mir nicht lieben lassen wollen), Grundblindheit über sich selbst und Habgier“ (ebenda, S. 442) entwickeln, die „dreifache Selbstvergiftung [...] als die Grundverkehrtheit und der Unheilsgrund des Menschen“ (ebenda). Diese Erfahrung vom Lieben „bewährt sich darin, einen anderen erwachen zu lassen, und zwar so, dass dieser selber erwacht“ (ebenda, S. 445). Damit ist also die Ekstase der Auskunft (Kolb, 2011) angesprochen. Es geht dabei darum, wie Sokrates ganz einfache Fragen zu stellen und nur um ganz einfache Auskünfte zu bitten, „und bei dem Anderen wird die Frage nach sich selbst, nach dem wahren Selbst erweckt: »Wer bin ich eigentlich?« (ebenda, S. 446). Bei der Liebe geht es „um die Überlieferung des Selbst, von Selbst zu Selbst“ (ebenda).

Bei diesen Antworten auf Cavells Fragen geht es nicht um brauchbarere Formulierungen, sondern um eine Anleitung zu eindrücklicheren Erfahrungen, und diese sind meines Erachtens viel brauchbarer als Formulierungen, die nur dann etwas nützen, wenn man ähnliche Erfahrungen gemacht hat. Von daher verstehe ich auch Cavell, warum er zögert zu sagen, „der Skeptiker greife unsere Meinungen über die Welt an (bzw. der Philosoph der Alltagssprache verteidige sie). Was der Skeptiker bewertet, sind unsere Konstruktionen der Welt, post festum-Konstruktionen, unsere Fiktionen von der Welt“ (Cavell, 2006, S. 621), wie brauchbar sie im praktischen Leben sind. Von daher sind Erfahrungen immer wichtiger als Konstruktionen und Formulierungen.

Körper, Geist und Seele sind, wie schon erwähnt, lediglich verschiedene Aspekte eines Menschen und müssen zusammen gesehen werden, wenn wir das Mensch-Sein immer besser verstehen wollen. Wenn wir lieben, also das utopische Ziel erreicht haben, dass wir das Worumwillen von allem Seienden echt und unmittelbar verstehen, dann sehen wir im Körper den Aspekt der Entfremdung der Liebe, im Geist den Aspekt der Rückkehr zur Liebe und in der Seele den dynamischen Aspekt der Liebe, so dass Körper, Geist und Seele als Einheit erkennbar sind. Je mehr man umgekehrt Körper, Geist und Seele zusammen als Einheit sehen kann, desto mehr versteht man die Dynamik im Seelischen, das Richtung-Gebende im Geistigen und das bildhaft Zeigende des Verhältnisses von Geist und Seele im Körperlichen, inwieweit und inwiefern Seele und Geist noch einander entfremdet sind. Um immer mehr Harmonie, Vertrautheit und Einheit zwischen Geist und Seele zu erreichen und damit auch im Körperlichen, braucht man immer mehr das echte und unmittelbare Verstehen des Worumwillens zuerst des eigenen und dann des Seienden von allem, da das eigene Dasein ein In-der Welt-Sein ist und daher mit allem anderen Seienden zusammenhängt. Wir brauchen also immer mehr die Liebe, und im strebenden Bemühen um Harmonie, Vertrautheit und Einheit zwischen den Aspekten Seele und Geist entwickeln wir uns immer mehr in Richtung Liebe, und das sorgt auch für unser körperliches Wohlbefinden, wodurch wir ein wichtiges Kriterium dafür besitzen, ob wir uns auch tatsächlich in die richtige Richtung bewegen.

Beseelung und Begeisterung oder Fleischwerdung?

[Bearbeiten]

Wenn wir noch einmal die beiden Alternativen unseres Bezugs zu unserem Körper betrachten, zum einen, dass unser Körper das beste Bild unserer Seele ist, zum anderen, dass er ein Hindernis ist, uns selbst und andere zu erkennen, dann muss ich im zweiten Fall berechtigte Zweifel haben, ob das, was ich sage, tatsächlich von mir kommt, d.h. ich akzeptiere meine Äußerungen meiner selbst nicht unbedingt, ich glaube mir also nicht bedingungslos – eine schizophrene Situation, weil ich mir dann z.B. auch nicht unbedingt glaube, dass ich Schmerzen habe. Ich mache mich unter bestimmten Bedingungen von anderen abhängig, etwa von einem Arzt, der mir sagt, ich könne keine Schmerzen haben, obwohl ich welche empfinde. Ich bin dann vielleicht ganz entgeistert und glaube dem Arzt und nicht mir, als ob meine Empfindungen und mein Denken darüber gar nicht meine Empfindungen und mein Denken sind, als ob meine Seele und mein Geist gar nicht meine Seele und mein Geist sind, als ob ich nur von außen beseelt und begeistert werde und nur ein Zombie bin, mit dem man machen kann, den man beliebig benutzen kann. Mein Körper wird sozusagen von außen beseelt und mit Geist versehen, eine Beseelung und Begeisterung von außen, und ich bin nur Körper, nur Staub, ein Nichts, von außen bestimmt und nicht von mir selbst. Mein Selbst ist bei dieser Vorstellung mein Körper, und meine Seele und mein Geist, das bin nicht ich – und das ist schizophren. Es gibt allerdings ein Phänomen, welches uns an unseren Empfindungen zweifeln lassen kann, nämlich der Phantomschmerz, wenn ich z.B. wie auch immer mein linkes Bein verloren habe und Schmerzen empfinde, als ob mir etwas am linken Fuß weh täte. Ist das dann ein Geisterfuß (meine Sprache von dem Schmerz lässt ja einen Fuß vermuten, und es ist kein Fuß da) und bin ich tatsächlich von außen beseelt und begeistert unabhängig von meinem momentanen Körper? Beim Phantomschmerz bin ich vom Erleben her in einem Als-ob-Modus, als ob ich noch mein verlorenes Bein hätte. Bei der Vorstellung der Beseelung und Begeisterung von außen bin ich nur dann nicht schizophren, bin immer noch selbst meine Seele und mein Geist, wenn ich mir klar darüber bin, dass ich vom Erleben her in einem Als-ob-Modus bin. Wenn ich die Meinung und das Gefühl eines anderen ausdrücke und dabei glaube, es sei meine Meinung und mein Gefühl, obwohl das nicht stimmt, dann bin ich nicht in einem normalen Bewusstseinszustand, sondern z.B. in Hypnose oder in einem psychotischen Schub. Im Als-ob-Modus dagegen bin ich wie ein Schauspieler, der die Rolle eines anderen spielt und davon weiß.

Im anderen Fall, wenn unser Körper das beste Bild der Seele ist, dann bin ich überzeugt, dass ich für andere, die mich körperlich wahrnehmen, in meinen Äußerungen verständlich bin. Meine Seele ist in diesem Sinne körperlich geworden, sie ist abbildhaft Fleisch geworden nach außen hin, eine Fleischwerdung nach außen, und mein Körper ist das fleischliche Bild meiner Seele, das irgendwann einmal zu Staub zerfällt. Als Körper bin ich das fleischliche Abbild meiner Seele (und meines Geistes) und von mir selbst bestimmt, und ich glaube meinem Körper. Wenn ich nun mich selbst als meinen Körper wahrnehme, dann glaube ich mir selbst. Ein wörtliches Mir-Selbst-Glauben, wenn es nicht wie bei der Vorstellung der Beseelung und Begeisterung von außen schizophren sein soll, setzt aber voraus, dass ich mein Selbst als meinen Körper identifiziere, doch ist das nicht schizophren? Im vorigen Kapitel konnten wir aufzeigen, dass das Selbst in unserer Seele und unserem Geist phänomenal enthalten und aus unserem Körper ableitbar ist. Ableitbar, weil der Körper das Bild unseres Selbst enthält, und phänomenal enthalten, weil unser Selbst von der Welt ergriffen ist und Erfüllung erwartet. Wenn ich also mein Selbst mit meinem Körper identifiziere, dann ist das so, als sagte ich zu meinem Bild in einem Spiegel: „Das bin ja ich!“ Wenn das wörtlich so stimmte, dann hätte ich mich verdoppelt, und das wäre tatsächlich schizophren. Da ich aber tatsächlich im Alltag zu meinem Spiegelbild sage, dass ich das bin, ohne der Meinung zu sein, dass ich mich verdoppelt habe, kann ich auch sagen, ich glaube mir selbst, ohne mein Selbst mit meinem Körper zu identifizieren, also ohne schizophren zu sein. Ich bin also, wenn ich sage, „ich glaube mir selbst“ oder „ich glaube mir selbst nicht“, vom Erleben her in einem Äquivalenz-Modus, denn mein Selbst und mein Körper sind äquivalent, also nur gleichwertig und nicht gleich. Bei der Vorstellung der Fleischwerdung nach außen betrachte ich meinen Körper ja als Abbild und identifiziere ihn gerade nicht mit meinem Selbst, das in ihm auch nur abgebildet wird. Seele und Geist sind Fleisch geworden im Körper und damit in die Welt gekommen, in die Realität, so dass man vom Erleben her diesen Modus, in den ich durch diese Vorstellung hineinversetzt bin, auch deswegen als Äquivalenz-Modus bezeichnen kann, weil Seele und Geist im Körper Fleisch geworden und daher ihm äquivalent sind und sich als Repräsentation der Realität im Umgang mit ihr, im praktischen Leben, bewähren können, dürfen, sollen, müssen.

Auf den ersten Blick scheinen sich die beiden Vorstellungen der Beseelung und Begeisterung von und der Fleischwerdung nach außen zu widersprechen, aber wenn wir uns die Entwicklung eines Kindes in der Mutter-Kind-Beziehung der ersten Lebensjahre betrachten, dann findet beides parallel zueinander statt, die Mutter begeistert ihr Kind von außen, wobei dieses sich vom Erleben her im Als-ob-Modus befindet, und sie beseelt es von außen, indem sie liebevoll zu ihm ist (das Kind ist dabei im Äquivalenz-Modus des Erlebens, es erlebt die Liebe der Mutter am Körper, der äquivalent zu seiner Seele ist) und vom Erleben her setzt sich das Kind in beiden Modi immer mehr mit der Welt auseinander und seine Seele entfaltet sich im Äquivalenz-Modus und sein Geist im Als-ob-Modus, und beides wird im „Fleisch“ seines Körpers und dessen Ausdruck immer sichtbarer und damit äquivalenter zum Körper, bis es am Ende dieses Entwicklungsabschnitts mit etwa vier Jahren vom Erleben her die beiden Modi und damit Geist und Seele miteinander verbindet. In der Pubertät lernt der Jugendliche, seine Seele bzw. seine Empfindungen und seine Gedanken bzw. seinen Geist hinter seinem sich geschlechtlich entwickelnden Körper immer mehr zu verbergen, bis er sich dann als Erwachsener in der intimen körperlichen Partnerbeziehung wieder mehr mit seinen Empfindungen und Gedanken körperlich zeigt. So kann das immer hin und her gehen, dass der Körper einmal Seele und Geist verbirgt und dann wieder offenbart.

Dieses Hin und Her kommt von den jeweiligen Krisen, in denen wir skeptisch an uns selbst und/oder an der Welt zweifeln, und den entsprechenden Lösungsstrategien, die wir dabei entwickeln, indem wir etwas über uns oder über die Welt glauben, wodurch wir aber die Zweifel nur bis zur nächsten Krise überwinden, wenn eine neue (oder noch einmal dieselbe) Entwicklungsaufgabe auf uns wartet. Hier wird die Rolle des Geistes sichtbar: im Als-ob-Modus des Erlebens unterstützt die Mutter die Entwicklung des Geistes und begeistert ihr Kind, indem sie das Sein des Kindes deutet und ihm neue Möglichkeiten des Seinkönnens aufzeigt, d.h. diese Begeisterung hilft dem Kind, sein geistiges Potenzial immer mehr zu erweitern. Bei diesem Prozess entsteht allerdings nur dann eine Begeisterung beim Kind bzw. diese wird um so größer sein, je passender die Deutungen der Mutter sind, je echter und unmittelbarer sie ihr Kind befindlich versteht, je mehr sie es also liebt. Wenn die Mutter außerdem ihrem Kind entsprechend einfühlsam und liebevoll Wünsche erfüllt und Bedürfnisse befriedigt, was im Umgang nur auf der körperlichen Ebene stattfinden kann, dann wird das Kind, wenn es in den Äquivalenz-Modus des Erlebens geschaltet hat, weil es sich von der Mutter befindlich verstanden fühlt, seine Seele „gestreichelt“ und bereichert fühlen. Dabei wird das Kind nicht im wörtlichen Sinne beseelt, dass ihm Empfindungen eingepflanzt werden, die es vorher nicht hatte, sondern es lernt, was für Stimmungen in seiner Seele schlummern, d.h. die Beseelung ist eigentlich eine Art Entwicklungshilfe, bei der seelische Potentiale zum Leben erweckt werden. So wird das Kind von der Mutter im Als-ob-Modus begeistert und im Äquivalenz-Modus beseelt. Im späteren Leben nehmen andere Bezugspersonen die Stelle der Mutter ein, und der Betreffende kann sich auch selbst begeistern und beseelen, indem er bei entsprechendem befindlichem Verstehen des Worumwillens seines Seins (wie die Mutter) mit sich selbst und seinem Körper umgeht. Dabei sollte das seelisch-geistige Gleichgewicht erhalten und nicht erschüttert werden, sonst gelingt die Integration von Als-ob-Modus und Äquivalenz-Modus nicht richtig und die betreffende Person wird früher oder später neurotisch oder psychotisch, je nachdem ob die Seele mit dem Äquivalenz-Modus oder der Geist mit dem Als-ob-Modus des Erlebens ein Übergewicht hat und dadurch jeweils negativ wird (die seelische Stimmung wird ängstlich und depressiv, der Geist machtbesessen und wahnhaft). Daher sollte bei einem Neurotiker in einer Psychotherapie der Als-ob-Modus des Erlebens angeregt werden, damit er wieder begeistert positive Zukunftsperspektiven entwickelt und so seinen Geist stärkt, wodurch dann seine Seele ergriffen wird und die entsprechende Motivationskraft entfaltet, während der Psychotiker in den Äquivalenz-Modus des Erlebens gebracht werden muss, damit er aus seiner konstruierten Traumwelt der Möglichkeiten seines Seinkönnens auf den Boden der Tatsachen, in die Realität der Welt mit ihren Bedingtheiten und zu seinen tatsächlichen Bedürfnissen und Wünschen kommt, was die Seele stärkt, und sich mit seinen Täuschungen geistig entschlossen auseinandersetzt, so dass er dann Möglichkeiten seines Seinkönnens planen und durchführen kann, die der Realität besser entsprechen, bei denen es nicht immer wieder zu denselben Täuschungen kommt.

Wenn ein Kind beispielsweise zu streng erzogen wird mit der Begründung, dass etwas Böses in ihm steckt, das bekämpft werden muss, wie dies bei der streng christlichen Erziehung von Nietzsche der Fall war, dann wird die Seele als das Gefährdete und Gefährliche betrachtet, das bekämpft bzw. unter Kontrolle gebracht werden muss, und zwar durch den Geist, der durch die strenge Erziehung im christlichen Glauben mit entsprechenden Vorstellungen und Dogmen aufgebaut und enorm gestärkt wird, sodass ein entsprechend starkes Ungleichgewicht geschaffen wird. Wenn wir dann wie Nietzsche sagen, „wage es, deinem Körper zu glauben“, dann meint das vordergründig, „wir zweifelten an unserem Körper, hegten den Verdacht oder die Phantasie, dass [...] mein Körper nicht der meine ist, nicht ursprünglich mein. Als wollte man sagen: Descartes´ Trick, an der Existenz seines Körpers zu zweifeln, kam erst lange nachdem wir seine Existenz in der Praxis geleugnet hatten; bestenfalls liefert er einen Abriss einer jahrtausendelangen Geistesarbeit. Und mein Geist ist nicht mehr, wenn nicht gar weniger, der meine als mein Körper“ (ebenda, S. 624). Wenn der Körper früh in der Kindheit misshandelt wurde wie bei Nietzsche, „diesem einst so häufig ausgepeitschten Kind“ (Miller, 1996, S. 41), dann liegt der Verdacht nahe, dass dieser Körper nicht ursprünglich der eigene ist, und körperliche Misshandlungen versuchte man schon jahrtausendelang geistig im Als-ob-Modus des Erlebens durch abhärtende Disziplin zu verarbeiten, was aber so nur für begrenzte Dauer zu erreichen war, nämlich solange die Kraft dazu ausreichte. Hintergründig betrachtet sieht es so aus, als habe Nietzsche versucht, seine Seele vor der Übermacht des Geistes zu retten, indem er den Körper als ihr Spiegelbild stärkte. Er bleibt dabei aber immer noch im Als-ob-Modus des Erlebens verhaftet, es scheint nur so, als ob er seine Seele befreite, er tat es aber nie wirklich, er spielte nur mit der Möglichkeit, wenn auch sehr kreativ. Im Äquivalenz-Modus, um seine Seele wirklich zu befreien und nicht nur mit Möglichkeiten des Seinkönnens zu spielen, hätte er sich gegen seine wirklichen Misshandlerinnen wenden und wehren müssen und sich ganz konkret von ihnen distanzieren müssen, er hätte gegen die Intrigen seiner Schwester, mit denen sie seine Verbindung mit Lou Salomé auseinander getrieben hatte, vorgehen und sich von seiner Familie lossagen müssen. Das wäre der Schlüssel zu seiner Identität gewesen.

