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Projekt:Sozialgeschichte von Dresden/Aktuell/Abpressen von Rundfunkbeiträgen von den Ärmsten

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Im August 2022 berichteten wir über einen Leipziger Studenten, der sich wegen Mittellosigkeit von der Zahlungspflicht des Rundfunkbeitrags befreien lassen wollte. Diese gesetzlich vorgesehene Möglichkeit verlangte ihm viel Kraft in der Kommunikation mit dem Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) und dem Beitragsservice ab. Zunächst blieb der Härtefallantrag des Studenten 14 Monate lang unbearbeitet, später wird eine Zwangsvollstreckung angedroht, sodann traf man sich vor Gericht wieder.

Zu diesem Zeitpunkt hatte der Student für den Beitragsmonat November 2019 folgende Unterlagen vollständig vorgelegt: Kontoauszüge, Bafög-Bescheid, Einkommensnachweise, Mietvertrag, Nachweis über die Höhe der Krankenkassenbeiträge, Studienbescheinigung, Vermögenserklärung und detaillierte Vermögensauflistung. All das war bei ihm notwendig, damit die Rundfunkanstalten auf 18,36 Euro Monatsbeitrag verzichten. Darüber staunte auch Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP), die sich zum F.A.Z.-Artikel auf Twitter zu Wort meldete: „Ich erwarte, dass sich gerade junge Menschen mit kaum Geld unbürokratisch & zügig vom Beitrag befreien können. Ohne Justiz & Anwalt.“

Aus dem Beitragsgebiet des MDR schrieb die stellvertretende Ministerpräsidentin von Sachsen-Anhalt, Lydia Hüskens (FDP): „Solche Aktionen stärken die Zustimmung zum ÖR sicher nicht.“

Drei Monate nach Erscheinen des F.A.Z.-Artikels, am 4. November 2022, beschließt der MDR plötzlich, dem Studenten seinen „Rückstand“ von Beiträgen in Höhe von 642,90 Euro zu erlassen. Der Student vermutet als Ursache sein gerichtliches Vorgehen: „Im August 2022 habe ich eine Untätigkeitsklage auf Befreiung von der Rundfunkbeitragspflicht eingereicht. Anhand des Rundfunkbeitragsstaatsvertrages legte ich in der Klageschrift dar, dass mir die Befreiung bis einschließlich Oktober 2022 zu gewähren ist. Der Erlasszeitpunkt Anfang November ist möglicherweise gewählt worden, um vollständig den eingeklagten Zeitraum abzudecken.“

Ein Präzedenzfall?

Es liegt der Verdacht nahe, dass mit dem Erlass eine Erledigung des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht Leipzig (Aktenzeichen: 1 K 1149/22) erreicht werden sollte, um eine für den MDR nachteilige gerichtliche Entscheidung zu verhindern. Eine solche nachteilige Entscheidung wäre ein Präzedenzfall für ähnlich gelagerte Fälle, auf den sich andere Härtefälle berufen könnten. Unser Student hatte den Erlass nicht beantragt. Die Anfrage dieser Zeitung an den MDR, in wie vielen Fällen seit 2013 im Beitragsgebiet solche Erlasse ausgesprochen wurden, blieb auch nach vier Wochen unbeantwortet.

Verwandtes Video: ARD-Chef will für Erhöhung des Rundfunkbeitrags kämpfen (dpa)

Nach Erscheinen des F.A.Z.-Artikels im August 2022 erhielt der Student schon keine Zahlungsaufforderungen mehr. Zuvor geschah dies mit Regelmäßigkeit. Zuletzt forderte man ihn im Juli 2022 zur Zahlung von 587,82 Euro auf, was 131 Prozent seines damaligen monatlichen Existenzminimums entsprach. Damals hieß es: „Bei Nichtzahlung können die Rundfunkbeiträge im Verwaltungszwangsverfahren beigetrieben werden. Daneben können im Ordnungswidrigkeitenverfahren Geldbußen von bis zu 1000 Euro verhängt werden.“

Kläger lehnt Vorschlag ab

Der Student argwöhnt, dass er aufgrund des sich zuspitzenden Verfahrens und des erschienenen F.A.Z.-Artikels plötzlich anders behandelt wurde. Dabei hatte der MDR vor dem Verwaltungsgericht Leipzig noch am 4. Mai 2022 argumentiert, man sei gezwungen, eine Festsetzung mit Säumniszuschlag zu erwirken, da andernfalls Verjährung eintreten könne. Den Vorschlag des MDR, er solle auf die Einrede der Verjährung verzichten, um einer Festsetzung zu entgehen, lehnte der Student ab: Er wolle sich legitimer Verteidigungsmittel nicht berauben lassen.

