Projekt Diskussion:Aktion wasserdicht/Wohnungslosigkeit/Evangelische Kirche

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Letzter Kommentar: vor 3 Jahren von Methodios in Abschnitt Bezahlbar wohnen

Bezahlbar wohnen[Bearbeiten]

EKD-Texte 136

"Bezahlbar wohnen. Anstöße zur gerechten Gestaltung des Wohnungsmarktes im Spannungsfeld sozialer, ökologischer und ökonomischer Verantwortung"

Kammer der EKD für soziale Ordnung

https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/ekd-texte_136_2021.pdf

Herausgegeben von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)

Herrenhäuser Straße 12 | 30419 Hannover

März 2021

Vorwort[Bearbeiten]

Wohnen ist ein existenzielles Gut. Eine Wohnung schützt vor dem Unbill des Wetters, sie gilt als unverletzlich, sie verschafft einen Freiraum, in dem man „sein kann, wie man ist“. In ihr kann man soziales Leben mit Familienangehörigen, Freunden und Bekannten nach eigenen Vorlieben und Überzeugungen gestalten. Eine Wohnung ist essenziell für die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Sie ist Voraussetzung für die physische und psychische Gesundheit.

Zugleich wird es für immer mehr Menschen in Metropolregionen schwer, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Insbesondere Menschen, die z.B. auf eine barrierefreie Wohnung angewiesen sind, die nur sehr begrenzte finanzielle Mittel für das Wohnen aufbringen können oder die als Familie mit mehreren Kindern entsprechenden Platzbedarf haben, stehen immer wieder vor unüberwindlichen Hindernissen.

Als Kirche und Diakonie nehmen wir die Nöte wahr, wenn der Verlust der Wohnung droht, Wohnungslosigkeit eingetreten ist oder wenn Kindern unter prekären Bedingungen der Entfaltungsraum fehlt – erst recht, wenn, wie jüngst unter Bedingungen der Corona-Pandemie, Kinder und Jugendliche keinen geschützten Raum für Homeschooling haben.

Die Ursachen eines angespannten Wohnungsmarktes mit stark steigenden Mieten und Immobilienpreisen in Metropolregionen sind vielfältig. Die Nachfrage nach Wohnungen in Metropolen wächst, weil dort Arbeitsplätze, eine gute Infrastruktur hinsichtlich Bildung, Mobilität, digitalen Netzen und Kultur zu finden sind. Zugleich schrumpft das Angebot, weil der Flächenverbrauch pro Person steigt, der grundsätzlich nicht vermehrbare Boden als Spekulationsobjekt unbebaut bleibt, der Immobilienmarkt zum Renditeobjekt des Finanzwesens geworden ist, Kommunen sich aus dem sozialen Wohnungsbau zurückgezogen haben und hohe Baukosten den Bau neuer Wohneinheiten erschweren.

Die Evangelische Kirche in Deutschland sieht, dass es an der Zeit ist, die Wohnungs- und Baupolitik wie auch die öffentliche Diskussion um „gutes Wohnen“ neu in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken. Verschiedene Initiativen wie der Wohngipfel von Bund, Ländern und Gemeinden im Jahr 2018 oder das „Gesetz zur Mobilisierung von Bauland“ im Jahr 2020 wie auch eine intensivierte soziale Arbeit – u.a. durch Diakonie und Kirchengemeinden im Sozialraum – können kurzfristig wirken. Die Bedeutung der Problemlage, die Langfristigkeit der Entwicklungen und die Komplexität der Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge machen jedoch eine grundsätzliche und multiperspektivische Reflexion notwendig. Hinzu kommt, dass Kirche und Diakonie in dreifacher Weise mit diesem Problemfeld verbunden sind: Sie sehen innerhalb ihres Auftrages zur öffentlichen Verantwortung die Aufgabe der ethischen Orientierung im öffentlichen Diskurs, sie sind mit ihren Kirchengemeinden, Beratungsstellen und Einrichtungen zur Wohnungslosenhilfe sozialdiakonisch tätig und sie sind als Eigentümer von Boden und Gebäuden in der Pflicht, mit diesen Gütern ethisch verantwortlich umzugehen. Motiviert wird die Anerkenntnis dieser Pflicht von der theologischen Einsicht, dass wir im Dank für die Zuwendung Gottes auch mit unserem Vermögen zum Dienst am Nächsten und zur Rücksicht auf unsere Mitgeschöpfe verpflichtet sind.

Für die evangelische Kirche ist Wohnen immer als soziales Phänomen mit ökonomischer Dimension und ökologischen Auswirkungen zu verstehen. Wenn nach Wegen zur Entspannung des Wohnungsmarktes gesucht wird, sind demnach alle diese drei Dimensionen im Zusammenhang in den Blick zu nehmen – wie es dem Nachhaltigkeitsparadigma der Vereinten Nationen entspricht. Diesem Ansatz folgend, wird Wohnen als soziales Phänomen entfaltet, werden Bodennutzung, Bauen, Stadtentwicklung und Wohnen in ökologischer Perspektive beleuchtet und ökonomische Faktoren auf Angebots- und Nachfrageseite analysiert. In der Zusammenschau dieser Perspektiven wird deutlich, dass es Zielbilder guten Wohnens gibt, die nach allen drei Nachhaltigkeitsdimensionen vorteilhaft sind.

Ein Beispiel sind neue Wohnformen, bei denen Menschen mehrerer Generationen zusammenleben und dabei umfassender am sozialen Leben teilhaben können, weniger Flächen nutzen und geringere finanzielle Ressourcen einsetzen müssen. Wo Maßnahmen in Zielkonflikte zwischen den Nachhaltigkeitsdimensionen führen, gilt es, keine dieser Dimensionen auszublenden – was z.B. geschähe, wenn die Bautätigkeit einseitig zu Lasten ökologischer Standards gesteigert würde. Vielmehr gilt es, sowohl in Wohnungs- und Baupolitik wie in der Praxis von Vermietung, Kauf, Verkauf, Sanierung und Bau die drei Nachhaltigkeitsdimensionen im Rahmen der Entscheidungsfindung präsent zu halten. Je nach Zielsetzung des jeweiligen Akteurs, der örtlichen Bedingungen und der zur Verfügung stehenden Ressourcen kann vor diesem Hintergrund die sozial, ökonomisch und ökologisch sinnvollste Alternative gefunden werden. Dass nicht alle wünschenswerten Ziele erreicht werden können, ist der Knappheit der Mittel zuzuschreiben, die unserer Wirklichkeit nicht nur auf diesem Gebiet eingeschrieben ist.

Mit diesem Text zum Wohnungsmarkt sollen auch den Leitungsgremien von Kirche und Diakonie Impulse und Hinweise für die Praxis ihrer Entscheidungen gegeben werden. Es wird an einschlägige ethische Überzeugungen, die sich aus biblischen Traditionen und einer reichen Theologie- und Kirchengeschichte zu Themen sozialer Lebensbedingungen, Schonung natürlicher Lebensgrundlagen und Notwendigkeiten zum Haushalten ergeben, erinnert. Möglichkeiten des sozial-diakonischen Handelns für Menschen, die in Wohnungsnot sind oder unter prekären Wohnbedingungen leiden, werden skizziert. Vor allem sollen Kirchengemeinden, Kirchenkreise bzw. Dekanatsbezirke und diakonische Einrichtungen Hilfestellung bei der Entscheidungsfindung erhalten, wenn sie als Eigentümerinnen nach Wegen eines verantwortlichen Umgangs mit Boden und Gebäuden suchen – diese Herausforderung wird unter Bedingungen geringerer finanzieller Einnahmen immer bedeutsamer. Zugleich werden auch solche strukturellen Entscheidungen zu Recht als Ausdruck des christlichen Glaubens und Ethos gesehen.

Der Text richtet sich gleichermaßen an Akteur*innen der Wohnungspolitik, des Wohnungsmarktes, der Raum- und Stadtplanung und der sozialen Arbeit. Er möge dabei helfen, jeweilige Maßnahmen vor dem breiten Horizont der Nachhaltigkeitsdimensionen zu sehen und umzusetzen. Zugleich sollen Christinnen und Christen wie auch Kirche und Diakonie mit ihren Leitungsgremien ermutigt werden, ihrem Auftrag zur „Kommunikation des Evangeliums“, das besonders benachteiligte Menschen im Blick hat, gerecht zu werden.

Der Rat dankt den Mitgliedern der Kammer sowie den hinzugezogenen Fachleuten aus Wohnungswirtschaft und EKD-Grundstückskommission für die Durchdringung des Themenfeldes und eine deutliche Positionierung. Er hat mit großer Zustimmung beschlossen, diesen Kammertext zu veröffentlichen. Er verbindet damit die Hoffnung, dass hiermit ein Beitrag zur Entspannung des Wohnungsmarktes in Metropolregionen geleistet wird – ein Beitrag, der insbesondere benachteiligten Menschen zugutekommt und im Horizont der Nachhaltigkeitsdimensionen Bestand hat.

Hannover, im März 2021

Landesbischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm

Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland

--Methodios (Diskussion) 09:16, 29. Apr. 2021 (CEST)Beantworten


1. Einleitung[Bearbeiten]

1.1 Die Problemlage: Wohnungsknappheit in Metropolregionen[Bearbeiten]

Der Befund einer Wohnungsknappheit in Metropolregionen bewegt seit geraumer Zeit nicht nur die Fachöffentlichkeit, die Presse und die politischen Akteur*innen auf kommunaler, regionaler und Bundesebene, sondern auch und vor allem viele Menschen, für die es schwer geworden ist, bezahlbaren städtischen Wohnraum zu mieten oder zu kaufen.