Wenn Cavell deshalb feststellt, „Nietzsche kennt keinen Schlüssel zur eigenen Identität“ (Cavell, 2006, S. 624), dann stimmt er darin mit Alice Miller nur teilweise überein, die in ihrem Buch mit dem Titel „Der gemiedene Schlüssel“ diese Ansicht radikalisiert und über Nietzsche schreibt, dass er den Schlüssel zur eigenen Identität zwar gekannt, aber gemieden hat, z.B. dadurch, dass er „den Manipulationen und Unehrlichkeiten seiner Schwester gegenüber nur selten sein Unbehagen zeigen [kann], er darf nicht sehen, wie sie wirklich ist. Tut er es, nimmt er das Gesagte schnell wieder zurück. [..] Hätte er zu sehen gewagt, wie die Frauen seiner Kindheit wirklich waren, dann hätte er die Verallgemeinerung nicht nötig gehabt. Er hätte nicht alle Frauen an sich global als Hexen und Schlangen erlebt und sie nicht allesamt zu hassen brauchen.“ (Miller, 1996, S. 42) Dadurch kommt dann der Wiederholungszwang zustande, „dass es keinen Schluss gibt, nur Wiederkehr, ewige Wiederkehr“ (Cavell, 2006, S. 624), weil Nietzsche alles andere, nur nicht die selbst erlebten körperlichen Misshandlungen und die Täterinnen angeprangert und die von ihnen verdammten und verteufelten Bedürfnisse und Wünsche anerkannt hat, im Gegenteil, er glorifiziert die Misshandlungen indirekt im Bild des zum Kamel gewordenen Geistes in der ersten Predigt Zarathustras: „Was ist das Schwerste, ihr Helden? so fragt der tragsame Geist, dass ich es auf mich nehme und meiner Stärke froh werde, […] ist es das: Die lieben, die uns verachten, und dem Gespenste die Hand reichen, wenn es uns fürchten machen will?“ Ist es, die zu lieben, die ihn als Kind so grausam misshandelt haben? So sieht er sich in seiner Kindheit als Kamel, welches durch die ihm aufgebürdeten Peitschenhiebe ganz viel Kraft und Stärke entwickelt hat. Die Verteufelung durch die Peitschenhiebe (man könnte es auch Exorzismus nennen) hat seine Seele verkrüppelt, indem seine Wünsche und Bedürfnisse verurteilt und dadurch abgespalten wurden, aber seinen Geist hat er dann im Gegenzug gestählt und zu einer starken, schneidenden Waffe gemacht (das Schwert des Geistes). Das Ausmaß der Verleugnung seiner (also Nicht-Anerkennung und Abwendung von seinen) Empfindungen und Bedürfnisse(n) und die enorme Entwicklung seiner Geisteskraft wird in folgender Szene sehr deutlich: „Von einem starken Regen auf dem Heimweg nach der Schule überrascht, hat das Kind Nietzsche seinen Schritt nicht beschleunigt, sondern ging langsam aufrecht weiter. Als Erklärung sagte der Junge, dass man »beim Verlassen der Schule ruhig und gesittet nach Hause gehen müsse. Das verlange das Reglement.« (C.-P. Janz, 1978) Welche Dressur musste wohl diesem Benehmen vorausgegangen sein?“ (Miller, 1996, S. 19 f.)

Wie man an dem Beispiel von Nietzsche, aber auch bei der Beobachtung der Interaktion von Mutter und Kind sehen kann, ist der Körper nicht nur Bild und Ausdruck der Seele, sondern über den Körper werden auch Geist und Seele beeinflusst, und zwar positiv wie negativ. Wenn dabei die Seele heruntergezogen wird, erfinden wir Mythen und Märchen, in denen die Körper von Tieren als Wohnstätten der menschlichen Seele und des Geistes vorkommen wie beim Froschkönig. Auch bei Nietzsche finden wir dieses Moment mit dem Kamel und dem Löwen in der ersten Predigt Zarathustras. Dabei bedeutet das jeweilige Tier den jeweiligen Zustand von Seele und Geist, in dem die betreffende Person sich gerade befindet („Sei kein Frosch!“, „Oh, ich Kamel!“, „Ich kämpfe wie ein Löwe.“), aber das Märchen erwähnt auch immer die Übeltäter, Hexen oder böse Zauberer, die der betreffenden Person das angetan haben. Bezeichnenderweise lässt Nietzsche die Übeltäter aus, die ihn in ein Kamel verwandelt haben.

Wenn wir als Kind körperlich misshandelt oder missbraucht werden, dann können wir diese Verletzungen als Verurteilung der Seele oder als Demütigung des Geistes erleben, und je nach Ausmaß des körperlichen Schmerzes empfinden wir mehr oder weniger große Angst vor der Vernichtung des Körpers, wenn wir die Angst nicht verdrängen. Bei Nietzsche wurde seine Seele verteufelt, und sein starker Geist unterdrückte das körperliche Schmerzempfinden, härtete den Körper ab und verdrängte so die Angst. Vom Erleben her war er im Als-ob-Modus und lebte als individuelles geistiges Subjekt, als ob bei der Abhärtung seines Körpers durch den feurigen Schmerz der Peitschenhiebe seine Seele gereinigt worden sei. Ich denke, dass Nietzsche nicht zufällig die Figur des Zarathustra gewählt hat, denn im Zarathustra-Kult spielt das Feuer und seine reinigende Kraft eine große Rolle. Weil dann im Alter seine Kraft – durch körperliche Erkrankungen noch zusätzlich geschwächt – für die Disziplinierung seiner Empfindungen nicht mehr ausreichte, als er in Mailand sah, wie ein Kutscher sein Zugpferd auspeitschte, dekompensierte er und wurde psychotisch. Im Äquivalenz-Modus hätte er die reale Misshandlung seines Körpers erkennen können, im Austausch mit mitfühlenden Menschen so beurteilen können, dass seine Seele und seine Empfindungen wieder belebt und gestärkt worden wären, so dass er vom Geist her Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit und notfalls der Distanzierung von seiner Familie hätte finden und durchführen können. Je ausgiebiger und ausgeprägter verneinende Kritik, die sich erst gegen die eigenen Bedürfnisse und Empfindungen und dann gegen die von unbeteiligten anderen richtet, und die entsprechenden geistigen Anstrengungen im Als-ob-Modus des Erlebens sind, desto größer der Verdacht, dass der oder die Betreffende körperlich misshandelt oder missbraucht wurde verbunden mit seelischen Verurteilungen (die Unterstellung von Bösartigkeit), und dass er oder sie die seelischen Verletzungen davon auf diese Weise zu verarbeiten oder zu kompensieren sucht. Dies stellt allerdings nur eine Ersatzhandlung dar und mündet meistens wie bei Nietzsche in einen Wiederholungszwang, da die Kritik sich immer nur gegen die falschen Personen richtet und der Betreffende sich so immer mehr Feinde macht, gegen die er sich dann, wie er glaubt, wieder mit Kritik wehren muss. Erst wenn es uns gelingt, zu erkennen, dass das, was wir aus vollem Herzen wollen, vollkommen gut und aus sich selbst heraus gerechtfertigt ist („Kann denn Liebe Sünde sein?“), dass Wünsche und Bedürfnisse zu äußern kein zu verurteilender Egoismus ist, sondern ein Akt der Übernahme der Verantwortung für sich selbst, unter anderem auch damit man anderen nicht zur Last fällt, und dass diejenigen, die sich in unserer Kindheit als falsche Richter aufgespielt haben, Gefahr laufen, selbst gerichtet zu werden, d.h. dass alle erlebten Verurteilungen aufgehoben und in ihr Gegenteil gewendet sind, kann sich unser Seelenleben entwickeln, so dass das Gleichgewicht zwischen Geist und Seele wieder hergestellt und unser Wahn damit geheilt werden kann.

Wenn die körperliche Misshandlung mit einer Demütigung des Geistes verbunden ist (Unterstellung von Dummheit, Leichtsinn, Naivität oder ähnliches) oder zumindest von uns als Kind so erlebt wird, dann wird das Erleben von (meist unerfüllten) Bedürfnissen und Empfindungen verstärkt und damit der Äquivalenz-Modus, und auch das körperliche Schmerzempfinden und damit die Angst vor Vernichtung werden entsprechend größer. Sobald stärkere Gefühle von Angst, Wut und Schmerz aufkommen, werden wir von ihnen beherrscht, und können unsere geistigen Fähigkeiten kaum einsetzen. Nur in Lebensbereichen, die relativ frei von derartigen Emotionen sind, können sich diese entwickeln und frei entfalten. In anderen Bereichen, vor allem in vielen zwischenmenschlichen, benehmen wir uns dann neurotisch, indem wir regredieren und wie ein Kind reagieren, welches sich geistig etwa auf der Entwicklungsstufe befindet, in der die Demütigung unseres Geistes erlebt wurde. Je ausgiebiger und ausgeprägter eine unangemessene Bescheidenheit und abwehrende emotionale Reaktionen, die sich erst in mangelndem Selbstvertrauen, negativen emotionalen Selbsteinschätzungen (z.B. auch Körperschemastörungen bei Anorexia nervosa, wenn eine abgemagerte Frau sich immer noch für zu dick hält) und dann in emotionaler Verschlossenheit gegenüber unbeteiligten anderen zeigen, und je größer die entsprechenden Ängste im Äquivalenz-Modus des Erlebens in bestimmten Bereichen sind, desto größer der Verdacht, dass der oder die Betreffende körperlich misshandelt oder missbraucht wurde verbunden mit geistigen Demütigungen (die Unterstellung von Naivität, Leichtsinn, Dummheit), und dass er oder sie die geistigen Verletzungen davon auf diese Weise zu verarbeiten oder zu kompensieren sucht. Diese Abwehr und Art der Bewältigung stellt allerdings nur eine Ersatzhandlung dar und mündet meistens in einen Wiederholungszwang, da die betreffende Person sich dabei immer mehr selbst abwertet. Erst wenn es uns gelingt, so zu tun, als ob wir souverän und König bzw. Königin in unserem Reich sind, so dass wir immer mehr unsere Einzigartigkeit und Würde erkennen, und uns vorzustellen, dass unsere Kritiker selbst so naiv waren, leichtsinnig alte Erfahrungen auf uns zu übertragen und nicht unsere Einzigartigkeit zu erkennen, d.h. als ob alle erlebten Demütigungen aufgehoben und in ihr Gegenteil gewendet sind, kann sich unser Geist entwickeln, so dass das Gleichgewicht zwischen Geist und Seele wieder hergestellt und unsere Neurose damit geheilt werden kann.

Verurteilungen der Seele oder Demütigungen des Geistes erleben wir nicht nur bei derartig krassen Ereignissen wie körperlichen Misshandlungen oder Missbrauch. Jede Art von Gewalt wie zum Beispiel Schreien und Brüllen kann derartiges bewirken, wir können als Kinder aber auch in Mangel- oder Notsituationen geraten und dabei selbst unsere eigene Seele verurteilen oder unseren eigenen Geist demütigen und entsprechend kompensatorisch Geist oder Seele überschätzen und uns selbst eventuell überfordern, und wenn keine der uns vertrauten Bezugspersonen uns dabei hilft, uns selbst und unsere Situation anders zu verstehen, führt dies zu entsprechenden Störungen im Verhältnis von Geist und Seele. Als Kind können wir es auch erleben, dass der eine Elternteil unsere Seele verurteilt und der andere unseren Geist demütigt, so dass wir ganz verunsichert sind.

Wenn es um „unsere Vorstellung von der Intaktheit des Menschen […] und folglich unsere Vorstellungen vom Verlust der Intaktheit“ (Cavell, 2006, S. 631) geht, dann betrifft das meines Erachtens nicht nur, wie Cavell meint, unsere Vorstellungen, „wie eine Seele und ein Körper einander verloren gehen können, wie mein Erleben sich nicht frei durch das eine zum anderen bewegen kann“ (ebenda), sondern unsere Vorstellungen davon, wie die Aspekte Körper, Geist und Seele von uns in einem immerwährenden Prozess harmonieren oder nicht, wobei zwei der Aspekte jeweils den dritten dialektisch vermitteln und der dritte Aspekt jeweils zwischen den beiden anderen dialektisch vermittelt (Tanabe nennt dies absolute Dialektik (Tanabe, 2011)). Ich habe diesen Prozess im Schaubild zur Psychologik der Liebe (Kolb, 2012) in einem Schaubild dargestellt und im Text näher beschrieben, wobei dort der Begriff Materie durch den hier verwendeten Begriff Körper ersetzt werden müsste. Bei dieser Betrachtungsweise der absoluten Dialektik bzw. des ständig kreisenden Prozesses von Psyche zu Geist zu Materie (bzw. Körper) zu Psyche usw. oder des ständigen Wechsels der Modi von Individuum (Objekt der Psyche und geistiges Subjekt) zu Spezies (Objekt des Geistes und körperliches Subjekt) zu Genus (Wahrnehmungsobjekt des Körpers und in Bezug auf seine Bedürfnisse bewertendes bzw. psychisches Subjekt jeweils als Mitglied einer Gemeinschaft von Menschen) zu Individuum usw. ist der Mensch sowohl ein körperlich-seelisches Wesen, ein Lebewesen mit dem spezifischen Unterschied, vernünftig bzw. geistig zu sein (aristotelischer Kontext), als auch ein vernünftiges bzw. geistiges Wesen „mit dem spezifischen Unterschied, ein Lebewesen zu sein, mithin einen Körper zu haben: Der Mensch ist das animal rationale“ (Cavell, 2006, S. 633), wie Kant in der Grundlegung der Metaphysik der Sitten die Verbindungsrichtung von Aristoteles umkehrt. Bei Aristoteles läuft die Richtung auf das Menschliche über Beseelung und Begeisterung, bei Kant zusätzlich auf das Animalische über Fleischwerdung, im ersten Fall bemüht sich die Mutter liebevoll um ihr Kind, im zweiten Fall sucht das Kind verlangend den liebevollen Kontakt mit der Mutter. Beim Menschsein geht es nicht nur darum, „nach dem Menschsein zu streben […], danach zu streben, als Mensch gesehen zu werden“ (ebenda), sondern auch um die Beseelung und Begeisterung durch andere Menschen, denn ein Mensch entwickelt sich niemals allein. Die alleinige Vorstellung der Fleischwerdung „setzt auf seine Weise die alte Interpretation der menschlichen Isolation als ein Zeichen menschlicher Unvollständigkeit fort“ (ebenda). „Eine Idee vom Menschen zu haben heißt, ein Ideal vom Menschen zu haben; und für Kant schließt dieses Ideal ein Ideal menschlicher Gemeinschaft ein und wird von einem solchen Ideal eingeschlossen. Diesem Ideal zufolge darf Liebe nicht Achtung absorbieren und Achtung bedarf nicht der Liebe. Beide, echte Liebe und echte Achtung, werden das wissen“ (ebenda, S. 634). Ich denke, dass hier Liebe das liebevolle Bemühen um einen anderen meint, ihn durch Begeisterung und Beseelung dabei zu unterstützen, immer menschlicher zu werden, während Achtung die Anerkennung seines Strebens nach dem Menschsein bedeutet. Insbesondere bei den ersten Entwicklungsschritten in den ersten Lebensjahren eines Kindes, aber auch bei allen Entwicklungsprozessen von etwas Neuem ist es wichtig, dass im Erleben der Als-ob-Modus vom Äquivalenz-Modus erst einmal getrennt ist und beide Modi erst später integriert werden, sonst kann die Angst zu groß und die Entwicklung abgebrochen werden. Bei Kindern lässt sich das jedenfalls ganz deutlich beobachten (Fonagy, Gergely, Jurist, & Target, 2008, S. 266 ff.).

Das Thema Beseelung und Begeisterung oder Fleischwerdung hat noch einen anderen Aspekt, nämlich ob wir Menschen durch das Milieu oder durch unsere Gene bestimmt sind, ob die Beseelung und Begeisterung durch unsere Umwelt oder aber ob die Umsetzung und damit Fleischwerdung unseres genetischen Plans hauptsächlich dafür entscheidend ist, wie wir sind. Die Gene stehen für unsere Herkunft, denn sie bilden die unhintergehbare Bedingtheit für unser Dasein, die a priori schon mit der Zeugung gegeben ist. Die Einflüsse von außen dagegen stellen die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten unseres Seinkönnens dar, was in Zukunft auf uns zukommen kann, so dass unser Dasein, also das, wie wir sind, gehalten ist in Fleischwerdung einerseits und Beseelung und Begeisterung andererseits, so wie unsere Gegenwart, dort wo wir momentan gerade angekommen sind, unsere Ankunft, gehalten ist in unserer Herkunft (Gewesenheit nach Heidegger) und in unserer Zukunft, und die Frage, was wichtiger ist, Herkunft oder Zukunft, lässt sich generell überhaupt nicht beantworten und dürfte auch im konkreten Einzelfall mehr oder weniger große Schwierigkeiten bereiten.

