Benutzer:Jeanpol/LdL-Treffen-Ludwigsburg/Vortrag

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Lange Inkubation, plötzliche Emergenz[Bearbeiten]

1.[Bearbeiten]

Alle, die ich heute getroffen habe, schienen sehr zufrieden, teilweise euphorisch um nicht zu sagen high. Sie liefen geschäftig durch die Gänge, einige wirkten so, wie wenn sie Mühe hätten, den Vorrat an Informationen, die sie in ihrem Kopf mittrugen, zu verarbeiten. Und dennoch holten sie weitere Bites, indem sie über Handys ihre Mails und tweets abriefen. Offensichtlich wird also die permanente Verarbeitung von Informationen im Gehirn belohnt. Als Pädagoge und Didaktiker sollten wir diese Möglichkeit erkennen und nutzen, unsere Schüler und Studenten über die Zufuhr von Information high zu machen. Und hier stellt sich die Frage, wie wir die Belohnungsqualität der von uns angebotenen Informationen einschätzen und die tatsächliche Wirkung auf den Organismus der Schüler und Studenten prüfen können.

2.[Bearbeiten]

Jeder von Ihnen hat die Erfahrung gemacht, dass er in Interaktionen mit seinen Mitmenschen eine Fülle von Informationen aussendet und selbst versucht, Signale seines Gegenübers zu deuten, dass es aber sehr schwierig ist, sich ein Bild von den Vorgängen zu machen, die im Gehirn des Partners eingeleitet werden. Jeder Satz, jede Mimik kann einen Vorgang, den man gerade ausgelöst hat, beschleunigen, in eine andere Richtung lenken oder ganz abblocken. Daher senden wir immer wieder Botschaften und versuchen im Verhalten des anderen abzulesen, welche Wirkungen diese haben.

2.1 Fallbeschreibung[Bearbeiten]

Gegenwärtig unterrichte ich in Französisch eine 11. Klasse, die in hohem Maße intransparent bleibt. Als ich LdL einführte, zeigte sich, dass große Hemmungen bei den Schülern bestanden, vor den Mitschülern zu agieren und die Fremdsprache zu benutzen. Ferner war deutlich, dass in dieser Klasse außergewöhnlich viele Schüler zusammenkamen, die man als sehr still bezeichnen muss. Hätte ich mich nur auf die Beteiligung im Klassenzimmer gestützt, um die Klasse intellektuell und fachlich einzuschätzen, wäre ich zu einem wenig schmeichelhaften Urteil gekommen. Da ich aber prinzipiell meinen ersten Eindrücken misstraue, ließ ich in der ersten Woche eine sehr anspruchsvolle Hausaufgabe über die aktuelle Politik anfertigen und war vom Ergebnis verblüfft. Es waren kluge, teilweise sehr lange Texte, die viel Wissen und Reflexionsvermögen offenbarten. Während in meinen früheren Lerngruppen nach einer Umstellungsphase die Schüler sich auf LdL einließen und viel Kreativität und schauspielerisches Talent zeigte, blieb meine jetzige Klasse konstant verhalten. Als ein Fernsehteam des SAT1-Senders zum Filmen kam und eine gelungene Sequenz drehte, änderte sich die Situation nicht. Andererseits wurde ich sehr überrascht, als eine Gruppe von Schülern bereit war, auf einem Kongress aufzutreten und LdL vor 100 Französischlehrern vorzustellen und einen 90 minütigen Worshop durchzuführen. Natürlich ist dieser Fall extrem, aber er veranschaulicht einprägsam das, was ich unter Emergenz verstehe: ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen nimmt offenbar Impulse von außen auf eine Weise auf, die für den Impulsgeber nicht sichtbar und nachvollziehbar ist. Der Lehrer als Impulsgeber muss sich auf seine Intuition und seine Erfahrung ganz und gar verlassen und unverdrossen Informationen einspeisen, ohne die Wirkung dieser Informationen beobachten zu können, manchmal über lange Zeitstrecken. In dieser Phase muss er winzige Signale des Fortschrittes aufgreifen und interpretieren können, um seine eigene Motivation aufrechtzuerhalten, er muss ein guter Futterverwerter sein. Bei mir in diesem Fall waren es die zu Hause angefertigten Texte und natürlich immer wieder Beiträge im Unterricht, die nach geduldigem Warten plötzlich wie Juwele auftauchten.