Politisch hat diese Situation Wirkungen gezeitigt: Schon seit 2014 sucht ein zunächst beim Bundesumweltministerium angesiedeltes, seit 2018 zum Bundesinnenministerium gewechseltes „Bündnis für bezahlbares Bauen und Wohnen“ Bund, Länder, Kommunen und Verbände in der Bekämpfung der Wohnungsknappheit zu koordinieren. Im Herbst 2018 führte ein im Kanzleramt ausgerichteter „Wohngipfel“ Bund, Länder und Kommunen, die Wohnungs- und Immobilienwirtschaft, den Mieterbund, die Gewerkschaften und die Bauwirtschaft unter Leitung von Bundeskanzlerin Merkel zusammen und verabschiedete ein Maßnahmenpaket, das unter anderem steuerliche Erleichterungen, eine Förderung des sozialen Wohnungsbaus, ein Baukindergeld und die Umwidmung bundeseigener Grundstücke umfasste. Auch auf Länderebene wurden ähnliche Wohnungsgipfel durchgeführt, während Städte wie Berlin einen Mietendeckel verabschiedeten und einzelne Initiativen die Enteignung von Wohnbaugesellschaften forderten.

Hinter dem Begriff der „Wohnungsknappheit“ verbirgt sich ein durchaus differenzierter Befund: Offensichtlich ist die unübersehbare Steigerung der Neuvertragsmieten vor allem in Großstädten über 500.000 Einwohnern. Zwischen 2007 und 2018 betrug sie in Berlin über 100%, in München und Stuttgart 80% und in Essen immer noch 33% (Kohl u.a. 2019, 2). Ebenso verteuerten sich die Bau- und Erwerbskosten von Immobilien zwischen 2008 und 2018 um durchschnittlich 47,9% (Destatis 2019,9). Allerdings dehnt sich dieser Trend zunehmend auch auf kleinere Städte aus (Henger/Voigtländer 2019). Auch in den Ballungsräumen hat der Befund unterschiedliche Auswirkungen. Während die Wohnungsknappheit in strukturstarken Metropolräumen mit einer gut ausgebauten Infrastruktur und erheblicher Wirtschaftskraft korrespondiert, ist dies in strukturschwächeren Räumen nicht der Fall. So sind etwa in der Raumordnungsregion Duisburg/Essen, die beide Metropolen und ihr Umland erfasst,

[10] Arbeitslosigkeit, Produktivität und private Überschuldung hoch und die Infrastrukturentwicklung aufgrund der hohen kommunalen Verschuldung problematisch. Anders als in strukturschwachen ländlichen Gebieten wie etwa der Raumordnungsregion Anhalt-Bitterfeld-Wittenberg entspricht diesem Befund aber keine negative demografische Entwicklung und auch kein erheblicher Wohnungsleerstand, sodass nicht von einer Entlastung des Wohnungsmarktes ausgegangen werden kann (Oberst u.a. 2019, Henger/Voigtländer 2019a).

Besonders betroffen sind von allen Entwicklungen die einkommensschwächsten 20% der Bevölkerung, die im Schnitt seit der Jahrtausendwende um die 40% des Haushaltseinkommens für Miete aufwenden müssen (Kohl u. a. 2019) und deren Bedarfe weitgehend ungedeckt bleiben (Holm u. a. 2018). Allerdings gehören zu dieser Gruppe auch Grundsicherungsempfänger*innen, bei denen die Wohnkosten in der Regel vollständig von der Kommune übernommen werden, oder Studierende, die nur temporär von hohen Mieten betroffen sind. Aber auch im zweitniedrigsten Einkommenssegment ist die Dynamik der Wohnkostensteigerungen besonders groß – ein Zeichen, dass der Wohnungsmangel auch mittlere Einkommen deutlich betrifft. Im Bereich der obersten 20% sind es demgegenüber nur 18% des Haushaltseinkommens, die für Wohnen ausgegeben werden müssen (Kohl u. a. 2019).

Im Hintergrund steht der stetige Bevölkerungsanstieg in den Städten (Urbanisierung), die Vergrößerung des individuell in Anspruch genommenen Wohnraums, der durch die Niedrigzinsphase ausgelöste Zustrom von renditeorientiertem Investitionskapital („Betongold“) und der durch unterschiedliche Faktoren ausgelöste „Baustau“.

Urbanisierung bildet einen globalen Megatrend, der kaum umkehrbar erscheint. Noch in den 1950er Jahren lebten 30% der Weltbevölkerung in Städten, 2018 sind es 55% und 2050 wird mit 68% gerechnet. Dabei sind es vor allem die hoch industrialisierten Regionen, die die höchste Urbanisierung aufweisen. So lebten in Nordamerika 2018 82% der Bevölkerung in urbanen Regionen, in Europa sind es immerhin 74%, in Afrika dagegen 43%. Dabei rechnet man nicht nur damit, dass der urbane Bevölkerungsanteil stärker wächst als der ländliche, sondern auch damit, dass dieser in einigen Jahren zurückgehen wird (UN 2019). In der Bundesrepublik sind es vor allem die jüngeren Menschen, die in die Städte strömen und dort zum überdurchschnittlichen Bevölkerungswachstum beitragen (Destatis 2019), hierzu hat sich in den letzten Jahren besonders die Zuwanderung ausgewirkt. Zu den


[11] Gründen dieser Stadtorientierung dürfte neben dem höheren Arbeitsplatzangebot die bessere Infrastruktur in Bezug auf Gesundheit, Bildung, Mobilität, Kultur und Konsum gehören (Deutschlandatlas 2019). Zudem dürfte auch der arbeitsbezogene Digitalisierungsschub, der durch die Corona-Krise ausgelöst wurde, Konsequenzen zeitigen: Die starke Zunahme des Trends zum Homeoffice vor allem im höheren Qualifikationssegment könnte den Bedarf an Büroraum nachhaltig verringern, das Bedürfnis nach infrastrukturell gut ausgestattetem Wohnraum aber erhöhen. Weil aber auch die Netzabdeckung im urbanen Kontext bisher ungleich höher ist als im ländlichen Raum, ist − trotz der möglichen geringeren Pendelbelastung − nicht mit einer Entlastung des städtischen Wohnungsmarktes zu rechnen, zumal auch die Umwandlung von Gewerbe- in Wohnraum erheblichen ökonomischen Aufwand bedeutet.

Die Corona-Pandemie dürfte dennoch eine Zeitenwende in der Entwicklung der Innenstädte sowohl von Metropolen als auch von kleineren Städten eingeleitet haben. Nicht nur dürfte die Nachfrage nach Büroimmobilien tendenziell nachlassen, sondern auch nach Räumen für stationären Handel. Damit ist grundsätzlich die Funktion der Innenstadt als Ort der Begegnung und des Austausches berührt. Wohnen allein wird den Handel in dieser Funktion nicht ersetzen können. Daher wird es darauf ankommen, im Gefolge der Krise in den urbanen Zentren wie in den kleineren und mittelgroßen Städten eine neue Mischung aus Wohnen und kommunikativer Infrastruktur (Gastronomie, Orte der Begegnung zwischen den Generationen etc.) aufzubauen. Je besser dies insbesondere in den Randlagen gelingt, desto stärker können die Metropolen entlastet werden.

Gleichwohl bleibt die politische Maxime der Ermöglichung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Stadt und Land, die Verfassungsrang genießt (GG Art. 72), erhalten (Koalitionsvertrag 2018, 108, Z. 5074–5075).

In der Bundesrepublik Deutschland kommt dazu, dass auch der individuelle Verbrauch an Wohnraum wächst: So stieg die Zahl der Wohnungen in der Bundesrepublik zwischen 2011 und 2018 um 3,9% auf 42,2 Millionen Wohnungen, die Wohnfläche je Wohnung um 0,9%, die Wohnfläche pro Kopf um 1,3% von 46,1 auf 46,7 m2, obwohl die Bevölkerung − vor allem durch Zuwanderung − nur um 3,4% wuchs. Der Grund für den zunehmenden Wohnraumkonsum liegt im Bau-Trend zu großen Wohnungen und Eigenheimen einerseits, in der Verkleinerung der Haushalte andererseits: Im Durchschnitt teilen sich nur noch zwei Personen eine Wohnung, der Anteil der Ein-Personen-Haushalte liegt bei 40,4%. Allerdings ist einerseits festzustellen, dass der

[12] individuelle Wohnraumverbrauch in Großstädten schon seit zehn Jahren rückläufig ist (Henger/Voigtländer 2019, 9), andererseits auch hier die ungleiche Verteilung zu berücksichtigen ist: Vor allem ältere Personen belegen viel Wohnraum, weil sie nach der Familienphase in den großen Familienwohnungen und Eigenheimen bleiben (Umweltbundesamt 2019).

Ein weiterer Faktor der Verknappung von günstigem urbanem Wohnraum hat mit der Finanzialisierung des Immobilienmarktes zu tun, die mit einer politischen Responsibilisierungsstrategie einherging. Diese zielte auf die Verantwortungsübertragung an die Einzelnen und war durch den Rückzug des Staates aus Maßnahmen der Daseinsvor- und -fürsorge, aus dem öffentlichen Wohnungsbau beziehungsweise aus der Gewährleistung von Sozialwohnungen gekennzeichnet; sie schloss die Verpflichtung zu privater Vorsorge wie deren Ermöglichung ein. Letzteres sollte vor allem durch die Förderung kapitalgedeckter Altersvorsorge und privater Wohnraumbeschaffung geschehen.

Dieser Strategie sollte die Vereinfachung des Zugangs zu Hypothekenkrediten („Wohnriester“) und die Liberalisierung des Immobilieninvestments dienen (vgl. Heeg 2013, 77–81). Vom Sparen zum Investieren: Diese Maßnahmen haben unter anderem dazu geführt, dass privates Sparkapital in Fondsgesellschaften floss, die ihrerseits in Immobilienfirmen investierten. Der Begriff „Finanzialisierung“ drückt aus, dass Wohnungen nicht vorrangig unter dem Aspekt ihres Gebrauchswerts, sondern sehr viel stärker unter dem des Tauschwerts gesehen werden (vgl. Heeg 2013, 76, 81–86).