Puppen, Statuen und Roboter, oder was wir aus uns Menschen machen

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Wir Menschen spielen mit Puppen, stellen Statuen auf und konstruieren Roboter oder haben Angst vor ihnen, was aber lassen sich daraus für Rückschlüsse ziehen, wie wir mit uns selbst und anderen teilweise umgehen!? Wenn wir unsere Kinder, meistens sind es Mädchen, mit Puppen spielen lassen, ist damit oft der pädagogische Hintergedanke verknüpft, dass das Kind darauf vorbereitet werden und lernen soll, später einmal gut mit Kindern umzugehen (daher sollen vor allem Mädchen als zukünftige Mütter mit Puppen spielen, wobei Väter mit Kindern eigentlich mindestens genauso gut umgehen können sollten). Hier soll also das Seelische entwickelt werden. Wir sind ja nicht nur Objekte der Seele bzw. Psyche, indem wir unserer Befindlichkeit ausgeliefert sind, wie Heidegger (Heidegger, 2006) aufgezeigt hat, sondern wir sind auch seelische bzw. psychische Subjekte, indem wir Mitgefühl mit anderen haben und gemeinsame Werturteile fällen, um so unser Zusammenwirken und unsere Zusammenarbeit effektiver und ganz allgemein unser Zusammensein möglichst für alle in irgend einem Sinne positiv zu gestalten. Das Spielen mit der Puppe kann bei der Entwicklung für beide Aspekte des Seelischen nützlich sein: es kann unsere Entwicklung als psychische Subjekte fördern, indem wir Mitgefühl und Gemeinsamkeit mit anderen, ein Wir-Gefühl, entwickeln und stärken, und indem wir eigene Empfindungen auf Puppen projizieren, lernen wir uns selbst als Objekte der Psyche kennen, denn wie Heidegger schon feststellte, erkennen wir zuerst etwas in der Welt, also im Außen, und dann bei uns selbst, weil ontologisch das andere uns näher ist als wir uns selbst. Cavell nennt es „empathische Projektion“ (Cavell, 2006, S. 668), wenn es darum geht, wie wir in anderen das Menschliche erkennen können, und schreibt über Puppen: „Es gibt nur einen, der weiß, was wahr ist, derjenige, dem die Puppe gehört. Und auch von ihm kann man strenggenommen nicht sagen, er wisse es, es sei denn im Scherz oder als Fiktion.“ (ebenda, S. 637) Man kann den Begriff Puppe hier auch als etwas ansehen wie in der Biologie der Insekten, dass eine Puppe etwas in ihrem Inneren versteckt und zurückhält, was erst später zum Vorschein kommt. Dann ist dies eine Vorstellung wie die vom Körper als Hindernis, sich selbst oder andere zu erkennen, allerdings mit der Erwartung, dass sich bald das zeigt, was er, der Körper, bzw. sie, die Puppe, noch verbirgt. Dadurch, dass die Puppe dem Kind gehört, wir sie ihm übereignen, vermitteln wir unseren Kindern eine doppelte symbolische Botschaft: einerseits die Vorstellung, dass wir ihnen ihren eigenen Körper übereignen, andererseits, „dass irgend jemandem ihr Körper gehört. Wie sollten wir anders erklären, dass sie die außergewöhnliche Vorstellung haben, sich bei Selbstverletzungen schuldig fühlen zu müssen, [...] ja sogar schuldig dafür, krank zu werden?“ (ebenda, S. 638) Wenn sie ihre Puppe kaputt machen, halten wir ihnen das ja auch oft vor, entweder als Dummheit oder sogar als Bösartigkeit. Hier wird das Kind als Spezies oder sogar als Genus verurteilt, es wird ein Gegensatz geschaffen zwischen ihm als Individuum, das im Spiel machen kann, was es will, und ihm als Spezies, dem vorgehalten wird, etwas nicht gekonnt zu haben, oder ein Gegensatz von ihm als Individuum und ihm als Genus, dem vorgeworfen wird, sich gegen die Gemeinschaft zu stellen. „Einigen wird gesagt, ihr Körper sei ein Tempel. Damit scheint ein Besitzverhältnis ausgeschlossen, außer vielleicht seitens einer Gemeinde. Ansonsten ist es jedoch eine gefährlich offene Vorstellung, vor allem hinsichtlich der Bedingung für die Zutrittserlaubnis.“ (ebenda, S. 638 f.) Wenn ich nicht im Besitz meines Körpers bin, ist Missbrauch immer möglich, und das scheint die gefährliche Wahrheit zu sein, mein Körper zumindest scheint kein Mitspracherecht darüber zu haben, wie es ihm geht, er kann sich höchstens mit Symptomen wehren und mir das Leben schwer machen. Das kann eine Puppe nicht. Kann ich mich von meinem Körper genauso distanzieren, wie von einer Puppe? Manche Menschen scheinen das zu können. Die hier angesprochene Problematik hat mit mir als Individuum zu tun, mit meiner Würde, dass ich als Spezies und materielles Subjekt frei handeln kann, und meiner Bürde, dass ich die Gemeinschaft als Objekt der Materie zumindest berücksichtigen muss, eine Problematik, die sich mir im Körperlich-Materiellen stellt, wobei die Puppe ein Symbol der Gegensätzlichkeit der Materie ist.

Wenn wir dagegen Statuen aufstellen, dann benutzen wir sie als Orientierung, sie stehen ja meistens auf Podesten und sind dadurch weithin sichtbar. Als Orientierungen bzw. Idealvorstellungen sollen sie helfen, unseren Geist zu entwickeln, indem wir uns für die Ideale, die sie verkörpern, begeistern. Sie stehen für die Werturteile der Gemeinschaft, in die ich durch meine Geburt hineingeworfen bin. Auch hier ist für mich eine doppelte Botschaft zu erkennen: einerseits soll ich mich für etwas begeistern, für etwas entscheiden als Objekt des Geistes (eines Geistes, der von außen kommt) und danach streben, was ich andererseits selbst gar nicht aus meiner Befindlichkeit heraus entwickelt habe, wobei ich selbst gar nicht befindlich verstehen kann, was damit auf mich zukommt, und worauf ich mich noch gar nicht verstehe, was außerhalb meiner Fähigkeiten und Fertigkeiten liegt, sodass es die Frage ist, ob ich diese Fähigkeiten und Fertigkeiten überhaupt entwickeln kann und will. Hier sind meine beiden Modi als Gemeinschaftswesen (Genus) und als Individuum im Widerstreit, wenn ich nicht will, oder die beiden Modi als Genus und als Spezies, wenn ich nicht kann oder glaube, nicht zu können. Diese Problematik hat mit mir als Gemeinschaftswesen zu tun, mit meiner Gedankenfreiheit, die ich als Individuum und geistiges Subjekt gegenüber der Gemeinschaft habe, und meiner Verantwortung, dass ich mich als Spezies und Objekt des Geistes entscheiden muss, in welche Richtung ich mich entwickeln will, eine Problematik, die sich mir im Geistig-Idealen stellt, wobei Statuen Symbole für die entsprechenden Ideale darstellen.

Aufgrund des technischen Fortschritts sind wir immer mehr in der Lage, immer menschenähnlichere Roboter zu konstruieren, sodass dies bei technischen Laien immer mehr auch Ängste schürt, von irgendwelchen gefühllosen Hominiden beherrscht zu werden. Roboter stehen für unsere Fähigkeiten und Fertigkeiten, die Welt zu beherrschen bzw. die Erde uns untertan zu machen. Hier gibt es ebenfalls zwei Seiten: einerseits erleben wir, dass wir immer mehr zustande bekommen, immer erfolgreicher werden, dass unsere Fähigkeiten und Fertigkeiten immer wieder Grenzen überschreiten, von denen wir noch vor kurzem geglaubt hatten, sie seien unüberwindlich, andererseits aber erschrecken wir vor der Möglichkeit, von unseren eigenen Schöpfungen beherrscht oder gar zerstört zu werden. Letzteres ist aufgrund der von uns geschaffenen ABC-Waffen nur allzu realistisch, und bei der Spielsucht kann der betreffende Mensch, der von ihr befallen ist, von einem der von uns geschaffenen Glücks- oder Computerspielen beherrscht werden. Unser Fortschritt läuft also Gefahr, uns zu vernichten oder uns von ihm abhängig zu machen, d.h. als Spezies zerstören wir uns möglicherweise als Genus, indem wir unsere ganze Art und viele andere Lebewesen vernichten, oder uns als Individuen, indem wir uns zum Spielball unserer Süchte machen. Diese Problematik hat also mit mir als Spezies zu tun, mit der freien Entfaltung meines Potenzials, was ich als Genus und psychisches Subjekt für förderlich für meine Gemeinschaft halte und entsprechend positiv beurteile, wobei ich andererseits als Individuum und Objekt der Psyche Vorsicht walten lassen muss, damit kein Schaden entsteht. Diese Problematik stellt sich mir im Psychisch-Motivationalen. Roboter können wir in dieser Hinsicht als Symbole für unseren (technischen) Fortschritt nehmen, der die Welt und uns selbst bewegen kann.

Aus diesen Überlegungen wird die absolute Dialektik, wie Tanabe es genannt hat (Tanabe, 2011), von Geist, Körper (Materie) und Psyche (Seele) oder von den drei Modi unseres Daseins Individuum, Spezies und Genus ersichtlich. Der für mich wesentliche Schluss, den ich aus dem bisher Aufgezeigten bezüglich Puppen, Statuen und Robotern ziehen kann, ist der, dass weder das Seelisch-Motivationale, noch das Geistig-Ideale, noch das Körperlich-Materielle, also weder Seele, Geist, noch Körper irgend einen Vorrang haben, was unser Menschsein betrifft, dass wir aber immer wieder dazu neigen, entweder das Seelische, das Geistige oder das Körperliche zu überschätzen und den anderen Aspekten unseres Menschseins eine eher geringe Wertigkeit zu geben. Wenn wir unseren Körper überbewerten, dann putzen wir uns und unsere Kinder wie Puppen heraus, achten nur auf äußerliche Schönheit, die wir aber nie erreichen, sodass es uns wie Tantalos ergeht, der sein (inneres und auch sein tatsächliches) Kind den Göttern geopfert hat, so wie wir, wenn wir uns und unsere Kinder zu Puppen machen, und dessen Strafe, die Tantalos-Qualen, darin bestand, dass er alle Freuden des Lebens um sich herum zwar sah, aber nicht erreichen konnte, wenn er danach griff. Mit der Vergötterung äußerlicher Schönheit verleugnen wir deren Vergänglichkeit und den Tod. Wenn wir aber unseren Körper abwerten, dann bringt uns das in die Lage, beweisen zu müssen, dass wir seelisch oder geistig etwas Besonderes, also gut und nicht böse oder klug und nicht dumm sind. Wir fixieren uns auf etwas, werden starr wie Statuen, müssen ständig unsere Fortschritte dokumentieren, versuchen, die Grenzen unseres Lebens zu überlisten, und werden zu Sklaven des Fortschritts, den wir wie Sisyphos, der den Tod überlistet hat, wie einen Stein immer wieder auf den (Leistungs-)Gipfel eines Berges hochwuchten müssen, von dem er immer wieder hinunterrollt. Wie man das Ganze noch sehen kann, mag folgende Geschichte erläutern: Ein Lehrer fragt drei seiner Schüler, was sie tun würden, wenn sie eine mit viel Geld gefüllte Geldbörse auf der Straße finden würden. Als der erste antwortet, er würde sofort alles tun, damit der rechtmäßige Besitzer seine Geldbörse zurückbekommt, sagt der Lehrer zu ihm: „Du Heuchler!“ Als der zweite antwortet, er würde natürlich die Geldbörse behalten, sagt der Lehrer zu ihm: „Du Verbrecher!“ Aber als der dritte antwortet, er würde Gott darum bitten, dass er ihm die Kraft gebe, das Richtige zu tun und dem rechtmäßigen Besitzer die Geldbörse wiederzugeben, sagt der Lehrer: „Das ist die richtige Haltung, wenn man seine seelischen, geistigen und körperlichen Schwächen kennt, aber sich ihnen weder von der Seele, vom Geist noch vom Körper her überlässt.“ Der Heuchler achtet nur auf den äußeren Schein, indem er glaubt beweisen zu müssen, dass er gut und nicht böse ist, er überschätzt also entweder das äußerliche Körperlich-Materielle und hält diesen Aspekt des Menschseins (evtl. auch als Spiegel der Seele) wie ein L´Art-pour-l´Art-Ästhet für das Wichtigste, damit oder sodass niemand etwas von seinem Inneren erahnen kann, oder er bewertet das Psychisch-Motivationale und die Reinheit der Seele zu stark und hält dies wie ein Dogmatiker für das Primäre. Der Verbrecher bzw. Materialist, aber auch der Idealist will beweisen, dass er klug und nicht dumm ist, er überschätzt damit den Geist und glaubt, er könne allein mit klugem und vernünftigem Denken seine körperlichen (wie ein Materialist) oder seelischen (wie ein Idealist) Bedürfnisse befriedigen, und nur der dritte Schüler weiß um die Schwächen und Stärken von Körper, Geist und Seele, bewertet alle gleichermaßen und setzt sie alle ein, um das Richtige zu tun: Gott zu bitten, bedeutet, Seele und Geist zu vereinen (Gottes Atem war ja die Einheit von Seele und Geist, mit der er Adam belebte), so dass das Selbst nicht zerrissen ist, sondern eine Einheit bildet, um damit der Kraft des Körpers die richtige Richtung geben zu können für die folgende Tat.

(Nebenbei bemerkt, wenn ich Wittgenstein, sein Leben und seine beiden Hauptwerke betrachte, dann drängt sich mir folgende Vermutung auf: aus vermögendem Elternhaus stammend gab es wohl in seiner Kindheit kaum Schwierigkeiten bei der Befriedigung seiner Bedürfnisse und eine besonders strenge und genussfeindliche Religiosität ist auch nirgendwo erwähnt, so dass seine Seele im Unterschied zu Nietzsche nicht verteufelt oder als böse verurteilt wurde. Bei seinem erfolgreichen Vater hatte er wohl eher den Eindruck, er müsse seine geistigen Fähigkeiten beweisen, was ihm bei seinem Lehrer Bertrand Russell schließlich gelang, nachdem er ihn anfänglich durch seine aufdringliche Art genervt hatte. Wenn man etwas beweisen will, besteht immer die Gefahr, aufdringlich zu wirken. Diese Haltung Wittgensteins zeigt sich meines Erachtens auch in seinem ersten Werk, dem Tractatus. Dagegen wirkt sein Spätwerk, die Philosophischen Untersuchungen, vollkommen anders: die teilweise fast lexikografisch anmutende Aneinanderreihung von Gedanken lässt eine Vielzahl von Interpretationen zu und erweckt bei mir den Eindruck, dass Wittgenstein es nicht mehr nötig hatte, seine geistigen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu beweisen, so dass er etwas Bestimmtes, vielleicht die Freiheit der Grammatik von der Logik und ihrer Leistungsorientiertheit, damit ausgedrückt hat, als er dem Ganzen keine logisch geschlossene Form gegeben hat. In eher freier Assoziation lässt er seine Gedanken fließen und erreicht auf diese Art und Weise eine Kreativität, die sein Buch in meinen Augen als modernes Kunstwerk erscheinen lassen, welches ganz neue literarische Kunstformen aufweist.)

Cavell fragt nun provozierend: „Weiß ich mehr über Puppen und Statuen [und Roboter] als über Menschen?“ (Cavell, 2006, S. 639) Heidegger würde antworten, dass wir uns zwar ontisch am nächsten, ontologisch aber am fernsten sind. Selbst wenn wir über Puppen, Statuen und Roboter vieles wissen, und zwar sowohl ontisch, was ihre Beschaffenheit betrifft, als auch ontologisch, was sie als menschliche Werke bedeuten und über uns als menschliche Wesen mit den drei Aspekten Körper, Geist und Seele ausdrücken, was wissen wir dadurch wirklich von Menschen? Woran können wir einen Menschen erkennen, wie ihn von etwas anderem unterscheiden, z.B. von einer Puppe, einer Statue oder einem Roboter? Ein Modehaus spendete einmal eine Schaufensterpuppe dem Friedhofsmuseum von Hannover. Als die Puppe mit einem Dienstfahrzeug des Friedhofsamtes abgeholt wurde und dabei nur mit Dessous bekleidet war, regten sich Passanten darüber auf, wie geschmacklos es sei, dass eine halbnackte Frau auf dem Beifahrersitz eines Friedhofsautos sitzen würde. In unseren Fußgängerzonen ist es immer mehr in Mode gekommen, dass Menschen sich wie Statuen anziehen, schminken und ganz starr dastehen. In vielen Science-Fiction-Romanen und –Filmen gibt es Roboter, die von Menschen kaum zu unterscheiden sind. Bei Puppen und Statuen genügen ja noch einfache Untersuchungen, um festzustellen, dass es Puppen und Statuen sind. Je mehr es uns aber gelingt, Roboter immer menschenähnlicher zu konstruieren, und je mehr künstliche Organe und Körperteile die Medizin in menschliche Körper einfügen kann, desto schwieriger wird es, Roboter und Menschen zu unterscheiden. Und wie ist das mit der Gen-Technik und dem Klonen? Wenn man Schafe klonen kann, dann auch Menschen, und was unterscheidet ein Klon meines Gen-Materials von mir außer dem Alter? Und wenn wir im Grab von Petrus (oder einer anderen Berühmtheit) Gen-Material von ihm gefunden hätten und dieses Material klonen würden, hätten wir dann Petrus zum Leben erweckt? Was ist also das gemeinsame Charakteristikum von uns Menschen, was uns von Nicht-Menschen unterscheidet, und was unterscheidet den einen Menschen vom anderen, wenn beide von ihren Genen her gleich sind? Was Mensch-Sein ist, können wir so wenig beantworten wie die Frage, was Sein ist. Wenn aber der Sinn des Seins die Prozesshaftigkeit ist (Kolb, 2011), wobei der Prozess des menschlichen Daseins zwischen den beiden Tendenzen oszilliert, sich auf Liebe hin zu entwickeln und von ihr weg – Liebe als echtes und unmittelbares Verstehen des Worumwillens von allem Seienden –, dann ist der Sinn des Mensch-Seins bzw. der Rahmen, in dem das Mensch-Sein verständlich wird, die Wahlmöglichkeit, sich auf Liebe hin zu entwickeln. Das gemeinsame Charakteristikum von uns Menschen ist daher, dass wir immer wieder diese Wahl treffen müssen und können. Zwei Menschen mit denselben Genen unterscheiden sich zumindest in diesem Entwicklungsprozess.

Die beiden Fragen können auch in einem anderen Zusammenhang gestellt werden, so dass sie mich als den Fragenden mit einbeziehen und daher andere Antworten verlangen. Sie lauten dann: Wie kann ich unterscheiden, ob jemand ein Mensch ist oder nicht? Wie kann ich zwischen zwei Menschen unterscheiden, die körperlich vollkommen gleich sind (wie Zwillinge oder Klone)? Während die erste Frage meine Beziehung zu einem anderen betrifft, hat die letzte Frage mit einer Triangulierung, einer Beziehung zu dritt zu tun, wobei es sogar sein kann, dass zwei äußerlich unterschiedliche Menschen mir auf einer bestimmten Ebene völlig gleich erscheinen. Deshalb möchte ich mich im Folgenden zunächst nur mit der ersten beschäftigen und die letzte aufgrund ihrer besonderen Komplexität und Schwierigkeit zurückstellen.

