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Bamberger Einführung in die Geschichte des Islams (BEGI) 01

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1. Grundlegendes, Arabien am Vorabend des Islams

Die erste Sitzung klärt Präliminarien, führt in das Konzept der Vorlesung ein und behandelt dann die religiöse, gesellschaftliche und politische Situation im spätantiken Arabien und ihren Einfluss auf den Islam. Besondere Aufmerksamkeit wird den Spannungen zwischen den verschiedenen religiösen Kulturen gewidmet, die den Hintergrund der Entstehung des Hanīfentums, und damit auch des Islams, bilden.

1.1. Präliminaria

1.1.1. Hinweise zum Arabischen

1.1.1.1. Das verwendete Umschriftsystem

In der deutschsprachigen Wissenschaft wird für die Wiedergabe arabischer Namen und Begriffe üblicherweise die Transliteration der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft verwendet, bei der verschiedene Buchstaben mit diakritischen Zeichen versehen sind. Die genauen Regeln für dieses Transliterationssystem sind in der Broschüre Die Transliteration der arabischen Schrift in ihrer Anwendung auf die Hauptliteratursprachen der islamischen Welt. Denkschrift, dem 19. internationalen Orientalistenkongreß in Rom vorgelegt von der Transkriptionskommission der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (Leipzig: F. A. Brockhaus 1935) festgelegt. Der Text ist hier einsehbar.

Zur besseren Lesbarkeit wird in dieser Einführung für die Wiedergabe arabischer Namen und Begriffe jedoch allgemein ein vereinfachtes Umschriftsystem verwendet. Dieses System, das die Mittel der deutschen Orthographie nutzt, um möglichst nahe an die Originalaussprache heranzukommen, wird auch in der deutschsprachigen Wikipedia verwendet und dort unter den sogenannten Namenskonventionen/Arabisch erklärt.

Die DMG-Transliteration wird in dieser Einführung nur in einzelnen Fällen aufgeführt (so bei Buchtiteln, Zitaten und arabischen Fachtermini, die in Klammern einem deutschen Begriff oder Ausdruck nachgestellt werden). Wer bei den anderen arabischen Namen und Begriffen wissen will, wie sie wissenschaftlich transliteriert werden, kann sie in den verlinkten Wikipedia-Artikeln nachschlagen. Dort ist üblicherweise direkt am Anfang auch die DMG-Transliteration aufgeführt. Studierenden, die ein orientalistisches Fach im Hauptfach studieren, ist zu empfehlen, sich bei den betreffenden Worten auch die DMG-Transliteration einzuprägen.

Über die Zuordnung der verschiedenen arabischen und lateinischen Buchstaben zueinander gibt die folgende Tabelle Auskunft:

Arabischer Buchstabe ا ب ت ث ج ح خ د ذ ر ز س ش ص ض ط ظ ع غ ف ق ك ل م ن ه و ي ء ة
Name Alif Bā' Tā' Thā' Dschīm Ḥā' Chā' Dāl Dhāl Rā' Zāy Sīn Schīn Sād Dād Ṭā' Zā' ʿAin Ghain Fā' Qāf Kāf Lām Mīm Nūn Hā' Wāw Yā' Hamza Tā' marbūta
Wikipedia-Umschrift a, i, u, ā b t th dsch
ddsch
h ch d dh r z s sch s d t z ʿ gh f q k l m n h ū, w, u ī, y, i ' a, at
DMG-Transliteration
(DIN 31635)
a, i, u, ā b t ǧ d r z s š ʿ ġ f q k l m n h ū, w, u ī, y, i ʾ a, at

Informationen zur Aussprache der einzelnen arabischen Buchstaben bzw. zugehörigen Umschriftzeichen erhalten Sie auf den betreffenden verlinkten Seiten. Vokale mit einem Längungsstrich ā/ī/ū werden grundsätzlich lang ausgesprochen.

1.1.1.2. Der arabische Artikel

Immer wieder wird der Leser in dieser Vorlesung auch auf den arabischen, geschlechtsneutralen Artikel al- begegnen, wie z.B. in al-bait „das Haus“. Vor den sogenannten Sonnenbuchstaben t (t/ṭ), th (), d (d/ḍ), dh (), r, s (s/ṣ), sch (š), z (z/ẓ), n wird das l des Artikels den genannten Lauten assimiliert, wie zum Beispiel in asch-Schams (DMG: aš-šams) „die Sonne“. Nach einem Vokal fällt das a des Artikels weg.

1.1.1.3. Die Morphologie arabischer Wörter

Die Wurzel fast aller arabischen Wörter setzt sich aus drei Konsonanten zusammen. Diese Wurzelkonsonanten werden Radikale genannt. Die Radikale werden zur Wortbildung mit verschiedenen Vokalen, Präfixen, Infixen und Suffixen kombiniert. Begriffe, die dieselben Wurzelkonsonanten haben, sind meist semantisch miteinander verwandt. Beispiel: Die Wurzelkonsonanten des arabischen Wortes Dschihād (ǧihād) sind dsch-h-d (ǧ-h-d). Derjenige, der den Dschihād ausübt, ist ein Mudschāhid (muǧāhid). Auch dieses Wort ist von der Wortwurzel dsch-h-d (ǧ-h-d) abgeleitet, hat allerdings das Präfix mu- erhalten. Die Wortwurzel dsch-h-d (ǧ-h-d) hat die Bedeutung von „sich bemühen, sich anstrengen“. Das Wort ǧihād bedeutet ebenfalls Anstrengung, hat allerdings die Spezialbedeutung von „Kampf gegen die Ungläubigen“ erhalten. Ein weiteres Wort, das von der Wortwurzel ǧ-h-d abgeleitet ist und ein Infix enthält, ist Idschtihād (iǧtihād). Dieses hat die Spezialbedeutung von „eigene Urteilsbemühung“. Die Kenntnis dieser Zusammenhänge hilft beim Wiedererkennen miteinander verwandter Wörter.

1.1.2. Der Koran als Arbeitsmittel

Friedrich Rückert 1818, der eine besonders einfühlsame deutsche Koranübersetzung erstellte.

Die Abkürzung Q verweist in dieser Einführung auf Zitate aus dem Koran, dem heiligen Buch des Islams. Der Koran ist auf Arabisch abgefasst und in Suren gegliedert, wobei diese wiederum in Verse unterteilt sind. Bei Zitaten aus dem Koran folgt auf das einleitende Q jeweils Suren- und Versangabe. Die Stellenangabe Q 2:42 zum Beispiel bedeutet also, dass das Zitat aus Sure 2, Vers 42 stammt.

Koranzitate sind in dieser Einführung üblicherweise mit der digitalen Koranausgabe des Corpus Coranicum verlinkt, die auch eine Transkription und eine Übersetzung des betreffenden Koranverses enthält. Indem Sie diesen Links folgen, können Sie die betreffenden Textstellen selbst nachlesen und in ihrem Sinnzusammenhang nachvollziehen. Die Übersetzung, die vom Corpus Coranicum verwendet wird, wurde von Rudi Paret erstellt. Als weitere deutsche Übersetzungen kann ich diejenigen von Hartmut Bobzin im Verlag C.H. Beck sowie von Max Henning im Reclam-Verlag empfehlen. In Veröffentlichungen von muslimischer Seite wird bei Koranzitaten meist nicht auf die Nummer der Sure verwiesen, sondern auf deren arabischen Namen. Ein Vorteil der Henningschen Übersetzung ist, dass sie im Inhaltsverzeichnis einen vollständigen Überblick über diese Surentitel mit ihren deutschen Übersetzungen liefert. Sehr nützlich ist daneben, dass sie im Text neben der heute am meisten verbreiteten Kairiner Verszählung auch die Verszählung von Gustav Flügel berücksichtigt, die noch in mehreren älteren orientalistischen Werken zugrundegelegt worden ist.

Zu den literarischen Merkmalen des Korans gehört seine spezielle poetische Sprachform, die auf Arabisch als Sadschʿ bezeichnet wird. Es handelt sich um eine Art Reimprosa. Wer trotz fehlender arabischer Sprachkenntnisse etwas von der sprachlichen Ästhetik des Korans erleben will, nimmt am besten die auszugsweise Koranübersetzung des romantischen Dichters Friedrich Rückert (1788-1866) zur Hand, denn dieser hat sich mehr als jeder andere Übersetzer darum bemüht, den poetischen Reiz des Korans im Deutschen anschaulich zu machen. Hartmut Bobzin hat diese lang vergessene Koranübersetzung 1995 im Ergon-Verlag neu herausgegeben.