Durch die Liberalisierung der Finanzmärkte, die Finanzkrise, die Niedrigzinsperiode, den Rückzug der öffentlichen Hand aus dem Wohnungsbau sowie die steigende Nachfrage nach innerstädtischem Wohnraum wurden Immobilien als vermeintlich krisensicheres „Betongold“ zum Anlageobjekt. Dies galt vorrangig für die großen institutionellen Anleger*innen, für die nun nicht die Bereitstellung von Wohnraum oder das harmonische Vermietende-Mietende-Verhältnis im Mittelpunkt stand und steht, sondern die Rendite, die unter Umständen durch kluge und schnelle An- und Verkäufe gesteigert und sehr viel kurzfristiger realisiert werden konnte. Damit wurden Immobilien, Grundstücke und öffentlicher Raum zum Spekulationsobjekt (vgl. Seidenspinner 2018).

Der freie Zugang von Finanzinvestor*innen insbesondere zum Bodenmarkt hat demnach keine dem Gemeinwohl dienende Funktion, sondern verbreitert allein die Anlagemöglichkeiten von Finanzinvestor*innen. Er ist sogar schädlich, da durch die zusätzliche Nachfrage zusätzliche Preissteigerungen ausgelöst werden, die die Schwierigkeit, bezahlbaren Wohnraum auf einem ohnehin überhitzten Markt bereitzustellen, noch erhöht.


[13] Angebotsseitig lässt sich schließlich neben der Verteuerung der Bau- und Erwerbskosten von Immobilien der sogenannte „Baustau“ als Ursache der Wohnraumknappheit benennen. Während im Jahr 2019 und 2020 je 342.000 neue Wohnungen benötigt werden, wurden im Jahr 2018 „nur“ 287.000 Wohnungen fertiggestellt. Seit 2009 liegt die Zahl der erteilten Baugenehmigungen über der der Wohnungsfertigstellungen. Der Bauüberhang aus genehmigten, aber nicht fertiggestellten Wohnungen hat sich von 2008 bis 2018 von ca. 320.000 auf 693.000 Einheiten mehr als verdoppelt. Ende 2018 standen in den Auftragsbüchern noch unerledigte Aufträge im Wert von 9,1 Milliarden Euro. Nach Auskunft des Präsidenten des Statistischen Bundesamtes könnte dies auch darin begründet liegen, dass sich die Auftragsbestände im Wohnungsbau seit 2008 fast verdreifacht hätten, während die Zahl der Beschäftigten nur um 25% wuchs (vgl. Destatis 2019, Henger/Voigtländer 2019).

1.2 Engagement von Kirche und Diakonie[Bearbeiten]

Drei Gründe lassen sich für die kirchliche Beschäftigung mit dem Problem der Wohnungsknappheit angeben. Sie haben mit (a) der Frage ethischer Orientierung, (b) der zivilgesellschaftlichen Rolle von Kirche und Diakonie und (c) ihren eigenen wirtschaftlichen Aktivitäten im Feld zu tun.

(a) Weil die Gestaltung der Welt nach den ethischen Gesichtspunkten von Gerechtigkeit, Solidarität und Nachhaltigkeit in einer christlichen Perspektive zu den Aufgaben des Menschen vor Gott gehört, bemühen sich Christ*innen um konkrete ethische Orientierung in diesem für jeden Menschen wichtigen Feld. Deswegen hat die Evangelische Kirche schon seit den 1960er Jahren verschiedene Impulse zur Reform des Eigentums- und vor allem des Baubodenrechts – teilweise gemeinsam mit der römisch-katholischen Kirche – gegeben (Degan/Wustmans 2018). Dies reicht bis in die Anfänge der Beteiligung der Kirche an der öffentlichen Debatte durch Denkschriften zurück: Bereits in der ersten, 1962 veröffentlichten Denkschrift „Eigentumsbildung in sozialer Verantwortung“ wurde argumentiert, seit der Währungsreform habe das Phänomen des Eigentums zu einer Gerechtigkeitslücke geführt, Probleme vor allem hinsichtlich der Steigerung der Bodenpreise und im Wohnungsbau seien die Folge (EKD 1962, Ziff. 14–16 u.Ä.). In ähnlicher Weise hat ein im Jahr 1973 von kirchlichen Gremien publiziertes Memorandum das Ziel einer sozialverpflichteten „neuen Gestaltung des Baubodenrechts“ gefordert. Eigentumsrechte gelten dabei als wichtig, aber wandelbar, entsprechend ist „Eigentum nicht ‚heilig und unantastbar‘, darum gehört zu den Kriterien des Eigentums seine ‚Relativität‘“ (EKD/DBK 1973, 178). Spe-


[14] ziell Eigentumsrechte an Grund und Boden werden in dieser Stellungnahme immer auch als Niederschlag historischer Machtentscheidungen und zufälliger Entwicklungen begriffen, sie „haben somit ihre Rechtfertigung nicht in sich selbst“, sondern sind auf ihre Lebensdienlichkeit hin zu befragen. In dem ursprünglichen Entwurf des Papiers, der dem Rat der EKD vorgelegt wurde, hieß es konkretisierend weiter: „In der heutigen Bodenordnung ist der Tatsache Rechnung zu tragen, dass Grund und Boden, besonders in Verdichtungsräumen, einen ähnlichen Knappheitsgrad und die gleiche Schutzbedürftigkeit erreicht haben wie Wasser und Luft. Unter diesen Umständen müssen Maßnahmen ergriffen werden, durch die die Position der sozial und finanziell Schwächeren am Bodenmarkt gestärkt wird“ (EKD 1973a, 120).

Christ*innen haben in dieser Perspektive dafür einzutreten, dass die jeweils geltenden Eigentumsrechte es ermöglichen, „daß alle Menschen … an den Gütern dieser Welt“ (EKD/DBK 1973, 178), insbesondere an dem knappen Gut des Bodens beziehungsweise eines angemessenen und bezahlbaren Wohnraums, teilhaben können.

Die Bedeutung dieser Überlegungen ist angesichts der jüngsten Entwicklungen neu zu bestimmen.


(b) Neben der Bemühung um ethische Orientierung der Christ*innen selbst liegen hier die zivilgesellschaftlichen Rollen von Kirche und Diakonie zutage. Kirche und Diakonie treten für menschenwürdige Lebens- und Wohnbedingungen, ein lebensförderliches Miteinander in den Haushalten wie in Nachbarschaften sowie für die Unterstützung von Benachteiligten in der Gesellschaft, die durch die gegenwärtige Lage am Wohnungsmarkt besonders stark belastet werden, ein. Pfarrer*innen, andere kirchliche Mitarbeitende und insbesondere ehrenamtliche Mitarbeitende kirchengemeindlicher Besuchsdienste werden anlässlich von Taufen, Trauungen, Trauerfeiern, Geburtstagen, Jubiläen oder sonstigen Anlässen oftmals vertrauensvoll zu Besuchen und Seelsorgegesprächen in die privaten Räume eingeladen. Mitarbeitende ambulanter Dienste der Diakonie erhalten regelmäßig Zutritt zu den Wohnungen ihrer Patient*innen. Oftmals spiegeln die Wohnverhältnisse die materiellen Lebensbedingungen wie die Seelenlage der Bewohner*innen: Mit ihren Wohnungseinrichtungen zeigen Menschen, mit welchen materiellen Möglichkeiten sie leben beziehungsweise auskommen müssen, was ihnen wichtig ist, welchen Lebensstil sie führen, wie sie ihren Alltag gestalten. Wohnungen zeigen Reichtum und Armut, Einschränkungen und Ermöglichung persönlicher Entfaltung, familiäre Verbundenheit und gesellschaftliche Inklusion wie auch Isolation und Einsamkeit. Solche Erfahrungen und entsprechende fachliche Expertise zur Bedeutung des Wohnens für die Persönlichkeitsentwicklung, zu familiärem wie sozialem Leben sowie zu Folgen von unzureichenden oder gar prekären Wohnverhältnissen prägen die wohnungspolitischen Positionen der Mitarbeitenden von Kirche und Diakonie wie auch Konzepte der jeweiligen Arbeit.


[15] Kirchengemeinden laden zum einen zu Veranstaltungen und zu Zusammenkünften in Gemeindehäusern ein, sodass Menschen Möglichkeiten der Gemeinschaftspflege haben, auch wenn ihre Möglichkeiten, diese in der eigenen Wohnung zu pflegen, eingeschränkt sind. Vielfach engagieren sich Kirchengemeinden, oft zusammen mit diakonischen Diensten, Wohnungsbaugesellschaften und Akteur*innen der Zivilgesellschaft, für Wohnprojekte im Quartier. Mit solchen Projekten werden alternative Wohnformen praktiziert, die oftmals generationenübergreifend sind, Geselligkeit fördern, gemeinsame Mahlzeiten ermöglichen, Kultur- und Bildungserlebnisse vermitteln. Kirchengemeinden, die ihre Arbeit am Sozialraum orientieren, haben die Lebens- und Wohnsituationen ihrer Klientel im Blick: Wo Familien mit vielen Kindern unter beengten Verhältnissen leben, bieten sie mit ihren Gemeindehäusern und Außengeländen Platz für Hausaufgabenbetreuung und Freizeitgestaltung an, Jugendliche finden Möglichkeiten, Jugendräume nach eigenen Vorstellungen zu gestalten, die Begegnung in ihrer Peergroup möglich machen. Wo ältere Menschen in großen Wohnungen und Häusern zu vereinsamen drohen, können Gesprächskreise, Kochgruppen, Initiativgruppen mit gemeinwohlorientierten Anliegen Menschen zusammenführen. Zusammen mit anderen Akteur*innen der Zivilgesellschaft organisieren Kirchengemeinden Alltagshilfe in der Nachbarschaft wie auch die Förderung eines Netzwerkes für kulturelle, soziale, religiöse und politische Arbeit – alles Maßnahmen, die die Einbettung des Wohnens in den Stadtteil, in das Quartier fördern und somit auch Nachteile beengten Wohnens mindern.