Mensch-Sein, Wahlmöglichkeiten und Skeptizismus

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Cavell schildert die skeptische Geschichte von einem perfekten Roboter (ebenda, S. 640 ff.), den ihm ein Ingenieur als Freund vorstellt. Der Freund verhält sich wie ein Mensch aus Fleisch und Blut, und als der Ingenieur mit einem Messer das Innere bloß legen will, um Cavell zu demonstrieren, dass es nur ein Roboter ist, wehrt der Freund sich plötzlich und sagt, es tue zu weh, und er habe es satt, „ein menschliches Versuchstier zu sein, ich meine ein Versuchstiermensch“ (ebenda, S. 643). Cavell ist nun in der Geschichte in einem Dilemma, ob er eingreifen soll, und wenn ja, auf welcher Seite. Dadurch, dass Cavell selbst in die Geschichte verwickelt ist, bekommt sie eine andere Wendung als die typische Frankenstein-Variante (der Mensch greift in die Schöpfung ein, und sein Geschöpf wendet sich schließlich gegen ihn, was psychodynamisch als Vater-Sohn-Konflikt gedeutet werden kann). Da es in der Geschichte nicht genügend Klarheit darüber gibt, ob der Freund nicht doch vielleicht menschlich ist, meint Cavell, die Geschichte sei noch unvollständig. Darum bietet er als Fortsetzung an, dass der Ingenieur ein Zeichen gibt, woraufhin der Freund sich friedlich hinsetzt, und der Ingenieur erklärt, er habe Cavell „ganz schön drangekriegt“ (ebenda, S. 644). Als er dann wieder das Messer zückt, um das Innere des Freundes zu zeigen, fällt Cavell über den Ingenieur her und wirft ihm vor, er sei zu weit gegangen und habe „diesem künstlichen Körper eine richtige Seele gegeben“ (ebenda, S. 645). Damit veranschaulicht Cavell das Problem, „dass wir nicht wissen können, ob ein anderer empfindungsfähig ist“ (ebenda, S. 646), und das wiederum veranschaulicht, „in welchem Zustand sich jemand befindet, der es so auffasst“ (ebenda). Die Frage ist nämlich auch, ob ich selbst empfindungsfähig bin, ob ich in Wirklichkeit vielleicht genauso bin wie ein Roboter, d.h. „das, was ich von mir selbst weiß und wofür ich mich halte, [spielt] unbedingt in das mit hinein, was ich von einem anderen wissen kann und wofür ich ihn halte. Nur macht die Vorstellung, dass der andere analog zu mir ist, nicht deutlich, wie ich es hineinspielen lasse.“ (ebenda, S. 649)

Wenn der andere mir von Zeit zu Zeit mitteilt, was er aufgrund meines körperlichen Ausdrucks meint, was ich empfinde, und ich merke, dass dies innerhalb einer gewissen Fehlerbandbreite mit meinen Empfindungen übereinstimmt, und ich ihm das entsprechend bestätige, und wenn ich ihm genauso von Zeit zu Zeit meine Meinung über seine Empfindungen aufgrund seines körperlichen Ausdrucks mitteile und er mir eine ähnliche Übereinstimmungsquote rückmeldet, dann identifiziere ich ihn als empfindendes Wesen, als Mensch, und auf diese Weise lasse ich meine Vorstellung, dass er zu mir analog ist, in die Beantwortung der Frage hineinspielen, ob er ein Mensch ist. Auf die eben beschriebene Art und Weise bauen auch Mutter und Kind ihre Kommunikation miteinander auf, und da die Mutter ihr Kind selbst geboren hat, geht sie natürlicherweise davon aus, dass ihr Kind ihr selbst analog ist. Für das Kind ist die Mutter der erste Mensch, der ihm begegnet, und von daher das primäre Muster dafür, was Menschlichkeit für das Kind bedeutet. Indem die Mutter ihr Kind und sich selbst als menschlich identifiziert, und weil das Kind sich am Anfang seines Lebens in der symbiotischen Beziehung mit seiner Mutter mit ihr identifiziert, erkennt das Kind sich selbst schließlich als menschlich an. Voraussetzung für diesen ganzen Prozess ist, dass die Verständigung zwischen Mutter und Kind funktioniert, und dass sie sich gegenseitig immer besser befindlich verstehen. Die Mutter wird ihr Kind von Geburt an als Mensch anerkennen, während dem Kind der volle Gehalt der Bedeutung von Menschlichkeit erst dann anfängt, klarer und deutlicher zu werden, wenn es erkannt hat, dass Menschen auch falsche Überzeugungen haben können, d.h. wenn es sein repräsentationales Selbst entwickelt hat und sich so schon einmal prinzipiell von einem Tier unterscheidet. Was Menschlichkeit und Mensch-Sein tatsächlich alles umfasst, ist selbst für Erwachsene zu viel, wir können höchstens den Rahmen erfassen, in welchem Mensch-Sein und Menschlichkeit verständlich werden können. So wie das Kind die Hilfe seiner Mutter braucht, um sie als Mensch zu identifizieren, so braucht es später als Erwachsener auch die Hilfe des anderen bzw. die Interaktion mit ihm, um ihn als Mensch zu identifizieren. Diesen Prozess der Identifikation als Mensch nennt Cavell empathische Projektion (ebenda, S. 668). Empathie ist dann befindliches Verstehen, und Projektion bedeutet, dass ich im Analogieschluss von mir auf den anderen schließe. Bei der empathischen Projektion übertrage ich das befindliche Verstehen meines eigenen Daseins, so wie ich meine Befindlichkeit und ihren Zusammenhang mit meinem körperlichen Ausdruck verstehe, auf den anderen, indem ich davon ausgehe, dass das, was ich sinnlich von ihm wahrnehme, teilweise Ausdruck seiner Befindlichkeit ist, und von einem ähnlichen Zusammenhang zwischen seinem körperlichen Ausdruck und seiner Befindlichkeit. Ich leite also sowohl mein Wissen über mich selbst als auch das über einen anderen nicht aus der Realität ab, sondern aus der Praxis, aus dem Umgang mit ihm und mit der Realität.

Das, was die skeptische Geschichte von dem Roboter-Freund gegen die empathische Projektion vorbringen konnte, „beschränkt sich darauf, dass ich manchmal in Bezug auf das konkrete Objekt, an dem ich die Projektion vollziehe, irren mag“ (ebenda, S. 673). Wenn ich mich in Bezug auf materielle Objekte irre, was deren Existenz betrifft, dann träume ich wie Descartes, und wenn ich mich in Bezug auf Fremdpsychisches irre, was dessen Existenz betrifft, dann sehe ich es falsch, ich sehe etwas als Mensch, was gar kein Mensch ist, ich interpretiere etwas als Ausdruck einer Befindlichkeit, wo es keine Befindlichkeit gibt. Aber woher weiß ich, dass es keine Befindlichkeit gibt? Wenn es eine Befindlichkeit gibt, dann weiß ich auch nicht, wo sie ist, genauso wie wenn es keine Befindlichkeit gibt. Es gibt keinen Ort, an dem ich nachprüfen kann, ob es eine Befindlichkeit gibt. Der Ingenieur aber kann mir zeigen, dass das, was ich als Ausdruck einer Befindlichkeit interpretiert habe, in Wirklichkeit der Ausdruck bzw. der Effekt seiner Programmierung des Roboters ist. Etwas falsch zu sehen, ist hier also, etwas falsch zu interpretieren. Meine Repräsentation der Realität entspricht dieser nicht im Umgang mit ihr, so dass ich mich täusche. Wenn ich jetzt nicht empathisch projiziere, also die Bewegungen und die Geräusche des Roboters nicht als Ausdruck seiner Befindlichkeit interpretiere und aufgrund meiner Zweifel und Ungewissheit auch nicht als Effekt einer Programmierung sehen will, um einem eventuell existierenden Wesen nicht Unrecht zu tun, dann ist meine Repräsentation der Realität lediglich die von Bewegungen und Geräuschen von etwas, wofür ich keine Erklärung habe. In einer Welt zu sein, für die ich teilweise überhaupt keine Erklärung habe, weil ich aufgehört habe, empathisch zu projizieren, ist etwas ganz anderes, als in einer Welt zu sein, die ich mir mehr oder weniger, wenn auch nicht immer richtig, erklären kann, weil ich empathisch projiziere. Prozesse in der Welt, für die ich keine Erklärung habe, erscheinen mir auch nicht kontrollierbar und machen mir daher Angst, so dass ich mich früher oder später immer mehr zurückziehe, die Praxis bzw. den Umgang mit anderen und mit der Realität immer mehr vermeide, depressiv werde und seelisch verkümmere; d.h. wenn ich immer mehr aufhöre, empathisch zu projizieren, und dann glaube, nichts Seelisches mehr in der Welt zu finden, dann finde ich bald auch nichts Seelisches mehr bei mir. Dieser Prozess ist wahrscheinlich nur dadurch umkehrbar, dass andere Menschen mich durch deren empathische Projektionen darin unterstützen, dass ich wieder glauben kann, dass ich empfinden kann, dass ich im nächsten Schritt wieder hoffen kann, durch eigene empathische Projektionen wieder andere Menschen als solche zu akzeptieren, und dass ich mich dann immer weiter dahin entwickle, dass ich mich und andere im jeweiligen Worumwillen von uns als Seiende immer echter und unmittelbarer verstehen, dass ich also immer mehr lieben lerne. Sowohl beim Glauben, beim Hoffen und beim Lieben habe ich immer die Wahl, ich kann glauben, hoffen und lieben, ich kann mich aber auch dagegen entscheiden. Darin wird der Rahmen für mich erkennbar, in dem das Mensch-Sein verständlich wird, nämlich in meiner Wahlmöglichkeit, mich auf Liebe hin zu entwickeln.

Vor die Wahl gestellt, in einer unklaren Situation empathisch zu projizieren oder nicht, halte ich es für wesentlich vernünftiger zu projizieren. Denn vor Angst zu vergehen oder mit einem schlechten Gewissen zu leben, eventuell jemandem Unrecht getan zu haben, scheint mir keine vernünftige Alternative zu sein, und wenn ich mir klar gemacht habe, dass jeder, den ich für einen Menschen halte, die Wahl hat, sich gegen eine Entwicklung seiner Liebesfähigkeit zu entscheiden, dann besteht für mich auch nicht eine größere Gefahr, zu vertrauensselig zu sein, weil ich mich vielleicht gerade täusche und keinen Menschen vor mir habe, als wenn ich ihn nicht für einen Menschen halte. Empathisch zu projizieren hat gegenüber der Abstinenz davon also nur Vor- und keine Nachteile für mich. Aber auch vom andern aus betrachtet gilt dies: wenn es ihn als Menschen nicht gibt, dann gibt es weder Vor- noch Nachteile für ihn, und wenn es ihn so gibt, täte ich ihm Unrecht, ihn nicht als Mensch anzuerkennen. Wenn es also nur um die Praxis geht, um den Umgang mit der Welt, in der ich bin, also darum, was ich tun soll, dann ist es von der Vernunft her klar, dass ich im Zweifelsfall empathisch projizieren soll. So viel zur Ethik, was aber, wenn solche Szenarien zutreffen, wie sie in den Filmen „Die Matrix“ oder „Die Harry-Truman-Show“ dargestellt sind, dass unserem Gehirn nur ein Programm vorgespielt wird, während wir als Bio-Maschinen ausgebeutet werden, oder wenn meine Welt, ohne dass ich davon die geringste Ahnung habe, nur ein TV-Set ist mit lauter Schauspielern statt echten Menschen und meine intimsten Momente nur der Unterhaltung eines Millionenpublikums vor ihren Fernsehgeräten dienen, die wiederum mit Schleichwerbung beeinflusst werden?

Während „Die Matrix“ sowohl dem von Cavell entwickelten Skeptizismus in Bezug auf materielle Objekte als auch dem bezüglich des Fremdpsychischen entspricht, liegt „Die Harry-Truman-Show“ auf der Linie des Skeptizismus in Bezug auf Fremdpsychisches bis auf den Umstand, dass Harry Truman zwar keine echten Empfindungen gezeigt sondern nur „Empfindungen“ nach Drehbuch vorgespielt werden, während er in empathischer Projektion das Gezeigte für echt hält. Anstelle von Schauspielern müsste man aber lebensechte Roboter einsetzen, dann gäbe es auch nicht solche Pannen, dass jemand Harry die Wahrheit zu sagen versucht wie Sylvia, die seine Frau werden soll und dann aus der Fernsehserie entfernt wird, da sie aus der Rolle gefallen ist. Wenn ich vielleicht in einem solchen Szenario mit lauter Robotern stecke, muss die skeptische Konklusion mir zugestehen, „dass ich nicht in einer erkenntnistheoretisch optimalen Situation sein kann: Wissen kann es nur der andere. Und wenn der andere es weiß, dann existiert er auch mit Sicherheit!“ (ebenda, S. 675) Wenn um mich herum dagegen lauter Schauspieler sind, dann macht meine empathische Projektion deswegen Sinn, weil der andere von mir berührt werden kann wie Sylvia von Harry, so dass es zu den oben erwähnten Pannen kommen und ich erkenntnistheoretisch in eine bessere Position gelangen kann.

„Was das Problem des Fremdpsychische betrifft, komme ich nun einmal nicht in den Kreis fremder Erfahrungen, um sie mit der Realität zu vergleichen, die, wenn überhaupt, durch das repräsentiert wird, was ich von dem anderen wahrnehme. In diesem Fall tritt sein Körper zwischen die Realität des anderen und meine Erfahrung dieser Realität.“ (ebenda, S. 678) An mir können die anderen aber erkennen, dass ich ein Mensch bin, wenn ich meinem Mensch-Sein einen entsprechend offenen und verständlichen Ausdruck gebe. Die anderen können also meine Existenz als Mensch anerkennen, wobei es offen ist, ob die anderen aus ihrer Abkapselung von mir heraustreten können, während ich aus meiner empathischen Projektion nicht herauszutreten vermag und nur aus der Position der Abkapselung von den anderen heraus im Stande bin, darüber zu entscheiden, ob ich die Existenz der anderen als Menschen anerkenne (frei nach ebenda, S. 679). Da Anerkennung über Wissen hinausgeht – es werden weitere Reaktionen des Anerkennenden erwartet, der auf diese Weise sein Mensch-Sein zeigt –, ist „die Frage »Wer oder was ist dieser andere?« (oder »Ist dies tatsächlich ein anderer?«) an die Frage »Wer oder was bin ich, dass ich aufgefordert sein soll, solch eine Frage zu entscheiden?« gebunden“ (ebenda, S. 680 f.), und wie ich finde, auch noch an die Frage »Was ist Leben, und inwiefern bin ich dadurch aufgefordert, solch eine Frage zu entscheiden?«. Die erste Frage ist in den beiden anderen gehalten, so wie die Ankunft (Gegenwart) gehalten ist in Zukunft und Herkunft (Gewesenheit). Daraus ergibt sich dann die Auskunft, was bei meiner Entscheidung herauskommt. Cavell schreibt: „dass der Augenblick, in dem ich meinen Fremden herausgegriffen habe, der Augenblick war, in dem ich auch mich selbst herausgegriffen habe“ (ebenda, S. 681). Erst dann tauchen die drei Fragen auf.

Wie bei der Fragestellung der klassischen Erkenntnistheorie, als der Skeptiker das generische Objekt herausgriff, ist Cavell auf der Suche nach einem Idealfall, bei dem „das Problem des anderen in jedem Fall entsteht“ (ebenda) und fragt daher: „Gibt es einen Fall, in dem ein bestimmter anderer meine Ansicht der psychischen Realität als ganzer in sich komprimiert, ein bestimmter anderer, der für mich alle anderen, das Menschsein als solches exemplifiziert, ein bestimmter anderer, auf den ich ganz und gar meine Fähigkeit zur Anerkennung setze, d.h. meine Fähigkeit, zugleich die Existenz anderer anzuerkennen und meine Existenz in Bezug auf andere zu enthüllen?“ (ebenda, S. 681 f.) Wie oben schon aufgeführt, ist die Mutter der Prototyp der Menschlichkeit, und der erste Mann im Leben eines jeden Menschen ist in der Regel der Vater, sodass ich unter Berücksichtigung des Geschlechts Vater und Mutter als den jeweils anderen nehmen kann, der geschlechtsabhängig jeweils „das Menschsein als solches exemplifiziert“ und durch den ich meine Fähigkeit entwickelt habe, „zugleich die Existenz anderer anzuerkennen und meine Existenz in Bezug auf andere zu enthüllen“. Ich nehme also diesen Fall (Mutter bzw. Vater) und frage mit Cavell: „was folgte dann, wenn er versagt, wenn dieser andere mich im Stich lässt, wenn ich nicht glauben kann, was dieser andere mir zeigt und zu mir sagt, oder das Gefühl habe, ich könne es nicht wissen?“ (ebenda, S. 682) Wenn der Vater mich missbraucht und meine Mutter mich im Stich lässt und mir nicht glaubt, dann versagt dieser Fall erst einmal, weil ich meine Eltern nicht mehr analog zu mir sehen kann: entweder kann ich es dann nicht glauben, wenn der Vater mir zeigt und zu mir sagt, er sei ein Mensch, bzw. ich habe das Gefühl, ich kann nicht wissen, ob meine Eltern wirklich Menschen sind, oder aber ich halte mich selbst nicht mehr für einen Menschen. Je jünger ein Kind ist, das aufgrund einer derartigen Erfahrung mit seinen Eltern sich selbst nicht mehr analog zu ihnen sehen kann, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass es seine Eltern zwar noch als Menschen anerkennt, aber sich selbst nicht mehr als menschlich sieht. Wenn es zu einem Missbrauch kommt, wenn also dieser Fall vorerst versagt, „werden der Rest der Welt und meine Fähigkeiten in ihr irrelevant geworden sein. Dass es andere gibt und andere, die vielleicht in Bezug auf sie in meiner Position sind, entzieht sich nicht meinem Wissen, es berührt mein Interesse nicht. Nicht ich bin der Welt entrückt, sie ist für mich tot. Alles ist für mich nur Spielzeug; es gibt kein neues Morgen; mein Chaos ist ausgebrochen (wieder?). Ich verschließe meine Augen vor anderen.“ (ebenda) Bei einem kleineren Kind ist dann u.U. nicht die Welt tot, sondern es fühlt sich selbst wie abgestorben. Wenn der Fall aufgrund des Missbrauchs für mich versagt hat, „dann weiß der andere [Vater bzw. Mutter] immer noch um seine Existenz, er bleibt unangetastet. Nur für mich ist dieses Wissen zu spät gekommen. Denn jetzt bleibt der andere als nicht-anerkannt zurück, d.h. als geleugnet. Ich habe meine Augen vor diesem anderen geschlossen, und dieser Umstand ist nun Teil seines Wissens. Ihn jetzt anzuerkennen hieße, dies zu wissen. Ihn jetzt zu leugnen hieße, dies zu leugnen, dieses Leugnen seiner Person zu leugnen, seine Augen für mich zu verschließen. Auf die eine oder andere Weise verwickle ich mich selbst in seine Existenz. Da liegt das Problem des anderen. – Der gekreuzigte menschliche Körper ist unser bestes Bild für die nicht-anerkannte menschliche Seele.“ (ebenda) Für mich als kleines Kind hat das Gefühl, selbst abgestorben zu sein, den Effekt der Angstabwehr oder auch der Abwehr anderer unangenehmer Gefühle, denn Tote empfinden nichts. Meine Eltern wissen zwar noch um meine Existenz als Mensch, obwohl sie mich zeitweise nicht als solchen behandelt haben, nur für mich kommt dieses Wissen zu spät, es war auch anscheinend nicht immer vorhanden. Ich habe meine Augen vor mir selbst geschlossen. Da ich nicht mehr an mich als Mensch glaube, zeige ich mich auch nicht mehr menschlich, so dass meine Eltern wissen, dass ich meine Augen vor mir geschlossen habe. Wenn sie das jetzt anerkennen, erkennen sie an, was sie getan haben, und wenn sie jetzt leugnen, was sie getan haben, leugnen sie, dass ich mich als Mensch leugne. Auf die eine oder andere Weise sind sie in meine Existenz verwickelt, aber dadurch ich auch in ihre, auch wenn ich mich tot fühle, denn sobald in mir Empfindungen aufkommen, erlebe ich einen Flash-Back. – Der gekreuzigte menschliche Körper ist das beste Bild für meine nicht-anerkannte Seele. – Der skeptische Fall ist ganz allgemein immer dann gegeben, wenn wir einem anderen großes Vertrauen entgegen bringen und dieses Vertrauen enttäuscht wird, weil der andere uns unmenschlich behandelt, wobei unmenschliche Behandlung bedeutet, dass der andere uns entweder nicht als geistiges, körperliches oder psychisches Subjekt anerkennt, uns also nicht derart beurteilt, dass er also auf der geistigen, körperlichen oder psychischen Ebene aufgrund dieses Urteils Macht über uns ausübt und uns ausbeutet, und dem anderen vertrauen heißt, dass wir uns sowohl seinem Geist, seinem Körper als auch seiner Psyche als Objekt in einem mehr oder weniger großen Umfang zur Verfügung stellen, weil wir glauben, dass er uns liebevoll behandelt und nicht verurteilt. Da wahrscheinlich jeder einmal in seinem Vertrauen anderen gegenüber enttäuscht worden ist, „steht zu erwarten, dass wir uns nicht bereitwillig dem Idealfall der Anerkennung aussetzen werden, tatsächlich werden wir, wenn wir können, den Idealfall meiden, um den schlimmsten zu verhindern.“ (ebenda, S. 683) Hinter dieser Vermeidung steht also wahrscheinlich die Befürchtung, dass ein anderer, dem wir vertrauen, uns beherrschen oder ausnutzen will. Der andere kann in Bezug auf unsere Person bestrebt sein, uns in unserem Worumwillen immer echter und unmittelbarer zu verstehen und sich jeglicher Beurteilungen enthalten, also uns immer mehr zu lieben, oder uns zu verurteilen, was ihm unter Umständen als Berechtigung oder Ausrede dient, uns immer mehr auszunutzen oder zu beherrschen. Entsprechend können wir selbst auch bezüglich der eigenen Person bestrebt sein, uns in unserem Worumwillen immer echter und unmittelbarer zu verstehen und uns jeglicher Beurteilungen enthalten, also uns immer mehr zu lieben, oder uns zu verurteilen und so uns immer mehr als Mensch zu verleugnen und uns beherrschen und ausbeuten zu lassen. Das scheint mir das Wesen der Vermeidung des Idealfalls und unseres alltäglichen Wissens vom anderen und von uns selbst bezüglich der eigenen Person zu sein, die Angst verurteilt zu werden, von anderen oder von uns selbst. Die Konsequenz einer solchen Verurteilung ist, dass wir aus der Gemeinschaft ausgestoßen werden oder uns selbst zurückziehen mit Scham- und Schuldgefühlen, und eine derartige Isolation wird meist sozialer Tod genannt, so dass wir diese Angst durchaus existenziell nennen können.

