Zum Inhalt springen

Hans Castorps Schneetraum: Das Fin de Siècle

Aus Wikiversity

Das Fin de Siècle

[Bearbeiten]

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts trat eine starke literarische Strömung auf, die sich das Morbide und Nervöse zum Thema nahm. Lebensschwäche und psychische Instabilität waren nicht negativ konnotiert, sondern standen für Überfeinerung und Sensibilität, galten als der Boden, auf dem sich Künstlertum und höhere Geistigkeit entwickeln konnten. Friedrich Nietzsche gebrauchte als erster in Deutschland den Begriff Décadence für diese europäische Kulturerscheinung und nannte Richard Wagner einen typischen décadent. [1] Richard Wagner wurde für Thomas Mann zum prägenden künstlerischen Vorbild. [2]

Der Erstlingsroman „Buddenbrooks“ trägt zu den zahlreichen Wagneranspielungen im Text den Untertitel „Verfall einer Familie“. Bezogen auf den lateinischen Wortstamm bedeutet Décadence Verfall. Die Konzeption des Sanatoriumromans "Der Zauberberg" hat Thomas Mann als "erzromantisch" bezeichnet [3] und dem Genre Verfall zugerechnet. [4] Mehr als zwei Jahrzehnte später kommentierte er seinen „Doktor Faustus“ (1947): „Ich schreibe ja immer Verfallsgeschichten". [5] In diesem Roman gelingt einem Künstler der geniale Durchbruch erst in der Fiebrigkeit einer syphilitischen Enzephalitis. ´Genialisierung durch Krankheit´ ist ein typisches Décadence-Motiv. Wissenschaftlich lässt sich diese Kausalverknüpfung nicht verifizieren. [6]

Ein weiteres Motiv im Gesamtwerk Thomas Manns, doch nur bis 1924, bis zu „Der Zauberberg“, ist die „Sympathie mit dem Tode“. Die Formulierung findet sich erstmals in einem Brief an den Bruder Heinrich, geschrieben im Spätjahr 1913:

„Eine wachsende Sympathie mit dem Tode, mir tief eingeboren“. Einige Sätze zuvor hatte Thomas Mann mitgeteilt: „Wenn nur die Arbeitskraft und -lust entsprechend wäre. Aber das Innere: Die immer drohende Erschöpfung, Skrupel, Müdigkeit, Zweifel, eine Wundheit und Schwäche, dass mich jeder Angriff bis auf den Grund erschüttert“. [7]

In einer ähnlichen Verfassung hatte Thomas Mann 12 Jahre zuvor dem Bruder geschrieben. Im Rückblick auf den vergangenen Winter berichtete er von „Depressionen wirklich arger Art mit vollkommen ernst gemeinten Selbstabschaffungsplänen.“ [8]

In „Der Zauberberg“ wird das Motiv „Sympathie mit dem Tode“ bis zum Schlussbild durchgeführt: In ihm läuft der Held des Romans als Kriegsfreiwillger während eines Sturmangriffes in das Granatfeuerfeuer des Ersten Weltkrieges, dabei leise ein Lied von romantischer Todessehnsucht auf den Lippen. Und zugleich wird dieses Motiv für immer aus dem Werk Thomas Manns verabschiedet, mit einer formelhaften Vorsatzbildung, einem Lebensbefehl, der als einziger Satz des Romans kursiv gedruckt ist. Die Maxime findet sich zwischen mittlerem und letztem Drittel des Romans, in dem Kapitel "Schnee". Es sind die Traumgedanken des jungen Hans Castorp, des Helden des Sanatoriumsromans, die er - für den Leser befremdlich - ziemlich schnell wieder vergisst.

„Dieser wunderliche Bildungsroman“ schreibt Thomas Mann dem Germanisten Phillip Witkop während der Arbeit an „Der Zauberberg“, „führt doch eigentlich auch wieder aus dem „Verfall“ nicht heraus“. [9] Nun waren Verfall und romantische „Sympathie mit dem Tode“ nach dem Epochenwechsel, der sich mit dem Ersten Weltkrieg vollzogen hatte, nicht mehr zeitgemäß, und Thomas Mann wollte nicht zurückstehen. Hatte er sich doch zum Ziel gesetzt, in der literarischen Welt die Nummer 1 zu werden. Konkurrenten waren der Bruder Heinrich, zu dieser Zeit der angesehenere der beiden Schriftsteller und Gerhart Hauptmann, der sich als Goethes Nachfolger verstand. [10] Den bereits 1912 begonnen Roman aufgeben wollte Thomas Mann aber auch nicht. Das ist einer der Gründe für den Widerruf, den das Kapitel „Schnee“ darstellt.

Entstanden ist „Der Zauberberg“ zwischen 1912 und 1924, - mit längeren Unterbrechungen durch essayistische Arbeiten. Ursprünglich war eine Novelle geplant. Thomas Mann wollte nach "Der Tod in Venedig" etwas Heiteres schreiben, eine Parodie auf Todesstimmung und Todesfaszination. Dem Zeitgeist gehorchend erweiterte Thomas Mann nach 1918 die Konzeption auf „Todesromantik plus Lebensja“. [11]

„Es handelt sich letzten Endes um Kritik und Überwindung der als Todesfaszination verstandenen Romantik zugunsten des Lebensgedankens und eines neuen Humanitätsgefühls“. [12]

Doch Lebensbejahung findet sich nur in dem Kapitel "Schnee". Depraviert-romantische Todesverfallenheit - in einer Mischung aus Komik und Grauen - bleibt die Grundtendenz des Romans.


  1. Nietzsche, Friedrich: Der Wagner Fall. Ein Musikanten-Problem. Leipzig: Naumann 1889, S.13
  2. Mann, Thomas: Einführung in den Zauberberg für Studenten Princeton. In: Der Zauberberg 142. – 143. Aufl. 1939
  3. Mann, Thomas am 25. 05. 1926 an Ernst Fischer
  4. Mann, Thomas am 14. 12. 1921 an Philipp Witkop
  5. Mann, Thomas am 26. 12. 1947 an Max Brantl
  6. Haack, Hans-Peter: Genialisierung durch Krankheit. Nervenheilkunde (2003),41
  7. Mann, Thomas am 8. 11. 1913 an Heinrich Mann
  8. Mann, Thomas am 13. 2. 1901 an Heinrich Mann
  9. Mann, Thomas am 14. 12. 1921 an Philipp Witkop
  10. Wysling, Hans und Ivonne Schmidlin: Thomas Mann. Zürich: Artemis 1994, S. 304
  11. Mann, Thomas am 21. 9. 1918 an Ernst Bertram
  12. Mann, Thomas am 30. 8. 1925 an Helmut Ulrici


weiter
Inhaltsverzeichnis
zurück