1.2. Zur Konzeption der Einführung

1.2.1. Der zugrundegelegte Islam-Begriff

Übersichtskarte zur muslimischen Weltbevölkerung
Die 10 Länder mit der
größten muslimischen Bevölkerung 2010[1]
Land Anzahl % an muslimischer
Weltbevölkerung
1 Indonesien 209.120.000 13,1
2 Indien 176.200.000 11,0
3 Pakistan 167.410.000 10,5
4 Bangladesch 134.430.000 8,4
5 Nigeria 77.300.000 4,8
6 Ägypten 76.990.000 4,8
7 Iran 73.570.000 4,6
8 Türkei 71.330.000 4,5
9 Algerien 34.730.000 2,2
10 Marokko 31.930.000 2,0
Summe 1.053.010.000 65,8

Thema dieser Vorlesung ist der Islam, eine Religion mit ca. 1,6 Milliarden Anhängern. Auf einen wichtigen Punkt muss hier gleich am Anfang hingewiesen werden: nur eine Minderheit der Muslime, etwa 20 Prozent, lebt heute in der sogenannten MENA-Region (Vorderasien und Nordafrika). Mehr als die Hälfte der Muslime dagegen leben in Süd- und Südostasien. Der Rest verteilt sich auf das subsaharische Afrika (15 Prozent), Zentralasien, Europa und Amerika. Die demographische Verteilung der Muslime in der Welt spiegelt sich auch in der Konzeption dieser Vorlesung wieder: es beschränkt sich keineswegs auf die MENA-Region, sondern widmet auch den anderen Regionen der Islamischen Welt große Aufmerksamkeit.

Der Begriff „Islam“ leitet sich von dem arabischen Verb aslama „übergeben, sich ergeben, sich hingeben“ ab. Dieses Verb kommt an verschiedenen Stellen im Koran vor. So heißt es zum Beispiel in Q 2:112: „Wer sein Angesicht Gott hingibt (aslama) und dabei rechtschaffen ist, dem steht bei seinem Herrn ein Lohn zu“ und in Q 22:34: „Euer Gott ist ein einziger Gott. Ihm müsst ihr euch ergeben“. Islām ist das Verbalnomen (oder der substantivierte Infinitiv) zu aslama: das Sich-Ergeben oder die Hingebung. Schon im Koran selbst wird es als Bezeichnung für eine Religion (dīn) verwendet: „Als Religion gilt bei Gott der Islam“ (Q 3:19) und „Ich habe für euch den Islam als Religion erwählt“ (Q 5:3). Derjenige, der sich ergibt oder hingibt, also den Islam ausübt, ist ein Muslim. Rein grammatisch betrachtet, ist muslim das Partizip Aktiv zu dem Verb aslama.

Schon im Koran selbst wird eine interessante Unterscheidung getroffen, nämlich zwischen der Annahme des Islams (islām) und der Annahme des Glaubens (Īmān). So werden zum Beispiel in Q 49:14 die Araber der Wüste aufgefordert, nicht zu sagen, „Wir haben den Glauben angenommen“, sondern „Wir haben den Islam angenommen“, weil der Glaube noch nicht in ihre Herzen eingegangen sei. An derartige Aussagen knüpft sich die Vorstellung, dass derjenige, der den Islam angenommen hat, also ein Muslim ist, nicht unbedingt ein „Gläubiger“, also ein Mu'min, sein muss. Die Definition des Islams ist demnach weniger eng als die des Glaubens. Was islām ursprünglich bedeutete, wenn damit nicht der Glaube gemeint ist, ist nicht eindeutigt geklärt. Meïr Bravmann, der den Sprachgebrauch des Wortes in der altarabischen Literatur untersucht hat, meint, dass er in der frühislamischen Gemeinschaft, die stark auf den Dschihad ausgerichtet war, die Bereitschaft zur Selbstaufopferung im Kampf bezeichnete.

Dass der Islam auf „fünf Säulen“ ruht, ist heute meist das Erste, was Kinder in der Schule über den Islam lernen.

Seit Ende des 7. Jahrhunderts (vgl. dazu unten 5.3.5.) ist die Vorstellung nachweisbar, dass der Islam insgesamt auf fünf Säulen ruht: 1. dem Glauben an Gott und seinen Gesandten; 2. den fünf Gebeten, 3. dem Ramadān-Fasten, 4. der Entrichtung der Zakāt, und 5. der Haddsch-Wallfahrt. Auf all diese Dinge wird im weiteren Verlauf der Vorlesung noch weiter eingegangen. Das Konzept von den fünf Säulen des Islams wurde später in Form des sogenannten Gabriel-Hadith auf den Propheten zurückgeführt. Er hat Eingang in die wichtigsten islamischen Traditionssammlungen gefunden.

Der Islam hatte von Anfang auch eine politische Dimension, und zwar dadurch, dass Muhammad, der Begründer dieser Religion, in Medina selbst ein eigenes Staatswesen errichtet hat. Muhammads politische Funktion und sein militärischer Erfolg sind auch Punkte, die ihn von den meisten anderen Religionsstiftern unterscheiden. Der von Muhammad begründete Staat wurde nach seinem Tode durch die sogenannten Kalifen fortgeführt. In der islamischen Völkerrechtslehre wird er als Dār al-Islām („Haus des Islams“) bezeichnet (vgl. unten 6.4.1.3.). Die politische Dimension des Islams wurde erst im Laufe des 19. Jahrhunderts im Zuge der Begegnung von reformgesinnten Muslimen mit der westlichen Rechts- und Werteordnung in Frage gestellt und abgeschwächt. Im Zuge des Reislamisierungsprozesses des späten 20. Jahrhundert sind allerdings viele Muslime wieder zu der Auffassung zurückgekehrt, dass der Islam auch in Form eines eigenen Staatswesens gelebt werden müsse. Mehrere heute existierende islamische Staaten sehen sich mehr oder weniger in der Nachfolge des Staates von Medina. Die politische Ideologie, die in Fortsetzung klassischer Lehren nach Wiedererrichtung eines islamischen Staates strebt, wird heute allgemein als „Islamismus“ oder „politischer Islam“ bezeichnet. Allerdings ist mittlerweile auf internationaler Ebene an die Stelle des einen islamischen Staates eine ganze Staatenfamilie getreten, nämlich die Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) mit Sitz in Dschidda.

In den europäischen Sprachen wurde dem Begriff „Islam“ ab dem 19. Jahrhundert eine sehr weite Bedeutung gegeben, insofern als man damit die Gesamtheit der muslimischen Völker, Länder und Staaten mit der ihnen eigenen Kultur bezeichnet hat. So kommt es auch, dass bis heute die Encyclopaedia of Islam, das wichtigste Nachschlagewerk der Islamwissenschaft, nicht allein die islamische Religion behandelt, sondern die gesamte Zivilisation der Länder mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit, mit Schwerpunkt allerdings auf dem Vorderen Orient. Ähnlich weit fassen den Islam übrigens auch viele Islamisten. So erklärte zum Beispiel im Jahre 1939 Hasan al-Bannā, der Begründer der Muslimbruderschaft, dass der Islam „Bekenntnis und Gottesdienst, Vaterland und Nationalität, Religion (dīn) und Staat (daula), Spiritualität und Arbeit, Koran und Schwert“ sei (vgl. unten 12.1.2.).

Die Frage, was der Islam ist und was er alles umfasst, wird also zum Teil sehr unterschiedlich beurteilt. In dieser Einführung wird ein Islam-Begriff zugrundelegt, der „Islam“ enger fasst als eine Zivilisation, aber dennoch nicht auf den Bereich der Religion reduziert. Als relevant betrachtet werden zunächst alle Strömungen, Bewegungen, Organisationen und Institutionen, die sich selbst als „islamisch“ bezeichnen, sowie Ideen und Konzepte, die von Muslimen als „islamisch“ deklariert worden sind (explizite Islamizität). Darüber hinaus werden solche Sachverhalte behandelt, die einen erkennbaren direkten oder indirekten Bezug zum Koran, zu Muhammad oder Mekka aufweisen (implizite Islamizität). Dies lässt sich damit begründen, dass der Koran der zentrale heilige Text, Muhammad die zentrale heilige Person und Mekka der zentrale heilige Ort des Islams ist. Schließlich werden auch Ereignisse, Entwicklungen, Gruppen und Personen berücksichtigt, die für die Verbreitungsgeschichte des Islams von großer Bedeutung sind.

