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Kurs:Grundkurs Mathematik (Osnabrück 2018-2019)/Teil I/Vorlesung 5/kontrolle

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„Es gibt nur eine Grundrechenart, das Zählen“



Zählen

Unter Zählen verstehen wir die geordnete, systematische, prinzipiell unendliche Abfolge von wohlbestimmten, wohlunterschiedenen (insbesondere wiederholungsfreien) (sprachlichen oder schriftlichen) Symbolen. Wir erwähnen einige Möglichkeiten von solchen Abfolgen.

  1. Dies ist die Strichabfolge. Es wird einfach bei jedem Schritt ein zusätzlicher Strich hinzugefügt. Die Symbole sind die einzelnen Strichfolgen. Der Übergang zum nächsten Symbol ist besonders einfach, die einzelnen Symbole werden aber sehr schnell unhandlich.

  2. Hier hat man den Nachfolger der , den Nachfolger des Nachfolgers der , den Nachfolger des Nachfolgers des Nachfolgers der , u.s.w.

  3. Die Lautfolge

    Dies ist zwar sehr vertraut und man weiß, wie es weiter geht, das sprachliche Bildungsgesetz ist aber keineswegs trivial, und bei sehr großen Zahlen kommt man doch ins Schwitzen. Was kommt beispielsweise nach

    Es gibt keine allgemein anerkannte sprachliche Festlegung für beliebig weites Zählen. Jede sprachliche Festlegung, die jede beliebig große natürliche Zahl ausdrücken möchte, muss früher oder später auf eine Vervielfachung von Wörtern zurückgreifen, wie das im Fall der Strichfolge von Anfang an geschieht. Die Wörter werden jedenfalls auch beliebig lang, siehe w:Zahlennamen.

  4. Hier weiß man, wie die Folge ins Unendliche weitergeht. Statt bei zehn kann man mit der systematischen Vervielfachung auch deutlich später anfangen.

  5. Diese Art zu zählen (bzw. ohne das „und“) wird von einigen Leuten vorgeschlagen, um die verkehrte Aussprache von Einer- und Zehnerstellen und damit Zahlendreher zu vermeiden. Siehe den Verein w:Zwanzigeins (an der Namensgebung und auch auf der Seite des Vereins fällt auf, dass das Verhältnis zu den Zahlen von bis unklar ist).

  6. Was steht dazwischen und wie geht das weiter?

  7. Man kann das Alphabet natürlich auch auf andere Weisen zu einer unendlichen Folge fortsetzen.

  8. Hier ist das Bildungsgesetz bekannt und ziemlich einfach. Wenn die letzte Ziffer nicht ist, so wird sie um erhöht, für die nachfolgende Zahl muss man also in diesem System nur die letzte Ziffer durch den Nachfolger ersetzen. Wenn die letzte Ziffer eine ist, muss man sämtliche hinten aneinander liegende en durch en ersetzen und die unmittelbar davor liegende Ziffer durch ihren Nachfolger ersetzen (wie ist das zu verstehen, wenn die Zahl ausschließlich aus en besteht?).

Entscheidend ist, dass jeweils festgelegt ist, welches Symbol/Objekt als Nächstes kommt. Dies wird in der Regel durch eine mehr oder weniger komplexe Bildungsvorschrift beschrieben, die sagt, wie man aus einem Symbol das Nachfolgersymbol erhält.

Der natürliche Zahlenstrahl, die Gerade hat im Moment noch keine eigenständige Bedeutung. In diesem Zählmodell bedeutet das Zählen, um eine Schrittlänge nach rechts zu gehen. Die Beschriftung mit den Dezimalzahlen gibt die Identifizierung mit einem anderen Zählmodell.


Wir halten die folgenden Eigenschaften eines sinnvollen Zählens fest.

  1. Es gibt ein Startelement, mit dem man das Zählen anfängt.
  2. Zu jeder Zahl gibt es eine eindeutig bestimme Nachfolgerzahl.
  3. Das Startelement ist selbst kein Nachfolger.
  4. Jede Zahl, die nicht das Startelement ist, besitzt einen eindeutig bestimmten Vorgänger.
  5. Durch Zählen erhält man ausgehend vom Startelement früher oder später alle Zahlen.
Welche Eigenschaft erfüllt dieses „Zählsystem“ nicht?