Die Diakonie setzt sich für Menschen ein, die es am Wohnungsmarkt schwer haben und dort von Diskriminierung betroffen sind. Neben Menschen mit Migrationshintergrund sind dies vor allem Menschen mit niedrigem Einkommen, mit Sozialhilfebezug, mit Schulden, Haftentlassene. Diese Personen, aber auch kinderreiche Familien mit niedrigem Einkommen, Einelternfamilien, Auszubildende, Studierende, Menschen mit Handicap oder psychischen Problemen haben oftmals geringe Chancen am Wohnungsmarkt und brauchen Unterstützung. Diakonie engagiert sich mit Beratungsangeboten und Vermittlungsarbeit zu den Kommunen, um präventiv Wohnungsverlust zu vermeiden. Darüber hinaus ist die Diakonie die größte deutsche Anbieterin in der Wohnungslosenhilfe. Sie bietet Tagestreffs, Bahnhofsmissionen, Wärmestuben, Kältebusse, Kurzzeitübernachtungen, sozialtherapeutische Wohnheime und Möglichkeiten betreuten Wohnens. Darüber hinaus berät und unterstützt die Diakonie unter anderem mit allgemeiner kirchlicher Sozialarbeit, Schuldner*innen- und Suchtberatungsstellen sowie Beratungsstellen der Wohnungsnotfallhilfe Menschen in überfordernden Krisensituationen. Zur Stärkung der Wohnungsnotfallprävention arbeitet die Diakonie mit Kommunen, Wohnungsbaugesellschaften


[16] und privaten Vermietenden zusammen. Dabei bleibt die Vorsorge gegen Wohnungslosigkeit nach SGB XII (Sozialhilfe) und SGB II (Grundsicherung) grundsätzlich eine Aufgabe der öffentlichen Hand, insbesondere der Kommunen und Jobcenter. Diakonische Hilfe kann präventiv wirken, Notlagen überbrücken und bei Neuanfängen unterstützen.

Kirche und Diakonie engagieren sich wohnungspolitisch – je nach Zuständigkeit der politischen Ebenen und je nach Ausprägung öffentlicher Diskurse – auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlichen Themen. Jenseits der politischen Felder, die mittelbar auf das Wohnen zurückwirken, wie zum Beispiel die Infrastrukturpolitik, Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik, Umweltpolitik, Bildungspolitik, Familienpolitik, stehen folgende wohnungspolitische Themen im Vordergrund der Arbeit: Es geht um Wohnungsbaupolitik, sodass auch für weniger zahlungskräftige Mietende und für Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen und Behinderungen genügend Wohnraum zur Verfügung steht. Diakonische Werke engagieren sich oft zusammen mit Caritas, Mietendenvereinen und gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften für eine Verbesserung der Situation Wohnungsloser und Wohnungssuchender. Zunehmend gelangt die Wohnungsversorgung als Ganzes in den Blick. Bei der Planung neuer Baugebiete treten Kirche und Diakonie vor allem in Ballungsgebieten für einen ausreichenden Prozentsatz öffentlich geförderter und kleiner Wohnungen ein. Gegenüber Kommunen drängt die Diakonie darauf, dass eine ausreichende Anzahl günstiger und für Notfälle zugänglicher Wohnungen vorgehalten sowie Notunterkünfte durch Umwandlung in menschengerechte Wohnungen ersetzt werden. Daneben plädieren Kirche und Diakonie für die finanzielle und rechtliche Unterstützung benachteiligter Mietender: Dabei geht es um die regelmäßige Anpassung des Wohngeldes an Mietpreisentwicklungen und um die Wiedereinführung einer Heizkostenkomponente, um finanzielle Hilfen bei Mietschulden und einen verbesserten Kündigungsschutz insbesondere für Familien.

(c) Schließlich sind kirchliche und diakonische Institutionen und Organisationen als Akteurinnen am Immobilienmarkt tätig – als Eigentümerinnen von Gebäuden und Boden zur Eigennutzung wie zur Vermietung beziehungsweise Verpachtung.

Die Kriterien für den verantwortlichen Umgang mit Gebäuden und Boden sind für alle kirchlichen und diakonischen Institutionen und Organisationen identisch. Maßgeblich sind die Ziele des Leitbildes der Nachhaltigkeit: Die ökonomische Stabilität der Eigentümer*innen muss mit der Wahrung und Förderung sozialer Gerechtigkeit und der Verwirklichung ökologischer Ziele so weit wie möglich in Einklang gebracht und gegebenenfalls ethisch reflektiert gegeneinander abgewogen werden. Die Ge-


[17] wichtung dieser unterschiedlichen Ziele unterscheidet sich bei den kirchlichen und diakonischen Institutionen und Organisationen je nach ihrem vorrangigen Zweck und dem örtlichen Kontext. Kirchengemeinden als Eigentümerinnen von Sakralbauten, Gemeindehäusern, Pfarrdienstwohnungen und Mitarbeitendenwohnungen werden den praktischen Nutzen für das kirchengemeindliche Leben in den Vordergrund stellen – wobei sie dabei ökologische und soziale Gesichtspunkte wie auch die langfristige Finanzierbarkeit berücksichtigen müssen. Ist eine Kirchengemeinde Eigentümerin von Wohnungen, liegt es in ihrer Verantwortung, im Blick auf ihren sozialen Kontext und ihre finanzielle Ausstattung, die Vermietung dieser Wohnungen vorrangig als ein diakonisches Handlungsfeld zu sehen und darum zu günstigen Mieten an benachteiligte Mieter*innengruppen zu vermieten oder alternativ höhere Mieteinnahmen anzustreben, um damit andere Arbeitsfelder finanzieren zu können. In beiden Fällen sind Gesichtspunkte von Klimaschutzkonzepten (zum Beispiel Grüner Hahn, Grüner Gockel) zu berücksichtigen. Kirchliche und diakonische Stiftungen sind – unter Wahrung der grundsätzlichen Orientierung an den Nachhaltigkeitszielen – an ihren Stiftungszweck gebunden, der sich in einem Fall vorrangig auf soziale und diakonische Zwecke bezieht, in einem anderen Fall auf die Erwirtschaftung von Erträgen zur Finanzierung anderer kirchlicher oder diakonischer Arbeit. In ähnlicher Weise muss sich das Management von kirchlichen Rücklagen und Pensionsfonds, die Immobilien in ihrem Portfolio haben, grundsätzlich den Zielen der Nachhaltigkeit unterordnen, zugleich aber sind die wirtschaftlichen Ziele mit Vorrang zu verfolgen. Anders wiederum können die Gewichte verteilt werden, wenn durch Finanzprodukte beispielsweise diakonische oder entwicklungspolitische Ziele verfolgt werden sollen. Kriterien für das Ausbalancieren dieser unter Umständen auch gegenläufigen Ziele werden in dem Leitfaden der EKD für ethisch-nachhaltige Geldanlagen in der evangelischen Kirche skizziert (vgl. EKD 2011).


Die Landeskirchen haben insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg einen wichtigen Beitrag zur Verminderung der Wohnungslosigkeit geleistet. Mit der Gründung von Wohnungsbaugenossenschaften oder ähnlicher Wohnungsbauunternehmen haben sie den Wohnungsbau, insbesondere für Mietende mit geringem Einkommen oder anderen Nachteilen auf dem Wohnungsmarkt, vorangebracht. Nicht zuletzt die politische Abkehr von der Gemeinnützigkeit im Wohnungsbau gegen Ende des letzten Jahrhunderts hat auch solche, ursprünglich aus diakonischem Interesse entwickelten Projekte vor Herausforderungen gestellt, die eine Bereitstellung von günstigem Wohnraum erheblich erschwert haben: Diese Herausforderungen müssen konkret berücksichtigt und auch politisch bearbeitet werden. Ein wichtiges Feld des Umgangs mit Boden stellt die Gestaltung von Pachtverträgen für landwirtschaftlich nutzbare


