Projekt:Fellow-Programm Freies Wissen Einreichungen 2019/Europäische Heimatforschung mit Radfahrerwissen/Fragen gibt es überall

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Heimatforschung in Europa: Die Heimat der anderen, oder: Fragen gibt es überall[Bearbeiten]

Europa ist heute eine Antwort auf viele Herausforderungen, aber: Wie lautet die Frage?

Die Idee für Europäische Heimatforschung entstand in Estland auf einer Landstraße Richtung Lihula und Saaremaa. Wegen eines digitalisierten Tourenbuchs für Radfahrer brachte mich im Sommer 2018 eine Fähre nach Helsinki und dann eine zweite nach Tallinn.[1]

Mit dem Fellow-Programm Freies Wissen-Projekt More than cycling: Europäische Heimatforschung – ein Ansatz für offene Daten und Narrative, samt Fernwehforschung und Radfahrerwissen fuhr ich im Januar 2020 erneut nach Norden. Mein Zwischenbericht für das laufende Fellow-Programm entstand auf der Ostsee. In diesem Post möchte ich skizzieren, wo wir stehen: mit Forschungsfragen in Europa.

More than cycling: European Heimatforschung. Forum Citizen Science 2019, Münster. (Q68542078)

Der jüngste Definitionsversuch für das einerseits traditionsreiche und andererseits - für mich - neue Forschungsthema Heimatforschung entstand kürzlich in Valga - der Zwillingsstadt von Valka - an der estnisch-lettischen Grenze:

Europäische Heimatforschung ist die Suche nach Narrativen – erzählt anhand offener Daten, offen dokumentierter Forschungsergebnisse und digitalisierter Fragmente europäischer Geschichten.[2]

Heimatforschungforschung[Bearbeiten]

Heimatforschung ist geprägt vom Klischee ‘alter weißer Männer’, die - meist schon in Rente - freie Zeit mit manchmal nerdiger Leidenschaft ihrer näheren Umgebung widmen: der Heimat, einem Herzensthema, der Ortsgeschichte ihrer Stadt, ihres Dorfes, der umliegenden Gegend oder eines Stadtteils. Gibt es Heimatforscherinnen? Auch junge? Bestimmt! Für die Heimatforschung sei das - die Jugend - eine große Herausforderung, heißt es immer wieder.[3] Analogien zu Wikimedia-Communities sind augenfällig und vielleicht sind diese Herausforderungen forschenden Nachwuchs zu gewinnen auch Gegenstand für neue Forschungsfragen!?

Gibt es Forschung zu Heimatforschung – sogenannte Heimatforschungforschung? Wenig, auch wenn Konzepte von Heimat bspw. in der Literaturwissenschaft Interesse wecken und rege analysiert werden.[4] Mehr empirische Studien zu Akteuren und Themen in den Bürgerwissenschaften müssten Heimatforschung mit betrachten. Ein Überblick über die Heimatforschungslandschaften Europas “ist ein Desideratum”, weitgehend eine Leerstelle.

Die These: Heimatforschung ist weit verbreitete Praxis und im Grunde ein universelles Bedürfnis. Menschen erforschen ihr Umfeld und ihre Geschichte, Wurzeln, Zusammenhänge und Geschichten. Wie sie dies tun, das mag sich unterscheiden. Ortschroniken und -museen in Schweden, Poster in offenen Kirchen in Estland, Heimatvereine in sächsischen Dörfern oder Stadtmuseen publizieren, pflegen Ausstellungen: sie erzählen “von früher”. Sicher auch in Italien, Spanien und Griechenland. Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede gibt es dabei? Sind Heimatforscher:innen über ihre Heimatregion hinaus organisiert, mglw. In Verbänden auf nationaler Ebene, mit einer Lobbyvertretung in Hauptstädten und in Brüssel? Oder noch nicht? Wieviel Heimatforschung gibt es in Europa?[5] Sind wesentliche Teile der Wikipedia, der Transkriptionen in Wikisource und deren Items in Wikidata im Grunde Produkte von und für Heimatforschung? Das liegt nahe.

