Projekt:Klassifikation der Expressionen und Ausdrucksverhalten/Grundlagen der KEA (methodisch)/Methoden der Dekomposition
Status: Materialsammlungsphase
Einleitung
[Bearbeiten]Die verbreitete falsche Ansicht, jedes Verhalten sei Ausdruck, ist bereits hinreichend ausgeräumt worden. Auch die Ansicht, dass alle organismischen Bewegungen ausdruckshaft seien oder im kommunikativen Sinn interpretiert werden können, wird von der Ausdruckspsychologie nicht verteten. Wir haben auch gesehen, dass es naiv ist, Ausdrücke im Sinne einer immer gleichen Abfolge von Muskelbewegungen beschreiben zu wollen oder von einem eigenständigen muskulären Ablauf auszugehen. Nur in seltenen Spezialfällen im mimischen Bereich kann diese Beschreibung für manche Zwecke zufriedenstellend sein, aber sie versagt bei den meisten Mienen, bei allen Gesten, bei allen Memoausdrücken und auch bei den Phonen.
Es wurde auch begründet, dass Ausdrücke nur unzureichend als Verhaltensweisen beschrieben werden können, die sich phasisch mit Nicht-Ausdrücken abwechseln, sondern dass sie Muster sind, die das übrige Verhalten modulieren und keine „reine Strecke“ haben, keine „Anfänge“ und kein „Ende“. Ausdrücke beginnen, wenn komplexe Bewegungen plötzlich in musterhafte Tendenzen „einschwenken“ und diese eine kurze Weile aufrecht erhalten werden, um schließlich zu verschwinden oder in andere Muster über zu gehen. An die Stelle der Phasischen Beschreibung sollte künftig die Beschreibung eines Ausdruckmusters gesetzt werden. Aber auch eine ganzheitliche Betrachtung[1] des Ausdrucksverhaltens, wie sie in der Populärliteratur oder bei verkürzten Darstellungen gebraucht wird, ist wissenschaftlich methodisch nicht sinnvoll.[2] Sie bringt zudem weder konzeptionelle noch praktische Vorteile mit sich.
Weil menschliche Verhaltensweisen überaus komplex sind, kann es notwendig sein, es in Bestandteile zu zerlegen, die klein und kompakt genug sind, um sie verstehen und sortieren zu können. Der hier vorliegende Teil der Arbeit behandelt Konzepte, wie sich allgemein irgend ein Verhalten, speziell das Ausdrucksverhalten dekomponieren lässt. Im ersten Abschnitt dekomponieren wir das Gesamtverhalten auf kleinere Eiheiten, in den anderen Abschnitten werden weitere Dekompositionsschritte vorgeschlagen.
- Merke: Als Dekomposition von Verhaltensweisen bezeichne man ein methodisches Konzept zur Zerlegung von komplexen Abläufen in einfachere Einheiten. Diese Vorgehensweise ist keine Theorie oder Hypothese und kann nicht „bewiesen“ werden. Man kann nur darüber diskutieren, für welchen Zweck dieses Vorgehen sinnvoll ist.
Folgende Ansätze für die Dekomposition werden hier vorgeschlagen:
Zunächst soll das Konzept der Kombinationsmenge eingeführt werden.
Die Kombinationsmenge
[Bearbeiten]Genau betrachtet werden alle organismischen Bewegungen durch diskrete Nervenimpulse erzeugt, die nach dem Alles-oder-nichts-Prinzip von w:Aktionspotentialen übertragen werden. Aufgrund der sehr hohen Komplexität des Nervensystems, der redundaten Verarbeitung und auch der Erregungs-Summation erscheinen Bewegung analog in beliebig feinen Graden möglich zu sein. Aber das ist nicht der Fall. In Wirklichkeit sind Bewegungen gestuft. Die Stufen sind allerdings sehr klein und können in hierarchische Ordnungen gebracht werden.