So richtig löst der Fall des Vertrauensbruchs das Problem mit dem Skeptizismus allerdings nicht, denn die Eltern sind ja Menschen, auch wenn ich sie als solche nicht anerkenne, und entsprechend bin ja auch ich ein Mensch, auch wenn ich mich selbst nicht als solchen anerkenne. Der Missbrauch oder allgemein eine Enttäuschung ist nicht unbedingt ein Idealfall dafür, dass wir einen Menschen nicht als Mensch anerkennen, obwohl er einer ist. Der Skeptizismus hat hier zwar eine gewisse Berechtigung, aber es ist für mich besser, wenn ich meine Enttäuschung verarbeiten und den anderen bzw. mich selbst wieder als Mensch sehen kann. Damit aber ist der Idealfall kein Idealfall mehr, denn ich habe meinen Irrtum eingesehen und überwunden, indem ich wieder etwas mehr vom Mensch-Sein verstanden habe. Gibt es aber wenigstens einen Idealfall dafür, dass wir etwas als Mensch anerkennen, obwohl es keiner ist? Wenn der Roboter digital programmiert ist, gibt es keinen solchen, denn wie Penrose schon gezeigt hat, kann ein Computer einen Menschen noch nicht einmal nachahmen, nach endlich vielen Fragen kann man immer einen solchen Roboter als Maschine entlarven (Penrose, Computerdenken: Die Debatte um künstliche Intelligenz, Bewusstsein und die Gesetze der Physik, 2002 (Original 1989)), (Penrose, Schatten des Geistes: Wege zu einer neuen Physik des Bewusstseins, 1995 (Original 1994)). Im Bereich der Gentechnik und der Transplantation gibt es allerdings einige offene Fragen. Kann aus einem manipulierten Genom eines Menschen ein Mensch entstehen? Kann ein Klon ein Mensch sein, und wer ist es dann, wenn es ein Mensch ist? Wenn ein Klon ein Mensch ist, dann kann er eigentlich nur so wie ein Zwillingsbruder des ursprünglichen Menschen sein. Wie ist es, wenn ich bei einem Menschen nach und nach alles ersetze bis auf sein Gehirn – ist es dann noch derselbe Mensch? Und angenommen, wir könnten Gehirne transplantieren, wer ist der Betreffende nach einer solchen Transplantation? Wenn wir verschiedene Bereiche des Gehirns transplantieren könnten, bei welchen Bereichen würde der betreffende Mensch noch derselbe bleiben, und bei welchen nicht? Ich denke, die Frage mit der Transplantation des Gehirns oder Teilen davon können wir deswegen zurückweisen, weil ein Mensch erst dann als tot erklärt wird, wenn das Gehirn abgestorben ist und nicht mehr zum Leben erweckt werden kann, und weil man einem Menschen erst dann Organe zur Transplantation entnehmen darf, wenn der Betreffende tot ist, und abgestorbene Organe kann man prinzipiell nicht mehr transplantieren, auch in Zukunft nicht. Da wir nicht wissen können, was geschieht, wenn wir versuchen, eine Genmanipulation vorzunehmen oder einen Menschen zu klonen, und weil bestimmte Vorstellungen, die wir daher nicht widerlegen können, die Gefühle von vielen Menschen verletzen würden, verbietet es sich aus ethischen Gründen, entsprechende Experimente durchzuführen, zumal auch ein echter praktischer Nutzen, der größer sein könnte als der Schaden durch die verletzten Gefühle, bei unserem jetzigen Wissensstand nicht erkennbar ist. Da ein Großteil der Menschen von ihrer Befindlichkeit her in einem schlechten Zustand wäre, würde die Harmonie innerhalb der Menschheit leiden, und Harmonie und Zufriedenheit, das moralische Ideal und Ziel, das meines Erachtens jeder Ethik zugrundeliegen sollte (siehe 3. Kapitel), kann auf diese Weise nicht erreicht werden. Damit scheidet auch die Genmanipulation oder das Klonen als Idealfall aus, und wenn wir alle Organe bis auf das Gehirn austauschen, dann bleibt der Betreffende immer noch derselbe Mensch, und wir haben für die skeptische Geschichte immer noch keinen Idealfall.

Zusammenfassend lässt sich folgendes bezüglich der skeptischen Position hinsichtlich des Problems des Fremdpsychischen feststellen: Wenn es nur um das reine Wissen von anderen geht, „kann ich mit meinem Skeptizismus nicht weit genug gehen“ (ebenda, S. 684 f.), ich kann über den anderen nichts wissen, da ich ihn nicht wirklich erreiche, es gibt kein Wissen über ihn, welches aus der Realität ableitbar ist. Es gibt nur ein Wissen, welches aus dem praktischen Umgang ableitbar ist, und das habe ich in Anlehnung an Cavell Anerkennung genannt. Da mein Wissen über mein Selbst bzw. über mich selbst genauso wenig aus der Realität, sondern nur aus der Praxis ableitbar ist, will ich dieses Wissen als Selbstanerkennung bezeichnen. Derartiges Wissen beruht nicht auf Wahrnehmungen, auf etwas, was ich sehen kann, sondern auf Empfindungen, die mittels befindlichem Verstehen zu Bewertungen und Beurteilungen führen können, die ich fällen muss, wenn ich zu einer Entscheidung kommen will, wie ich handeln soll. Damit ist das Ganze ein ethisches Problem, wie kann ich mir sicher sein, dass ich das Handeln des anderen richtig beantworte, dass ich verantwortungsvoll handle. Auch Wittgenstein schreibt: „Frag nicht: »Was geht da in uns vor, wenn wir sicher sind,….?« – sondern: Wie äußert sich ›die Sicherheit, dass es so ist‹ in dem Handeln des Menschen?“ (Wittgenstein, 2001, S. 1081, PU 571) Hier tötet mein Skeptizismus die Welt oder mich selbst, und das ist auch die Situation von Missbrauchsopfern, solange sie ihr Trauma noch nicht verarbeitet haben. Wenn wir die Entwicklung eines Kindes betrachten, so ist es am Anfang davon überzeugt, dass seine Eltern und seine Verwandten und deren Freunde alles Menschen sind. Seine Augen sind ihm geschlossen, es fühlt sich sicher, und kein Zweifel kann zu ihm vordringen. So ist auch Wittgenstein zu verstehen, wenn er auf die Frage: »Aber schließt Du eben nicht nur vor dem Zweifel die Augen, wenn Du sicher bist?« antwortet: „Sie sind mir geschlossen.“ (ebenda, S. 1079, PU 569) In diesem Sinne ist das Kind in die Welt verliebt. Dies meint wohl Cavell, wenn er schreibt: „Im Angesicht des Zweifels zu leben, die Augen glücklich geschlossen, hieße, sich in die Welt zu verlieben.“ (Cavell, 2006, S. 684) Verliebtheit bedeutet, dass man keinen Zweifel kennt oder alle Zweifel vergessen oder verdrängt hat. Je mehr ich jedoch mein Worumwillen echt und unmittelbar verstehe und mich so jeglicher Beurteilungen enthalte bzw. sie immer wieder und immer mehr loslasse, also mich liebe, so wie ich bin, desto mehr weiß ich, wie sehr es einen anderen verletzen und ihm schaden kann, wenn ich ihn falsch beurteile und nicht als Mensch anerkenne, obwohl er ein Mensch ist. Da es mir um meine Existenz geht, und ich ebenfalls weiß, dass ich ohne andere nicht existieren kann, muss es mir auch um die Existenz des anderen, und zwar als Mensch gehen. Meine Existenz ist ein In-der-Welt-Sein, und daher sollte ich vernünftigerweise nicht die Welt oder mich selbst mit skeptischem Zweifel töten, den ich nicht beweisen kann. Bei mir selbst kann es ohnehin keinen Beweis geben, d.h. aus existenziellen Gründen kann ich mich selbst nicht verurteilen, das wäre sozialer Suizid, und bei anderen muss ich die Beweislast umkehren: ich muss nicht beweisen, dass der andere ein Mensch ist, sondern ich muss beweisen, dass er (z.B. ein Roboter und) kein Mensch ist. Ich muss nicht begründen, dass ich ihm vertrauen kann, sondern ich muss begründen, warum ich ihm nicht vertrauen kann. Je mehr ich liebe, desto mehr erkenne ich den anderen auch bei großen Zweifeln, solange sie nicht bewiesen sind, als Mensch an. Im Unterschied zur Verliebtheit muss ich mit Liebe nicht die Augen geschlossen halten, ich enthalte mich nur falscher Beurteilungen, indem ich jede Bewertung, wenn ich sie mit offenen Augen nicht vermeiden kann, immer wieder auch mit offenen Augen loslasse. Ich denke, dass das Bibelzitat „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“ (Matthäus, 7, 1) genau das meint. Die Phase des naiven und ursprünglichen Vertrauens, das noch keine Zweifel kennt, wird dadurch beendet, dass praktisch jeder Mensch früher oder später Enttäuschungen erlebt, die ihm die Augen für den Zweifel des Skeptikers öffnen. Dann kommt es darauf an, ob wir uns entschlossen mit den Enttäuschungen auseinandersetzen und uns immer mehr in Richtung des echten und unmittelbaren Verständnisses des Worumwillens von allem Seienden, also zur Liebe hin entwickeln, oder ob wir uns absondern, indem wir entweder die Welt oder uns selbst töten. Vor dem Zweifel die Augen zu schließen, zu vergessen, was schlimm gewesen ist und mich enttäuscht hat, ist dumm und führt zu neurotischen Störungen und zu dem, was Heidegger Verfallenheit genannt hat, aber deswegen zu vergessen, was menschlich und verständnisvoll gewesen ist, erzeugt Verbitterung bis hin zum Wahn und sondert mich von der Welt ab. Die Anerkennung des anderen und die von mir selbst als Menschen bedeutet anzuerkennen, dass der andere genauso wie ich sich immer wieder entscheiden kann und muss, sich in Richtung Liebe zu entwickeln oder nicht, wobei es immer Versuchungen gibt, misstrauisch nach Macht statt nach Liebe zu streben (Angst und Gier, wodurch früher oder später ein Wahn entsteht) oder den bequemeren, aber auf Täuschung beruhenden Weg zu gehen und/oder sich unentschlossen treiben zu lassen (Dummheit und Faulheit, was im Endeffekt zu neurotischen Störungen führt). Je mehr ich das echt und unmittelbar befindlich verstehe, je mehr ich also liebe, desto weniger dürfte mir Menschliches fremd sein.

Empathische Projektion, oder wann ist genug genug?

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Ich möchte an dieser Stelle noch einmal genauer auf den „Idealfall“ des Skeptikers eingehen, der im Fall des Wissens in Bezug auf Gegenstände der Fall eines generischen Objektes war, wobei der Skeptiker fragte, ob wir wirklich etwas wahrnehmen oder Halluzinationen haben bzw. ob wir wirklich das Richtige oder genug davon wahrnehmen, um unser Wissen ausreichend begründen zu können, so dass unsere Wissensgründe schwerer wiegen als die Zweifel des Skeptikers. Der Zweifel bzw. die Kritik richtet sich also auf unsere Wahrnehmung, die wir als Genus und Objekt der Materie haben: „Nimmst du überhaupt wahr, und wenn ja, auch genug, um dein Wissen ausreichend begründen zu können?“ Im Fall des Wissens bezüglich des Fremdpsychischen ist der Idealfall dann gegeben, wenn wir einem anderen nah sind, ihm vertrauen und davon überzeugt sind, dass wir ihn in seinem Worumwillen verstehen und umgekehrt, dass also eine gewisse Art Liebe zwischen uns herrscht (vollkommene Liebe wäre das echte und unmittelbare Verstehen des jeweiligen Worumwillens), wobei der Skeptiker dann fragen würde, ob wir diese Beziehung wirklich angemessen beurteilen. Ich sage absichtlich „würde“, weil wir uns zwar auf der einen Seite die vollkommene und bedingungslose Liebe wünschen, sie aber aus Angst vor Enttäuschung meistens vermeiden, entweder weil wir uns im anderen oder in uns selbst täuschen könnten, dass der andere oder wir selbst es doch nicht wert sind, so sehr geliebt zu werden, oder dass der andere oder wir selbst so sehr lieben können. Bevor der Skeptiker seinen Zweifel bzw. seine Kritik äußern kann: „Empfindest du dich und den anderen und eure Beziehung wirklich so, wie es alles wirklich ist?“, wobei sich diese Kritik auf uns als Genus und psychisches Subjekt bezieht, haben wir oft selbst schon aus Angst wegen dieser Zweifel die Flucht ergriffen, haben uns gar nicht auf diesen Idealfall eingelassen, oder wir verleugnen den Idealfall, wollen dann nichts davon wissen, dass wir und der andere liebenswert sind und eine liebevolle Beziehung haben oder haben können.

Ganz am Anfang des Lebens hat jeder von uns in der Regel viel Verständnis in einer Beziehung erfahren, ohne etwas dafür zu leisten, auch wenn das Verständnis nicht unbedingt vollkommen echt und unmittelbar gewesen ist, also keine vollkommene Liebe, aber schon Liebe, es war in der Beziehung zur Mutter, die meist als symbiotisch bezeichnet wird, weil wir als Säugling nicht allein lebensfähig waren und unsere Mutter als Medium, als Vermittler zwischen der Welt und uns, also unseres In-der-Welt-Seins brauchten. In dieser Beziehung sind wir von der Mutter bestimmt worden, aber schon mit etwa drei Monaten haben wir begonnen, uns immer mehr auch selbst mit uns, der Welt und dem anderen auseinanderzusetzen, indem wir uns immer mehr für das nicht perfekte Verständnis interessiert haben (Fonagy, Gergely, Jurist, & Target, 2008, S. 195) (oder lässt sich das auch schon als Vermeidung des Idealfalls interpretieren?), bis wir schließlich auch die Mutter bestimmt und so im wechselseitigen Bestimmen eine Balance in der Beziehung hergestellt haben. Früher oder später kommt es aber zu einer Ablösung von der Mutter, dabei erlebt jeder von uns eine gewisse Enttäuschung, auch wenn vom Erleben her das Positive überwiegt, und diese Enttäuschung ist der Grund, warum wir die Tendenz haben, den Idealfall des Skeptikers zu vermeiden, denn diese Erfahrung lehrte uns, dass es eine Grenze zu geben scheint, über die das Verständnis von anderen und von uns selbst nicht hinausgeht. Auf jeden Fall aber ist unser Wissen von anderen und uns selbst bezüglich des Psychischen nie vollkommen, wir können immer wieder etwas Neues erfahren und erleben, oder wie Cavell schreibt: „Ich stelle mir mein Alltagswissen von anderen nicht als eingeschränkt, sondern als ausgesetzt vor [...], nicht den Möglichkeiten, sondern Wirklichkeiten [...]. Es gibt keine Möglichkeit menschlicher Beziehung, die nicht verwirklicht worden ist.“ (Cavell, 2006, S. 685)

Wenn wir also nach Liebe als dem echten und unmittelbaren Verstehen des Worumwillen streben, dann müssen wir uns dem Idealfall des Skeptikers aussetzen, den Wirklichkeiten bzw. den Möglichkeiten, die verwirklicht werden können, und uns immer wieder dazu entschließen, uns mit den dadurch möglichen Enttäuschungen auseinandersetzen. Andererseits sind wir dem Idealfall, auch wenn wir uns dagegen wehren und ihn vermeiden wollen, in Form „der menschlichen Natur“ (ebenda) immer wieder ausgesetzt, unserer eigenen, insbesondere wenn wir uns Vorstellungen und Begriffe von uns und anderen machen (Repräsentationen der Realität), und der der anderen. Auch wenn wir unsere Beziehungen zu anderen einschränken, können wir „herausgegriffen“ (ebenda, S. 686) werden, wir können von jemandem ergriffen sein, uns verlieben, oder jemand anders ist von uns ergriffen oder verliebt sich in uns. Und was meine Repräsentationen der Realität bzw. meinen Begriff vom anderen betrifft, so muss ich mich ganz auf mein Einfühlungsvermögen, meine Empathie verlassen. Cavell meint dazu, er habe dies in einem Moment „für ein menschliches Vermögen“ (ebenda, S. 687) gehalten, in einem anderen, „dass nur ein von jeder Menschennatur freier Außenseiter mir sagen könnte, was ich wissen müsste, um des Menschseins des anderen vergewissert zu sein“ (ebenda). Schließlich kommt er im Zusammenhang mit diesem Mythos vom Außenseiter „zu dem Gedanken, dass, wenn es einen Außenseiter gibt, er in mir ist, in jedem von uns. [...] Jenseits davon, dass ich in bestimmten Beziehungen zu mir stehe, spricht der Mythos von der Möglichkeit, eine Sicht auf mich selbst zu gewinnen“ (ebenda). Das scheint mir eine Art meditative Haltung zu sein, so dass ich besser mit meinen Empfindungen umgehen kann, nämlich ohne ihnen mit „Unglauben oder Aber-glauben“ (ebenda) zu begegnen. Das wäre vielleicht „eine Sicht, aus der ich mich selbst auf dieselbe Weise oder aus derselben Distanz sehe, wie ich andere sehe“ (ebenda). Daraus kann ein neues Interesse an mir selbst erwachsen, „mich für mehr zu interessieren, als ich bereits über mich gehört habe“ (ebenda, S. 688).