[18] Grundstücke und die Auswahl der Pächter*innen dar. Dabei gilt es immer wieder abzuwägen, welche ökonomischen und ökologischen Bedingungen für die kirchliche Grundstückseigentümerin unabdingbar sind und bei welchen Aspekten sie einem*r selbstständigen Landwirt*in entgegenkommen kann, der oder die einen hinreichenden Handlungsspielraum braucht und das ökonomische Risiko einer Pacht trägt. Bei der Bewirtschaftung der kirchlichen Forste herrscht seit langem Konsens, dass diese den Zielen der Nachhaltigkeit entsprechen muss. Einen wesentlichen Einfluss auf den Immobilienmarkt kann die Kirche als Grundstückseigentümerin vor allem dort nehmen, wo sie Erbbaurechte ausgibt. Erbbaurechtsgrundstücke sind aufgrund der langen Laufzeit der Erbbaurechtsverträge mit ca. 75–99 Jahren und des gesetzlichen Verbots der Erbbauzinsanpassung auf der Basis der Bodenwertentwicklung bei Wohnerbbaurechten bei Altverträgen und der geregelten Anpassung des Erbbauzinses an die Entwicklung des Verbraucherpreisindexes bei Neuverträgen über einen langen Zeitraum der Spekulation entzogen. Zugleich stehen diese Grundstücke für den Wohnungsbau zur Verfügung und sichern langfristig ein ökonomisches Fundament für kirchlich-diakonische Arbeit. Für die Kirchen, insbesondere ihre Stiftungen, waren Erbbauverträge schon seit Jahrzehnten eine sozial adäquate und zugleich wirtschaftlich sinnvolle Form der Grundstücksbewirtschaftung, die auch außerhalb der Kirchen wieder eine Renaissance erlebt. Die Diakonie stellt in ihrem Umgang mit Gebäuden und Boden die sozialen Ziele in den Vordergrund. Das Beherbergen gehört zu den klassischen Grundaufgaben der Diakonie. Die Diakonie ist eine Großanbieterin von Wohnraum im stationären Bereich. Dabei stehen Wohnmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche, Menschen mit Handicap und Pflegebedürftige im Vordergrund. In den letzten Jahrzehnten haben sich die Lebensbedingungen der in stationären Einrichtungen der Diakonie lebenden Menschen entscheidend verbessert. Aus Schlafsälen wurden Wohngruppen und Einzelappartements. Es folgte die schrittweise Ambulantisierung. Die Betreuung im selbstgewählten Zuhause hat Priorität erhalten. Großeinrichtungen haben sich geöffnet und ihre Wohnangebote dezentralisiert. Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen hat mit dem Leitbild der Inklusion die Richtung für den Wandel vorgegeben. Dennoch bleibt unübersehbar, dass bestimmte Klientelgruppen vor allem mit schwerer Behinderung und mit speziellem Verhalten weiterhin ein überschaubares, behütendes Setting benötigen, allerdings so, dass Selbstbestimmung und Individualität gewahrt bleiben und dass Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht wird.


[19] Gegenwärtig trifft die Ambulantisierung der Hilfeformen und die Dezentralisierung der stationären Angebote auf einen Wohnungsmarkt, der immer weniger bezahlbaren Wohnraum für Gruppen mit speziellen Bedürfnissen bereithält. Zugleich wachsen die Bedarfe für Angebote betreuten Wohnens weiter an. In diesem Kontext entwickeln sich diakonische Großeinrichtungen zu Akteurinnen am Immobilienmarkt. Im Zuge der Aufgabe von Anstaltskomplexen spielen ökonomische Überlegungen eine große Rolle: Wertvoller Grund kann genutzt werden, um die wirtschaftliche Situation von Einrichtungen abzusichern. Damit verbinden sich soziale Ziele der Trägerinnen: Bezahlbarer Wohnraum für benachteiligte Mietendengruppen wie auch für Mitarbeitende kann entstehen. Bei all solchen Maßnahmen müssen auch ökologische Ziele im Blick bleiben. Das möglichst weitgehende Vereinbaren und gegebenenfalls das verantwortliche Ausbalancieren der Nachhaltigkeitsziele im Umgang mit Gebäuden und Boden geben Zeugnis für den christlichen Glauben.

1.3 Der theologisch-ethische Ansatz: Den Wohnungsmarkt in Metropolregionen nach dem Leitbild der sozialen und ökologischen Marktwirtschaft verantwortlich gestalten[Bearbeiten]

Es gehört zu den im Protestantismus seit der Reformation bedeutsamen sozial- und wirtschaftsethischen Einsichten, dass Eigentum sozial verpflichtet. Diese Einsicht wird einerseits auf die etwa in den Schöpfungsberichten der Bibel oder den Psalmen (beispielsweise Ps 104) vorfindliche Vorstellung zurückgeführt, dass die Güter dieser Welt als allen Geschöpfen zugewandte Gaben Gottes gelten müssen, und andererseits mit der Idee verbunden, dass wir durch die Gnade in Jesus Christus zum dankbaren Dienst am Nächsten berufen sind, wie dies etwa im Römerbrief des Paulus verdeutlicht wird. Sie hat − zum Teil unter dem Einfluss erheblicher historischer Lernprozesse − zur Ausbildung derjenigen Wirtschafts- und Sozialkultur beigetragen, die als „soziale Marktwirtschaft“ die ökonomische Orientierung an Effizienz und exklusiven Eigentumsrechten durch soziale Transfers und Regelungen zum Wohle aller temperiert und eingehegt hat (Jähnichen 2008). Sie hat unter anderem die Wahrnehmung gestärkt, dass auch Märkte keine naturwüchsigen Gebilde darstellen, sondern durch politische und rechtliche Regelungen allererst erzeugt werden und schon deswegen bleibend solcher gesellschaftlichen Regelung bedürfen. Dies gilt auch und besonders unter Bedingungen wirtschaftlicher Internationalisierung und kulturell-kommunikativer Globalisierung (Kaufmann 2000), sodass die − gegenwärtig noch zunehmenden – Regelungsdefizite im Bereich transnationaler politischer Institutionengefüge und


[20] Akteur*innen, die sich bereits während der Finanzkrise als problematisch erwiesen haben, an Dramatik gewinnen. Von der oben erwähnten Finanzialisierung des Wohnungsmarktes, in der internationale Großanleger*innen aufgrund der Niedrigzinsentwicklung nach kurzfristig realisierbarer Rendite auf Immobilienmärkten suchen, werden lokale und aufgrund geringer Vermögen nur wenig flexible Akteur*innen in unterschiedlicher Weise betroffen. Während Erwerb oder Miete städtischen Wohnraums immer höhere Anteile des Einkommens erfordern oder gar nicht darstellbar sind, geraten auch Immobilieneigentümer*innen unter Druck etwa der Finanzämter, wenn sie in ihren Mietforderungen unterhalb der erzielbaren Raten bleiben (vgl. taz 2019). Allerdings gilt es hier auch, steuerlichen Missbrauch zu vermeiden.

Die Einsicht in die Sozialpflichtigkeit des Eigentums, die in der Bundesrepublik Deutschland Verfassungsrang besitzt und etwa mit dem Menschenrecht auf Wohnung in Verbindung gebracht werden kann, wie es etwa in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 (Art. 25), dem Internationalen Sozialpakt von 1966 (Art. 11,I), der Kinderrechtskonvention von 1989 (Art. 27,3) oder der Konvention für die Rechte der Wanderarbeiter von 1990 (Art. 43,1) festgehalten ist, wird in christlicher Perspektive von der Wahrnehmung flankiert, dass wir uns in dieser Welt als Geschöpfe unter Mitgeschöpfen verstehen müssen, sodass die Idee einer schrankenlosen Verfügungsgewalt über die Natur zurückzuweisen ist (Meireis 2016). Einen politischen Ausdruck hat die Verbindung dieser Einsichten im gestaltungsoffenen Projekt einer sozialökologischen Marktwirtschaft gefunden. Die Bedeutung der Wechselwirkung von nationalen und internationalen Regelungen ist dabei auch unter dem Aspekt der ökologischen, sozialen und ökonomischen Nachhaltigkeit nicht zu unterschätzen und ist in den Diskussionszusammenhängen der Evangelischen Kirche in Deutschland immer wieder betont worden (zum Beispiel EKD 2009, 8; 2012, 351; 2014, 54; 2015, 14 u.Ä.).


Die Verbindung von sozialen und ökologischen Perspektiven auf die Marktwirtschaft bedeutet für den Bereich des Wohnungsmarktes die Berücksichtigung unterschiedlicher Aspekte. Neben Fragen der Bedürfnis- und Leistungsgerechtigkeit treten Aspekte des Klima- und Umweltschutzes, der ökonomischen Umsetzbarkeit und der dafür notwendigen Regelungsinstrumente. Weil für viele Menschen Zuzug oder Verbleib in der Stadt nicht einfach Fragen individueller Präferenz darstellen, sondern etwa mit Erwerbsgelegenheiten verbunden sind, ist die Frage nach bezahlbarem urbanem Wohnraum auch ein Thema der Gerechtigkeit. Weil die Verdichtung städtischen Wohnraums mit wohletabliertem öffentlichem Verkehrsnetz und der Ausbau bereits versiegelter Flächen geeignet sind, Arbeitswege zu verkürzen, zusätzliche Flächenversiegelung zu verhindern und damit Biodiversität zu fördern und Klimabelastung zu mindern, ist


[21] die Frage nach bezahlbarem urbanem Wohnraum auch unter Nachhaltigkeitsbestimmungen von zentraler Bedeutung. Sofern neue Wohn- und Lebensformen etwa im Alter geeignet sind, Lebensqualität zu heben und den Trend zum steigenden Wohnflächenkonsum zu mindern, gehören auch Lebensformfragen zur Thematik hinzu.

1.4 Die Zielsetzung und Grenzen der Studie – Warum äußert sich Kirche zu Fragen des Wohnungsmarktes in Metropolregionen?[Bearbeiten]

Die Studie versteht sich als ein zivilgesellschaftlicher Beitrag zum öffentlichen wie zum kirchenpolitischen Diskurs einer verantwortlichen Gestaltung des Wohnungsmarktes in Metropolregionen. Sie versucht, eine aus protestantischer Perspektive theologischethisch und fachlich informierte Zusammenschau der sozialen, ökonomischen und ökologischen Aspekte des Themas zu leisten und orientierend zur Debatte anzuregen.