Diese hierarchische Ordnung ist sehr grob und soll uns hier nicht weiter beschäftigen. Erschwerend kommt die Individualität hinzu, denn die Vorgänge laufen bei jedem Menschen etwas anders ab. Die Alphamotorik wird zudem meist durch zentrale Prozesse erzeugt, beeinflusst oder moduliert. Diese w:motocortikalen Prozesse sind bisher weitgehend unverstanden und können beispielsweise primärmotorisch, assoziationsmotorisch oder supplementärmotorisch sein, aber auch aus dem w:Cerebellum oder den w:Basalganglien stammen. Die Distinktheit der Verarbeitung ist auf höheren Ebenen im Gehirn schwer messbar, aber auf Rückenmarksebene lässt sie sich leicht beweisen. Durch jeden Querschnitt des Rückenmarks laufen zu jedem Zeitpunkt diskrete Signale. Daraus folgt:
- Merke: Verhaltensweisen sind nicht analog. Sie sind diskret und kombinieren sich mit einander auf verschiedenen hierarchischen Ebenen. Daraus etsteht das Konzept der Kombinationsmenge. Diese ist sehr groß und übersteigt das menschliche Vorstellungsvermögen bei weitem.
Nun stellt sich die Frage, wie diese riesige Menge an möglichen Bewegungskombinationen so weit unterteilt und strukturiert werden soll, dass ihre Einheiten einfach genug sind, um mit menschlichen Begrifen beschrieben (oder nachgestaltet) werden zu können. Das beinhaltet der Begriff Dekomposition. So betrachtet erscheint das Verhalten einer Person nicht monolithisch, sondern besteht aus Anteilen verschiedener Bewegungsklassen, die auch dann getrennt betrachtet werden sollten, wenn sie gleichzeitig und miteinander verflochten auftreten.
Für ausdruckspsychologische Zwecke sind die kleinen motorischen Einheiten nicht wichtig. Fasst man sie zusammen und abstrahiert man auf strukturierte, musterhaft ablaufende Bewegungen wie etwa Reflexe oder vegetative Vorgänge auf Verhaltensebene, kann man die Kombinationsmenge bereits soweit einschränken, dass man in ihr Bereiche definieren kann, die mit menschlichen Begriffen zu bezeichnen sind.
Beispiel: Der w:Schluckreflex, den man optisch am Hals einer essenden Person entdecken kann, bedient sich genau definierter Muskeln und einfacher Erregungskreise. Er läuft stets auf die selbe Weise ab, die wenig Spielraum für beigesellte andere Bewegungen läßt. Man kann alle an diesem Reflex beteiligte Bewegungen in einen Topf werfen und abstrakt als „Schlucken“ bezeichnen. Aber bereits diese einfache Bewegung kann es in sich haben, denn manchmal kombiniert eine Personen zusätzlich Bewegungen hinzu, mit denen sie demonstrativ anzeigt, dass sie jetzt gerade etwas schluckt. Das kommt beispielsweise bei Personen vor, die in einer autoritären Situation dazu angehalten werden, etwas zu essen. Man kann dann manchmal sehen, dass die Person demonstrative Schluckbewegungen vollführt, d.h. neue Bewegungsanteile hinzu nimmt um anzudeuten, beim Essen besonders artig zu sein und keine weitere Strenge zu verdienen.[3] Dem demonstrativen Schlucken kann ein nachfolgendes Öffnen des Mundes und Vorzeigen der Zunge folgen, womit bewiesen wird, dass die Speise „weg“ ist. In diesem Fall liegen bereits Bewegungen dreier Bewegungsklassen vor, nämlich einer Reflexbewegung (Schlucken), einer demonstrativen ausdruckstragenden Zweckbewegung[4] und einer Zweckbewegung (Zungezeigen).
Die Kombinationsmenge kann auf fassbare Einheiten verringert werden, wenn man komplexes Gesamtverhalten auf abstrakte Bewegungsklassen dekomponiert. Der folgende Abschnitt behandelt einige Möglichkeiten und zeigt eine Liste der Bewegungsklassen mit ihren Definitionen.
Dekomposition von Gesamtverhalten
[Bearbeiten]Als Gesamtverhalten bezeichne man das Verhalten einer Person, das sie in einem bestimmten Zeitraum (z.B. einer Minute) mit ihrem ganzen Körper zeigt. Dazu gehören sämtliche Bewegungen, gleichgültig wo und wie sie ausgeführt werden. Man kann Gesamtverhalten methodisch durch Filmen erfassen. Bei dieser Erfassung werden Sequenzen und Varianzanteile von Bewegungen verschiedener Klassen nicht von einander getrennt.