Damit schließen wir insbesondere aus, dass man im Kreis zählt, wie beispielsweise mit den Wochentagen Montag, Dienstag, ..., Sonntag, Montag. Da hat jeder Tag einen eindeutig bestimmten Vorgängertag und es gibt kein Startelement ohne Vorgänger. Die letzte Eigenschaft stellt sicher, dass man keine unnötigen Zahlen mitschleppt, die für das Zählen nicht gebraucht werden. Eine solche Zählmenge nennen wir ein Modell der natürlichen Zahlen oder schlicht natürliche Zahlen. Unabhängig vom Modell bezeichnen wir zu den Nachfolger als (später auch mit , im Moment haben wir aber die Addition noch nicht eingeführt).

Wir treffen noch eine wichtige Vereinbarung über das Startelement. In den Beispielen oben hatten wir das Zählen mit einem -ähnlichen Symbol begonnen. Von den soeben fixierten Eigenschaften ist die Bezeichnung des Startelements unerheblich. Im Folgenden werden wir allerdings die Zahlen dazu verwenden, Anzahlen von endlichen Mengen auszudrücken, also zu zählen in einem weiteren Sinne. Da es auch die leere Menge gibt, werden wir daher das Startelement nennen und den Nachfolger davon

Für uns ist also eine natürliche Zahl. Gründe dafür werden wir schon heute kennen lernen. Die natürlichen Zahlen werden mit bezeichnet, die Menge der positiven natürlichen Zahlen bezeichnen wir mit , da gehört die nicht dazu.

Mit dem Abbildungsbegriff werden wir die bisherigen Beobachtungen in der übernächsten Vorlesung im Rahmen der Dedekind-Peano-Axiome präzisieren und insbesondere beweisen, dass je zwei Modelle der natürlichen Zahlen übereinstimmen.



Zählen ohne Zahlen
Heinz Ngolo und Mustafa Müller im Sandkasten.

Bevor wir Mengen mit Hilfe der natürlichen Zahlen abzählen, betrachten wir kurz eine noch fundamentalere Idee, wie man Mengen auch ohne Zählkenntnisse untereinander vergleichen kann.


Die beiden Freunde Mustafa Müller und Heinz Ngolo sitzen im Sandkasten und wollen wissen, wer von ihnen mehr Buddelsachen dabei hat. Sie sind noch klein und können noch nicht zählen. Sie lösen das Problem, indem beide gleichzeitig je eine Sache aus ihrem Besitz aus dem Sandkasten hinauswerfen, und dies so lange wiederholen, bis ein Kind keine Sachen mehr im Sandkasten hat. Wenn das andere Kind noch Sachen übrig hat, so hat dieses insgesamt mehr Buddelsachen, andernfalls haben sie gleichviel.




Zählen von endlichen Mengen

Die vielleicht wichtigste Funktion der natürlichen Zahlen ist es, zu einer gegebenen endlichen Menge zu beschreiben, wie viele Elemente sich in ihr befinden, was ihre Anzahl ist. Man möchte beispielsweise wissen, wie viele Äpfel in einem Korb drin sind oder wie viele Schüler im Bus sind. Das übliche praktische Verfahren, die Anzahl einer endlichen Menge zu bestimmen, ist, die Elemente mit durchzuzählen (die Elemente durchzunummerieren), wobei jedes Element[1] genau eine Nummer bekommt. Die letzte benötigte Zahl ist dann die Anzahl der Menge. Um sich die Richtigkeit und Sinnhaftigkeit dieses Verfahrens klar zu machen, es ist hilfreich, mögliche Fehlerquellen, die auch praktisch häufig auftreten, zu erkennen.

  1. Man beherrscht das Zählen der natürlichen Zahlen nicht. Dann zählt man die Äpfel nacheinander als
  2. Man beherrscht zwar das Zählen der natürlichen Zahlen, kommt aber im Zählvorgang durcheinander, etwa wenn die Schüler sich bewegen oder wenn man unterbrochen wird. Dann zählt man
  3. Man zählt die Zahlen ohne Lücken und ohne Wiederholungen richtig ab, aber man übersieht Elemente.
  4. Man zählt die Zahlen ohne Lücken und ohne Wiederholungen richtig ab, aber man zählt gewisse Elemente mehrfach.