Zur Ermöglichung von Zusammenschau und Orientierung skizziert sie im Anschluss an die in der Einführung (1.1–1.4) gebotene Beschreibung der Probleme und an die Skizze der normativen Grundlagen das umfassende soziale, ökologische und ökonomische Wirkungsgeflecht im Kontext des Wohnens unter Einbeziehung der ethischen Implikationen zwischen Situationen auf dem Land und in Metropolregionen in einer Situationsbeschreibung (Abschnitte 2.1 bis 2.3). Angesprochen werden Aspekte wie Infrastrukturen, Finanzierung, Erwerb, Mobilität, Gesundheitsversorgung, Bildung, Kultur oder Lebensformen. Im nächsten Schritt werden Handlungsvorschläge unterbreitet: Wie lassen sich soziale, ökologische und ökonomische Nachhaltigkeit in Bezug auf den Wohnungsmarkt in Metropolregionen in verantwortlicher Weise aufeinander beziehen, insbesondere wenn sie zueinander in Konflikt stehen (Abschnitt 3)? Für diese wohnungspolitischen Entscheidungen werden Maßnahmen vorgeschlagen. Dazu gehören: Bauland zu gewinnen und durch ökologisch wichtige Initiativen zu flankieren, Monopolrenditen abzuschöpfen, den sozialen Wohnungsbau auszuweiten, rechtliche Regeln zu vereinfachen und die Nachfrageseite zu stärken bis hin, in die Preisgestaltung einzugreifen (Abschnitt 3.1). Über diese Vorschläge hinaus, die für alle Akteur*innen des Wohnungsmarktes relevant sind, werden für das wohnungspolitische und diakonische Engagement von Kirche und Diakonie Empfehlungen skizziert (Abschnitt 3.2). Abschließend werden zentrale Aussagen des Textes thetisch zusammengefasst (Abschnitt 4). Im Anhang wird anhand eines Schemas ethischer Entscheidungsfindung exemplarisch der verantwortliche Umgang mit Immobilien im Eigentum von Kirche und Diakonie dargestellt.


[22] Die Studie versteht sich als christlich motiviertes zivilgesellschaftliches Votum an Akteur*innen im sozialpolitischen Diskurs, versucht aber auch, der Orientierung kirchlicher und diakonischer Gremien bei Entscheidungen zum Umgang mit Gebäuden und Boden in ihrem Eigentum zu dienen.


2. Die Wohnungsfrage in Metropolregionen in einer sozialen und ökologischen Marktwirtschaft[Bearbeiten]

2.1 Wohnen als soziales Phänomen[Bearbeiten]

[23] „Wohnen“ ist erneut zu einer zentralen sozialen Herausforderung geworden. Dies liegt zum einen an der Bedeutung des Wohnens für den Einzelnen und gegebenenfalls für seine Familie beziehungsweise Mitbewohner*innen: Eine Wohnung bietet Schutz vor Kälte und Hitze, Regen und Wind. Sie schafft Sicherheit gegenüber Kriminalität und grundsätzlich auch vor dem Zugriff staatlicher Macht.

Sicherheit und Schutz werden schon im Alten Testament als wertvolle Güter benannt (Jes 32,18; Jer 23,6; 49,31; Hes 28,26; Hos 2,20; Mi 5,3 u.Ä.). In Deutschland ist die Gewährung des Grundrechts der Unverletzlichkeit der eigenen Wohnung (Art. 13 GG) Ausdruck dieses hohen Gutes. Wohnungen ziehen nach der leiblichen Haut und nach der Kleidung als „zweiter Haut“ eine „dritte Haut“ als Grenze zwischen Öffentlichkeit und der Privat- und Intimsphäre. Innerhalb dieser Sphäre kann das Leben weitgehend nach selbst bestimmten Regeln gestaltet werden, hier „kann man sein, wie man ist“, hier muss man kaum Erwartungen von außen gehorchen. Innerhalb der „eigenen vier Wände“ möchten sich Bewohner*innen zu Hause fühlen und einen Rückzugsort haben. In der Wohnung werden elementare Erfahrungen von Nähe und Distanz zu anderen Menschen gemacht. Eltern können die Sozialisation ihrer Kinder selbstbestimmt gestalten, soweit sie das Kindeswohl beachten. Alle Mitglieder der Haus- oder Wohngemeinschaft können frei und selbstbestimmt Formen religiösen Lebens praktizieren. Gastfreundschaft kann nur zeigen, Besuch kann nur empfangen, wer eine Wohnung zur Verfügung hat. Das familiäre Beziehungsgeschehen wird wesentlich von der Qualität einer Wohnung mitbestimmt. Zu enge Wohnverhältnisse, zu wenige Zimmer, ein prekäres Wohnumfeld lassen Beziehungskonflikte zwischen (Ehe-)Partner*innen wie auch zwischen Eltern und Kindern leichter eskalieren und beschränken Entfaltungsmöglichkeiten. Schüler*innen finden unter solchen Voraussetzungen nur schwer gute Arbeitsbedingungen. Starke Mieterhöhungen zwingen insbesondere alte Menschen mit einer kleinen Rente oder Menschen mit sehr niedrigem Einkommen zum Umzug, der oft mit einer sozialen Entwurzelung einhergeht und auch leicht in die Obdachlosigkeit führen kann.

[24] Historisch betrachtet, ist die alteuropäische Institution des „Hauses“ (oikos) als umfassender Personen-, Sozial- und Wirtschaftsverband im Prozess der Industrialisierung bis auf wenige Restbestände zurückgedrängt worden. Auch das klassische Ethos der Haushaltsführung, die Basis der „oikonomia“ – in der Reformationszeit gelangte diese Tradition unter dem Titel der „Hausväterliteratur“ zu neuer Blüte – mit einem in der christlichen Tradition auf Verantwortung und liebevolle Verständigung der Personen ausgerichteten „Liebes-Patriarchalismus“, hat sich in dieser Form überlebt.

Allerdings beeinflusst das Sehnsuchtsbild des Hauses als geschützter und harmonischer Ort von Gemeinschaft nach wie vor unsere Vorstellung des Wohnens. Angesichts der Betonung des Gleichheitsgrundsatzes aller Menschen und einer zunehmenden Individualisierung der Lebensführung haben sich die Wohnformen hin zu Kleinfamilien und Single-Haushalten verändert. Wohnen und Erwerbsarbeit finden in der industrialisierten Gesellschaft an getrennten Orten statt. Als Reaktion auf vielfache soziale Verwerfungen in industrialisierten Räumen wurden – auch von kirchlichen und diakonischen, genossenschaftlich organisierten Initiativen – eine Vielzahl sozialreformerischer Programme entwickelt, von denen viele eine Verbesserung der Wohnverhältnisse mit der Bereitstellung von bezahlbaren, gesunden und gemeinschaftsfördernden Wohnbedingungen zum Ziel hatten. Dieses Bild bestimmte zunächst vor allem die Städte, gegenwärtig immer mehr auch den ländlichen Raum, in der Regel verbunden mit einer Zunahme der Anonymität. Diese wird von vielen geschätzt und gewünscht als Ausdruck individueller Freiheit, führt aber auch zu Einsamkeit und zur Suche nach neuen gemeinschaftlichen Wohnformen wie zum Beispiel Mehrgenerationenhäusern oder -projekten, intergenerationellen Wohngemeinschaften, sozialenStadtteilprojekten.

Eine Abschwächung dieses langfristigen Trends der Konzentration der Erwerbsgelegenheiten und Infrastruktur in Ballungsgebieten und Mittelstädten ist in der Bundesrepublik aufgrund der infrastrukturellen Lage und auch angesichts des Trends zum Homeoffice nicht zu erwarten (UN 2019), zumal diese Möglichkeit vorrangig hoch qualifizierten Arbeitnehmenden zur Verfügung steht (vgl. Ahlers 2018), sodass gegenwärtig viele Menschen vor einer bedrückenden Wahl stehen: Entweder sie akzeptieren zeitraubende und kostspielige Pendelfahrten, oder sie begnügen sich mit extrem beengten und sozial nachteiligen Wohnverhältnissen, oder sie muten sich zu, eine finanzielle Last zu schultern, die wenig Spielraum für die Gestaltung des Lebens jenseits des Wohnens lässt. Diese beschränkten Möglichkeiten belasten vor allem Familien mit mittleren und niedrigen Einkommen, die einerseits keinen oder wenig Anspruch auf staatliche Unterstützung haben, andererseits finanziell nicht in der Lage sind, auf den preislich überhitzten Wohnungsmärkten mitzuhalten.


[25] Legt man die Grenze des Belastbaren auf etwa ein Drittel des Monatseinkommens fest, wie es sich als allseits anerkannte politische Regel etabliert hat, fehlten bereits im Jahr 2014 in den Großstädten etwa zwei Millionen Wohnungen (vgl. Heinze/Neitzel 2018). Diese Zahl dürfte sich mittlerweile nochmals merklich erhöht haben. Relativierend muss aber berücksichtigt werden, dass zumindest einige Menschen aus freier Entscheidung heraus überproportional viel für das Wohnen ausgeben, etwa weil sie eine besonders große Wohnung oder aber eine besonders begehrte Lage bevorzugen und so bewusst auf anderen Konsum verzichten. Allerdings gibt es deutlich mehr Menschen, die damit Sorgen und Nöten ausgesetzt sind, und es entstehen auch gesellschaftliche Spannungen und Konflikte. Es besteht die Gefahr einer verschärften sozialen Segregation in den Städten. Ebenso erzeugen Ausweichreaktionen in Wohngebiete außerhalb der Städte einen nicht vertretbaren ökologischen Schaden. Es ist offenkundig, dass nach Jahren des Überangebots an Wohnungen im Gefolge des zerfallenden Booms im Zuge der deutschen Vereinigung die Wohnungsfrage als soziale, ökologische und wirtschaftspolitische Herausforderung wieder auf der Tagesordnung steht.