1.2.2. Der historische Zugang

Grundsätzlich bieten sich bei der Darstellung einer Religion zwei verschiedene Herangehensweisen an. Bei der systematischen Herangehensweise werden nacheinander die verschiedenen Teilbereiche und Dimensionen der betreffenden Religion betrachtet, zum Beispiel die Gottesvorstellungen, die Mythologie, die Heiligen Schriften, die Schöpfungsvorstellungen, die Rituale, die Ethik, die rechtlichen und gesellschaftlichen Dimensionen, die politischen Konzepte usw. Eine solche Darstellungsweise hat den Vorteil, dass inhaltlich zusammengehörige Phänomene im Zusammenhang betrachtet werden können und dadurch manchmal größere Anschaulichkeit erhalten. Eine Gefahr bei dieser Darstellungsweise besteht allerdings darin, dass in den Köpfen der Zuhörer und Leser schnell ein essentialistisches Bild von der betreffenden Religion entsteht, weil sie als unveränderlich und statisch wahrgenommen wird. Als Alternative bietet sich die historisierende Darstellungsweise an, die bei der Beschreibung der einzelnen Sachverhalte jeweils den historischen Zusammenhang berücksichtigt und somit anachronistischen Vorstellungen entgegenwirkt. Es kann zum Beispiel auf diese Weise gezeigt werden, dass Phänomene, die heute mit der betreffenden Religion untrennbar verbunden scheinen, erst zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer speziellen politischen und kulturellen Situation aufgekommen sind. Das Gleiche gilt auch für die verschiedenen islamischen Strömungen, deren Lehren häufig nur vor dem Hintergrund ihres Entstehungszusammenhangs verständlich werden. Die historische Darstellungsweise leitet allgemein zum kritischen Denken an, weil sie die Möglichkeit gibt, Vorstellungen und Normen in ihrer historischen Gewordenheit zu verstehen und damit auch kritisch hinsichtlich ihrer Allgemeingültigkeit zu hinterfragen. Sie zeigt auch auf, wie stark die Diskurse von den jeweils herrschenden Machtverhältnissen bestimmt werden. Ich habe mich deswegen in dieser Einführung in den Islam für die historische Herangehensweise entschieden.

Bei der Darstellung der Entwicklungen, Ereignisse, Persönlichkeiten und Strömungen früherer Epochen kann schnell der Eindruck aufkommen, dass all diese Dinge nichts mit der Gegenwart zu tun haben. Dieser Eindruck täuscht jedoch, denn zum einen spielt die Erinnerung an die religiös-politischen Geschehnisse der islamischen Vergangenheit eine enorm wichtige Rolle im kollektiven Gedächtnis der heutigen Muslime, zum anderen wird auch in allen religiös gefärbten Diskussionen, die in der Gegenwart unter Muslimen über Gesellschaft und Politik geführt werden, auf diese vergangenen Geschehnisse Bezug genommen. Die Beschäftigung mit vergangenen Entwicklungen ist also unabdinglich für das Verständnis heutiger islamischer Diskurse. Auch die Rituale, die den religiösen Alltag der heutigen Muslime prägen wie das rituelle Gebet, der Freitagsgottesdienst, das Ramadān-Fasten und die Wallfahrt nach Mekka, sind zu einer bestimmten Zeit eingeführt worden und haben im Laufe der Zeit Veränderungen erfahren. Indem in dieser Vorlesung die historischen Umstände, unter denen diese Rituale eingeführt und verändert wurden, in den Blick genommen werden, soll das Bewusstsein für ihre gesellschaftliche und politische Bedeutung, die sich jeweils in einer bestimmten historischen Situation konkretisiert, geweckt werden.

Ein Leitgedanke in meiner Darstellung ist, dass sich die Geschichte des Islams in Synthesen vollzieht. Dieser Gedanke knüpft in gewisser Weise an die dialektische Philosophie Hegels an. Meine These ist, dass sich in jeder Epoche des Islams neue Antagonismen ergeben, die dann in Form einer Dialektischen Aufhebung überbrückt werden. Hierbei schreitet die Geschichte voran, und es wird eine höhere Entwicklungsstufe erreicht, in der die einzelnen Vorstellungen und Normen zum Teil auch neue Funktionen erhalten. Auch die Entstehung des Islams selbst lässt sich in dieser Weise als eine dialektische Aufhebung eines Gegensatzes deuten, desjenigen nämlich zwischen dem einheimischen Polytheismus und den von außen eindringenden monotheistischen Religionen im spätantiken Arabien.

1.2.3. Die zeitliche Gliederung

Nicht alle Zeiträume der islamischen Geschichte erhalten in dieser Vorlesung die gleiche Aufmerksamkeit. Schwerpunktmäßig werden die formative Phase sowie die gegenwartsnahe Geschichte des Islams behandelt. Die formative Phase des Islams, die Periode vom frühen 7. Jahrhundert bis zum frühen 10. Jahrhundert verdient deswegen besondere Aufmerksamkeit, weil in ihr fast das gesamte Normen-, Werte- und Ideensystem, das bis heute für den Islam kennzeichnend ist, sowie viele islamische Strömungen, die bis heute existieren, entstanden sind. Die gegenwartsnahe Geschichte des Islams wird aus dem einfachen Grunde eingehender betrachtet, weil sie uns zeitlich näher steht und uns deswegen auch stärker betrifft. Die dazwischen liegenden Perioden, der Zeitraum zwischen 930 und 1813, sollen aber mit ihren wichtigen religionsgeschichtlichen Entwicklungen keineswegs vernachlässigt werden. Ihnen sind in dieser Einführung insgesamt drei Sitzungen gewidmet, was in einer Einführung zum Islam keineswegs selbstverständlich ist. Bei den einzelnen betrachteten Zeiträumen geht es nicht nur darum, das jeweils Neue herauszustellen, sondern auch die Elemente der Kontinuität aufzuzeigen.

Wichtig ist mir in dieser Vorlesung, die Autonomie der Geschichte des Islams herauszustellen. Bei der Periodisierung orientiere ich mich nicht an westlichen Epocheneinteilungen, sondern an den die ganze islamische Welt betreffenden Verschiebungen im religiös-politischen Bereich. Wie aber lassen sich solche Verschiebungen erkennen? Mekka ist nicht nur die Stadt, an dem Muhammad seine neue Religion begründete, sondern sie gilt bis heute auch als die wichtigste Heilige Stätte des Islams und bildet das religiöse Zentrum der islamischen Welt. Im Laufe der Zeit hat die Oberherrschaft über diese Stadt immer wieder gewechselt. Da diese Herrschaftswechsel Auswirkungen auf die gesamte islamische Welt hatten und auch die religiös-politische Großwetterlage beeinflussten, habe ich sie in meiner Vorlesung als Mittel für die Epocheneinteilung verwendet. Nur bei der Periodisierung der letzten Jahrzehnte bin ich von diesem Ordnungsprinzip abgewichen, weil die Machtverhältnisse in Mekka während dieses Zeitraums relativ stabil blieben, andere globale Verschiebungen jedoch stark auf das islamische Feld einwirkten.

1.3. Die Situation im spätantiken Arabien und ihr Einfluss auf den Islam

Mekka, die Stadt, in der Muhammad seine neue Religion begründete, liegt im Westen der arabischen Halbinsel. Im Koran, dem Buch, das gewissermaßen den Gründungstext dieser neuen Religion darstellt, wird an verschiedenen Stellen (vgl. z.B. Q 33:33) der Bruch mit den arabischen Bräuchen der vorislamischen Zeit, der sogenannten Dschāhilīya, betont. Allerdings weist der Islam auch viele Elemente der Kontinuität gegenüber der vorislamischen arabischen Kultur auf. Das Wichtigste davon ist die arabische Sprache. Sie hat eine lange Geschichte, die in das erste Jahrtausend vor Christus zurückreicht und in ihrer dialektalen Vielfalt durch Inschriften recht gut dokumentiert ist. Dadurch, dass auch der Koran in arabischer Sprache gehalten ist, hat diese Sprache in der islamischen Kultur eine geradezu heilige Stellung erhalten. In den folgenden Abschnitten werden noch verschiedene andere Vorstellungen und Institutionen des spätantiken Arabiens vorgestellt, an die der Islam angeknüpft hat.