Hier möchte ich unterscheiden zwischen Emergenzen bei einzelnen Schülern, und Emergenzen bei ganzen Gruppen. Natürlich sind letztere noch schwerer für den Lehrer nachzuvollziehen. Dazu wieder ein Beispiel aus meinem Unterricht: Während einer Grammatikübung schien mir die Klasse leicht aufgeregt und unruhig, was relativ selten vorkommt. Es spielte sich folgendes Ereignis ab: eine Schülerin rief einen Mitschüler auf und dieser reagierte mit Unmut. Ich konnte diese Verärgerung nicht deuten und bat die Klasse als ganzes, sich zu beruhigen. Just zu diesem Augenblick lachte der Nachbar des Angesprochenen schallend, was mich zu einem Ausbruch veranlasste. Im Nachhinein stellte sich folgendes heraus: die Schülerin hatte den Mitschüler per Nachnamen aufgerufen. Dieser Schüler hasst es, per Nachnamen genannt zu werden und das versetzte ihn in Rage, was ich nicht deuten konnte. Sein Nachbar, ein netter, aber in bestimmten Situationen unkontrollierter Junge, brach in Gelächter aus, weil er diese Eigenheit seines Freundes kennt. Ich aber, der gerade um Ruhe gebeten hatte, bezog das Gelächter auf meine Ermahnung. Dieses Ereignis habe ich deshalb so ausführlich beschrieben, weil es aufzeigt, dass Verhaltensweisen, die als Emergenz von Interaktionen in Gruppen entstehen, noch schwerer zu deuten sind als solche, die bei einzelnen Menschen erfolgen. In diesem Fall bat ich nach der Stunde den Schüler, den ich heftig angegriffen hatte, mir den Vorgang zu erklären. Und seine Schilderung entschärfte gänzlich den bei mir aufgebauten Ärger.

2.2 Ein paar Definitionen aus der Biologie und der Physik[Bearbeiten]

Inkubationszeit[Bearbeiten]

Die Inkubationszeit (lat. incubare = ausbrüten) beschreibt in der Infektiologie jene Zeit, die zwischen der Infektion mit einem Krankheitserreger und dem Auftreten der ersten Symptome vergeht. Die Inkubationszeit kann – abhängig von der Krankheit – zwischen wenigen Stunden und einigen Jahrzehnten liegen.

Im Klassenzimmer[Bearbeiten]

Auch im Klassenzimmer muss man mit Inkubationszeiten von wenigen Minuten bis einigen Jahrzehnten rechnen. Unabhängig von der unmittelbaren Reaktion eines Schülers oder einer Klasse muss man als Lehrer sicher sein, dass die im Unterricht vermittelten Inhalte und Methoden sowohl kurzfristige als auch lanfristige Wirkungen haben. Die Aussage in einer 11.Klasse am Anfang des Jahres "Wir interessieren uns nicht für Politik" beeindruckt mich wenig. Es werden politische Themen behandelt. Meist bewerten die Schüler dieses positiv, nach wenigen Minuten, oder erst nach einigen Jahrzehnten.

Reaktionsschwelle bei Neuronen[Bearbeiten]

Im Axonhügel entscheiden bestimmte Faktoren nach den Regeln des Alles-oder-nichts-Gesetzes über das Auslösen eines Aktionspotentials, wobei entschieden wird, ob das Schwellenpotential erreicht und überschritten wurde.