Gegenüber der F.A.Z. erklärte der MDR später, man habe nicht vor, Rechnungen an Härtefallantragsstellende zu versenden. Dazu sagt der Student, er fühle sich deshalb vom Vertreter des MDR vor Gericht getäuscht. „Dieser gab vor, dass der Verzicht auf Säumniszuschläge von meinem Verzicht auf die Einrede der Verjährung abhängen würde. Hat man mich also unter Druck setzen wollen, um mich zu bestimmten Prozesshandlungen zu drängen?“.

Genau nachkonstruieren lässt sich der Sachverhalt weder für den Studenten noch für diese Zeitung. Das hat mehrere Gründe. Der Student beklagt, dass in der Verwaltungsakte einige Blätter fehlen. „Ich hatte den MDR im April 2022 um vollständige Akteneinsicht gebeten. Auf keine Erinnerung hat er bislang reagiert. Was hat er zu verbergen?“, fragt der Betroffene.

MDR reagiert mit Hinhaltetaktik

Von dieser Zeitung wurde der MDR erstmals am 11. Mai 2023 mit dem gesamtem Sachverhalt konfrontiert. Am 23. Mai wurde dem Sender eine Auskunftsfreigabe des Studenten übermittelt. Wie im Jahr zuvor, geschah dies seitens des Betroffenen per E-Mail. Am 6. Juni erklärt der MDR überraschenderweise, die Auskunftsfreigabe müsse per Post im Original übermittelt werden. Eine Rechtsgrundlage wird dafür nicht genannt. Zum Fall äußerte sich der MDR bislang nicht.

Gegenüber der F.A.Z. betont der Sender nur im Generellen, dass, werde der Rundfunkbeitrag nicht rechtzeitig gezahlt, der Beitragsservice gesetzlich verpflichtet sei, alle recht­lichen Möglichkeiten auszuschöpfen, „damit Bürgerinnen und Bürger, Unternehmen, Institutionen und Einrichtungen des Gemeinwohls ihre Zahlungsrückstände begleichen“. Dieses Verfahren diene der Beitragsgerechtigkeit und trage zur Beitragsstabilität bei. Von Härtefällen und Erlassen ist in der Stellungnahme des MDR keine Rede.

Gegenüber der F.A.Z. klagt der Student: „Anstatt den Befreiungsantrag zu bearbeiten, behandelt man mich wie einen Beitragsverweigerer. Man droht mir Säumniszuschläge und ein Bußgeldverfahren an. Ich habe Angst, dass ich meine Armut bald nicht nur im Verwaltungsverfahren, sondern auch von der Anklagebank aus verteidigen muss. Hungern oder Bußgeld? Das ist doch unmenschlich! Mein Befreiungsantrag hat mir nicht nur keine finanzielle Sorge genommen, sondern vielmehr neue Sorgen gebracht.“

Der MDR betont zwar stets, dass er Beiträge zurückerstattet, wenn sich ein Befreiungsantrag als zutreffend herausstellt. „Doch was nützt es mir, wenn ich mir nach einem jahrelangen Rechtsstreit von den zurückgezahlten Beiträgen eine Torte leisten kann, zwischendurch aber nicht genug Geld für Brötchen habe?“ Der Erlass hat dem Studenten nun etwas Erleichterung gebracht. Für andere Bedürftige hat der MDR indes eine gerichtliche Klärung zur Härtefallregelung verhindert. So lässt sich auch in Zukunft den Ärmsten das wenige Verbleibende abpressen.

Streit um Rundfunkbeitrag: Ein Student und der MDR vor Gericht

FAZ vom 13. Juni 2023

von Jochen Zenthöfe

--Methodios (Diskussion) 16:35, 13. Jun. 2023 (CEST)