Wird Verhalten durch strukturierte Beobachtung erfasst, wird bereits eine Dekomposition vorgenommen. Dabei werden nur die in der Struktur des Beobachtugsdesigns festgelegten Aspekte (Komponenten des Gesamtverhaltens) erfasst.[5]
Die Bewegungsklassen werden im Abschnitt Grundkonzept der Bewegungsklassen erläutert.
Dekompositionsmethoden
[Bearbeiten]Die im Folgenden dargestellen Dekompositionsmethoden können kombiniert angewendet werden. Sie werden an den Zweck angepasst.
Sequentielle Dekomposition
[Bearbeiten]Komplexe Bewegungsabläufe kann man unter dem Blickwinkel ihrer zeitlichen Abfolge dekomponieren. Es kommt dann zuerst eine Bewegung, dann schließt sich die nächste Bewegung an und immer so fort, bis der gesamte Bewegungsablauf vollständig beschrieben ist. Das ist beispielsweise sinnvoll, wenn alle interessierenden Bewegungen einer gemeinsamen Bewegungsklasse angehören.
Als stark vereinfachtes Beispiel' kann hier ein von einem Felsblock herab springender Sportler dienen, der gefilmt wird, damit seine Bewegungen auf eine Figur in einem Computerspiel übertragen werden können. Man interessiert sich nur für den zeitlichen Ablauf, bei dem überwiegend Nicht-Ausdrucksverhalten auftreten. Im Anlauf, Absprung und bei der Landung werden polysynaptische Reflexbewegungen ausgeführt, von denen bekannt ist, dass sie trainiert werden können. Sie sind immer zweckhaft. Während des Sprungs treten noch Umstandsbewegungen durch den physikalischen Fall auf, der vom Sportler als solcher hingenommen werden muss. Zudem treten einige Mitbewegungen auf, durch die die genannten Reflexbewegungen von ihrem biomechanischen Optimum abweichen, denn kein Mensch kann so perfekt springen, dass es physisch optimal wäre und zum bestmöglichen Sprungergebnis führt.
All diese Bewegungen laufen nach einander ab und man kann sie als Sequenzen voneinander trennen. Ein Computerprogramm, das einen solchen Bewegungsablauf nachgestalten soll, kann die Sequenzen getrennt behandeln, wobei jede Sequenz als Vorgabe für die Berechnung der nachfolgenden Sequenz dienen kann.Für Bewegungsklassen gelten jeweils andere physiologische und biopsychologische Gesetzmäßigkeiten, die bei der Berechnung dieser einander abfolgenden Sequenzen beachtet werden müssen. Es kommen beispielsweise niemals Sequenzen vor, die der Sportler beim Hinsetzen auf einen Stuhl zeigen würde. Es kommt auch nicht vor, das der zeitliche Ablauf der Komponenten nicht miteinander überein stimmt. Die Stereotypie der Lauf- und Sprungbewegungen ist ihre Gesetzmäßigkeit und sie ist relativ einfach zu verstehen. Deshalb können Computerfiguren heute schon sehr gut laufen und springen. Das ist bei Ausdrucksverhalten ganz anders, denn sie lassen sich nur bedingt sequentiell zerlegen, weil sie viel komplexere Gesetzmäßigkeiten haben, die sich zudem von Ausdrucksklasse zu Ausdrucksklasse deutlich unterscheiden und im Verhalten miteinander „konkurrieren“. Sowohl Verständnis, als auch Simulation der Vorgänge ist einfacher, wenn es sich nur um Bewegungen einer Klasse handelt, denn dann müssen weniger Gesetzmäßigkeiten beachtet werden und zudem tritt kein Fall auf, bei dem sie sich gegeneinander durchsetzen müssen.
Auch im medizinisch diagnostischen Bereich werden diese relativ einfachen Gesetzmäßigkeiten des reflektorischen Bewegungsappparats vom Mediziner intuitiv verwendet, um durch sequentielle Zerlegung von Bewegungsmustern z.B. w:Ataxien erkennen zu können. Hier kann auch der Laie schon nach kurzer Anleitung erkennen, was ein regulär ausgeführtes Verhalten kennzeichnet und woran Abweichungen erkennbar sind.