Worauf beziehen sich der Zweifel und die Kritik des Skeptikers, wenn ich dies in dem Schema Individuum-Spezies-Genus analysiere? In allen drei Modi des Daseins bin ich jeweils Objekt ineins damit, dass ich Subjekt bin: als Individuum Objekt der Psyche ineins mit geistigem Subjekt, als Spezies Objekt des Geistes ineins mit materiellem Subjekt und als Genus Objekt der Materie ineins mit psychischem Subjekt. Der skeptische Zweifel richtet sich zum einen auf uns als Objekt, auf unsere Wahrnehmungsfähigkeit und die Wahrnehmung unserer Sinne (Materie), auf unsere entstandenen Empfindungen (Psyche) und auf unsere entwickelten Vorstellungen (Geist), auf denen unsere Entscheidungen beruhen, ob wir überhaupt das Richtige und genug davon wahrnehmen, also von den Lebewesen und Dingen um uns herum, ob wir genug empfinden, ob es z.B. überhaupt unsere eigenen oder eigentlichen Empfindungen sind, ob wir uns genug vorstellen, ob es z.B. wirklich unsere eigenen geistigen Produkte sind. Zum anderen kritisiert der Skeptiker uns als Subjekte, und zwar unsere Handlungsfähigkeit im Materiellen, ob wir das Richtige und genug davon tun, in Bezug auf unsere Psyche, ob wir richtig und ausreichend begreifen und begreifen können, und bezüglich unseres Geistes, ob wir genug befindlich verstehen und dann richtig beurteilen und entscheiden können. Beim Fremdpsychischen und auch beim eigenen Psychischen geht es nicht nur um die Wahrnehmung, sondern zugleich auch um die Beurteilung, unser Wissen beruht auf unserem gesamten Dasein in allen drei Modi als Objekt und Subjekt ineins. Es beruht auf Erfahrungen, die wir auf der physischen Ebene gemacht haben, auf der sich unsere Fähigkeiten und Fertigkeiten teilweise mit Freude entwickeln und entwickelt haben, auf der sozialen Ebene, auf der wir uns mit anderen teilweise mit Wut auseinandersetzen und auseinandergesetzt haben, indem wir uns mit ihnen wechselseitig bestimmt haben und beide jeweils Objekt und Subjekt ineins waren, auf der teleologischen Ebene, auf der wir Kontinuität und Diskontinuität von Handlungen und Zielen teilweise mit Angst erleben und erlebt haben, auf der intentionalen Ebene, auf der wir Fortschritte, Stagnation und Rückschritte teilweise mit Trauer, Leid und Sehnsucht in Bezug auf unsere Absichten erfahren und erfahren haben, auf der repräsentationalen Ebene, auf der wir Unzulänglichkeiten von uns und anderen mit Scham- und Schuldgefühlen und Abscheu begegnen und begegnet sind, und auf der geschlechtlichen Ebene, auf der wir lernen und erfahren und gelernt haben, wann Selbst-Hingabe und wann Selbst-Konsolidierung die angemessenere Lebensstrategie zur Lösung und Bewältigung von Problemen sein kann. Wenn Cavell sagt: „Ich lebe meinen Skeptizismus“ (ebenda, S. 694), dann deute ich das so, dass er sich immer wieder dazu entschließt, sein Alltagswissen vom anderen und von sich selbst neuen Erfahrungen und insbesondere auch neuen Enttäuschungen auf allen oben genannten Ebenen auszusetzen, um sich so immer mehr dem utopischen Ziel der vollkommenen Liebe anzunähern, also dem echten und unmittelbaren Verstehen des Worumwillens von allem Seienden, nach dem Motto: der Weg ist das Ziel. Insofern ist genug niemals genug, wenn ich es mit Blick auf die Utopie der vollkommenen Liebe betrachte, andererseits aber ist das entschlossene Sich-Offenhalten für neue Erfahrungen, und sich diesen Weg als Ziel zu setzen, das Äußerste, was wir tun können, und damit genug.

Die Umschreibung der vollkommenen Liebe als echtes und unmittelbares Verstehen des Worumwillens von allem Seienden ist aus der Sicht des Daseins als Individuum formuliert. Von dem Modus als Spezies aus kann man es als absichtsloses Handeln im Sinne des Taoismus bezeichnen, und vom Modus als Genus aus ist das Kriterium der vollkommenen Liebe die vollkommene Gleichheit und Freiheit und damit die absolute Harmonie unter allen Menschen. Wie in Kapitel 3.4 schon dargelegt, ist das Streben nach der Utopie der vollkommenen Liebe durchaus vernünftig, so dass dieses »seinen Skeptizismus leben« alles andere „als ein pathologisches oder pubertäres oder romantisches Bewusstsein meiner eigenen Beschränkung oder Abkapselung ist“ (ebenda, S. 698), es ist zwar „die Projektion eines unmöglichen Wunsches oder eines möglichen Bedürfnisses nach einem Beweis für meine Existenz“ (ebenda) als Mensch, aber deswegen nicht unvernünftig. Die wichtigste Rolle beim Verstehen des Worumwillens eines anderen spielt mein Einfühlungsvermögen bzw. die empathische Projektion, bei der Cavell den Verdacht hegt, ob wir, wenn wir darauf unser Verstehen des anderen gründen, nicht zu sehr auf der Vorstellung beharren, „der andere sei »wie« man selbst, und was immer man über den anderen wissen kann, müsse zunächst in einem selbst gefunden und dann in den anderen (durch Analogie?) hineingedeutet werden“ (ebenda, S. 698 f.). Ich denke, man muss es bei sich selbst nicht unbedingt als Wirklichkeit, sondern nur als Möglichkeit gefunden haben, sodass man sich weder über noch unter den anderen stellt (Prinzip der Gleichheit!). Ein zweiter Verdacht Cavells ist, dass durch die Vorstellung der empathischen Projektion das Wissen vom anderen „zu einem allzu spezialisierten Unternehmen“ (ebenda, S. 699) und insofern überfrachtet wird, „als würde das Wissen von Objekten für sich selbst sorgen, während in das Wissen von anderen alles eingeht, was auch in das Wissen von Objekten eingeht, plus etwas anderes, etwas, was sozusagen das Objekt belebt“ (ebenda). Dieses ominöse Etwas scheint ein Produkt unserer Phantasie zu sein, eine Vorstellung von etwas bei uns selbst, so dass wir mit der empathischen Projektion automatisch anerkennen, dass beim anderen und auch bei uns neben der körperlichen Erscheinung noch ein phantastisches Etwas ist, das Leben gibt, und zwar mit der zusätzlichen Qualität, menschliches Leben zu sein. Die empathische Projektion ist eine Reaktion: ich nehme als Objekt der Materie die äußere Erscheinung eines anderen wahr, dabei empfinde ich etwas als psychisches Subjekt, bemerke als Objekt der Psyche die Änderung meiner Befindlichkeit, verstehe dann als geistiges Subjekt meine emotionale Reaktion befindlich, indem ich mich in den anderen hineinversetze und mein vorgestelltes Dasein, welches ich an seiner Stelle wäre, auf ihn projiziere, nehme anschließend als Objekt des Geistes meine Entscheidung wahr, wie ich mit ihm umgehen will, und setze dies als materielles Subjekt in die Tat um. Wenn ich mich entscheide, nichts zu tun, sondern diesen Zyklus von vorne zu beginnen mit erneuter Wahrnehmung der äußeren Erscheinung bis zur Projektion usw. und dies auf beliebige Objekte anwende, vollziehe ich eine meditative Praxis, bei der ich das Prinzip der Entsprechung für mich erfahren kann (Kôyama, 2011). Entsprechung bedeutet bei Kôyama, dass ich mich von etwas angesprochen fühle, indem ich ihm einen Ausdruck gebe, also unterstelle bzw. hineinprojiziere. „In diesem Sinne ist die Entsprechung die fundamentalste und zugleich ursprünglichste Seinsweise, welche die menschliche Existenz erst eigentlich zu einer solchen macht.“ (ebenda, S. 288) Wie ich früher schon ausgeführt habe (Kolb, 2012), entspricht dies dem Existenzial der Sorge bei Heidegger mit dem wichtigen Unterschied, dass Kôyama bei der Entsprechung davon ausgeht, dass es Menschen zuerst um das Sein von anderen geht und erst später um das eigene Sein, wenn ein Mensch nämlich sich selbst zum Objekt gemacht hat, während es bei Heidegger dem Dasein zuerst um sein eigenes Sein und erst später um das Sein von anderen geht. Die empathische Projektion ist also in diesem Sinne fundamental und ursprünglich menschlich, und damit ist »seinen Skeptizismus leben« wesenhaft menschlich, genauso wie die Sorge bei Heidegger oder Ergriffenheit, Erwartung und Täuschung (Kolb, 2011) das Wesen des Menschseins ausmachen. In den Figuren König Lear, Leontes und Othello zeigt Shakespeare und im Faustischen demonstriert Goethe zutiefst Menschliches („Es irrt der Mensch, solang er strebt.“, Faust I, Vers 317).

Der Skeptizismus, so wie er von Cavell dargestellt wird, ist nicht wie bei Descartes ein methodisch geregeltes Experiment des Bewusstseins (seine „Meditationes“), sondern eine existenzielle Erfahrung, die sich als die uns und allem Seienden gemeinsam zugrunde liegende Wirklichkeit bzw. Ungewissheit herausstellt und der wir erst gewahr werden, wenn wir »unseren Skeptizismus leben«. Auch der (Zen-)Buddhismus kennt diesen Zweifel und bezeichnet diese ungewisse Wirklichkeit bzw. wirkliche Ungewissheit oder auch gewisse Unwirklichkeit bzw. unwirkliche Gewissheit als Nichtigkeit alles Seienden, das Nichts (Nishitani, Was ist Religion?, 1986, S. 61 f.). Beim Entwicklungsprozess des Daseins, der in dem Schema Individuum-Spezies-Genus bzw. Psyche-Geist-Materie um dieses Nichts bzw. um die Liebe (Kolb, 2012) kreist und sich oszillierend daran annähern und sich wieder entfernen kann, verharren wir des Öfteren an verschiedenen Stellen, z.B. beim Geist, wenn wir grübeln, oder bei der Materie, wenn wir uns in einen Aktionismus hineinsteigern. Was wir aber meistens vermeiden, weil es dort zu unangenehm werden kann, ist, bei der Psyche zu verweilen. Genau das wird aber bei der (Zen-)Meditation gemacht: Wir sitzen ganz ruhig und lassen uns so nicht auf die Materie bzw. das Handeln und äußerliches Wahrnehmen ein, und wir stoppen uns beim Denken, lassen uns also nicht auf den Geist ein, so dass wir uns dazu bringen, bei der Psyche anzuhalten und uns so mit der Dynamik der Liebe zu konfrontieren, was oft von Meditierenden als inneres Feuer beschrieben wird. Dadurch setzen wir uns immer mehr den sinnlich vermittelten Empfindungen über Gegensätzlichkeiten, Widersprüchen und Zweifeln aus, die für uns als psychische Aktivität, also vermittelt durch die Empfindungen von Wut, Angst, Leid und Abscheu, präsent sind (in uns als psychischem Subjekt) und die uns (als Objekt der Psyche) die Psyche als Bürde direkt vor die Nase setzt, sodass wir immer mehr zum „Zweifelskloß“ (Hisamatsu, 2011) werden. Im Durchstoßen dieses Kloßes, also im individuellen Erwachen (ebenda), werden uns unsere wahren Möglichkeiten des Seinkönnens klar und deutlich, also unser wahres und ursprüngliches Selbst – ursprünglich als die geistige Antwort (bzw. Entsprechung) auf unsere ursprünglichen Gegensätzlichkeiten –, sodass wir in der Umsetzung dieser Möglichkeiten zum „wundersamen Wirken“ im materiellen Alltag kommen. Meditieren hilft also, das Gleichgewicht zwischen Psyche, Geist und Materie bzw. zwischen Fühlen, Denken und Handeln, was sich oft zu Ungunsten der Psyche bzw. des Fühlens und damit der Lebendigkeit verschiebt, wiederherzustellen. Indem immer mehr Zweifel durchstoßen, also Ungewissheiten und Enttäuschungen erfahren werden und wir uns fühlend, denkend und handelnd damit auseinandersetzen, erwacht das Dasein als Individuum immer mehr zu seinem wahren Selbst und nähert sich so immer mehr dem absoluten Nichts bzw. der Liebe. Erwachen ist dabei das Entdecken von immer mehr wahren Möglichkeiten des Seinkönnens des Daseins. So betrachtet scheint das wahre Selbst etwas Absolutes zu sein. Andererseits werden die Möglichkeiten des Seinkönnens des Daseins von diesem als individuelles geistiges Subjekt erst erschaffen, so dass das Selbst und das allmählich entdeckte wahre Selbst etwas Relatives sind, zumal es auch erst durch die Tat und deren Wahrnehmung und befindlicher Beurteilung ihrer Konsequenzen sich bewähren muss. Diese Betrachtungsweise ist nicht-metaphysisch, sie geht nicht von einem schon von vorneherein feststehenden wahren Selbst aus und damit auch nicht von einer apriori schon bestehenden Erschlossenheit wie Heidegger (Heidegger, 2006). Im Zen gibt es außer dem absoluten Nichts nichts Absolutes, und vom Absoluten geht Zen nicht aus, sondern hin. Erst wenn wir vollkommen in der Liebe sind, ist unser Selbst absolut, und zwar absolutes Nichts, und auch das Erwachen ist dann erst absolut, das absolute Nichts. Solange das Erwachen und das wahre Selbst nur partiell und noch nicht vollkommen sind, sind sie relativ und in dem oben beschriebenen Zirkelprozess sich wechselseitig bestimmend, d.h. durch fortschreitendes Erwachen wird das wahre Selbst immer mehr entfaltet, und durch fortschreitendes Entfalten des wahren Selbst kommt es zu immer mehr „wundersamem Wirken“, wodurch immer tiefer liegende, ursprünglichere und bis dahin noch verborgene Gegensätzlichkeiten bzw. Zweifel zum Vorschein kommen können, so dass dies wiederum zu erneutem und immer größerem Erwachen führt, je mehr wir echt und unmittelbar verstehen, also lieben.

Beim Meditieren mit der Frage »Wer bin ich?« leben wir allerdings nur eine Seite unseres Skeptizismus, wir beschäftigen uns nur mit unserem eigenen Menschsein und vielleicht noch damit, ob und wie unser Menschsein von anderen aufgenommen wird und ob und wie wir eventuell darauf in Zukunft Einfluss nehmen können. Bei der Frage »Was ist Leben?« geht es nicht nur um die skeptische Frage nach unserer eigenen Herkunft, sondern auch um die Herkunft von allen anderen lebendigen Wesen, und erst bei der Frage »Wer oder was ist ein anderer?« um das Fremdpsychische, mit dem wir bei der Begegnung mit jedem anderen aufs Neue konfrontiert sind, das Problem, bei dem wir bei jeder Begegnung ankommen. Die Frage »Was ist Lieben?« könnte auch lauten: Wie kann ich meinen Skeptizismus im Alltag (und eventuell mit Begeisterung) leben?