Bei Menschen[Bearbeiten]

Jeder von uns weiß, dass er je nach Kontext schnell abfeuern kann oder nur sehr langsam oder gar nicht. Sitzt er beispielsweise in einem Seminar, dessen Thematik er gut beherrscht, so wird das Schwellenpotenzial rasch erreicht. Beherrscht er die Thematik nicht, so besteht die Gefahr, dass er das Schwellenpotenzial nicht, oder zu spät erreicht. Für den Lehrer sieht es so aus, als ob gar keine Aktivität stattgefunden hätte.

Kritische Masse[Bearbeiten]

Kritische Masse bezeichnet in der Kernphysik und Kerntechnik diejenige Mindestmasse eines aus einem spaltbaren Nuklid bestehenden Objektes, ab der die effektive Neutronenproduktion eine Kettenreaktion der Kernspaltung aufrechterhalten kann.

Im Klassenzimmer[Bearbeiten]

Damit kollektive Reflexion entsteht, müssen ausreichend Neuronen mobilisiert werden und diese müssen auch abfeuern. Der Prozess zeigt eine exponentielle Kurve.

2.3 Konsequenzen für das Verhalten des Lehrers[Bearbeiten]

2.3.1 Bemühe dich um sinnvolle Inhalte[Bearbeiten]

Da du nicht in die Köpfe der Schüler hineinschauen kannst, bist du stark auf Vermutungen angewiesen. Natürlich kannst du direkt die Schüler fragen, was ihnen gefällt oder nicht, welche Themen sie wünschen, aber die Schüler kennen die Angebote deines Faches nicht. Sie können sich nur wünschen, was sie bereits kennen. Wenn du sicher bist, dass die von dir angebotenen Inhalte für die Zukunft deiner Schüler von Bedeutung sind, bist du nicht mehr so angewiesen auf ihre - für dich nicht sichtbaren - Reaktionen.

2.3.2 Baue eine Bühne für die Schüler auf[Bearbeiten]

Dadurch bekommst du mehr Einblick in ihre Interessen und so kannst du sie auch besser "bedienen".

2.3.3 Habe Geduld bis jemand sich meldet.[Bearbeiten]

Hier musst du als Lehrer Geduld haben und auf die Emergenz warten. Sehr oft interveniere ich nach einer gewissen Wartezeit gerade in dem Augenblick wo jemand etwas sagen würde. Das ist allerdings eine Gratwanderung, denn bei reduziertem Tempo kann der Unterricht natürlich schnell langweilig werden.

2.3.4 Bohre nach[Bearbeiten]

Nur so können alle Ressourcen der einzelnen Schüler ausgeschöpft werden. Erst beim Nachbohren wird das Gespräch wirklich interessant. Oder auch nicht. Das ist eben die Gratwanderung.

3. Die Arbeit im virtuellen Raum[Bearbeiten]

Alles, was ich bisher beschrieben habe, bezieht sich auf den Unterricht im Klassenzimmer, mit Menschen, die sich real begegnen. Nun müssen wir davon ausgehen, dass in der Zukunft ein Teil der gemeinsamen Lernaktivitäten in virtuelle Räume verlegt wird. Wir werden uns auf Kommunikationsplattformen, in Blogs oder in Twitter begegnen, und natürlich auch in bestimmten Abständen auch real. Solche Kurse gibt es schon an den Universitäten und sie werden immer mehr. Auch der Schulunterricht wird davon erfasst.

Intransparenz[Bearbeiten]

Unter virtuellem Raum verstehe ich Foren und Kommunikationsplattformen, Wikis, Blogs und Twitter. Im virtuellen Raum ist es noch schwieriger, das Verhalten des Systems vorauszusehen. In Foren, die für Schüler oder Studenten eingerichtet sind, gibt es noch eine gewissse Verpflichtung zu antworten, aber bei Blogs oder bei Twitter ist die Reaktion schwer voraussehbar. Es sind Tausende von potentiellen Adressaten, deren Menge zu unterschiedlichen Zeitpunkten anschwillt oder schrumpft.