Schwerer einsetzbar ist die sequentielle Zerlegung, wenn Willkürmotorik beteiligt ist, also planbare Zweckbewegungen vorliegen, die in ihrer Ausführung freier sind. Wenn eine Person dabei gefilmt wird, wie sie ein Butterbrot isst, können die dabei beobachtbaren Bewegungen nur noch bedingt sequentiell zerlegt werden. Jeder isst sein Brot anders und es können bereits ausdruckstragende oder direkt ausdruckshafte Bewegungen auftreten. Obwohl fast alle der möglichen Essweisen zu einem befriedigenden Ergebnis führen, kann man doch auf ziemlich ungewöhnliche Weise essen. Ein Computerprogramm, dass eine essende Figur simulieren soll, hat viel mehr Freiheitsgrade. Es ist eingeschränkt auf die Benutzung von Hand und Arm, aber die sonstigen Bewegungen sind frei. Auch diagnostisch lässt sich aus der sequentiellen Reihenfolge der Einzelbewegungen nicht mehr viel entnehmen, sofern sie nicht grob unsinnig oder auf eine pathologische Weise verändert sind. Die Willkürmotori folgt anderen Gesetzmäßigkeiten, die vor allem auf den Zweck gerichtet, also final auf einen zu erreichenden Zielzustand definiert sind.
Ausdrucksverhalten ist sequentiell schwer zu zerlegen. Das kommt beispielsweise daher, weil sich verschiedene Ausdrücke nach unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten richten und im Verhalten mit einander „konkurrieren“. Sie kombinieren sich mit einander, aber nicht zu jedem Zeitpunkt und zu jeder Gegebenheit auf die selbe Weise. Sie kombinieren sich aber auch mit Zweckbewegungen unterschiedlich. Beispielsweise ordnen sich Mundmienen oft, aber nicht immer den Bewegungen unter, die der Orbicularis oris benötigt, um die Phoneme zu erzeugen. Eine Mundmiene ist deshalb bei einer sprechenden Person nur noch erschwert und unter Berücksichtigung der Begleitumstände zu erkennen. Außerdem tendieren bestimmte Ausdrucksmuster dazu, sich im Ausdrucksverhalten möglichst aufdringlich zu zeigen und verdrängen im zeitlichen Fluss die übrigen Mienen. Eine sequentielle Zerlegung des Ausdrucksverhaltens ist für viele Fälle, insbesondere bei den Mienen nicht sinnvoll. Aber auch bei den Gesten ist es schwer, wenn sie beispielsweise auf andere Bewegungen moduliert sind. Hier ist die Dekomposition auf Anteile im Gesamtverhalten erfolgreicher. Für viele Anwendungen reicht der einmalige Nachweis eines Ausdrucks, um auf das Vorliegen seines psychischen Hintergrunds schließen zu können.
Dekomposition in Varianzanteile
[Bearbeiten]Der Begriff „Varianzanteil“ soll hier verwendet werden, weil er verdeutlicht, dass sich Verhaltensweisen verschiedener Bewegungskassen im Gesamtverhalten mit einander kombinieren und so zur Gesamtvarianz beitragen. Diese Dekompositionsmethode betrachtet nicht die zeitlich ablaufenden Sequenzen, sondern (mehrere) Bestandteile des Verhaltens innerhalb eines Zeitraums. Jeder Bestandteil kann einmalig oder in Folge gehäuft auftreten und gleichzeitig mit anderen auftreten oder sich alternierend abwechseln.
Man kann beispielsweise Action Units auszählen und ihren Anteil am Gesamtverhalten bestimmen. Eine Methode, den Anteil eines Ausdrucksmusters zu bestimmen, gibt es bis heute nicht. Das hängt damit zusammen, dass die Ausdrucksmuster als solche nicht empirisch definiert sind und dass man die Gesetzmäßigkeiten, mit denen sie sich auf das übrige Verhalten modulieren, nicht kennt. Sicher ist nur, dass es gesetzmäßig funktionierende Ausdrucksmuster geben muss, da andernfalls ein sinnhaftes und verstehbares Ausdrucksverhalten überhaupt nicht existieren würde.