More than cycling[Bearbeiten]

In Reval wurde 1897 das Tourenbuch von Estland gedruckt und 2018 transkribiert in Wikisource. Im selben Jahr erschien in Riga der Baltische Radfahrer-Kalender von 1897, inzwischen digitalisiert von der Nationalbibliothek Lettlands. Der Gedanke auf estnischen Landstraßen zuvor war ein einfacher: Das ist Heimatforschung mit einem historischen Tourenbuch durch Estland zu fahren; keine Heimatforschung @home, sondern europäische Heimatforschung eines deutschen Nicht-Esten in Estland.

Für mich als einer, der seit der Kindheit in mehreren Heimaten leben durfte, ist die Verbindung von Begriffen wie Europa und Heimat eng. Gedanklich sind das nur kurze Wege: die DDR, Genf, Königs Wusterhausen, Chile, Estland und Livland, Schottland, el Pais Basco, Navarra ... Europäische Heimatforschung ist deshalb für mich nicht einfach nur ein Puzzle im “Europa der Regionen”. Das auch. (Zumal die historischen Tourenbücher für Radfahrer genau dies sein können: ein Puzzle Europas). Heimat gibt es für mich nur in Mehrzahl: Heimaten – und diese in europäischen Zusammenhängen.

Ein Ergebnis der neuerlichen Recherchen in Tallinn ist folgender Fund: Am 20. Mai 1897 erschien in der Revalschen Zeitung ein vertikal gesetztes Inserat für das damals gerade erschienene Tourenbuch von Ehstland. War dieser Anzeigenplatz an dieser Stelle in diesem Format noch frei und deshalb besonders günstig? Gab es weitere? Ich vermute: es blieb bei diesem einen Inserat für das neue Tourenbuch von Estland.

Revalsche Zeitung, Dienstag, den 20. Mai 1897, Anzeigen, z.B.: Inserat für das Tourenbuch von Ehstland.

Die Revalsche Zeitung wurde bisher nur teilweise digitalisiert. Für die Mikrofilme ist ein Besuch vor Ort nötig, in der Estnischen Nationalbibliothek. More than cycling und Radfahrerwissen im Projekttitel sind insofern vor allem meine Ausgangspunkte und inzwischen Beispielthema für Praktiken i.S.v. Open Science und der Suche nach Narrativen in der Heimatforschung in Europa. Es gibt viele andere Themen, die geeignet wären: Speisen und Getränke, Flucht und Vertreibung, Reisen, Typen: Persönlichkeiten, oder Sport. Über Anekdoten hinaus lohnt es sich, Gemeinsamkeiten (mit Unterschieden) zu suchen, zu finden und davon zu erzählen.

Verbindungen von openGLAM mit Open Citizen Science (Q66771716) sind dafür hilfreich. Und mit Linked Open Storytelling (Q66631860) könnten wir die Methoden für digital verknüpftes Erzählen bezeichnen. Beispiele stecken in einer ersten Methodensammlung, die bisher nebenbei entsteht.

Monochromes Schreiben[Bearbeiten]

Eine Herausforderung besteht nun darin über Europäische Heimatforschung (Q64618134) zu schreiben: mit Links und digitalisierten Quellen, mit Verweisen auf Orte und Personen, Texte, Bilder, Wikipedia-Artikel, Datenobjekte oder Blogposts – mit und ohne Permalink oder Übersetzung[6].

Historisches Radfahrerwissen war mein Ausgangspunkt für Heimatforschung. “Das Thema ist größer”, war ein Feedback der Mentorinnen beim Auftaktwochenende unseres Fellowprogramms. Das ahnte ich; die Projektziele haben sich verändert, auch durch das Reisen: monochromes Schreiben!? Dieser Gedanke stammt aus der Galerie von Edita Suchockytė in Vilnius. Auch diese Begegnungen prägen Forschung; sei es mit den Mitteln der Kunst, oder in Markthallen, beim Bier aus handwerklicher Brauerei oder durch estnische Blutwurst – will sagen: Reisen hilft mir beim Denken und der Alltag unterwegs ist wichtig für die Forschung.

Drum: das Spurenbuch für Radfahrer, von dem ich seit ein paar Jahren träume, wird als Büchlein für Radfahrer kaum Heimatforschungforschung enthalten. Dafür aber: Beobachtungen, Typen sowie Details, z.B. vektorisierte Veloclichés und deren Quellen. Für die Europäische Heimatforschung könnte ein Sammelband eine angemessene Form sein: eine Sammlung von Sichtweisen und Analysen auf Heimatforschung aus dem Blickwinkel Europa.

