Kurs:Theorien der Internationalen Beziehungen/Übung - Realismus
Übersicht
[Bearbeiten]Der Realismus versteht sich als eine der dominierenden Theorieschulen der Internationalen Beziehungen. Als spezielle IB-Theorie ist er Ende der 1930er und besonders seit den 1940er Jahren aus den USA heraus bekannt geworden.
Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hatte viele der frühen liberalen IB-Theoretiker auf dem falschen Fuß erwischt. Sie waren davon ausgegangen, durch zwischenstaatliche Institutionen in der Zukunft Krieg verhindern oder wenigstens stark eindämmen zu können. Deshalb hatten sie große Hoffnungen in den Völkerbund gesetzt. Der Zweite Weltkrieg machte diese idealistischen Erwartungen zunichte. Der Realismus offerierte eine alternative Sichtweise, die den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges trotz der zuvor bestehenden Institutionen erklären konnte.
Mit der Veröffentlichung von E.H. Carrs The Twenty Years Crisis im Jahr 1939 bekam der politische Realismus in den Internationalen Beziehungen einen ersten kräftigen Schub. In seinem Buch schreibt Carr, dass Geschichte als Folge von Ursache und Wirkung verstanden werden kann, die mit intellektuellen Mitteln untersuchbar sind. Zweitens kreiert nicht die Theorie die Praxis, wie die Utopianisten (d.h. die Liberalisten) annähmen, sondern im Gegenteil entsteht aus der Praxis die Theorie. Drittens sei Politik keine Funktion der Ethik, sondern im Gegenteil Ethik sei eine Funktion der Politik. Moralität sei das Produkt von Macht.
Carrs Kollege Hans Morgenthau gab dem Realismus 1948 den letzten und entscheidenden Schub mit seinem Buch Politics Among Nations. Darin legt er den Grundstein für die ersten drei Dekaden realistischer Analyse der Internationalen Beziehungen. Carr und Morgenthau sind Vertreter des klassischen Realismus, indem sie sich auf Denker wie Niccolò Machiavelli oder Thomas Hobbes beziehen. Mit deren Ansichten im Gepäck treffen sie bestimmte Annahmen über die menschliche Natur, die sie als unveränderlich und die Politik bestimmend ansehen.
Im Jahr 1979 veröffentliche Kenneth Waltz sein Standardwerk Theory of International Politics und begründete damit den strukturellen oder Neorealismus. Nach der Sichtweise des strukturellen Realismus kann es nur zwei mögliche Strukturen in den internationalen Beziehungen geben: Anarchie und Hierarchie. Hierarchie ist das gewöhnlich vorzufindende Strukturmerkmal innerhalb eines Staates. In zwischenstaatlichen Beziehungen kommt sie jedoch so gut wie nie vor, es sei denn in Zukunft, wenn einmal eine Weltregierung existieren würde, oder im Rückblick auf geschichtliche Zeiten, in denen wie im Falle des Römischen Reiches ein regionaler Hegemon ohne Konkurrenz über das ihm bekannte Territorium herrscht.
In der modernen Staatenwelt herrscht demnach Anarchie vor. Das bedeutet nicht Gewalt oder Chaos, sondern schlicht das Fehlen einer übergeordneten Gewalt. Eine zweite wichtige Annahme, die der Realismus trifft, ist dass Überleben das wichtigste Ziel aller Staaten ist. Aus diesen beiden Grundannahmen ergeben sich eine Reihe von Folgen. Das beste Mittel zum Überleben ist Macht. Staaten rüsten militärisch auf, um ihre eigene Sicherheit zu gewährleisten, denn letztlich sind sie auf Selbsthilfe zum Überleben angewiesen. Es gibt keine Weltpolizei, die im Falle eines Überfalls zur Hilfe kommt. Ein aufrüstender Staat setzt jedoch bei seinen Nachbarn die Befürchtung frei, in der Zukunft von ihm angegriffen werden zu können. Die Nachbarn rüsten demnach gleichfalls auf, was die Unsicherheit für deren Nachbarn wiederum erhöht. Es kommt zu einem Rüstungswettlauf, in dem sich alle Teilnehmer gegenseitig überbieten wollen. Dieses Sicherheitsdilemma entsteht nicht aus dem Wunsch nach Eroberung, sondern lediglich aus dem Wunsch nach Sicherheit. Der Drang nach Sicherheit aller Staaten führt demnach zur Aufrüstung und erhöht in der Folge die Unsicherheit zwischen ihnen, eine klassische Rationalitätenfalle.