Zu einer natürlichen Zahl bezeichnen wir mit diejenige Teilmenge der natürlichen Zahlen, die aus genau den Zahlen besteht, die man von ausgehend durch sukzessives Nachfolgernehmen erhält, bis man bei anlangt und dann aufhört. Die Elemente und gehören also insbesondere dazu. Diese Mengen sind für uns die Standardmengen (oder Referenzmengen) mit genau Elementen. Wir werden beliebige endliche Mengen dadurch abzählen, dass wir sie mit solchen Standardmengen in Beziehung setzen (die leere Menge betrachten wir auch als eine Standardmenge). Zu zwei natürlichen Zahlen und , wobei im Zählprozess nach kommt, bezeichnen wir mit die Menge aller Zahlen, die man von ausgehend durch sukzessives Zählen erreicht, bis man schließlich bei anlangt und dann aufhört.

Wenn man richtig zählt, erhält man eine Zuordnung zwischen den beiden Mengen

bei der jeder natürlichen Zahl zwischen und genau einem Element der Menge und umgekehrt entspricht. Intuitiv (oder nur im Sinne einer Gewohnheit) ist es klar, dass beim richtigen Zählen der Menge stets die gleiche Zahl als Anzahl herauskommt, dass also die Anzahl unabhängig von der Zählreihenfolge ist. Kann man das genauer begründen? Sowohl diese Frage als auch die oben erwähnten Fehlerquellen können mit dem Abbildungsbegriff beantwortet bzw. analysiert werden.


Es seien und Mengen. Eine Abbildung von nach ist dadurch gegeben, dass jedem Element der Menge genau ein Element der Menge zugeordnet wird. Das zu eindeutig bestimmte Element wird mit bezeichnet. Die Abbildung drückt man als Ganzes häufig durch

aus.

Bei einer Abbildung heißt die Definitionsmenge (oder Definitionsbereich) der Abbildung und die Wertemenge (oder Wertevorrat oder Zielbereich) der Abbildung. Zu einem Element heißt das Element

der Wert von an der Stelle . Statt Stelle sagt man auch häufig Argument. Zwei Abbildungen und sind gleich, wenn die Definitionsmengen und die Wertemengen übereinstimmen und wenn für alle die Gleichheit in gilt. Die Gleichheit von Abbildungen wird also zurückgeführt auf die Gleichheit von Elementen in einer Menge. Abbildungen werden häufig auch Funktionen genannt.

Der Abbildungsbegriff ist fundamental für die Mathematik, es gibt eine Vielzahl an verschiedenen Abbildungen und an Darstellungsmöglichkeiten von Abbildungen. Im jetzigen Kontext interessieren wir uns nur für Abbildungen zwischen endlichen Mengen, die stets durch eine vollständige Wertetabelle angegeben werden können. Für die Mengen

und

ist beispielsweise

eine vollständige Wertetabelle. Aus ihr kann man unmittelbar den Wert als ablesen. Es handelt sich aber offenbar nicht um eine korrekte Abzählung der Menge , da und mehrfach im Bild auftauchen (mehrfach gezählt werden) und überhaupt nicht im Bild auftaucht (übersehen wird).

Wenn die obigen Fehlerquellen (1) und (2) ausgeschlossen sind, so ist das (versuchsweise) Abzählen einer Menge eine Abbildung

Jeder natürlichen Zahl wird also ein eindeutiges Element der Menge zugeordnet. Die beiden Fehlerquellen (3) und (4) sind durch den Abbildungsbegriff nicht ausgeschlossen. Eine Abbildung kann für verschiedene Definitionsstellen, also beispielsweise Zahlen den gleichen Wert, also

haben und sie muss nicht jedes Element der Menge erfassen (treffen). Es kann also Elemente mit der Eigenschaft geben, dass für jedes aus dem Definitionsbereich stets

gilt.

Diese beiden Fehlerquellen erfassen wir mit den folgenden Begriffen.


Es seien und Mengen und es sei

eine Abbildung. Dann heißt

    • injektiv, wenn für je zwei verschiedene Elemente
    auch und verschieden sind.
    • surjektiv, wenn es für jedes mindestens ein Element mit
      gibt.
    • bijektiv, wenn sowohl injektiv als auch surjektiv ist.
Weder injektiv noch surjektiv.
Injektiv und surjektiv.
Nicht injektiv, aber surjektiv.
Injektiv, nicht surjektiv.