1.3.1. Die altarabische Stammesgesellschaft

Tribale Gruppen auf der arabischen Halbinsel zur Zeit Muhammads

Die altarabische Gesellschaft war stammesmäßig organisiert, und das Individuum definierte sich primär durch seine tribale Zugehörigkeit. Der Koran erkennt diese gesellschaftliche Realität an, in dem er in Sure 49:13 an die Menschen gerichtet sagt: „Wir haben euch zu Verbänden und Stämmen gemacht, damit ihr euch untereinander kennt.“ Der einzelne Mensch war also nur durch seine Einordnung in dieses System von Verbänden und Stämmen, die nach innen wiederum in verschiedene Clane und Familien aufgegliedert waren, identifizierbar. Die große Bedeutung, die die alten Araber dieser Form der Identifizierung beimaßen, lässt sich daran erkennen, dass sie bei Nennung von Personen jeweils auch deren verbandsmäßige Zugehörigkeit angaben, und zwar durch die nisba, ein Adjektiv, das mit dem Suffix -ī gebildet wird. So ist zum Beispiel al-Kindī die Nisba zum Stamm Kinda, at-Tanūchī die Nisba zum Stamm Tanūch und al-Machzūmī die Nisba zum Clan Machzūm. Eine noch genauere Verortung des Individuums in diesem System erfolgte durch den sogenannten nasab, die Abstammungslinie. Sie setzt den Menschen über eine Filiation zu mythischen Vorfahren in Beziehung, die einer oder mehreren tribalen Gruppen gemeinsam sind. Die einzelnen Glieder auf dieser Kette von Vorfahren werden üblicherweise durch das Wort ibn „Sohn (des)...“ (abgekürzt b.) aneinandergereiht. Wenn es sich um Frauen handelt, steht bint „Tochter von“. Der Prophet zum Beispiel hatte den Nasab: Muhammad ibn ʿAbdallāh ibn ʿAbd al-Muttalib ibn Hāschim ibn ʿAbdmanāf ibn Qusaiy ibn Kilāb ibn Murra ibn Kaʿb ibn Lu'aiy ibn Ghālib ibn Fihr ibn Mālik ibn an-Nadr ibn Kināna. Auch die tribalen Verbände selbst wurden in dieser Weise über einen Nasab definiert. Bei ihnen wurde die Abstammung von einem gemeinsamen Vorfahren oder einer gemeinsamen Vorfahrin nicht durch ibn oder bint, sondern das Wort banū (Söhne von…) angezeigt.

Die meisten arabischen Stämme lebten nomadisch in den wüsten- und steppenartigen Regionen der arabischen Halbinsel und betrieben Kamelzucht. Zur Erzielung von Beute unternahmen sie überfallartige Raubzüge auf andere Stämme und Siedlungen an der Grenze zum Fruchtland. Wichtigstes Ziel bei dieser Raubzugsaktivität, die Ghazw genannt wurde, war der Erwerb von Kamelen und Vieh. Bei vielen Raubzügen wurden aber auch Gefangene gemacht, die dann eine ganze Zeit als Sklaven Dienst leisten mussten. Bei weiblichen Sklaven war es üblich, dass diese ihren Herren auch sexuell zur Verfügung stehen mussten. Sklaverei war im ganzen vorislamischen Arabien weit verbreitet. Dieses Rechtsinstitut ist in den Islam übernommen worden. Auch im Haushalt Muhammads lebte anfangs ein Sklave, Zaid ibn Hāritha, der mit einer freigelassenen Abessinierin verheiratet war und mit dieser ein Kind hatte. Wenn Sklaven freigelassen wurden, verblieben sie weiter in einem Schutzverhältnis (walāʾ) zum Stamm oder Clan ihres früheren Besitzers. Als Mawālī, also Schutzbefohlene, bildeten sie einen wichtigen Bestandteil der vorislamischen arabischen Gesellschaft.

Neben den nomadisch lebenden Stämmen, den sogenannten Beduinen, gab es sesshafte Stämme, die Landwirtschaft oder Handel trieben. So war zum Beispiel die Stadt Yathrib einige hundert Kilometer nördlich von Mekka als eine Agglomeration von Oasen stark landwirtschaftlich ausgerichtet. Landwirtschaft wurde auch im südlichen Mesopotamien getrieben, dem Gebiet, das die Araber al-ʿIrāq („die fruchtbare Uferzone [von Euphrat und Tigris]“) nannten, woher auch der moderne Ländername Irak stammt. Mekka, die Heimatstadt Muhammads, zeichnete sich dadurch aus, dass sie stark auf den Handel ausgerichtet war.

Der Staat von Himyar im Süden der arabischen Halbinsel

Unter den arabischen Stämmen gab es ein großes Machtgefälle. Einige waren eher schwach, andere hatten schon lange vor dem Islam eigene Staatswesen gegründet, wie etwa die Himyar und Kinda in Südarabien, die Banū Ghassān in Südsyrien und die Banū Lachm im Irak. An dieses Machtgefälle knüpfte sich das Konzept der Ehre (šaraf). Angeführt wurde der Stamm durch einen Saiyid („Herr“) oder Scheich; einige Stammesoberhäupter führten sogar den Titel eines Königs (malik). Diesen Oberhäuptern gegenüber hatten die Angehörigen des Stammes einen Treueid (Baiʿa) zu leisten. Innerhalb des Stammes nahm außerdem der Dichter (šāʿir) eine äußerst wichtige Rolle ein. Indem er die Ruhmestaten des eigenen Stammes besang, konnte er das Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb dieses Verbandes stärken. Außerdem konnte er den Stamm beim Kampf durch dichterische Schmähung (hiǧāʾ) des Gegners unterstützen.

Innerhalb der Stämme kannte man bestimmte Normen des Zusammenlebens. Der Wert dieser Normen wurde auf die Tatsache zurückgeführt, dass sie auf „alter Rechtssetzung“ (Sunna) beruhten. Da es keine gesonderten Institutionen gab, die im Falle einer Verletzung der Normen eingeschaltet werden konnten, wachte die Gruppe als ganze bzw. die Gruppen untereinander über deren Einhaltung. Es gab also durchaus auch Sanktionen. Gelang es in einem Streitfall den betroffenen Parteien nicht, eine Einigung zu erzielen, konnten sie einen Schiedsrichter (ḥakam) einschalten, der ihrer beiden Vertrauen genoss. Das wichtigste strafrechtliche Prinzip war der Qisās, nach dem jede Schädigung eine „Wiedervergeltung“ zur Folge haben musste. Bei Mord oder Totschlag implizierte das die Blutrache. Die durch die Rache bedrohte Gruppe konnte allerdings versuchen, diese durch das Angebot einer Wergeldzahlung (Diya) abzuwenden. Der Qisās galt als ein lebenssicherndes Prinzip (vgl. Sure 2:179), weil er abschreckend wirkte und dadurch von fortgesetztem Blutvergießen abhielt.

Neben der gewöhnlichen Blutsverwandtschaft gab es im alten Arabien noch die Institution der Milchverwandtschaft. Hintergrund war der damals sehr verbreitete und später auch durch den Koran (Q 2:233) sanktionierte Brauch, das Stillen der Kinder einer anderen Frau als der Mutter zu überlassen. Dieser Brauch kam offensichtlich auch bei Muhammad zur Anwendung, denn es wird berichtet, dass er als kleines Kind einer Amme namens Halīma aus dem nomadischen Stamm der Saʿd ibn Bakr anvertraut wurde, bei der er etwa zwei Jahre blieb. Das durch die Stillbeziehung hergestellte verwandtschaftliche Verhältnis bezog neben der Amme selbst deren Kinder sowie die Kinder, die von ihrer Brust getrunken hatten, ein und stand in seiner sozialen Bedeutung der Blutsverwandtschaft in nichts nach. Muhammad selbst fühlte sich zum Beispiel zeitlebens dem Stamm Saʿd ibn Bakr verbunden, obwohl dieser zeitweise mit seinen Gegnern paktiert hatte. Milchverwandtschaft schloss auch die Möglichkeit zur Heirat aus, eine Norm, die Eingang in den Koran (Q 4:23) gefunden hat und somit auch für das islamische Normensystem bestimmend geworden ist.

