Mach dich schlau am Instrument/Zahlen und Fakten

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Viele Kinder haben heute die Möglichkeit, ein Musikinstrument zu erlernen – doch wie steht es um jene Erwachsenen, die in ihrer Jugend dazu keine Gelegenheit hatten; die ein ungeliebtes Instrument erlernen mussten; die das Instrument an den berühmten Nagel hängten und jetzt doch wieder Lust hätten (neu) anzufangen. Ihnen allen sei Mut gemacht: Es ist nicht zu spät. Hier einige Zahlen und Fakten dazu.

Zahlen und Fakten[Bearbeiten]

Demografie[Bearbeiten]

Der Anteil der älteren Menschen an der Gesamtbevölkerung wächst in den nächsten Jahren deutlich. In der Schweiz wird der Anteil der Personen ab 65 Jahren bis 2035 auf über 26 % steigen. Die Schweiz verzeichnet hinter Japan die höchste Lebenserwartung weltweit. Bei der Geburt im Jahr 2050 wird die Lebenserwartung von Männern auf 85 Jahre, von Frauen auf 89,5 Jahre geschätzt (www.bfs.admin.ch). Hinzu kommt, dass in westlichen Ländern gegenwärtig viele ältere Personen über zeitliche, materielle und gesundheitliche Ressourcen verfügen. Sie beteiligen sich aktiv am gesellschaftlichen Leben, verwirklichen Träume und sind bereit, Neues zu lernen.

Das Bundesamt für Statistik hat 2008 eine repräsentative Befragung über das Musizieren durchgeführt. Knapp jede fünfte Person spielt ein Instrument, mehr als die Hälfte derjenigen, die einst Musikunterricht besucht haben, musizieren heute nicht mehr (Bundesamt für Statistik 2011). Je höher die Ausbildung einer Person ist und je mehr sie verdient, desto eher spielt sie ein Instrument. 24 % der Musizierenden verfügen über eine Ausbildung auf Tertiärstufe (Fachhochschule, Universität; Bundesamt für Statistik 2011).

Altersspezifische Erhebungen über Erfahrungen und Strategien im Instrumentalunterricht sind der Schweiz erst seit kurzem von Forschungssinteresse. Die explorative Studie der Hochschule Luzern – Musik Musikalisch aktiv bis ins Alter untersucht «mittels Umfrage die Musikschulangebote für Menschen ab 55 Jahren in den Zentralschweizer Kantonen Luzern, Uri, Schwyz, Obwalden, Nidwalden und Zug. Zum anderen benennt sie Bedürfnisse und Ansprüche sowie notwendige pädagogische Kompetenzen im Musikunterricht mit älteren Erwachsenen aus der Sicht von Lernenden und Lehrenden» (Brand 2014). Das davon unabhängige, diesem Artikel zugrundeliegende Projekt der Berner Fachhochschule rückt die Lern- und Lehrstrategien im Instrumentalunterricht von über 50-Jährigen ins Zentrum der qualitativen Datenerhebung. Diese erfasst drei Zielgruppen von je 15 Personen (Neueinsteigende 50plus, Wiedereinsteigende 50plus, Unterrichtende), die im Eins-zu-eins-Gespräch offene Fragen ohne fixe Antwortkategorien beantworten. Die insgesamt 45 leitfadengestützten Interviews sind in ihrer Dichte singulär und enthalten empirische Daten von substantiellem Interesse (Hartogh 2005, S. 142).

Potentiale[Bearbeiten]

Musikschulen, freischaffende Lehrpersonen und Forschende treffen im Segment der älteren Musizierenden auf Potentiale sozialer, pädagogischer und ökonomischer Natur. Praxis, Lehre und Forschung sind gleichermassen aufgefordert, die Leerstelle altersspezifischer Pädagogik und Didaktik zu erkennen und auf die demografische Herausforderung zu reagieren. Die Professionalisierung des Musikunterrichts von älteren Menschen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Sie bindet unterschiedliche Experten ein, darunter auch die älteren Lernenden selbst.

Musizierende, die sich entschliessen, Instrumentalunterricht zu besuchen, bringen ihre Erfahrungen aus der Lebenspraxis ein und gestalten den Lernprozess mit. Stehen die individuellen Ressourcen im Vordergrund (etwa eine schnelle Auffassungsgabe), sind Transferleistungen auf das eigene Musizieren zu beobachten und umgekehrt. Positive Effekte des Musikunterrichts auf kognitive Fähigkeiten sind bei jüngeren Menschen inzwischen gut belegt und auch für 60–85-Jährige liegen entsprechende Befunde vor (Bugos et al. 2007; Creech et al 2013). Lebenslanges Lernen ist möglich. Ältere Menschen sind durchaus in der Lage, Fertigkeiten wie Notenlesen und das Spielen eines Instrumentes (auch erstmals) zu erlernen (Hartogh/Wickel 2008).