Besonders zukunftsträchtig erscheinen neue Wohnformen wie Mehrgenerationenhäuser, Wohngemeinschaften älterer Bewohner*innen oder auch mehrerer Generationen, Projekte mit Wohnungen und Gemeinschaftsräumen, genossenschaftliche Quartiersprojekte und andere mehr. Solche neuen Wohnformen entschärfen oftmals soziale Probleme und bringen soziale Ressourcen neu zur Geltung. Sie führen in ökologischer Hinsicht zu weniger Flächenverbrauch, geringerem Energieverbrauch sowie geringerem Pendelverkehr und belasten ökonomisch in geringerem Maße die jeweiligen Haushalte beziehungsweise in vielen Fällen auch die öffentlichen Haushalte der Kommunen. In ökologischer Hinsicht ergeben sich bei vielen solcher neuen Wohnformen positive Effekte: Der Flächenverbrauch pro Bewohner*in ist in der Regel geringer als in konventionellen Wohnformen. Dies wiederum macht energetische Sanierungen bestehender Gebäude wirtschaftlich lohnender. Modelle wie Carsharing sind leichter umsetzbar, sodass sie in größerem Umfang genutzt werden. Vorhandene Haushaltstechnik kann von mehr Menschen Anwendung finden, was dem Ziel der Ressourcenschonung entspricht.

In sozialer Hinsicht zeigt sich, dass ältere Menschen oder Menschen mit Behinderungen länger in ihrer eigenen Wohnung oder in einer Wohngemeinschaft leben können, weil sie in nachbarschaftliche Netzwerke eingebunden sind beziehungsweise von Mitbewohner*innen im Alltag unterstützt werden. Solche neuen Wohnformen dienen der


[26] Inklusion in kommunikativer, sozialer, kultureller und politischer Hinsicht. Gegenseitige Unterstützung der Menschen unterschiedlicher Generationen hilft zum Beispiel Alleinerziehenden, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, weil für ihr Kind oder ihre Kinder auch jenseits öffentlicher Kinderbetreuung gesorgt wird. Umgekehrt kommt älteren Menschen eine soziale Rolle zu, die Einsamkeits- und Isolationserfahrungen vorbeugt. Gemeinsames Kochen, gemeinsame Mahlzeiten, gemeinsames Feiern von Geburtstagen oder familiären Ereignissen fördern den Austausch, vermitteln Wertschätzung. Wenn Haushaltsgegenstände und PKWs oder auch Balkons und Gärten von allen Bewohner*innen einer Wohnung oder eines Wohnprojektes genutzt werden, gleicht dies soziale Benachteiligungen aus. Auch die Menschen, die weniger Einkommen haben oder eine geringe Rente beziehen, haben dennoch Zugriff auf Güter, die ein Leben angenehm und leichter machen.

In ökonomischer Hinsicht sind viele neue Wohnformen für die Bewohner*innen vorteilhaft: Während insbesondere ältere Menschen oftmals in sehr großen Wohnungen und Einfamilienhäusern wohnen, die auf Familien zugeschnitten waren und entsprechend hohe Erhaltungs- und Energiekosten verursachen, können die Mieten und Verbrauchskosten in solchen neuen Wohnformen geringer ausfallen. Haushaltsgegenstände, die bei konventioneller Wohnform oftmals nur in geringem Maße genutzt werden und die oftmals hohe Anschaffungs- und Erhaltungskosten verursachen, können in neuen Wohnformen effizienter genutzt werden. Auch für Städte und Gemeinden liegen in neuen Wohnformen ökonomische Chancen: Bislang unbrauchbare Immobilien, Schulen, Krankenhäuser, Kasernen etc., die sich nicht für eine konventionelle Nutzung eignen, können einer neuen Nutzung zugeführt werden. Solche Gebäude und Geländer können ökologisch und sozial aufgewertet werden. Industriebrachen können wiederbelebt und in das Stadtbild reintegriert werden. Auch Grundstückszuschnitte, die sich für manche Bauträger*innen als zu risikoreich darstellen würden, finden im Rahmen gemeinschaftlicher Wohnformen oft durchaus Befürwortende.

Auch über die ökologischen, sozialen und ökonomischen Vorteile hinaus gehen von solchen Wohnprojekten Effekte aus, die zukunftsweisend sein können: Solche Wohnformen werden als „normale“ Lebensformen mit hoher Lebensqualität wahrgenommen, konventionelle Lebensformen, die trotz partieller Unzufriedenheiten weiter verfolgt werden, werden in Frage gestellt. Mit dem Erleben neuer Wohnformen und ihrer Attraktivität entstehen Debatten über Lebensqualität in verschiedenen Lebenslagen, über die Bedeutung von Selbstbestimmung und Gemeinschaft in ihrer wechselseitigen Bezogenheit. Das Spektrum der Leitbilder attraktiver Wohnformen wird weiter und nicht nur von Darstellungen der Wohnungs- und Finanzwirtschaft geprägt.


2.2 Bodennutzung, Bauen, Stadtentwicklung und Wohnen in ökologischer Perspektive[Bearbeiten]

[27] Ökologische Aspekte des Wohnens können in Spannung zu sozialen und ökonomischen Aspekten stehen. Deswegen müssen sie zusammen gedacht und nach Möglichkeit in Einklang gebracht werden. Ziel muss es sein, ein klimafreundliches und ressourcenschonendes Wohnen möglich zu machen, das lebenswert und sozial gerecht ist und das zugleich ökonomische Ressourcen schont.

Der Gebäudesektor spielt eine große Rolle für den Klimaschutz und alle Energieeinsparziele. 36% des Endenergieverbrauchs entfallen auf den Gebäudesektor, rund zwei Drittel hiervon auf Wohngebäude. Mit einer Emission von 190 Millionen Tonnen Kohlendioxid im Jahr 2015 verursacht der Gebäudesektor rund ein Viertel aller Emissionen (vgl. dena 2018). Vergegenwärtigt man sich, dass neue Gebäude nur ein Drittel der Energie von Bestandsgebäuden von vor 1979 verbrauchen, werden die enormen Einsparpotenziale des Gebäudesektors deutlich. Allerdings ist auch festzustellen, dass die Potenziale nur sehr langsam gehoben werden. Aktuell entspricht die Sanierungsquote, die angibt, wie viele Immobilien rechnerisch voll saniert werden, nur etwa 1%, notwendig wären aber eher 1,5 bis 2%, je nach Berechnungsmethode (vgl. Henger/Runst/Voigtländer 2017). Trotz sehr niedriger Zinsen wird also offensichtlich zu wenig in den Gebäudebestand investiert. Insbesondere der Mietwohnungssektor hat Nachholbedarf, Selbstnutzer*innen investieren insgesamt mehr in die Bestände (https://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/veroeffentlichungen/analysen-kompakt/2018/ ak-09–2018-dl.pdf?__blob=publicationFile&v=1).

Im Mietwohnungsbereich liegt ein sogenanntes Investor-Nutzer-Dilemma vor: Nutzende profitieren von der Energieeinsparung und auch dem gestiegenen Komfort, Investor*innen profitieren dagegen nur dann, wenn sie auch höhere Mieten erzielen.

Trotz der Anspannung im Wohnungsmarkt in Ballungsräumen ist es in vielen ländlich geprägten Regionen Deutschlands aber kaum möglich, höhere Mieten durchzusetzen, auch wenn mit der Modernisierungsumlage die rechtlichen Möglichkeiten vorhanden sind. Schließlich können bei immer noch zwei Millionen leer stehenden Wohnungen in vielen Regionen die Menschen in günstigere Wohnungen ausweichen, sodass Investor*innen in diesen Regionen vorsichtig agieren. Werden hingegen die Kosten auf die Mietenden überwälzt, verlieren diese wegen der höheren Kaltmiete das Interesse an der Modernisierung, wehren sich sogar teilweise


[28] dagegen. Insofern ist auch das Interesse aus Mietparteisicht begrenzt, auch wenn es über die nächsten Jahrzehnte wegen tendenziell steigender Kosten für konventionelle Energie deutlich zunehmen wird – Mietende haben aber in der Regel nur einen kurzen bis mittleren Planungshorizont. Aus diesem Trilemma zwischen ökologischer Notwendigkeit, zahlbaren Mieten und auskömmlichen Mieterträgen folgt, dass weniger investiert wird, als gesellschaftlich erwünscht ist.

Anders stellt sich die Situation aber in den Ballungsräumen dar. Dort ist das Angebot derzeit so begrenzt, dass auch sehr hochpreisige Wohnungen Mietende finden. Gerade als die Modernisierungsumlage noch bei 11% lag, konnte bei geringen Zinsen mit der Modernisierung eine zusätzliche Rendite erwirtschaftet werden. Dies hat dazu geführt, dass einige Investor*innen sehr viel und über den Bedarf und die finanzielle Leistungsfähigkeit ihrer Mietenden hinaus investiert haben, was bei einigen Mietparteien zur Verdopplung und mehr der Nettokaltmiete geführt hat. Diese Extremfälle machen deutlich, dass es ein Spannungsfeld zwischen Klimaschutz und sozial verträglichen Mieten beziehungsweise rentablen Mieterträgen gibt, insbesondere da in den sanierungsbedürftigsten Wohnungen oftmals die einkommensschwächsten Haushalte leben (vgl. Voigtländer 2018). Mit der Absenkung der Modernisierungsumlage auf 8% und vor allem der absoluten Begrenzung auf zwei Euro je Quadratmeter bei Nettokaltmieten unter sieben Euro und drei Euro bei über sieben Euro Miete sind die Fehlanreize deutlich reduziert, gleichzeitig aber auch die Anreize für energetische Sanierungen gemindert. Das Gleichgewicht wurde zu Lasten der ökologischen Sanierung neu austariert.