Kommen wir zurück auf das Beispiel des springenden Sportlers aus dem vorhergehenden Abschnitt, das dort stark vereinfacht wurde. Tatsächlich zeigt der Sportler nicht nur sequentiell zerlegbare Bewegungsabläufe, sondern auch solche, die über alle Sequenzen auftreten. Als vegetative Ausdruckserscheinungen dürfte sich erhöhter Blutdruck mit seinen peripherphysiologischen Korrelaten zeigen, sicher auch Gesichtsausdrücke, die den Sprung begleiten, vielleicht Willensausdrücke, Anspannung oder Konzentrationsmienen. Diese Bewegungen müssten von einem Computerprogramm über viele Sequenzen hinweg berechnet werden, aber sie machen zu jedem Zeitabschnitt nur einen Teil der Bewegungen aus.
Auch Nicht-Ausdrücke können in Variananteile zerlegt werden. Wenn beispielsweise ein ungeübter Springer mit Herzklopfen irgendwo herunter springt, wird er andere, meist stärkere Mitbewegungen zeigen als jemand, der die Springerei gewöhnt ist und sich leichter tut. Die Mitbewegungen werden beim ungeübten Springer eine höhere Varianz eintragen, weil er sich weiter entfernt vom biomechanischen Optimum bewegt als ein geübter Sportler. Durch die Zerlegung in Varianzanteile kann man etwas über den Trainingsstand des Springers aussagen.
Die Zerlegung in Varianzanteile ist erschwert bei Bewegungen, die gemeinsam dieselben Muskelgruppen verwenden, wie etwa das Abstellen eines Trinkbechers, der demonstrativ etwas auf den Tisch geklopft wird, um damit anzudeuten, dass er leer ist und dass nachgeschenkt werden soll. Diesen Bewegungsablauf kann man überhaupt nur über verschiedene Varianzanteile beschreiben, da das bloße Abstellen eine planbare Zweckbewegung ist, das heftigere Ausführen aber eine ausdruckstragende Zweckbewegung. Letztere ist zweckhaft, hat aber bereits Anteile von Ausdrücken, in diesem Fall einer Memogeste. Wie soll man eine solche Bewegung dekomponieren, die nur als eine eigenwillige individudelle Form des „Becherabstellens“ erscheint?
Muskeln führen keine Bewegungen aus, sondern bleiben immer am selben Ort und „zucken“. Sie erzeugen Spannungen, die an Knochen oder Geweben ziehen können. Diese Spannungen sind natürlich nicht immer und bei jeder Person gleichmäßig sondern variieren über eine Vielzahl von Faktoren. Sie weisen von Haus aus eine Varianz auf, die von individuellen Merkmalen, Situations- und Umgebungsumständen abhängt, aber vor dem Hintergrund dieser Faktoren immer realistisch und ökonomisch bleibt. Zerlegt man die Muskelspannung in Anteile, wird man Zweckspannungen ausmachen können, d.h. muskuläre Spannung, die allein geeignet wären, das zweckmäßige Ziel einer Bewegung zu erreichen. Es ist jener Varianzanteil der Bewegung, der tatsächlich zum Abstellen des Bechers benötigt würde. Alle darüber hinaus gehende Spannungen können durch die Zweckbewegung nicht mehr plausibel erklärt werden. Darin könnte man die Ausdrucksspannungen sehen, die sich auf die Zweckspannungen legen und diese modifizieren. Die heftige Endbewegung beim Abstellen des Bechers würde dann über die Zweckspannung hinaus kraftvoller ausgeführt, d.h. die Gesamtbewegung verläßt ihr biomechanisches Optimum.[6]
- Merke: Ausdrucksvarianz ist körperlicher Mehraufwand, der nicht durch den Zweck einer Handlung erklärt werden kann. Dieser Aufwand wirkt ohne eine (kommunikative, ausdruckspsychologische) Begründung pathologisch.
Muskelspannungen sind methodisch schwer zugänglich. Man kann den Mehraufwand aber auch anders beobachten und nachweisen. Im klinischen Umfeld reicht dem Mediziner oft die Erfahrung aus, um erkennen zu können, dass einer beobachtten Verhltnsweise mehr anhaftet als reine Zweckbewegungen. Wenn man in der Klinik gezielt Augenmerk auf diese Umstände richtet, wird man viel über die Person erfahren können. Einige Tips für die unstrukturierte Beobachtung werden im Katalog der KEA für jeden Ausdruck gegeben.