Skeptizismus und die Geschichte des Menschseins

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Bei Descartes müsste es eigentlich heißen: „Ich denke, also zweifle ich.“ Auch die biblische Geschichte vom Sündenfall legt nahe, dass der Zweifel, verkörpert durch die Schlange, ganz am Anfang unseres Menschseins seinen Ursprung und mit dem Denken, symbolisiert durch den Baum der Erkenntnis, seinen Anfang genommen hat. Und im Leben von jedem einzelnen, sobald er oder sie die erste Enttäuschung erlebt und darüber nachzudenken beginnt, ist die Saat unseres Skeptizismus gesät, und wir überlegen, ob unsere Ergriffenheit oder aber unsere Erwartung uns getäuscht und damit enttäuscht hat, d.h. es kommt so zu einer ersten Trennung von Psyche (Ergriffenheit) und Geist (Erwartung). Erst wenn diese Trennung grundlegend aufgehoben ist, verstehen wir echt und unmittelbar das Worumwillen von allem Seienden und haben somit das utopische Ziel der vollkommenen Liebe erreicht. Weil diese Trennung (Geist und Psyche sondern sich voneinander ab) und damit unser Skeptizismus apriori in jedem von uns angelegt ist, kann man hier durchaus von der Erbsünde (Sünde kommt von »sondern«) sprechen. Dass dadurch das Böse im Dasein entsteht, habe ich schon früher ausgeführt (Kolb, 2012). Geschichtlich betrachtet, und zwar sowohl allgemein als auch individuell, ist der Skeptizismus ursprünglich, wesenhaft und unhintergehbar mit unserem Menschsein bzw. mit unserer Herkunft als Menschen verbunden. Der Skeptizismus ist aber auch endgültig und unüberholbar mit unserer Sterblichkeit und mit dem Tod und damit mit unserer Zukunft verbunden, denn wir wissen nichts, weder über die Zukunft, noch über den Tod und seine Konsequenzen, außer dass es ein Ende unseres In-der-Welt-Seins gibt, und dass dies der Tod ist, und es gibt keine Möglichkeit über diese Ungewissheit hinwegzukommen. Wir können uns nur stetig bemühen und uns dabei immer wieder neu und entschlossen vergewissern, wo wir angekommen sind (Auskunft über die Ankunft und Ankunft in der Auskunft), um dem utopischen Ziel der Überwindung unseres Skeptizismus immer näher zu kommen, indem wir immer echter und unmittelbarer das Worumwillen von allem Seienden verstehen, also immer vollkommener lieben, und um damit das Menschsein der gesamten Menschheit und von uns selbst immer vollkommener zu machen, da, wie oben ausgeführt, vom Modus des Genus aus formuliert vollkommene Liebe absolute Gleichheit und absolute Freiheit von allen und damit absolute Harmonie unter allen Menschen bedeutet. Von daher ist es auch eine vollkommen falsche Annahme, wenn jemand glaubt, er könne allein als Einzelner die Erlösung, die Erleuchtung, die vollkommene Liebe, oder wie auch immer er dieses von mir umschriebene Ziel nennen will, erreichen. Auch das absichtslose Handeln im Sinne des Taoismus als Umschreibung der vollkommenen Liebe vom Modus der Spezies aus ist nur möglich, wenn im Kontakt mit anderen Psyche und Geist in absoluter Harmonie vereint sind, und dann ist das Handeln weder „hypothetisch“ noch „technisch“ und ist damit „kategorisch“ und prinzipiell gut im Sinne von Kant. Solange wir aber noch als Menschen in dieser Welt sind, ist dies alles nur eine utopische Lösung und Erlösung. Der Anspruch der Vernunft scheint mir das Streben danach zu sein („Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen“, Goethe, Faust II, Vers 11936–11937), und wenn wir diesem Anspruch von der Psyche her Ausdruck verleihen, dann wird daraus ein Schrei nach Liebe.

Die Geschichte über die Ursprünge der skeptischen Perspektive bezüglich des Fremdpsychischen, meint Cavell, werde „in den folgenden Entwicklungsstadien Auskunft erteilen“ (Cavell, 2006, S. 742):

1. Nach Cavell „bedarf die skeptische Perspektive einer Erklärung für jene besondere Geisteskrankheit, die eben in dieser Problemstellung selber auftreten muss oder verursacht wird bzw. droht“ (ebenda). Die skeptische Perspektive droht immer wieder zu einem Gegensatz zwischen Psyche und Geist zu führen, und daraus können dann wahnhafte Störungen entstehen, wenn der Geist die Herrschaft übernimmt, oder neurotische, wenn die Psyche zu dominant wird (Kolb, 2012). Da es bei Philosophen am wahrscheinlichsten ist, dass der Geist die Psyche beherrschen will, trifft man hier am häufigsten psychotische oder wahnhafte Störungen an wie etwa bei Rousseau oder Nietzsche (siehe oben). Wenn Cavell diese beiden mit Kassandra und Phädras vergleicht, die „ein nicht mitteilbares Wissen“ (Cavell, 2006, S. 743) besaßen, dann fühlte sich Rousseau wahrscheinlich nicht im Stande, mitzuteilen, dass er sich von seiner idealisierten Mutter abgeschoben und im Stich gelassen fühlte, und Nietzsche konnte nicht mitteilen, wie primitiv seine Mutter, wie intrigant seine Schwester und wie grausam seine Tanten gewesen waren.

2. Als nächstes geht es um die skeptische Perspektive bezüglich des Fremdpsychischen in der Begegnung. Was der gelebte Skeptizismus hier „überwunden haben will, [ist] vor allem seine Vorstellung, dass von einem anderen zu wissen oder von ihm gewusst zu werden bedeute, dass man selber in einen anderen eindringt bzw. dass der andere in einen selbst eindringt, dass man von einem anderen Besitz ergreift oder von ihm in Besitz genommen wird.“ (ebenda, S. 744) Dass man eindringen muss bzw. dass in einen eingedrungen werden muss, beruht aber wiederum auf der „Vorstellung von oder [… der] Schöpfung der Privatheit des Ichs“ (ebenda), die das Getrennt-sein ermöglicht und vertieft. Beim gelebten Skeptizismus geht es also um die Überwindung solcher Vorstellungen, die Descartes mit der „Einführung der cogitatio‘‘ als bestimmendes Charakteristikum des Geistes [...], Privatheit anstelle von Rationalität zum Kennzeichen des Mentalen“ (ebenda) erzeugt oder zumindest unterstützt hat. Einerseits ist dies ein emanzipatorischer Gedanke, der auch dem Protestantismus zu Grunde liegt, wenn jeder für sich seine Beziehung zu Gott regelt, dieser Gedanke betont das Prinzip der Freiheit des einzelnen, gleichzeitig aber vereinzelt er auch, wenn Gott in einem Säkularisierungsprozess wie z.B. der Romantik verschwindet, und diese Vereinzelung soll ja in der Begegnung beim gelebten Skeptizismus überwunden werden. Dann aber gilt es nach Cavell zu verstehen, „wie der andere jetzt das Gewicht Gottes trägt und mir zeigt, dass ich nicht allein im Universum bin“ (ebenda, S. 744 f.). Der emanzipatorische Prozess der Humanisierung kann dadurch, dass „man das philosophische Problem des anderen als die Spur oder die Narbe [... begreift], die Gottes Abgang hinterlassen hat[..., zu einem] so ungeheuerlichen Unternehmen werden [...], das endliche Ressourcen unendlich überfordert. Man sieht, wohin es führt, wenn unser Skeptizismus gelebt wird“ (ebenda, S. 745). Im Säkularisierungsprozess der Romantik wird nun das Eindringen in den anderen bzw. das Eingedrungen-Werden in einen selbst erotisiert, man setzte es in Szene und war „vor allem besessen von Sadismus und Masochismus; jedenfalls von dem Wunsch nach absoluter Aktivität und absoluter Passivität, und das heißt nach absoluter Anerkennung des bzw. durch den anderen. ([...] Ich möchte meine Existenz durch Beweismittel beweisen, die ich weder liefern kann noch muss. Und dasselbe gilt für die Existenz anderer.)“ (ebenda) Die Sexualisierung spielte sich „ebenso auf erkenntnistheoretischem und politischem Gebiet“ (ebenda, S. 746) ab, wenn zum Beispiel ein französischer Adliger seine Magd hypnotisierte und auf diese Weise erstaunliche Trance-Phänomene erzeugen konnte, oder wenn Frauen beim Anblick von Napoleon in Ohnmacht fielen. Es scheint so, als ob Helden wie Napoleon oder der Adel die Rolle von Gott übernommen hätten. So betrachtet hat Freud diese Sexualisierung bewusst gemacht und damit eine Gegenbewegung eingeleitet, die von der Privatheit wieder zur Vernunft führte. Die verdeckte Sexualisierung der Hypnose war wahrscheinlich der Hauptgrund dafür, dass er diese Methode schließlich abgelehnt hatte. In der Philosophie hat sich parallel dazu der so genannte Neukantianismus entwickelt.

In meinem Schema Individuum-Spezies-Genus bzw. Psyche-Geist-Materie stellt sich die Begegnung mit dem anderen folgendermaßen dar: wir beide sind als Individuen geistige Subjekte und damit als Menschen zwei absolut freie Herrscher darüber, ob wir von der vollkommenen Liebe entfremdet bleiben oder zu ihr umkehren wollen, und als Objekte der Psyche sind wir absolut relative Wesen, also absolut ausgeliefert an unsere jeweilige Psyche, die Dynamik der Liebe. Als Herrscher haben wir beide die freie Wahl, dem anderen gegenüber entfremdet zu bleiben, ja sogar sein Todfeind zu sein, oder umzukehren zur Liebe dem anderen gegenüber, sogar wenn er Todfeind ist. Gleichzeitig sind wir beide aber der Dynamik der Liebe ausgeliefert, im Fall der Todfeindschaft einem u.U. verborgenen „unendlichen Schrecken“ (Nishitani, Vom Wesen der Begegnung, 2011, S. 251), im Fall der Umkehr zur Liebe dem Empfinden einer „unendlichen Schönheit“ (ebenda, S. 253). Im Fall der Romantik wurde der »unendliche Schrecken« romantisch dämonisiert, der andere wurde zum absolut harmlos getarnten Teufel gemacht, z.B. der graue Herr in „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ von Adelbert von Chamisso. Die harmlose Tarnung ist dabei die Verlagerung vom Psychischen auf die materielle Ebene, wo der »unendliche Schrecken« als romantischer Schauer konsumiert werden kann. Die »unendliche Schönheit« wird bei dieser Verschiebung in die Materie romantisch erotisiert und ebenfalls nur oberflächlich konsumiert. In beiden Fällen werden die jeweiligen Phänomene entstellt, der »unendliche Schrecken« wird zum romantischen Schauermärchen und die »unendliche Schönheit« zur sexuellen Perversion. Es kommt zu keiner Begegnung, bei der die beiden Partner sich »konkretisieren«, sondern sie werden »verdinglicht« (Cavell, 2006, S. 746), Freiheit und Gleichheit und damit Harmonie können so nicht erreicht werden.

3. Nachdem die beiden ersten Punkte vor allen Dingen Auskunft über Geist und Psyche und ihr Verhältnis zueinander dargelegt haben, geht es nun in der Geschichte unseres Menschseins um unsere Einstellung zum menschlichen Körper. Cavell beschäftigt sich hier vor allem mit „Zeugnissen für die Verächtlichmachung des Körpers und der Kritik daran“ (ebenda). In der abendländischen Geschichte geht Cavell zuerst einmal von der christlichen Einstellung zum Körper aus, dass die menschliche Natur, also der Körper, der Kasteiung bedarf. Damit die in der Neuzeit entstandene Säkularisierung das Christentum ersetzen kann, ist „eine neue, dem Christentum ebenbürtige Mythologie zu schaffen, was in der Praxis heißt, das Christentum Stück für Stück umzuinterpretieren“ (ebenda, S. 747). Wenn sich hier laut Cavell Geist und Natur gegenüberstehen, dann ist mit Natur weniger der materielle Körper gemeint, als vielmehr seine Eigenwüchsigkeit, die Physis bzw. der Modus des Daseins als Spezies, welcher bzw. welchem die Ergriffenheit bzw. die Psyche die Lebendigkeit und damit seine Eigenwüchsigkeit erst gibt. Somit stehen sich eigentlich Geist und Psyche bzw. Erwartung und Ergriffenheit einander gegenüber, und der menschliche Körper zeigt nur auf, in welchem Verhältnis die beiden miteinander stehen und inwieweit dieses Verhältnis auf Täuschungen beruht, die auf der materiellen Ebene erkannt werden können und so zu Enttäuschungen werden. Insofern wird der menschliche Körper oft wie ein Bote behandelt, der, wenn er schlechte Nachricht überbringt, ungerechtfertigterweise dafür bestraft wird. Wenn es also, wie Cavell es beschreibt, zu einem fortschreitenden Auseinandertreten von Geist und Natur [bzw. Psyche] kommt, dann entstehen, wie schon früher beschrieben, neurotische oder sogar psychotische Störungen. Die beiden wahrscheinlich größten Täuschungen bzw. Enttäuschungen, die uns unser Körper zeigt, sind zum einen, dass wir nicht vollkommen sind, und zum anderen, dass wir sterblich sind. Wenn dies bejaht wird, wenn „es gelingt, jede Enttäuschung darüber, in sich selbst und anderen, völlig aufzulösen, [dann sind wir einen großen Schritt weiter, auf der körperlichen Ebene] Befriedigung und Wechselseitigkeit anzuerkennen“ (ebenda, S. 746).

4. Als nächsten Punkt der geschichtlichen Betrachtung der Ursprünge der skeptischen Perspektive bezüglich des Fremdpsychischen nimmt Cavell die historische Epoche unter die Lupe, die den Humanismus ausgerufen und die Humanwissenschaften postuliert hat, wobei der Skeptizismus feststellt, „dass wir immer noch nicht wissen, ob diese Humanwissenschaft nun existiert oder nicht“ (ebenda, S. 750). Genauso kritisch, wie der Skeptizismus unser Wissen angreift, genauso zieht er in Zweifel, ob das, was wir als Wissenschaft bezeichnen, diesen Namen überhaupt verdient hat. Dabei stellt sich die Frage, ob unser Unwissen bezüglich des Fremdpsychischen wie bei den Naturwissenschaften durch Erfahrung zu überwinden ist, wie Hume in seinem Treatise of Human Nature meint, oder ob dieses Unwissen ein Zustand der Magie ist, verstärkt durch Schwärmerei und Aberglauben, „eine Art psychischer Wildheit, die sich nur durch eine Veränderung unserer natürlichen Reaktionen, durch eine gewisse Fortsetzung der Motive und Beobachtungen eben jener Magie überwinden lässt“ (ebenda, S. 751). Es ist z.B. die Frage, ob unser Verhalten oder unsere Träume überhaupt oder immer ein Ausdruck von etwas sind, d.h. ob diese Phänomene überhaupt oder immer etwas bedeuten. Dass sie manchmal etwas bedeuten oder ausdrücken, wird wohl nur von den extremsten Skeptikern bestritten, während Freud darauf bestand, dass sie immer etwas ausdrücken oder bedeuten, was er dann mit der Methode der freien Assoziation immer wieder glaubte bewiesen zu haben und beweisen zu können. Im Alltagswissen gehen wir praktisch immer von der Hypothese aus, dass solche Phänomene, zumindest was das Verhalten betrifft, etwas ausdrücken und bedeuten, dass es nur im Einzelfall schwierig oder gar unmöglich ist, tatsächlich herauszufinden, was es bedeutet oder ausdrückt. Diese Einstellung ist typisch menschlich und beruht auf der Erfahrung, dass man damit insgesamt weniger gefährlich lebt, weil man vorsichtiger und wachsamer ist und Bedrohungen dadurch schneller wahrnimmt. Insofern erscheint es mir sehr fragwürdig und nicht vernünftig, derartige natürliche Reaktionen verändern zu wollen. Wenn das also Magie sein sollte, dann beruht sie auf Erfahrung, weswegen man sie eigentlich nicht mehr als Magie bezeichnen kann. Magie ist dagegen jede stereotype Art von Deutung wie in bestimmten Traumdeutungsbücher, die wie ein Lexikon aufgebaut sind, und in denen jedes Traumsymbol wie in einem Wörterbuch nur eine begrenzte Anzahl von Bedeutungen zugeordnet bekommt. Aberglaube beruht auf gegenseitiger Beeinflussung und darauf, dass wir etwas als umso glaubwürdiger aufnehmen, je öfter es wiederholt wird. Die Schwierigkeit, solche Phänomene aufzudecken und zu kommunizieren, besteht darin, dass wir dabei alle Modalitäten unseres Daseins beachten müssen: es ist wichtig, die Meinung der Mehrheit mit heranzuziehen und die Tradition (Modus des Genus), aber das reicht nicht allein, es ist ebenso wichtig, das intuitive Verständnis des einzelnen zu beachten (Modus des Individuums), aber auch das reicht allein nicht aus, auch nicht zusammen mit der Meinung der Mehrheit, denn genauso wichtig ist es, unsere Fähigkeiten und Fertigkeiten in der Praxis zu berücksichtigen und darüber zu wachen, inwiefern wir überhaupt in der Lage sind, etwas zu erkennen (Modus der Spezies), und erst unter Heranziehung all dieser drei Modalitäten unseres Daseins, die wir auch nur in der entsprechenden Freiheit jeweils immer weiter entwickeln können, lassen sich mithilfe entsprechender Erfahrungen nach und nach die Grenzen unseres Wissens immer mehr erweitern. In meiner Tätigkeit als Psychotherapeut geht es ja praktisch nur um das Fremdpsychische. Zum einen benutze ich dabei allgemeine Meinungen über Fremdpsychisches und Psychotherapie, die von der Mehrheit meiner Berufsgruppe anerkannt sind, und über die ich mich auf entsprechenden Fortbildungen auf dem laufenden halte (Modus des Genus), zum anderen verwende ich meine sich ständig weiter entwickelnde Selbsterfahrung mit meiner eigenen Psyche, woraus ich ein intuitives Verständnis für psychische Probleme gewinne (Modus des Individuums), und schließlich gibt es noch meine Supervisionsgruppe, die mich immer wieder auf Grenzen meiner Wahrnehmungs- und Beurteilungsfähigkeit in Form von Vorurteilen, Projektionen und Gegenübertragungen auf mein Gegenüber aufmerksam macht (Modus der Spezies). Nur so kann ich verantwortungsvoll meinen Beruf ausüben. Viele philosophische Schulen und Richtungen betrachten unser menschliches Dasein als Individuum oder als Gemeinschaftswesen oder auch als Kombination, z.B. in einem dialektischen Verhältnis, aber die Kombination Individuum, Gemeinschaftswesen und Spezies habe ich bis jetzt erst bei Tanabe (Tanabe, 2011) und bei von ihm beeinflussten Philosophen gefunden.