1.3.2. Geschlechterverhältnisse

Eine Besonderheit der spätantiken arabischen Gesellschaft war die Existenz uxorilokaler Besuchsehen. Es handelt sich um solche Ehen, bei denen das verheiratete Paar nicht zusammenlebte, sondern nur eine Besuchsbeziehung unterhielt. Über derartige Ehen sind wir durch aus vorislamischer Zeit stammende arabische Gedichte von Liebesaffären informiert. In vielen dieser Gedichte ist davon die Rede, dass der Mann die Frau in der Nacht im Zeltlager ihres Stammes besucht. In einigen Fällen tat er dies heimlich, in anderen ging er bei ihr für längere Zeit ohne Heimlichkeit ein und aus. Frauen, die solche Beziehungen eingingen, hatten auch die Möglichkeit, diese selbst zu beenden. In vielen Fällen unterhielten Frauen derartige Besuchsbeziehungen auch zu mehreren Männern. Berichte über uxorilokale Besuchsehen finden sich auch in den Überlieferungen über Muhammads Vorväter. So wird zum Beispiel über seinen Großvater ʿAbd al-Muttalib berichtet, dass er das Erzeugnis einer Besuchsehe war, die sein Vater Hāschim mit einer vornehmen Dame in Yathrib abgeschlossen hatte, als er sich auf einer Geschäftsreise nach Palästina befand. Auch die Verbindung von Muhammads Eltern könnte diesem Ehetyp entsprochen haben. Es wird nämlich berichtet, dass seine Mutter Āmina während der Ehe bei ihrem Clan Zuhra wohnen blieb, während ihr Mann ʿAbdallāh sie dort lediglich besuchte. In vielen Fällen war das System der Besuchsehen mit einem matrilinearen Verwandtschaftssystem verbunden. Das bedeutet, dass hier die Abstammung von der Mutter die verwandtschaftlichen Verhältnisse definiert, und auch das Erbe in der Mutterlinie weitergegeben wurde.

Die arabische Gesellschaft befand sich zur Zeit Muhammads allerdings in einem Umbruchsprozess weg von der matrilinearen und uxorilokalen Heiratsstruktur hin zu einem System, das patrilinear und virilokal ausgerichtet war. Bei diesen neuen Ehen zog die Braut bei der Heirat in das Haus des Mannes um und war dort seiner Autorität unterstellt. Der Ehemann, der mehrere solcher Ehen unterhalten konnte, war in diesem Fall auch der „Herr“ (baʿl) seiner Frauen und hatte das alleinige Recht zur Auflösung der Ehen. Wenn der Ehemann starb, ging das Verfügungsrecht über die Frau an dessen Erben über. Die neue islamische Geschlechterordnung entstand in Auseinandersetzung mit diesen beiden unterschiedlichen Eheformen.

1.3.3. Das altarabische Heidentum und die Heiligtümer von Mekka

Unsere Informationen über die religiöse Situation im vorislamischen Arabien stammen im Wesentlichen aus den Werken der arabischen Traditionsliteratur; eines der bekanntesten monographischen Werke zu diesem Thema ist das sogenannte „Götzenbuch“ (Kitāb al-Aṣnām) von Ibn al-Kalbī (gest. 821). Diesen Quellen zufolge gab es zur Zeit des Propheten an zahlreichen Orten Arabiens Kultstätten, an denen lokale Gottheiten verehrt wurden. Einige von ihnen waren Astralgottheiten wie etwa Yaghūth, der als „Herr des Hundssterns“ galt. Andere wurden als weiblich betrachtet wie zum Beispiel die Göttinnen al-Lāt, Manāt und al-ʿUzzā. Die Gottheiten wurden an den verschiedenen Heiligtümern in Form von Idolen, d.h. heiligen Steinen (anṣāb, sg. nuṣb) bzw. Standbildern verehrt. An diesen Heiligtümern wurden bestimmte Kulthandlungen wie die Opferung von Tieren oder Umläufe vollzogen.

Die Kaaba im Jahre 1907

Ein arabisches Heiligtum von überragender Bedeutung war die Kaaba in Mekka, ein würfelförmiges Gebäude (daher der Name al-Kaʿba = „Kubus“), in dessen Innerem sich ein Standbild des Gottes Hubal befand. Dieses hatte divinatorische Funktion: man warf vor ihm Lospfeile, wenn man ein Orakel begehrte. Ursprünglicher Gegenstand der Verehrung war ein Schwarzer Stein, der in die östliche Ecke der Kaaba eingelassen war. Am hellen Morgen (ḍuḥā) wurde an dem Gebäude ein gemeinsames Gebet (ṣalāt) abgehalten, bei dem man eine Prosternation (Sudschūd) vollzog. Eine Besonderheit dieses Heiligtums war, dass es von einem geheiligten Bezirk umgeben war. In diesem Bezirk, der Haram genannte wurde, galten bestimmte Tabus (Tötungs-, Kampf- und Jagdverbot, auch wilde Pflanzen durften nicht abgeschnitten werden). Die Kaaba war auch Zielpunkt einer Wallfahrt, die ʿUmra genannt wurde und aus einem siebenmaligen Umlauf (Tawāf) um das Gebäude bestand. Zu bestimmten feierlichen Anlässen wurde die Kaaba mit kostbaren Stoffen bedeckt und parfümiert. Um das Innere des Gebäudes vor den in Mekka häufigen Sturzfluten zu schützen, wurde sein Boden Anfang des 7. Jahrhunderts auf Kopfhöhe angehoben. Ein Heiligtum von ähnlich großer Bedeutung befand sich in dem südwestarabischen Ort Tabāla zwischen Mekka und dem Jemen. Hier verehrten die Stämme der Daus, Chathʿam und Badschīla die Gottheit Dhū l-Chalasa in Gestalt eines Kultsteins. Aufgrund seiner Beliebtheit als Wallfahrtsziel wurde das Heiligtum auch als die „südliche Kaaba“ (al-Kaʿba al-yamānīya) bezeichnet, im Gegensatz zur „nördlichen Kaaba“ (al-Kaʿba aš-šāmīya) in Mekka.

Die altarabischen Monate
Nr Name
1 Safar I
2 Safar II
3 Rabīʿ I
4 Rabīʿ II
5 Dschumādā I
6 Dschumādā II
7 Radschab
8 Schaʿbān
9 Ramadān
10 Schauwāl
11 Dhū l-Qaʿda
12 Dhū l-Hiddscha

Die Wallfahrten zu den verschiedenen Heiligtümern wurden nach einem Lunisolarkalender berechnet: Das Jahr begann im Herbst und bestand aus zwölf Mondmonaten, die von Neumond zu Neumond gerechnet wurden; alle zwei oder drei Jahre wurde ein dreizehnter Monat angehängt, damit der Anfang des Jahres im Herbst beibehalten werden konnte. Dieses arabische Interkalationssystem wurde nasīʾ, „Verschiebung“, genannt, weil es den ersten Monat des neuen Jahres verschob. Ein besonders wichtiger Termin im altarabischen Kalender war die als Haddsch bezeichnete Wallfahrt in dem nach ihr benannten Monat Dhū l-Hiddscha, der in vorislamischer Zeit im Herbst lag. Höhepunkt des Haddsch-Rituals war die große Pilgerversammlung am 9. Tag des Monats in ʿArafāt, einer trockenen Gebirgsebene, die etwa 20 Kilometer östlich der Stadt Mekka liegt, bei der man vom Mittag bis zum Sonnenuntergang in der Ebene verweilte. Nach dieser Verweilzeremonie, die wuqūf genannt wurde, fand bei Sonnenuntergang die sogenannte ifāḍa, das „Ausströmen“ zu dem etwa zwei Stunden entfernten Heiligtum von Muzdalifa statt. Hier wurde die Nacht wachend zugebracht. Bei Sonnenaufgang des 10. Tages wurden schließlich im näher an Mekka gelegenen Tal Minā Opfer dargebracht. Mit bestimmten Abwandlungen, auf die wir noch näher eingehen werden, ist dieses Ritual in den Islam übernommen worden.