Aus der eifersüchtigen Bewachung der Machtverhältnisse heraus ergeben sich des Weiteren große Probleme für zwischenstaatliche Kooperation. Für gewöhnlich verweisen Realisten zur Veranschaulichung dieses Zusammenhangs auf das Gefangenendilemma, das hier nicht ausführlich erläutert wird. Zentral für realistische Denker ist, dass Staaten nur dann kooperieren, wenn sie aus dem Handel einen relativen Vorteil für sich erzielen können. Die Menge des absoluten Vorteils spielt eine untergeordnete Rolle. Auch wenn zwei Staaten aus einer Kooperation einen Gewinn erzielen, wird nach dem realistischen Paradigma derjenige von ihnen die Zusammenarbeit bald beenden, der relativ gesehen den geringeren Gewinn erhält.
Interessante Effekte sind auch bei der Bildung von Bündnissen zu erwarten. Staaten unterstützen nicht starke Nachbarn, weil sie erwarten müssen von diesen in der Zukunft überfallen zu werden. Wenn sich ein Bündnis aus mehreren Staaten bildet, oder wenn ein Staat ungleichmäßig viel Macht aufbaut, tendieren Staaten in der Theorie dazu, gegen dieses Übergewicht zu balancieren. Das heißt, sie verbünden sich gegen den heranwachsenden Hegemon, oder sie schließen sich dem jeweils gerade schwächeren Bündnis an.
Der Realismus hat seit den 1980er Jahren eine Reihe schwer wiegender Kritik einstecken müssen (vgl. Keohane 1986). Dessen ungeachtet ist er nach wie vor besonders in den USA die dominierende Theorischule der Internationalen Beziehungen.
Kursabschnitt
[Bearbeiten]Der Kursabschnitt besteht in der Lektüre der verlinkten Originaltexte. Der Abschnitt aus Hobbes' Leviathan über die menschliche Natur dient dem klassischen Realismus als Leitbild der Formulierung des Verhaltens von Staaten. Der verlinkte Abschnitt aus Morgenthaus Politics Among Nations stellt die Grundlagen seiner Theorie der Internationalen Beziehungen dar. Waltz' Text ist ein Überblick über die Entwicklung des strukturellen oder Neorealismus bis 1990.
Als zusätzliche Lektüre bieten sich die ergänzend angegebenen Links an. Ein unter freier Lizenz verfasster Überblick ist zusätzlich dort verlinkt. Maßgebliche gedruckte Literatur ist ebenfalls angegeben, gefolgt von einigen allgemeineren Weblinks.
Aufgabe
[Bearbeiten]Als Aufgabe nach dem Lesen und persönlichen Aufbereiten der Texte gilt: Finde drei gröbere Fehler oder ergänze drei wichtige und bislang fehlende Angaben zum Realismus oder strukturellen Realismus im entsprechenden deutsch- oder englischsprachigen Wikipedia-Artikel (Links siehe ebenfalls unten)!
Lektüre
[Bearbeiten]- Thomas Hobbes (1651): Leviathan. Chapter XIII: Of the Natural Condition of Mankind as Concerning Their Felicity and Misery
- Hans J. Morgenthau (1978/1948): A Realist Theory of International Politics, Fifth Edition, Revised. New York, Alfred A. Knopf, S. 4–15.
- Kenneth Waltz (1990): Realist Thought and Neorealist Theory, in: Journal of International Affairs, Spring/Summer90, Vol. 44 Issue 1, S. 21 ff.
Ergänzend
[Bearbeiten]- Einführung in die Theorien der internationalen Beziehungen: Realismus.
- Edward H. Carr (2001/1939): The Harmony of Interests, in: The Twenty Years' Crisis, Kapitel 4 & 5.
Literatur
[Bearbeiten]- Buzan, Barry, Charles Jones und Richard Little (1993): The Logic of Anarchy: Neorealism to Structural Realism. Columbia University Press, ISBN 978-0231080415
- Carr, Edward H. (2001 / 1939): The Twenty Years' Crisis. ISBN 978-0333963777
- Gilpin, Robert (1981): War and Change in World Politics. Cambridge University Press, ISBN 978-0521240185
- Keohane, Robert O. (Hrsg.) (1986): Neorealism and Its Critics. Columbia University Press, ISBN 978-0231063494
- Mearsheimer, John J. (2003): The Tragedy of Great Power Politics. W. W. Norton, ISBN 978-0393323962
- Morgenthau, Hans J. (1967 / 1948): Politics Among Nations. ISBN 978-0070433069
- Vasquez, John (1999): The Power of Power Politics: From Classical Realism to Neotraditionalism. Cambridge University Press, ISBN 978-0521447461
- Waltz, Kenneth (1979): Theory of International Politics. ISBN 978-0075548522
Sekundärliteratur
[Bearbeiten]- Donnelly, Jack (2005): Realism, in: Burchill et al. 2005, S. 29-45.
- Krell, Gert (2004): Realismus, in: Krell 2004, S. 145-180.
Links
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