Auch bei der Simulation (Komposition) von Ausdrucksverhalten lässt sich die Varianzzerlegung nutzen. Wir haben oben gesehen, dass die Berechnung von Zweckbewegungen sehr viel einfacher ist, weil dafür lediglich die menschliche Physiologie bekannt sein muss, ohne psychische oder verhaltensmäßige Gesetzmäßigkeiten berücksichtigen zu müssen. Die Bewegungssequenzen eines Avatars, der sich rein nach biomechanischen Optima bewegt und alles perfekt ausführt (d.h. den Trinkbecher mit genau jener Kraft auf den Tisch stellt, die dessen Gewicht erfordert), müssten dann mit weiterer Varianz „verunreinigt“ werden. Und zwar so, wie dies ein ausdruckssteuernder Programmteil regelt, der die entsprechenden Gesetzmäßigkeiten repräsentiert. Ausdruckssteuernde Programmteile für Mitbewegungen könnten dann im Sinne einer allgemeinen, zufälligen Variation verunreinigen, während Programmteile für Genoausdrücke Musterabläufe aufzwingen. Dies könnte zu neuen, bisher nicht erreichten Qualitäten führen, die in der subtilen Tiefe der menschlichen Bewegungen liegen. So könnte dann beispielsweise ein Bewegungsablauf, bei dem ein NPC[7] versehentlich eine Vase herunterwirft, durch Aufmodulation von Zweckspannung in das Bewegngsbild einer hinterhältig-versteckten Aggression umgewandelt werden, bei der der NPC die Vase absichtlich zerschmettert, dies aber als Versehen tarnen will. Der Spieler kann das dann anhand der Dynamik der Armbewegung erkennen und wird dann Ungeschicktheit von Absicht unterscheiden können, ebenso, wie er es im realen Leben bei seinen Mitmenschen vermag. Die Dekomposition von Bewegungen - ob in der vorgestellten oder einer anderen Form - stellt m.E. eine unabdingbare Voraussetzung für die Programmierung von photorealistischen Avataren dar.
Dekomposition von Gesichtsausdrücken auf Action Units (FACS)
[Bearbeiten]Hauptkapitel: Begriffsbestimmung FACS
Gesichtsausdrücke sind sehr komplex und werden durch unzählige Muskeln zustande gebracht, die teilweise in mehreren Schichten über einander liegen und auch durch verschiedene Nerven angesteuert werden. Mimische Abläufe haben zudem immer eine zeitliche Dimension und sind dynamisch und kombinatorisch. Die Erscheinungen sind so vielfältig und kompliziert, dass man sie mit Worten nur schwer beschreiben kann. Auch die Übersetzung von verbalen Ausdrucksbeschreibungen in eine andere Sprache ist sehr schwer bis unmöglich.
Als Dekomposition bezeichne man in der Ausdruckspsychologie die Zerlegung von komplexen Vorgängen in kleinere Einheiten. Das FACS ist demnach eine Dekompositionsmethode. Mit ihm können sichtbare Veränderungen in der Textur des menschlichen Gesichts beschrieben werden. Diesen Veränderungen werden nach strengen Regeln Schlüsselwerte zugewiesen, die Action Units (AU). Dadurch wird die hohe Informationsmenge, die ein menschliches Gesicht über eine bestimmte Zeitspanne aussendet, auf wenige wesentliche Bestandteile reduziert. Diese Bestandteile können durch Action Units so kompakt ausgedrückt werden, dass sie klein genug sind, um bei Gesprächen, Beschreibungen oder computergestützter Verrechnungen verwendet zu werden.