Heutige muslimische Pilger beim Wuqūf in der Ebene ʿArafāt

Aufgrund der Zeiten, zu denen der Lauf aus der ʿArafāt-Ebene nach Muzdalifa (Sonnenuntergang) und der Lauf von Muzdalifa nach Minā (Sonnenaufgang) in vorislamischer Zeit stattfanden, wird vermutet, dass dieser vorislamische Haddsch ein Ritual der Sonnenverehrung war. Der Haddsch hatte auch große wirtschaftliche Bedeutung, denn ihm gingen drei mehrtägige Märkte an verschiedenen Orten der Umgebung voraus, die gewissermaßen als Teil des Haddsch galten. Der letzte dieser Märkte fand vom 1. bis 8. Dhū l-Hiddscha in Dhū l-Madschāz statt, einem Ort mit kleinem Wasserlauf in der Nähe der Ebene ʿArafāt. Da es in ʿArafāt und in Muzdalifa kein Wasser gibt, nutzten die Pilger den letzten Markttag in Dhū l-Madschāz, um ihre Tiere dort zu tränken und sich selbst mit Wasser einzudecken. Deswegen wird bis heute der 8. Tag des Monat Dhū l-Hiddscha als „Tag der Tränkung“ (yaum at-tarwiya) bezeichnet.

Vier Monate des altarabischen Kalenders galten aufgrund der beiden genannten Wallfahrten als heilig: der Frühlingsmonat Radschab wegen der ʿUmra, die vor allem in diesem Monat stattfand, und der Monat Dhū l-Hiddscha und die beiden Monate davor und danach wegen des Haddsch. Je nachdem, ob an das Jahr ein Schaltmonat angehängt wurde oder nicht, wurde der auf den Haddsch folgende erste Safar geheiligt oder nicht. Die ʿUmra bestand übrigens nicht nur aus der Umkreisung der Kaaba, sondern umfasste noch verschiedene andere Rituale wie den siebenmaligen Lauf (saʿy) zwischen den beiden Hügeln Safā und Marwa in der Nähe der Kaaba. In den heiligen Monaten galt eine allgemeine Friedenspflicht. Menschen, die sich auf eine der beiden Wallfahrten begeben wollten, mussten dafür in einen Weihezustand (Ihrām) eintreten, in dem sie ihre Haare nicht schneiden durften und auch das Leben wild lebender Tiere nicht antasten durften. Die Beendigung dieses Weihezustandes wurde zum Abschluss der Wallfahrt durch das Scheren des Haares und das Schlachten von Tieren symbolisiert. Beim Haddsch geschah dies in Minā, bei der ʿUmra im Bereich der Kaaba.

1.3.4. Magische Bräuche; Opfer- und Reinigungsrituale

Darüber hinaus gibt es eine ganze Anzahl von magischen Bräuchen aus dem spätantiken Arabien, die Eingang in den Islam gefunden haben. Hierzu gehört zum Beispiel der Brauch, dass Personen nicht direkt mit ihrem Namen (ism), sondern nur indirekt als „Vater“ (Abū) bzw. „Mutter“ (Umm) ihres erstgeborenen Sohnes angesprochen wurden. Hintergrund ist wahrscheinlich das bei vielen frühen Völkern verbreitete Namenstabu. An die Stelle des Sohnesnamens konnte auch ein Nomen treten, das ein besonderes Attribut des Namensträgers hervorhob. Diese Kunya-Namen sind ein fester Bestandteil islamischer Namensgebung geworden.

Ein weiteres markantes Beispiel ist der istisqāʾ, die Regenbitte. Die Zeremonie, die in einer öffentlichen Versammlung stattfand, wurde üblicherweise von einem Stammesführer in Anwesenheit eines heiligen Mannes verrichtet. Die Anwesenden wendeten dabei ihr Obergewand um. Der Brauch wurde auch in den Islam übernommen und ist bis heute als Gebetsritus allgemein akzeptiert. Grundlegend sowohl im paganen als auch im islamischen Ritus ist die Vorstellung, dass das Gebet der Gemeinde durch die Gottesnähe des heiligen Mannes die Kraft besitzt, auf den Willen Gottes einzuwirken. In der islamischen Hagiographie finden sich viele Berichte über heilige Männer, die durch ihr Bittgebet die Regennot beendeten, eine Kraft, die manchmal auch ihren Gräbern zugeschrieben wurde.

Ein weiterer Brauch, der aus dem vorislamischen Arabien übernommen wurde, ist die sogenannte ʿAqīqa-Zeremonie wenige Tage nach der Geburt eines Knaben. Hierbei brachte man ein Opfertier dar und spendete dessen Fleisch als Almosen. Der Kopf des Knaben wurde anschließend mit dem Opferblut des Tieres benetzt. Diese Zeremonie hat sich mit dem Islam verbreitet und wird noch heute in vielen islamischen Ländern ausgeführt. Heute ist sie zumeist mit der Namengebung für das Kind verbunden.

Darüber hinaus war in der Gedankenwelt der vorislamischen Araber auch der Glaube an geisterhafte Wesen, die Dschinn genannt wurden, tief verwurzelt. Verbreitet war die Vorstellung, dass sich die Dschinn an den Rändern der Himmelssphären aufhalten, um dort Wissen über das Verborgene zu erlauschen, das sie erwählten irdischen Empfängern, vor allem Dichtern weitergeben. Über den Koran, der den Dschinn eine eigene Sure (Q 72) widmet und sie noch an vielen anderen Stellen erwähnt, hat der Glaube an diese Wesen auch Eingang in den Islam gefunden. Vor allem im Volksglauben spielen die Dschinn bis heute eine bedeutende Rolle. Da sie als Verursacher von Krankheiten und Besessenheit gelten, versuchen viele Muslime, sich mit Amuletten und speziellen Gebets- und Zauberformeln vor ihrer negativen Wirkung zu schützen. Daneben werden in vielen islamischen Ländern exorzistische Praktiken angewandt, um von Dschinn besessene Menschen zu heilen.

Miswāk-Hölzer vom Arakbaum

In ganz Arabien war schon in vorislamischer Zeit die Beschneidung (ḫitān) üblich. Unbeschnitten zu sein galt als große Schmach. Diese Vorstellung wurde im Islam stillschweigend übernommen. Neben der Knabenbeschneidung war auch die Mädchenbeschneidung verbreitet. Nach einer Überlieferung, die in verschiedenen Hadith-Sammlungen überliefert ist, soll Muhammad einer der „Klitorisbeschneiderinnen“ (muqaṭṭiʿāt al-buẓūr) sogar ausdrücklich erlaubt haben, ihr Handwerk weiter auszuüben, wenn sie nicht zu tief schneide. Unter Berufung auf diese Sunna wird bis heute in einigen islamischen Ländern wie Ägypten, Jemen und Indonesien bei Mädchen eine „leichte Beschneidung“ durchgeführt.

Zur Zahnreinigung benutzte man wie in Ostafrika und Indien die Wurzelhölzer vom Arakbaum (Salvadora persica), die auf Arabisch als Miswāk bzw. siwāk bezeichnet werden. Es handelt sich um fluorhaltige Hölzchen, die bei der Benutzung zerfasern und sich insofern sehr gut als Zahnbürsten eignen. Da von Muhammad überliefert ist, dass er diese Hölzer gerne benutzte, halten bis heute auch viele Muslime ihre Benutzung für empfehlenswert.

1.3.5. Die spätantiken Großreiche und der Stamm der Quraisch

Das Oströmische Reich und das Sassanidenreich im 6. Jahrhundert n.Chr.

Arabien lag um 600 am Rande bedeutender Reiche. Im Norden stritten das Oströmische Reich und das persische Sassanidenreich um Einfluss und Kontrolle. Das Oströmische Reich, auch Byzanz genannt, umfasste die Länder des Östlichen Mittelmeergebiets (Kleinasien, Syrien) einschließlich eines Teils von Nordafrika (v.a. Ägypten), das persische Sasanidenreich dehnte sich von Mesopotamien über Persien bis nach Nordwest-Indien und Zentralasien aus. Die sasanidische Hauptstadt Ktesiphon lag allerdings im Irak und war somit nicht weit entfernt.

Mehrere arabische Stammesstaaten standen Ende des 6. Jahrhunderts in einem Vasallenverhältnis zu diesen Reichen. Die Banū Ghassān in Syrien waren Vasallen von Byzanz. Ihre Residenz war die Zeltstadt al-Dschābiya im Golan. Die Sasaniden hatten eine ganze Reihe von arabischen Vasallen, denen jeweils vor Ort ein sassanidischer Gouverneur zur Seite stand: im Grenzgebiet zwischen Irak und arabischer Wüste herrschten die Lachmiden mit Residenz in al-Hīra, in Bahrain (damals Bezeichnung für die gesamte arabische Golfküste) der tamīmitische Stammesfürst al-Mundhir ibn Sāwā, in Oman König Dschulandā ibn al-Mustakbir aus dem arabischen Stamm Azd, und im Jemen der Marionettenherrscher Saif ibn Dhī Yazan aus dem Stamm der Himyar.