5. Zuletzt versucht Cavell die skeptische Perspektive bezüglich des Fremdpsychischen „nicht nur in philosophischen Allegorien und Mythologien zu finden [...], sondern auch in verschiedenen literarischen Gattungen, insbesondere in derjenigen, die wir Tragödie nennen (und damit fraglos auch in der Komödie), und vielleicht in jüngerer Zeit in fantastischen Erzählungen oder Gruselgeschichten“ (Cavell, 2006, S. 754). Warum glaubt Cavell, dass die Philosophie bzw. das, was bisher philosophisch gedacht wurde, nicht ausreicht, um die skeptische Perspektive umfassender oder von einer ganz neuen Seite aus (er nennt es die Position des Außenseiters) zu beleuchten? Das Problem des anderen resultiere seiner Meinung nach „nicht aus einer Frustration über das Versagen des Wissens [...], sondern aus einer Frustration über seinen Erfolg (sogar aus einem Entsetzen vor seinem Erfolg)“ (ebenda). Es geht nämlich um die Miteinbeziehung des jeweiligen Worumwillens, d.h. ich muss das Wahrgenommene damit beurteilend und bewertend in Beziehung setzen. Was der andere will, kann mich frustrieren, und meine eigenen Bestrebungen in meinem Worumwillen können mich durchaus auch entsetzen, wenn ich sie nicht mehr verdrängen oder von mir abspalten kann. So betrachtet scheint mir das Problem in der Beurteilung und Bewertung zu liegen, so dass es um Möglichkeiten geht, das Wahrgenommene nur auf das Worumwillen hin zu bewerten und zu beurteilen und das jeweilige Worumwillen möglichst neutral und wertfrei zu akzeptieren. Denn dies scheint mir die Versuchung zu sein, den anderen oder sich selbst zu beurteilen und zu bewerten in seinem bzw. meinem Worumwillen, was dann im Fall des anderen als Bumerang auf mich zurückschlagen kann, indem ich dadurch beurteilt und womöglich sogar verurteilt werde („Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“, Matthäus, 7, 1). Wenn man Cavells „Charakterisierung der Tragödie als Versagen des Idealfalls von Anerkennung akzeptiert, dann […] sind [seine] »Idealfälle« […] eigentlich Fälle von Liebe“ (ebenda, S. 756). Bei dem Worumwillen geht es also immer um Liebe, darum, zu lieben und geliebt zu werden, und das sollten wir weder beurteilen noch bewerten. Weil Lieben von mir aber umschrieben wurde als das echte und unmittelbare Verstehen des jeweiligen Worumwillens, ist diese Forderung eine Selbstverständlichkeit, denn was wir nicht richtig verstehen, können wir auch nicht richtig beurteilen und bewerten. Wir haben es hier mit einem ähnlichen Zirkel zu tun wie bei Heidegger, wenn es um das Sein geht (Heidegger, 2006), und auch hier müssen wir von einem gewissen Vorverständnis ausgehen von dem, was das Worumwillen und damit auch die Liebe betrifft. Das Problem ist nun, dass wir das jeweilige Worumwillen immer nur unvollkommen verstehen können, so dass wir auch das Wahrgenommene immer nur unvollkommen beurteilen und bewerten können. Daraus folgt, dass wir generell sämtliche Bewertungen und Beurteilungen, die wir von Wahrgenommenem fällen, niemals als etwas Absolutes nehmen dürfen, sondern immer bereit sein sollten, sie zu verwerfen. Ich denke, das ist ganz entscheidend für ein menschliches »seinen Skeptizismus leben«, weil nur so daraus ein Lieben-Lernen wird.

Da in Tragödien der Tod immer eine große Rolle spielt, kommt Cavell immer wieder zurück „auf die Vorstellung vom menschlichen Körper und welches Los ihm in diesen Geschichten zufällt“ (ebenda, S. 757). Im „Kaufmann von Venedig“ von Shakespeare z.B. beansprucht Shylock dieselbe Anerkennung als Mensch für sich wie für alle anderen, die ihm insbesondere von Antonio verwehrt werde, nur weil er Jude sei. Dabei beruft er sich zwar auch auf Seelisches (Neigungen und Leidenschaften), vor allem aber auf Körperliches (Augen, Sinne, Hände, Gliedmaßen, Ernährung, körperliche Erkrankungen und Verletzungen u.ä.), und das genannte Körperliche ist mit Seelischem, mit Empfindungen verbunden (wir lachen, wenn wir gekitzelt werden). Problematisch wird dann allerdings seine Forderung, er dürfe sich daher genauso rächen wie die anderen, da dies eine Nivellierung nach unten darstellt. Nach Cavell bedeutet diese Forderung aber nicht unbedingt, dass Shylock sich tatsächlich rächen will, sondern dass er damit den anderen vorwirft, sie würden die Analogie gegen ihn so benutzen, indem sie nämlich nach unten nivellieren, also ihn als Menschen akzeptieren, an dem man sich rächen dürfe, weil er auch solche Leidenschaften wie Rache habe. Shylocks Gleichsetzung von seelischen und körperlichen Verletzungen, wenn er ein Pfund von Antonios Fleisch für die seelischen Verletzungen verlangt, die dieser ihm, Shylock, zugefügt habe, ist problematisch, da körperliche Verletzungen im Gegensatz zu seelischen zum Tod führen können. Daher auch der Einwand der verkleideten Portia, Shylock dürfe beim Herausschneiden des Fleisches keinen Tropfen Blut vergießen, Blut hier als Symbol für Leben. Hier lässt sich ebenfalls von der Position des Zuschauers bzw. des Außenseiters her, der nicht direkt in das Geschehen verwickelt ist, argumentieren, dass Portia Shylock möglicherweise falsch interpretiert, dass er nämlich damit demonstrieren will, in welcher Weise Antonio und die anderen Christen die Analogie zwischen Körper und Seele missbrauchen, dass sie nämlich, wenn sie sich von einem Juden seelisch verletzt fühlen, ihn dafür töteten. Indem Shylock sich zum Advocatus diaboli macht, wird er gleich verteufelt. Durch seine angebliche Nivellierung nach unten macht er sich den Christen gleich, um ihnen das Diabolische ihrer Handlungsweise bewusst zu machen, aber „tatsächlich bereitet er hier vor, dass ihm als Strafe die Bekehrung auferlegt wird“ (ebenda, S. 759), er soll also wirklich diabolisch werden. Damit wird seine Bekehrung „als ein spezifischer Akt der Widerlegung“ (ebenda) zu seiner eigentlichen wenn auch tragischen Bestätigung. Wie kommt es nun zu dieser missbräuchlichen Verwendung der Analogie von Körper und Seele, dass seelische Verletzungen analog zu körperlichen bis hin zum Abtöten des Körpers betrachtet werden? Wenn ich im Seelischen, also in meinen Empfindungen derart verletzt bin, dass ich von nichts mehr ergriffen bin, mich für nichts mehr begeistern kann, keine Motivation und zu nichts mehr Lust habe, alles eine seelische Qual ist und ich ganz verzweifelt bin, sodass ich mein Leben nicht mehr aushalte, dann kann das zum Suizid führen. Das Seelische in Form von Motivation ist etwas, was mich in Bewegung bringt und lebendig macht, also Leben schenkt. Verletzungen im Seelischen führen zu Lethargie, Langeweile und Empfindungslosigkeit oder zu Gefühlen von Wut, Angst, Leid oder Abscheu, aber niemals vom Seelischen allein her zum Selbstmord. Erst in Verbindung mit Geistigem, mit Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und dem daraus resultierenden Gedanken, dass ich es nicht mehr aushalte, treiben seelische Verletzungen jemanden in den Freitod. Erst wenn wir vom Geist her zu dem Entschluss kommen, dass der Tod besser ist, als mit der betreffenden seelischen Verletzung zu leben, wenn der Geist mit dieser so verletzten Seele nicht mehr sein will, wenn also der Geist dominiert und Geist und Seele sich bis zum Äußersten entzweit haben, dann droht dem Körper die Vernichtung, und er erweist sich in diesem Fall wieder als der materielle Ausdruck oder das Bild von Seele, Geist und der Beziehung zwischen Seele und Geist.

Mit Shakespeares „Das Wintermärchen“ und seinem „Othello, der Mohr von Venedig“ wählt Cavell eine „zweite, [...] abschließende Illustration, [...] welches Schicksal dem menschlichen Körper unter dem Skeptizismus beschieden ist“ (ebenda, S. 761). Der Zusammenhang beider Stücke „ist eine Geschichte von nagender Eifersucht, dann der Anklage wegen Ehebruchs, einer Anklage, von welcher jeder Außenstehende, jeder andere als der Ankläger weiß, dass sie völlig gegenstandslos ist“ (ebenda, S. 762). Die nagende Eifersucht ist „die Pein in dem Vermögen, um die Existenz eines anderen (als keusch, unberührt, wie der Wissende von seinem anderen weiß, dass der es ist) zu wissen. Leontes weigert sich einem wahren Orakel Glauben zu schenken, Othello besteht darauf, einem falschen zu glauben“ (ebenda, S. 762). Außerdem „führt in beiden Dramen die Weigerung des Mannes, seinen anderen zu kennen, zur Phantasie von etwas Steinernem“ (ebenda). Hermione erscheint als Statue und wird von Leontes als solche anerkannt, und Othello beschreibt Desdemonas Haut „wie eines Denkmals Alabaster“ (ebenda). Wie hier im 8. Kapitel aufgezeigt, symbolisiert eine Statue etwas Geistig-Ideales, d.h. der andere wird hier einerseits idealisiert und soll das Gewicht Gottes tragen und Leontes bzw. Othello zeigen, dass er jeweils nicht allein im Universum ist (siehe oben Punkt 2), andererseits wird der andere, weil aus Fleisch und Blut und endlich, da sterblich, also wegen seiner Körperlichkeit angezweifelt, und nichts und niemand kann diesen Skeptizismus besänftigen. In ihrer nagenden Eifersucht können sie nicht „die Existenz eines anderen endlichen Wesens“ (ebenda, S. 763) feststellen, und hierin sieht Cavell eine Parallele zu Descartes, der in seinen Meditationes ebenfalls nicht auf den Gedanken kommt, „dass es der geradeste und sicherste Weg sein müsste“ (ebenda), „sich der Tatsache zu vergewissern, dass er nicht allein auf der Welt ist (III. Meditation)“ (ebenda), „indem er nämlich die Existenz eines anderen endlichen Wesens feststellt“ (ebenda). Bei Descartes scheint wohl auch der Zweifel am Menschen zu überwiegen, und er wählt als Idealfall die Geschichte von Jesus und als den anderen, um dadurch seinen Skeptizismus zu überwinden. Bezeichnenderweise musste Jesus genauso sterben wie Desdemona, und Hermione starb für Leontes zumindest zum Schein. Das scheint mir so wie bei den Hexenprüfungen zu sein: erst wenn jemand durch seinen Tod sich als sterblich erwiesen hat, also keine Hexe bzw. kein Hexer war, wird er bzw. sie als Mensch anerkannt. Nur wer sein Leben als Mensch hingibt, wird es bekommen, indem er als Mensch anerkannt wird. Es geht dabei nicht nur um meine Existenz, sondern auch um meine Integrität als Mensch. Wegen meiner Unzulänglichkeiten, meiner Unvollkommenheit muss für meine Integrität, von der ich scheinbar abhängig bin, der andere in seiner Existenz von mir als vollkommen angesehen werden, eine Existenz, „die mich »in gewissem Sinne nach ihrem Bild« schafft“ (ebenda, S. 765). Für ein kleines Kind ist dies typischerweise die Mutter oder der Vater, bei Othello ist es Desdemona. Die Idealisierung, das Statuenhafte, die Vergötterung, was also dem Geistigen entspricht, nennt Cavell „den Einsatz, der nötig ist, um es mit dem Idealfall zu tun zu haben“ (ebenda). Da aber Menschen weder Statuen noch vollkommen sind, kommt es früher oder später zu Enttäuschungen, der oder die andere kann auch nicht die Situation perfekt kontrollieren, sodass es z.B. bei Othello zur Unterbrechung der Liebesnacht kommt. Irgendwann wandelt sich dann plötzlich „die Absolutheit von Othellos Liebe zur Vollendung seines Zweifels“ (ebenda), und „diese Überstürztheit entspricht genau dem Rhythmus des Skeptizismus“ (ebenda), es ist nur die andere Seite der Idealisierung. Die Dynamik der Liebe Othellos, also seine Psyche ist derart, dass „er aus dem Gleichgewicht seiner Liebe und hin- und hergerissen wird“ (ebenda). Er sucht, das Gleichgewicht zu halten „in einer Anstrengung, das [skeptische] Wissen nur ja von sich abzuhalten“ (ebenda, S. 766). Auf der körperlich-materiellen Ebene sucht Othello nach einem Beweis für Desdemonas Treue bzw. Integrität, wobei er eigentlich seine eigene Integrität beweisen möchte. Da es aber keinen derartigen Beweis gibt, lässt seine „Bewusstseinsaktivität unablässig die Wirklichkeit hinter sich“ (ebenda). Schließlich zieht er im zweiten Akt in Zypern seine eheliche Beziehung mit Desdemona herunter auf die profane Ebene eines Kaufs und gibt damit indirekt zu, dass er sich bei diesem Handel über Desdemonas Integrität seine eigene erwerben will. Wie in der Romantik (siehe 2.) verliert und verfängt Othello sich „auf dem Weg der Selbstverwirklichung und Intersubjektivität“ (ebenda, S. 746), Desdemona und er werden dadurch, „statt sich zu »konkretisieren«, »verdinglicht«“ (ebenda). Damit ist „Othello der romantischste der Shakespearehelden“ (ebenda, S. 767). So betrachtet bedeutet Othellos Eifersucht, dass er bei diesem Handel seine Integrität nicht bekommen könnte. Dann aber ist Desdemonas Treue wesentlich schrecklicher als ein Ehebruch ihrerseits, denn dann kontrastiert ihre Vollkommenheit in furchtbarer Weise seine Unvollkommenheit, sein Unvermögen, seine Impotenz, ihr zu entsprechen. So hat er nur die Wahl, „durch die erregte oder von ihm erregte weibliche Sexualität impotent oder mörderisch“ (ebenda, S. 779) zu werden. So bringt die Sexualität uns einerseits zurück zum Anfang unseres Lebens, als wir noch vollkommen impotent waren, und andererseits vor zum Ende unseres Lebens, zum Tod als dem letzten Orgasmus, und das Blut auf dem Laken des Ehebettes symbolisiert einerseits die Vollkommenheit der Jungfräulichkeit Desdemonas und ihre Hingabe im Opfertod und andererseits das Unvermögen, die Impotenz Othellos, Desdemonas Vollkommenheit zu zerstören, und seine Konsolidierung, seine Befreiung von der Qual, von Desdemona abhängig zu sein, durch seinen Mord. In der Regression zum Anfang des Lebens finden wir die Eigenart des männlichen Orgasmus, der in der vollkommenen Impotenz des erschlaffenden Penis endet und in der Befreiung von sexueller Sehnsucht und Abhängigkeit und damit in einer Art von Selbst-Konsolidierung, und im Erleben des Lebensendes begegnet uns die Eigenart des weiblichen Orgasmus, die Überwindung unserer existenziellen Endlichkeit durch die Selbst-Hingabe der eigenen, unvollkommenen Existenz. Damit erweist sich die Sexualität als zutiefst menschliche Begegnung, bei der es sowohl »unendlichen Schrecken« als auch »unendliche Schönheit« (Nishitani, Vom Wesen der Begegnung, 2011, S. 251 u. 253) geben kann. In der Sexualität zeigt sich das Problem der Abhängigkeit (die männliche Seite des Problems) und der Sterblichkeit (die weibliche Seite) und damit die conditio humana besonders auffällig. Die Ursache des Skeptizismus, so behauptet Cavell, sei nun der „Versuch, die conditio humana in ein intellektuelles Problem zu verwandeln, in ein Rätsel (»eine metaphysische Endlichkeit als intellektuellen Mangel« zu interpretieren [...])“ (Cavell, 2006, S. 780). Cavell fragt nun: „Ist die skeptische Verdeckung – die Verwandlung der metaphysischen Endlichkeit in einen intellektuellen Mangel – eine Verleugnung des Menschlichen oder dessen Ausdruck?“ (ebenda, S. 781) Es ist offensichtlich ein Ausdruck des Menschlichen, das Menschliche zu verleugnen. Sich selbst ein Abscheu zu sein, sein Vergnügen nicht ertragen zu können und sich selbst unglücklich zu machen (frei nach Montaigne, zitiert nach ebenda, S. 782), scheint eine menschliche Eigenart zu sein, die sich immer wieder bei uns Bahn brechen kann. Es ist eine Art, den eigenen Körper zu verneinen. Wenn wir dagegen unseren Körper absolut bejahen, sind wir wie Othello den dauernden Sticheleien eines Jago ausgesetzt (hinter diesem Namen verbirgt sich meines Erachtens das englische Wort „Jab“ für Stichelei – eigentlich wird die englische Schreibweise „Iago“ von Santiago, dem Apostel Jakob, hergeleitet, und Jakob kann zu Jaap (holländischer Vorname) oder Jab zusammengezogen werden), so dass „der Rat, das eigene Menschsein anzunehmen“ (ebenda), doch recht naiv erscheint. Erst wenn ich liebe, also echt und unmittelbar das Worumwillen von Menschen verstehe und somit ein Wissen habe „um die menschlichen Möglichkeiten [...], das darüber hinausreicht“ (ebenda, S. 783), kann ich das eigene Menschsein annehmen. In der Liebe ist der eigene Körper (wie auch Psyche und Geist) absolut verneint ineins damit, dass er absolut bejaht ist. Zum Schluss weist Cavell auf das Kuriosum hin, dass in dem Namen Othello das Wort Hölle (englisch „Hell“) und in dem Namen Desdemona das Wort Teufel (englisch „Demon“, eigentlich kommt Desdemona von griechisch dysdaimon = „unglücklich“, „vom Schicksal verfolgt“) jeweils steckt (ebenda, S. 784), so dass sich auch ihm der Gedanke an Hexenprozesse aufdrängt. Selbst wenn Shakespeare Quellen über derartige Vorkommnisse nicht benutzt hat, „reicht es, dass das Stück mit einer öffentlichen Anklage wegen Hexerei anhebt und einem abgekürzten Prozess, um dann mit marternden Höllengedanken und unheilvollen Psychofolterszenen fortzufahren und mit dem Tod als dem Sterblichkeitserweis, d.h. Unschuldserweis, zu schließen [...]. Es reicht, [...] um dieselben Abgründe des Aberglaubens aufzurühren – eines Horrors, der sich sofort erhebt, sobald uns Fremdpsychisches unzugänglich wird –, der in dem entsprechenden institutionellen Umfeld Hexenprozesse verursacht hat“ (ebenda, S. 785). Es kann stark vermutet werden, dass viele als Hexen angeklagte Frauen an einer Psychose erkrankt waren (McClelland, 2006, S. 113 ff.), und Psychosen sind Fremdpsychisches, das uns normalerweise unzugänglich ist, aber mit dem Othello hat uns Shakespeare eine Psychose bzw. einen psychotischen Schub zugänglich gemacht. Insofern befruchtet hier die Literatur die Philosophie und die Psychologie. „Doch kann Philosophie zur Literatur werden und dabei zugleich wissend bei sich bleiben?“ (Cavell, 2006, S. 786)

Literaturverzeichnis

[Bearbeiten]

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