Merkmale[Bearbeiten]

Im Rahmen des Forschungsprojekts Mach dich schlau – Lern- und Lehrstrategien im Instrumentalunterricht 50plus konnten Merkmale älterer Lernender verifiziert werden. Die Frage nach altersspezifischen Unterschieden bzw. Gemeinsamkeiten steht nämlich im Austausch mit Lernenden und Lehrenden auffallend oft im Vordergrund.

- Ältere Menschen können auf viel Erfahrung zurückgreifen. Dieses Reservoir ist eine fruchtbare Voraussetzung für das Lernen. Das kognitive Verständnis kann in der Regel sehr schnell hergestellt werden. Die physischen Prozesse dauern länger, was oft durch kreative Umwege und hohe Motivation kompensiert wird.

- Ältere Menschen übernehmen im Vergleich zu jüngeren Menschen oft mehr Selbstverantwortung im Unterrichtsprozess. Die Anforderung an den Unterricht und seine Beteiligten besteht darin, ein Gleichgewicht zwischen Freiheit und Autonomie einerseits und klaren Strukturen und Aufgabenstellungen andererseits auszuhandeln.

- Ältere Menschen lernen im Gegensatz zu Kindern oft zuerst über das rationale Verstehen, erst im Anschluss daran wird das Körpergedächtnis aktiviert (Freiberg 2006, McVay 2004).

- Viele ältere Menschen sind lernorientiert, aktivitätsbezogen und prozessorientiert, d.h. nicht ein bestimmtes Ziel, sondern die unmittelbare Tätigkeit des Musizierens rechtfertigt ihr Tun und schenkt Befriedigung. Sie agieren «lebenszentriert» (Dabback 2005). Der Wunsch nach Entscheidungsbefugnis ist ausgeprägt (Tsugawa 2009). Ältere Lernende wählen selber aus, worauf sie sich konzentrieren wollen, sie möchten etwas tun, das mit der eigenen Person in Zusammenhang steht (Taylor/Hallam 2008).

- Traditionelle Hierarchien brechen auf. Ältere Frauen überwinden genderbedingte Stereotypen und greifen zu einem Instrument wie etwa dem Altsaxophon, das als Männerinstrument Geschichte geschrieben hat (Dabback 2007). Klassisch ausgebildete Lehrpersonen machen sich in Pop und Jazz schlau, weil ihre Lernenden das spielen möchten, «was sie selber hören» (Huhtanen 2008).

Voraussetzungen[Bearbeiten]

Die Sicht auf ältere Menschen und das musikalische Lernen bzw. Lehren im Alter hat sich im deutschen Sprachraum seit den 1980er-Jahren wesentlich verändert. Gert Holtmeyer ist der Herausgeber des Sammelbands Musikalische Erwachsenenbildung. Grundzüge – Entwicklungen – Perspektiven und nimmt 1989 eine erste Standortbestimmung vor. Ob ältere Lernende von der Erwachsenenbildung oder der Musikpädagogik profitieren sollten, sorgte für handfeste Differenzen. Inzwischen liegen Forschungsergebnisse aus Neurobiologie und Musikphysiologie vor, die ins Innere der Lernprozesse im Instrumentalunterricht leuchten. Physische Abläufe und deren Optimierung folgen anderen Gesetzmässigkeiten als kognitives Lernen. Entscheidend ist die Erkenntnis, dass physische Grenzen keineswegs einer nachlassenden Lernfähigkeit entsprechen (Owen 2010).

aus neurobiologischer Sicht[Bearbeiten]

Die Plastizität des Gehirns bleibt bis ins hohe Alter bestehen. Das Nervensystem passt sich auch im fortgeschrittenen Alter neuen Anforderungen an. Deshalb besteht keine klare Wechselwirkung zwischen Alter und geistiger Leistungsfähigkeit. Älterwerden ist somit kein Abbauprozess, sondern ein lebenslang fortschreitender Informationsverarbeitungsprozess, der durch andauernde Lernvorgänge und Methodenerweiterungen gefördert wird. Das Üben auf einem Instrument beinhaltet die koordinierte Aktivierung zahlreicher Muskelgruppen mit hoher zeitlicher und räumlicher Präzision. Die Bewegungen unterliegen einer ständigen Kontrolle durch das Gehör, den Gesichtssinn und durch die Körpereigenwahrnehmung (Altenmüller 2008). Musizieren ist eine der komplexesten Leistungen des Gehirns und beansprucht nahezu alle Areale. Durch regelmässige Stimulation dieser Vorgänge können die Gehirnleistung im Alter erhalten oder sogar gesteigert, Fertigkeiten wie Arbeitstgedächtnis und Strategiebildung verbessert werden (Bugos et al. 2007). Hinzu kommen die positiven emotionalen Erlebnisse, die mit dem Musizieren einhergehen und ihrerseits die Befindlichkeit regulierende Hormonausschüttung etwa von Serotonin und Noradrenalin befördern.