Diese Begriffe sind fundamental! Beispielsweise ist die Nachfolgerabbildung

auf der Menge der natürlichen Zahlen wegen der oben angeführten Eigenschaft (4) injektiv, aber wegen der Eigenschaft (3) nicht surjektiv, da das Startelement nicht der Nachfolger einer Zahl ist.

Die Frage, ob eine Abbildung diese Eigenschaften besitzt, kann man anhand der Gleichung[2]

(in den beiden Variablen und ) erläutern. Die Surjektivität bedeutet, dass es zu jedem mindestens eine Lösung für diese Gleichung gibt, die Injektivität bedeutet, dass es zu jedem maximal eine Lösung für diese Gleichung gibt, und die Bijektivität bedeutet, dass es zu jedem genau eine Lösung für diese Gleichung gibt. Die Surjektivität entspricht also der Existenz von Lösungen, die Injektivität der Eindeutigkeit von Lösungen. Beide Fragestellungen durchziehen die Mathematik und können selbst wiederum häufig als die Surjektivität oder die Injektivität einer geeigneten Abbildung interpretiert werden.

Beim Nachweis der Injektivität einer Abbildung geht man häufig so vor, dass man zu zwei gegebenen Elementen und aus der Voraussetzung erschließt, dass ist. Dies ist oft einfacher zu zeigen, als aus auf zu schließen.


Eine Menge heißt endlich mit Elementen, wenn es eine Bijektion

gibt.

Unser erstes Hauptanliegen ist es zu begründen, dass die natürliche Zahl dabei eindeutig bestimmt ist. Wir werden nach einigen Vorbereitungen zeigen, dass wenn

und

bijektive Abbildungen sind, dass dann

ist. Diese Zahl heißt die Anzahl (oder die Kardinalität) der Menge. Sie wird mit oder mit bezeichnet. Die bijektive Abbildung

kann man eine Nummerierung der Menge nennen. Eine Menge besitzt also Elemente, wenn man sie mit den natürlichen Zahlen von bis durchnummerieren kann. Zwei endliche Mengen und , für die es eine Bijektion

gibt, besitzen die gleiche Anzahl. Dies beruht einfach darauf, dass diese Bijektion verknüpft mit der bijektiven Nummerierung wieder eine Bijektion ist. Eine Menge, die nicht endlich ist, für die es also keine Bijektion mit für irgendein gibt, heißt unendlich.

Unter Modellierung versteht man in der Mathematik den Vorgang, realweltliche Phänomene mathematisch zu erfassen, zu verstehen und zu beeinflussen. Das Zählen ist ein allgegenwärtiger Vorgang, mit dem die Anzahl von Mengen bestimmt werden, um deren Größenordnung einordnen zu können, um sicherzustellen, dass alle Schüler da sind, um den Preis der Gesamtmenge zu bestimmen, u.s.w. Dieser alltägliche Vorgang wird mit dem Begriff einer bijektiven Abbildung erfasst bzw. modelliert. Als Gewinn dieses Modellierungsvorgangs kann man nennen: Fehlerquellen erkennen, durch Rechnungen Zählvorgänge abkürzen, die prinzipielle Korrektheit der Zählidee begründen.

Mathematisch modelliert werden physikalische Prozesse, Wetterphänomene, Finanzaktionen, etc. Die Prozesse können dabei beliebig komplex sein und die adäquaten mathematischen Mittel sind dann in der Regel entsprechend komplex. In diesen komplexeren Situationen liegt ein wichtiger Gewinn darin, Aussagen über den Verlauf der Prozesse in der Zukunft mathematisch vorherzusagen.

Eine typische, in der Schule auftretende Form der Modellierung ist die Textaufgabe. Aus einem mehr oder weniger langen Text muss der mathematische Gehalt herausgelesen und für eine Frage die Antwort gefunden werden. Allerdings ist hier typischerweise klar, mit welchen mathematischen Methoden an die Aufgabe herangegangen werden soll.



Fußnoten
  1. Man beachte, dass hier die in der letzten Vorlesung eingeführten Konzepte „für alle“ und „es gibt (genau) eines“ eine entscheidende Rolle spielen.
  2. Über Gleichungen und Variablen werden wir später ausführlicher sprechen.