Eines der wenigen Gebiete auf der arabischen Halbinsel, die in dieser Zeit ihre politische Eigenständigkeit behaupten konnten, war der westarabische Hidschāz mit den Städten Mekka, Yathrib und at-Tā'if. Über Mekka herrschte der Stamm Quraisch, der sich als Zweig des nordarabischen Stammes der Kināna betrachtete. Die nordarabischen Stämme führten im Gegensatz zu den südarabischen Stämmen ihren Stammbau auf Abraham zurück. Das steht nicht im Gegensatz zu damals verbreiteten Vorstellungen. Schon frühe christliche Kirchenhistoriker nahmen die Abstammung der Araber von Abraham über seinen von der Magd Hagar geborenen Sohn Ismael als sicher an. Zusammen mit den Kināna und den Chuzāʿa bildeten die Quraisch eine auf den Heiligen Bezirk (Haram) von Mekka bezogene Amphiktyonie. Ihre Mitglieder wurden als „Geheiligte“ (ḥums) bezeichnet und mussten während des Weihezustands bestimmte Tabus einhalten. Ihnen standen die übrigen Araber, die „Profane“ (ḥilla), gegenüber, die zwar diese Tabus nicht einzuhalten brauchten, dafür den Umlauf um die Kaaba aber nur nackt vollziehen durften, oder in Kleidern, die sie von den Geheiligten geliehen hatten.

Die Quraisch gliederten sich in verschiedene Clane. Sechs davon, die ʿAbd ad-Dār, die ʿAbd Schams, die Banū Naufal, die Banū Hāschim, die Banū al-Muttalib und die Banū Asad genossen als Nachfahren von Qusaiy ibn Kilāb besonderes Ansehen. Qusaiy gilt als der eigentliche Gründer von Mekka. Er hatte nach der arabischen Überlieferung fünf Generationen vor Muhammad die Herrschaft über den Ort dem südarabischen Stamm der Chuzāʿa entwunden und den Kult um die Kaaba neu geordnet. So soll er zum Beispiel die Grenzen des Haram genau bestimmt und durch Steinmale markiert haben. Zu den kultischen, politischen und militärischen Ämtern, die Qusaiy nach der Überlieferung in Mekka eingeführt hatte, gehörten das 1. Pförternamt der Kaaba, 2. die Tränkung der Pilger, 3. die Bewirtung der Pilger, 4. der Vorsitz in der Ratsversammlung, 5. das Führen der Standarte, das mit dem Recht, Krieg zu erklären, verbunden war, und 6. der Oberbefehl im Krieg. Für die Ratsversammlung, in der die verschiedenen Clane der Quraisch vertreten waren, soll Qusaiy selbst in Mekka ein Versammlungshaus errichtet haben, das Dār an-Nadwa genannt und auch für die Abhaltung von Zeremonien (Eheschließungen, Beschneidungsfeiern usw.) verwendet wurde. Im frühen 7. Jahrhundert befanden sich diese Ämter in der Hand von Qusaiys Nachkommen: Während die ʿAbd ad-Dār das Pförtneramt der Kaaba innehatten und das Dār an-Nadwa erbten, besorgten die Banū Hāschim die Tränkung und Bewirtung der Mekka-Pilger; die ʿAbd Schams schließlich führten die Kriegsstandarte.

Nach außen hin verfügten die Quraisch über ein Netzwerk von Bündnissen mit anderen Stämmen auf der arabischen Halbinsel. Mit ihnen zusammen versuchten sie die Handelswege auf der arabischen Halbinsel unter ihre Kontrolle zu bringen. Hierbei gelangten sie manchmal auch in Konflikt mit anderen Stammesbündnissen wie zum Beispiel bei dem sogenannten Fidschār-Krieg (ca. 590). Er wurde deswegen so genannt weil die Kriegshandlungen während der Heiligen Monate (vgl. oben 1.3.3.) stattfanden, was ein Sakrileg (fiǧār) darstellte. Die wichtigsten Handelspartner von Mekka waren Südarabien, das in Mekka als „das Land zur Rechten“ (Yaman, daher unser Wort Jemen) bezeichnet wurde, und Syrien, „das Land zur Linken“ (Šaʾm). Die islamische Tradition überliefert im Zusammenhang mit der im Koran erwähnten „Reise des Sommers und des Winters“ (Q 106:2), dass die Quraisch jeweils im Sommer eine Karawanenreise in den Jemen und im Winter eine nach Syrien durchführten. Die Einführung dieser beiden jährlichen Karawanenreisen wird Hāschim, dem Vater der Banū Hāschim zugeschrieben. Gegen Ende des 6. Jahrhunderts waren die Banū Hāschim allerdings durch einen anderen quraischitischen Clan, die Machzūm, im Handel überrundet worden. Die Machzūm, die sich nicht auf Qusaiy zurückführten, erlangten zu dieser Zeit auch die politische Führung (siyāda) der Quraisch.

1.3.6. Der religiöse Wandel und die Hanīfen

Die Kultur der beiden spätantiken Großreiche hat auf verschiedenen Ebenenen auf das arabische Entstehungsmilieu des Islams eingewirkt. Besonders wichtig war hierbei der Bereich der Religion. Das Byzantinische Reich war eindeutig christlich ausgerichtet und betrieb eine aktive Politik zur Ausbreitung dieser Religion. Das Sassanidenreich war dagegen ein multireligiöser Staat. Der Zoroastrismus spielte zwar eine staatstragende Rolle, daneben gab es aber bedeutende andere religiöse Minderheiten, insbesondere Juden, Christen, Mandäer und Manichäer. Ähnlich groß war wohl auch die religiöse Vielfalt, die im Entstehungsmilieu des Islams herrschte. Dies geht aus einem Koranvers (Q 22:17) hervor, der die verschiedenen religiösen Gruppen auflistet, denen die Anhänger der von Muhammad neu begründeten Religion gegenüberstanden: neben den Anhängern des Heidentums werden Juden, Sabier, Christen und Zoroastrier (Madschūs) erwähnt. Auch das Konzept der Religion (Dīn) hat der Islam wahrscheinlich aus dem Sassanidenreich entlehnt. Es geht auf das mittelpersische Wort dēn zurück, mit dem im Sasanidenreich die verschiedenen Religionsgemeinschaften bezeichnet wurden.

Was die einzelnen Religionen anlangt, so waren Zoroastrier vor allem in den arabischen Vasallenstaaten des Sasanidenreiches im Irak, Bahrain, Oman und Jemen als Verwalter, Grundherren und Soldaten tätig. Das Judentum war besonders bei den Kinda in Südarabien sowie in den Oasen von Yathrib und Chaibar in Westarabien verbreitet. Ehe die beiden nichtjüdischen Stämme der Aus und Chazradsch aus Südarabien nach Yathrib einwanderten, sollen die Juden in dieser Stadt, in die später Muhammad mit seinen Anhängern auswanderte, sogar die Bevölkerungsmehrheit gebildet haben.

Das Christentum war bei mehreren Stämmen Zentralarabiens wie den Taiyi' und Hanīfa verbreitet, vor allem aber in Südarabien präsent. Nadschrān im nördlichen Jemen entwickelte sich unter dem Einfluss des christlichen Königreichs von Aksum zur heiligen Stadt der christlichen Araber. Etwa um 525 hatte ein aksumitisches Heer im heutigen Äthiopien den Jemen erobert. Der seit ca. 535 im Jemen herrschende aksumitische Vizekönig Abraha ließ an mehreren Orten Kirchen errichten, in seiner Hauptstadt Sanʿā erbaute er eine Kathedrale. Offensichtlich empfand er das heidnische Heiligtum von Mekka als Konkurrenz. Das lässt sich daran erkennen, dass er um die Mitte des 6. Jahrhunderts einen Feldzug unternahm, um dieses unter seine Kontrolle zu bekommen. Bei diesem Feldzug, der letztendlich scheiterte, soll er Elefanten mitgeführt haben. Das Ereignis war so bedeutend, dass die Araber nach diesem Jahr des Elefanten die Zeit datierten. Auch im Koran wird dieses Geschehen gespiegelt (vgl. Sure 105).