aus musikphysiologischer Sicht[Bearbeiten]

Die gute Nachricht: Wer regelmässig übt und auf die Signale des Körpers (etwa Ermüdung, Verspannung) achtet, kann sich bis ins hohe Alter gute koordinative Fähigkeiten erhalten. In allen Bereichen psychophysischer Leistungsfähigkeit zeigt sich, dass bis in höhere Alter Übung einen stärkeren Einfluss hat als das Alter.

Ältere Lernende brauchen mehr Zeit, um Hinweise umzusetzen und Bewegungsabläufe entsprechend zu modifizieren. Die motorische Schnelligkeit nimmt ab. Unklar ist, ob eher das Bedürfnis nach Sorgfalt und Perfektion oder ein Nachlassen der Fertigkeiten diesen Prozess begünstigt.

Der Verlauf der koordinativen Entwicklung ist gut erforscht. Bis zum 20. Lebensjahr nehmen die koordinativen Fähigkeiten bei Männern und Frauen zu. Ohne spezifisches Training nehmen sie beim Mann nach dem 40. bis 50. Lebensjahr und bei der Frau ab dem 50. bis 60. Lebensjahres ab (Altenmüller/Klöppel 2013).


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Literatur[Bearbeiten]

Altenmüller, Eckart/Klöppel, Renate (2013): Die Kunst des Musizierens. Von den physiologischen und psychologischen Grundlagen zur Praxis. Mainz

Altenmüller, Eckart (2008): Es ist nie zu spät! Eckart Altenmüller zu den neuronalen Auswirkungen musikalischen Lernens im Alter. in: Musikforum: Musik leben und erleben in Deutschland VI/1 (Januar–März 2008): Musik und Politik II, S. 39–41

Brand, Marc (2014): Musikalisch aktiv bis in Alter. Eine Untersuchung zum Musikunterricht mit älteren Menschen, Luzern (Forschungsbericht der Hochschule Luzern - Musik 10)

Bugos, J. A./Perlstein, W. M./McCrae, C. S./Brophy, T. S./Bedenbaugh, P. H. (2007): Individualized Piano Instruction enhances executive functioning and working memory in older adults, in: Aging & Mental Health 11(4), S. 464–471

Bundesamt für Statistik (2009): Kulturverhalten in der Schweiz - Erhebung 2008: Musik, Neuchâtel

Bundesamt für Statistik (2011): Kulturverhalten in der Schweiz. Eine vertiefende Analyse - Erhebung 2008, Neuchâtel

Creech, A./Hallam, S./Varvarigou, M./McQueen, H./Gaunt, H. (2013): Active music making: a route to enhanced subjective well-being among older people, in: Perspectives in Public Health 133(1), S. 36–43

Dabback, W. M. (2007): Toward a model of adult music learning as a socially-embedded phenomenon, Ann Arbor

Freiberg, S. (2006): Growing Ambition. Adult Beginners Tap Their Passion for String Playing, in: Strings 20(7), S. 65–69

Hartogh, T. (2005): Musikgeragogik. Ein bildungstheoretischer Entwurf—Musikalische Altenbildung im Schnittfeld von Musikpädagogik und Geragogik, Augsburg

Hartogh, T./Wickel, H. H. (2008): Musizieren im Alter: Arbeitsfelder und Methoden, Mainz

Huhtanen, K. (2008): Adults as learners in the field of education: A pedagogical challenge. in: Educating Musicians for a Lifetime of Learning, S. 57-61

McVay, V. J. (2004): The effectiveness of color-coding for learning music theory rudiments, aural skills, and keyboard skills in persons aged 60 and older, Ann Arbor

Owen, D. M. (2010): Challenges in teaching adult music students in the instrumental studio, in: E-Journal of Studies in Music Education VIII/2: Music Education in the Wider Community, S. 44–60

Taylor, A./Hallam, S. (2008): Understanding what it means for older students to learn basic musical skills on a keyboard instrument, in: Music Education Research 10(2), S. 285–306

Tsugawa, S. (2009): Senior adult music learning, motivation, and meaning construction in two New Horizons ensembles. Ann Arbor

www.bfs.admin.ch


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Ein Forschungsprojekt der Berner Fachhochschule (2015)