Vergleiche: Es gibt auch andere sehr komplexe Verhaltensweisen, die nur ausreichend beschrieben werden können, wenn sie dekomponiert werden. Die Dekomposition von Sprache, d.h. Mundbewegungen und Phonemen auf Buchstaben gehört dazu. Erst durch die Verwendung eines Alphabets ist es möglich, die Verhaltensweise „Sprechen“ zu Papier zu bringen. Dabei wird nicht berücksichtigt, dass jeder Sprecher seine Laute auf eine etwas andere, indiviuelle Weise ausformt. Man zerlegt und komprimiert das „Verhalten von Mund und Stimmlippen“ in kleine Einheiten und weist ihnen Symbole zu. Als Kind erlernt man in der Grundschule die Zerlegung der Sprache in diese „Schlüsselwerte“, also die Anwendung der Methode, Verhaltensweisen in schriftlicher Form zu fixieren. Auch hier werden verschiedene Dimensionen reduziert, z.B. Tonlage oder individuelle Merkmale. Die Schriftsprache hat sich zudem zu einem Instrument des denkens entwickelt, d.h. es können nicht nur Verhaltensweisen sondern auch Denkprozesse damit notiert werden.
Ein anderer Vergleich ist das Aufschreiben von komplexen Musikstücken mit Noten. Wenn jemand ein gehörtes Musikstück „notiert“, macht er nichts anderes als das komplexe Verhalten von Musikern auf wesentliche Bestandteile zu reduzieren. Wenn verschiedene Personen ein und das selbe Musikstück dekomponieren, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie sehr ähnliche Resultate erzielen. Dieser Vergleich berücksichtigt nicht den Umstand, dass Musiknoten nicht allein Verhaltensweisen kodieren können, sondern auch Töne die durch Nicht-Verhaltensweisen entstehen können. Auch die Art der Tonerzeugung (Geige, Piano) ist frei. Das ist mit dem FACS nur bedingt möglich, wenn z.B. mimische Aktivitäten bei Personen oder bei computeranimierten Figuren (Programmsequenzen) codiert werden.
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Muskeln im Kopfbereich. Hier sind nur sehr wenige Muskeln beschriftet. Eine vollständige Liste befindet sich hier
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Buchstabe für das Phonem „Ja“: Ein Zeichen für einen kurzen zeitlichen Abschnitt einer menschlichen Verhaltensweise.
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Musiknoten codieren ebenfalls Verhaltensweisen, lassen sich aber auch auf Nicht-Verhaltensweisen (Radiomusik) anwenden.
Dekomposition und Komposition
[Bearbeiten]Alle Dekompositionsmethoden abstrahieren komplexe Verhaltensweisen auf einfachere Einheiten. Diese sind somit abstrakter als Verhaltensweisen. Sie eignen sich daher auch immer zur Komposition, welche zu einem Plan führt, der wieder in Verhaltensweisen umgesetzt oder in anderer Form verarbeitet oder technisch verwendet werden kann.
Fußnoten
[Bearbeiten]- ↑ Eine ganzheitliche Betrachtung liegt vor, wenn das Verhalten insgesamt nach Augenschein und Eindruck beschrieben wird.
- ↑ Der Ruf nach „ganzheitlicher Betrachtung“ kommt oft, wenn jemand methodisch nicht allzu tief graben möchte oder kann.
- ↑ Bisweilen werden Kinder von Erwachsenen zum „Aufessen“ gezwungen, eine autoritäre Erziehungsmaßnahme bei Tisch.
- ↑ Ausdruckstragend deshalb, weil die Zweckbewegung durch ihre enge Bindung an das Schluck-Bewegungsmuster einen restriktiven Ausdruckscharakter annimmt. Demonstrativ ist sie, weil sie den Gegenüber zur Einnahme einer Ansicht bewegen möchte, ihn aber nicht ebenfalls zum Schlucken anregt, wie das für Anregende Zweckbewegungen typisch ist.
- ↑ Man kann beispielsweise weinende und lachende mimische Bewegungen erfassen, die phonemischen Muskelbewegungen im Mundbereich aber vernachlässigen. Oder man kann sich auf eine definierte Anzahl gestischer Bewegungen konzetrieren und die Zweckbewegungen der Personen außer Acht lassen.
- ↑ Abzüglich der Varianz durch die Mitbewegungen.
- ↑ NPC nennt man einen Nonplayercharakter, ein Avatar, der nicht durch einen Spieler, sondern durch das Programm angesteuert wird. In modernen Spielen sind oftmals alle Charaktere als NPC angelegt, wobei die Spielerbefehle lediglich eine höhere Priorität haben. Dies stellt sicher, dass der Charakter auch weiter spielen kann, wenn der Spieler den Input einstellt (offline geht).