Technische Zeichnung der Kaaba mit dem nach Nordosten, also nach Jerusalem zeigenden Hatīm

Juden und Christen verbreiteten in dieser Zeit die Kenntnis der jüdisch-christlichen Überlieferung. Der Koran setzt bei seinem Publikum eine solche Kenntnis bereits voraus. So tauchen in ihm zahlreiche Gestalten des Alten Testaments auf wie Mose (Mūsā), Noach (Nūh), David (Dāwūd), Salomon (Sulaimān) und Jonas (Yūnus). Ihre Geschichten werden oft nur andeutungsweise wiedergegeben, so als ob den Hörern die Einzelheiten bereits bekannt wären. In der Kaaba von Mekka befanden sich nach dem Bericht der arabischen Historiker in vorislamischer Zeit Bilder von Abraham sowie von Jesus und Maria. Möglicherweise gab es an der Kaaba sogar einen christlichen Kult. Hierfür spricht, dass das Gebäude ursprünglich mit einer Apsis versehen war, die nach Jerusalem zeigte. Sie hat sich als ein Mauervorsprung, der als Hatīm bezeichnet wird, bis in die heutige Zeit erhalten.

Durch Juden- und Christentum fand in dieser Zeit auch der Monotheismus Eingang in die religiöse Vorstellungswelt der Araber. Der monotheistische Gott wurde in Südarabien unter den Namen ilahan sowie rḥmnan (von jüdisch-aramäisch raḥmānā) angerufen und in offiziellen Inschriften des Staates Himyar unter beiden Namen genannt. Beide Namen haben als Bezeichnung für den Einen Gott in etwas veränderter Form, Allāh (von al-ilāh „der Gott“) und ar-Rahmān, auch Eingang in den Islam gefunden (vgl. unten 2.2.2.). Hier besteht erkennbare Kontinuität zur Staatsreligion Altsüdarabiens. Allāh wurde in vorislamischer Zeit auch schon in Mekka verehrt, allerdings vorwiegend nicht als monotheistischer, sondern als henotheistischer Gott. Koranverse berichten davon, dass die Menschen in der Umgebung Muhammads die Dschinn auf eine Stufe mit ihm stellten und sie als seine Verwandten ansahen (Q 6:100; 37:158). Dem Koran ist außerdem zu entnehmen, dass die Gottheiten al-Lāt, Manāt und al-ʿUzzā von den Mekkanern als „Töchter Allāhs“ betrachtet wurden (vgl. Q 53:19f). Allāh hatte allerdings schon die Bedeutung eines Hochgottes, der die anderen Gottheiten überragt. Wenn die Beduinen nach Mekka zum Gebet kamen, riefen sie drei Mal Allāhu akbar („Allāh ist größer“) aus und machten damit deutlich, dass sie ihm die größte Macht unter den Gottheiten zumaßen. Diese Prädikationsformel ist in den Islam übernommen worden und wird Takbīr genannt.

Bildliche Umsetzung von Umaiyas Beschreibung der vier Thronträger in einer persischen Handschrift der Kosmographie von al-Qazwīnī (gest. 1283)

Im Koran wird gesagt, dass die religiöse Verkündung, dass Gott die Toten wiederauferwecke, bei den Zeitgenossen Erstaunen hervorrief (vgl. Q 56:47). Sie hielten ein jenseitiges Leben für unvorstellbar und sahen den Tod als etwas Endgültiges an (Q 45:24). Einzelne Personen verkündeten in dieser Zeit allerdings schon die Botschaft von der Auferstehung. So wird berichtet, dass der Prediger Quss ibn Sāʿida einst auf dem Markt von ʿUkāz in Anwesenheit des jungen Muhammad folgende Worte an die Menge gerichtet habe: „Ihr Leute, hört und behaltet im Gedächtnis! [...] Gott hat eine Religion, die ihm besser gefällt als diejenige, die ihr pflegt. Wieso sollten die Menschen sterben und nicht wiederkehren?“

Die religiöse Kultur Arabiens befand sich also schon am Vorabend des Islams im Umbruch. Auch in den Städten des Hidschāz gab es vor dem Auftreten Muhammads einzelne Menschen, die, obwohl keine Christen oder Juden, monotheistische Auffassungen vertraten. Sie werden in den arabischen Quellen als Hanīfen bezeichnet. Beispiele für diese Personengruppe sind der Dichter Umaiya ibn Abī s-Salt in at-Tā'if und Zaid ibn ʿAmr in Mekka. Von Umaiya wird überliefert, dass er in den Schriften von Juden und Christen las, alkoholische Getränke verbot, und das Auftreten eines Propheten unter den Arabern erwartete. Christlich-jüdischer Einfluss zeigt sich darin, dass er in seiner Dichtung auch Engel erwähnt. In einem seiner Gedichte beschreibt er vier Träger des Gottesthrons in Form der vier Evangelistensymbole. Da Muhammad diese Verse für wahr erklärt hat, sind sie Teil der islamischen Kosmologie geworden. Aus den von Zaid überlieferten Gedichten spricht starke Ablehnung gegenüber dem altarabischen Polytheismus. Er betrachtete sich als Anhänger der Religion Abrahams (dīn Ibrāhīm) und betete zur Kaaba als der Gebetsrichtung von Abraham und Ismael. An solche Vorstellungen wird auch im Koran angeknüpft, wo es heißt, dass Abraham auf Befehl Gottes das mekkanische Heiligtum für alle, die es umkreisen und dort zum Gebete stehen und niederknien, gereinigt habe (Q 22:26).

1.4. Weiterführende Literatur

  • Aziz Al-Azmeh: The Emergence of Islam in Late Antiquity: Allah and His People. Cambridge: Cambridge University Press 2014.
  • Meir Bravmann: The spiritual background of early Islam. Studies in Ancient Arab concepts. Leiden 1972.
  • Patricia Crone: Meccan trade and the rise of Islam. Princeton 1987.
  • Toufic Fahd: Le Panthéon de l’Arabie centrale à la veille de l’Hégire. Paris 1968.
  • Iwona Gajda: Le royaume de Himyar à l’époque monotheiste. Paris 2009.
  • Agnes Imhof: Religiöser Wandel und die Genese des Islam. Das Menschenbild altarabischer Panegyriker im 7. Jahrhundert. Würzburg: Ergon 2004.
  • M.J. Kister: „Labbayka, Allāhumma, Labbayka…' On a Monotheistic Aspect of a Jāhiliyya Practice” in Jerusalem Studies in Arabic and Islam 2 (1980): 33-57.
  • Tobias Nünlist: Dämonenglaube im Islam: eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung schriftlicher Quellen aus der vormodernen Zeit (600–1500). Berlin: De Gruyter 2015.
  • Otto Procksch: Über die Blutrache bei den vorislamischen Arabern und Mohammeds Stellung zu ihr. Leipzig: Teubner 1899. Digitalisat
  • Uri Rubin: „The Kaʿba: Aspects of its Ritual Functions and Position in Pre-Islamic and Early Islamic Times” in Jerusalem Studies in Arabic and Islam 13 (1986) 97-131. Digitalisat
  • Uri Rubin: „Ḥanīfiyya and Kaʿba: An Inquiry into the Arabian Pre-Islamic Background of dīn Ibrāhīm“ in Jerusalem Studies in Arabic and Islam 13 (1990) 85–112. Digitalisat
  • Julius Wellhausen: Reste arabischen Heidentums. 2. Aufl. Berlin: Reimer 1897. Digitalisat

1.5. Fragen

1. Geben Sie einen Überblick über die Geschichte des Begriffs „Islam“.

2. Beschreiben Sie, wie die vorislamische arabische Gesellschaft organisiert war.

3. Beschreiben Sie die religiöse Situation auf der arabischen Halbinsel in vorislamischer Zeit.

4. Geben Sie einen Überblick über das vorislamische Wallfahrtswesen auf der Arabischen Halbinsel.

5. Welche Bedeutung hatte die Kaaba im vorislamischen Arabien?

6. Erklären Sie die Bedeutung und Funktion von Nisba, Nasab und Kunya.

7. Erklären Sie, was Milchverwandtschaft ist.

8. Nennen und beschreiben Sie religiöse und magische Praktiken aus altarabischer Zeit, die Eingang in den Islam gefunden haben.

Einzelnachweise

  1. Pew Research Center: 10 Countries With the Largest Muslim Populations, 2010 and 2050 2. April 2015.