Projektlogo Die Datenlaube, Gestaltung: Christian Erlinger, Basis: Titelbild von Die Gartenlaube, 1853. Nr. 1.

Und - wir sind hier auch bei Wünsch Dir was! - #DieDatenlaube, der bibliografische Nebenschauplatz meines Open Science-Projekts, hätte auch einen Sammelband verdient, irgendwann. Denn Die Gartenlaube steckt voller Geschichten – europäischen und solchen mit den deutschen Perspektiven des 19. Jahrhunderts, heute transkribiert in Wikisource und - Item für Item - beschrieben in Wikidata. Auch das ist teilweise Heimatforschung, aber mit anderen Mitteln.

CfP steht sonst für Call for Papers. Im Follow-Programm Freies Wissen werde ich die Abkürzung für Call for Publisher nutzen: für Open Access-Werke, für Texte und Bilder, Links und Datenobjekte – im Wissen darum, dass das Publikum europäischer Heimatforschung gedruckte Werke gewohnt ist und schätzt - gestaltete Publikationen - häufig noch im Selbstverlag erstellt.

Welches Problem löst Europäische Heimatforschung?, läßt sich mit Armin Nassehi fragen. Eine erste Antwort: Europäische Heimatforschung ist ein Versuch im Feld der Heimatforschung, Landeskunde und Regionalgeschichte offene Werkzeuge und Methoden bekannter zu machen.

Und der Versuch davon zu erzählen! Vielleicht aber auch mehr. Die Idee: Heimatforschung und akademische Landeskunde könnten noch enger zusammenarbeiten: Open Science und Open Citizen Science sind dafür die Scharniere.[7] Im Zusammenspiel erzwingen beide Ansätze mehr Reflektion. Durch offene Daten, freies Wissen und die Beteiligung Dritter - von Profis und Laien - wird Wissenschaft noch öfter gezwungen, Dogmen, Methoden, Forschungsergebnisse und Publikationen immer wieder in Frage zu stellen. Fragen gibt es überall.[8]


Jens Bemme, Entwurf für blog.wikimedia.de, 27. Februar 2020, hier als Preprint am 22. April 2020.

Referenzen[Bearbeiten]

  1. Jens Bemme: Altes Radtourenbuch aus Estland: von Bierbude zu Bierbude wie 1897 : Fernwehforschung in den Ostseeprovinzen, urn:nbn:de:bsz:14-qucosa2-319963, nordisch.info, 2018.
  2. Jens Bemme: Heimatforschung + [ [ Wikidata+Wiki*pedia*source+openGLAM ] ] + Europa, http://jensbemme.de/2020/01/heimatforschung-wikidata-wikipediasource-openglam-europa/, Valga, 2020-
  3. Jens Bemme: Keine Heimat ohne junge Heimatforscherinnen? https://blog.slub-dresden.de/beitrag/2016/01/05/keine-heimat-ohne-junge-heimatforscherinnen/, SLUBlog, 2016.
  4. Tagungsbericht: Heimat? Zwischenrufe aus einer landeskundlichen Perspektive, 07.11.2019 – 08.11.2019 Wesel, in: H-Soz-Kult, 20. April 2020, <www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-8737>.
  5. Jens Bemme: Heimatforschung in Europa – ein Aufruf, oder: Call for Participation, https://saxorum.hypotheses.org/2597, Saxorum (Q65665320), 17. Juli 2019.
  6. Jens Bemme: Vana jalgratturite reisijuht Eestist: õlleputkast õlleputkani nagu aastal 1897 :: Rännukihust ajendatud uurimistöö Läänemereprovintsides, urn:nbn:de:bsz:14-qucosa2-320165, nordisch.info, 2018.
  7. Jens Bemme: Spekulationen: Die Zukunft der Bürgerforschung für Sachsen, https://saxorum.hypotheses.org/2908, Saxorum, 12.. Dezember 2019.
  8. Jens Bemme: Ein ‚Merkblatt‘ für die eigene Forschung im Sommer: Fragen gibt es überall, SLUBlog, 30. Juli 2018.


Dieser Text hat das Wikidata-Item (Q91420305). CC BY 4.0