Internetbeziehungen[Bearbeiten]

Forschungsmethodologischer Hinweis[Bearbeiten]

Die Ich-Bezogenheit der folgenden Ausführungen kann den Leser überraschen. Sie ist dem Ansatz der Aktionsforschung geschuldet. Aktionsforscher machen sich selbst zum Gegenstand der Forschung.

Enge Projektbeziehung: Alexander, Christian, Lutz, Melanie[Bearbeiten]

Es sind Menschen, mit denen mich eine lange, vertiefte Projektgeschichte verbindet.

Denkpartner: GS (aus der Wikipedia), apanat, Peter Ringeisen, Filterraum, Itari, Felix, Maik, Torsten[Bearbeiten]

Sie treten regelmäßig in Kontakt zu mir, sei es in Twitter, sei es in Blogkommentaren. Für mich bilden sie eine Stütze in allen meinen Denkaktivitäten. Sie haben mich auch beim Verfassen dieses Vortrages unterstützt. Apanat, beispielsweise, kenne ich seit 2003 aus unserer Zusammenarbeit in der Wikipedia.

Plötzliche Emergenzen[Bearbeiten]

DieGoerelebt[Bearbeiten]

Eine weitere Variante individueller Reaktionen besteht darin, dass Menschen, von denen ich nicht wusste, dass sie meine Beiträge lesen, plötzlich auf einen Impuls reagieren und mit mir in Kontakt treten. So hat mir für mich völlig überraschend eine Twitter-Userin mitgeteilt, dass sie meine Beiträge seit Monaten regelmäßig liest und schätzt. Einmal wollte sie sogar ein Porträt über mich verfassen. Dann verschwand sie für ein paar Wochen aus meinem Horizont, um plötzlich wieder aufzutauchen. Sie richtete einen Blog ein und kündigt an, dass sie mich als Modell für ihren Blog nehme. Eine zeitlang war sie wieder weg und ich hatte sie abgeschrieben, als sie am letzten Samstag wieder stahlend auftauchte: sie schickte mir Interviewfragen und mein Porträt stand in ihrem Blog am Montag. Es gibt also Emergenzen und Immergenzen.


Was muss ich machen, damit ich diese Menschen als Denkpartner behalte?[Bearbeiten]

Sinnangebote: Menschenbild[Bearbeiten]

4. Schluss: Ressourcenorientierung und Netzsensibilität[Bearbeiten]

Komponenten von Netzsensibilität[Bearbeiten]

  • Erkennen, dass man als Einzelner Träger von Ressourcen ist.
  • Erkennen, dass man das eigene Ressourcenpotenzial aktiv vermehren soll, damit man die eigene Attraktivität in der Gruppe erhöht.
  • Erkennen, dass man das eigene Ressourcenpotenzial durch Kommunikation erhöhen kann.
  • Erkennen, dass Kommunikation dann entsteht, wenn der eine weiß, was der andere nicht weiß.
  • Erkennen, dass durch Kommunikation und Weitergabe von Wissen das eigene Wissen vermehrt wird.
  • Fähigkeit, Potenziale von anderen Gruppenmitgliedern zu erkennen, zu erschließen und für die Gruppe fruchtbar zu machen.
  • Fähigkeit, Kommunikation innerhalb einer Gruppe einzuleiten und aufrecht zu erhalten.
  • Fähigkeit, die Transformation von Information zu Wissen in der Gruppe anzuleiten.
  • Fähigkeit, für die Gruppe relevante externe Ressourcen aktiv zu suchen.
  • Fähigkeit, Handlungsbereitschaft zu erkennen und zu mobilisieren.
  • Fähigkeit, Kommunikation nach außen einzuleiten und aufrecht zu erhalten.