(https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Infografiken/Energie/Energiedaten/ Energiepreise-und-Energiekosten/energiedaten-energiepreise-35.html) Quelle: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) auf der Basis der Indexwerte des Statistischen Bundesamts (StBa)


[29] Um die energetische Sanierung voranzubringen, ist es somit notwendig, nochmals eine neue Balance zu finden. Ein wichtiger Schritt ist die adäquate Bepreisung von Kohlendioxid. Entscheidend ist dabei nicht der Startpreis für Kohlendioxid, sondern vor allem dessen langfristige Entwicklung, denn damit werden glaubwürdige Signale für Haushalte und Investor*innen gesetzt. Müssen diese damit rechnen, dass Energie auf Dauer deutlich teurer wird, wird die Nachfrage entsprechend gelenkt und Investitionen angestoßen. Ein Problem dieses Ansatzes ist, dass der Marktpreis für Energie wesentlich stärker schwanken kann als der Preisaufschlag für den Verbrauch von Kohlendioxid. So geht bei stark sinkenden Marktpreisen zumindest kurzfristig der Anreiz zu einem ökologischen Verhalten verloren. Eine Alternative ist, einen ökologischen Zielpreispfad für konventionelle Energie zu definieren und den Abgabensatz für Kohlendioxid entsprechend flexibel zu gestalten. Eine zweite Alternative ist, die Bepreisung von Kohlendioxid mit langfristig angekündigten Regulierungsvorgaben für den Schadstoffausstoß zu kombinieren und damit den künftigen Preisanstieg mit größerer Sicherheit zu provozieren. Einnahmen aus der Bepreisung sollten konsequent genutzt werden, um etwa, wie in der Schweiz praktiziert, einkommensschwache Haushalte zu unterstützen und um Förderungen für die energetische Sanierung zu finanzieren. Die Förderung energetischer Maßnahmen ist aktuell sehr unbefriedigend, weil es zum einen eine sehr komplexe Förderlandschaft gibt, zum anderen die Bundesregierung seit vielen Jahren eine steuerliche Förderung in Aussicht stellt, diese aber immer wieder aufgrund von Widerstand in den Ländern verschoben wurde – auch dies trägt zu einer abwartenden Haltung der Akteur*innen bei. Es wäre zu erwägen, die Beteiligung der Mietenden an der Sanierung auf eine neue Basis zu stellen. Schließlich schwächt eine Anknüpfung an den Kosten den Anreiz zur Sanierung. Vielmehr sollte die Beteiligung am Nutzen erfolgen, der sich etwa an der Zahlungsbereitschaft am Markt für sanierte Wohnungen zeigt, also an den entsprechenden Mietpreisaufschlägen. In den Niederlanden wird auf diese Weise verfahren, wobei aus Vereinfachungsgründen Zuschläge über ein Punktesystem ermittelt werden. Damit bestünde auf Investor*innenseite der Anreiz, nur solche Investitionen umzusetzen, für die es auch eine Zahlungsbereitschaft gibt. Bei gesellschaftlich gewünschten energetischen Sanierungen würde eine fehlende Zahlungsbereitschaft der Haushalte durch Förderungen kompensiert.

Für den Klimaschutz ist aber nicht nur der Energieverbrauch je Quadratmeter entscheidend, sondern auch der Wohnflächenverbrauch. Denn je weniger Fläche verbraucht wird, desto geringer ist auch der Kohlendioxidausstoß. Insgesamt steigt der


[30] Wohnflächenverbrauch je Kopf immer weiter, auch wenn zuletzt die Zuwachsraten geringer waren. Lediglich in den Großstädten hat sich die Entwicklung geändert, hier ist der Wohnflächenverbrauch zuletzt gesunken – wahrscheinlich eine Reaktion auf stark steigende Mieten (vgl. Kohl/Sagner/Voigtländer 2019a). Es zeigt sich, dass Mieten als Knappheitsindikator funktionieren und auch einen Effekt auf die Nachfrage haben. Internationale Studien zu Städten mit Mietstopps zeigen dagegen, dass der Flächenverbrauch eher weiter zunimmt (vgl. Diamond/McQuade/Qian 2019). Der Rückgang des Wohnkonsums in den Großstädten ist auf die Wahl kleinerer Wohnungen zurückzuführen. Das ruft teilweise die Gefahr einer Überbelegung hervor. Dies bedeutet, dass mehr Personen in einem Haushalt leben, als Räume vorhanden sind. Die entsprechende Quote ist seit 2010 von rund 5 auf über 7% in den Großstädten gestiegen. Hier wird ein weiterer Spannungspunkt zwischen Klimaschutz und sozialen Erfordernissen deutlich.

Generell ist es richtig, die Nutzung des Bestands zu optimieren. Gerade ältere Menschen leben in Wohnungen, die – oft nach ihren eigenen Aussagen – viel zu groß sind. Über Untervermietungen, die oben angesprochenen neuen Wohnformen, den Wohnungstausch, bauliche Maßnahmen zur Schaffung von Einliegerwohnungen oder aber den Ausbau von Dächern ließe sich neuer Wohnraum schaffen beziehungsweise der vorhandene Wohnraum besser nutzen. Insbesondere Letzterer sollte im Zuge einer behutsamen Nachverdichtung explizit gefördert werden. Im Ausbau von Dächern liegt ein immenses und dringend benötigtes Potenzial. In Frage dafür kommen beispielsweise Wohnimmobilien, Parkhäuser, Büro- und Verwaltungsgebäude oder auch eingeschossige Einzelhandelsimmobilien. Rechnet man die mögliche Umnutzung von Leerständen (zum Beispiel in Verwaltungsgebäuden) bundesweit dazu, so ließen sich laut Studien bis zu 2,7 Millionen Wohnungen in deutschen Ballungsräumen realisieren (vgl. Deutschlandstudie 2019).

Insgesamt ist eine gezielte Innenentwicklung, das heißt die Nutzung von vorhandenen Brach-, Grün-, Konversionsflächen oder der Bau von Hochhäusern ein wichtiger Baustein für eine nachhaltige Stadtentwicklung. Doch die Potenziale dieser Innenentwicklung sind zunehmend erschöpft, hinzu kommt, dass eine intensivere Bebauung auch mit innerstädtischen Überhitzungsphänomenen im Zuge des Klimawandels verbunden ist. Die Menschen in den Städten müssen in Zukunft besser vor den Folgen von Hitze und Starkregen geschützt, ihre Lebensqualität muss gesteigert werden. Hilfreich sind kühlende und wasserspeichernde Grünflächen und Grünzüge, Regenwasser-Rückhalteflächen sowie Fassaden- und Dachgrün. Jedoch steht diese Nutzung in unmittelbarer Konkurrenz zu mehr und zusätzlichem Wohnraum.


[31] Mit dem Neubau von Wohnraum sind weitere ökologische Herausforderungen verbunden. Um alle relevanten Potenziale hierfür zu heben und nicht durch zu starke Nachverdichtung innerhalb der Stadt zusätzliche ökologische Probleme zu schaffen, ist eine gezielte Außenentwicklung wichtig. Das heißt, bestehende Stadtviertel sollten erweitert und neue Stadtviertel gebaut werden. Damit werden aber mehr Flächen versiegelt, was dem im Rahmen der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie proklamierten 30-Hektar-Ziel, also die Zahl der täglich versiegelten Flächen von heute rund 56 Hektar auf 30 Hektar zu reduzieren, auf den ersten Blick widerspricht. Allerdings sollten die ökologischen Rückwirkungen auf bestehende Viertel durch gezielte Maßnahmen beim Bau neuer Stadtviertel nicht außer Acht gelassen werden. Städte wie Wien, Kopenhagen, Helsinki oder Bordeaux zeigen, wie neue Stadtviertel nicht nur zusätzlichen Raum für Wohnen und Arbeiten schaffen, sondern wie durch eine gute Verkehrsplanung auch die Nutzung des ÖPNV insgesamt intensiviert werden kann. Außerdem können sozial durchmischte Quartiere geschaffen werden, bei denen durch Quartierskonzepte auch der Energieverbrauch deutlich reduziert werden kann. In Regionen, in denen die Bevölkerung abnimmt, sollte auf größere Neubaugebiete tendenziell verzichtet werden. Der Ausgleich zwischen den wachsenden und schrumpfenden Regionen könnte zum Beispiel über den Flächenhandel gelingen (vgl. Umweltbundesamt 2018). Beim Flächenhandel wird analog zum Zertifikatehandel bei Kohlendioxid den Kommunen das Recht zugestanden, in gewissem Umfang Bauland auszuweisen. Diese Rechte sind handelbar, sodass Kommunen mit sinkender Bevölkerung die Zertifikate verkaufen, Großstädte diese dagegen erwerben können. Damit könnte nicht nur das 30-HektarZiel verbindlich erreicht, sondern auch ein zusätzlicher finanzieller Ausgleichsmechanismus zwischen wachsenden und schrumpfenden Kommunen geschaffen werden.

Eine nachhaltige Stadtentwicklung, die die ökologischen Kosten von Innen- und Außenentwicklung einbezieht, muss auch das Thema Verkehr in den Blick nehmen, um Klimaschutzpotenziale zu heben. Mit den richtigen Weichenstellungen im Verkehrsbereich können Städte und Gemeinden zudem auch ein ganzes Stück lebenswerter werden. Stadtentwicklungsplanung und Verkehrsplanung gehören unmittelbar zusammen. Schlecht geplante und raumgreifende Zersiedelung lässt Städte in die Fläche wachsen, was neben der Versiegelung auch zu einem erhöhten Verkehrsaufkommen führt und die Anbindung an den ÖPNV verteuert. Eine gute und nachhaltige Stadtentwicklung kann also auch neuen Problemen im Verkehr entgegenwirken.

In wachsenden Städten ist das Verkehrsaufkommen insgesamt über alle Verkehrsträger hinweg in den letzten Jahren gestiegen. Diese Entwicklung führt zu einer zunehmenden Konkurrenz um Flächen im öffentlichen Raum. Gleichzeitig verschieben sich


[32] aber die Relationen. So ist der Anteil des PKW-Verkehrs, der den höchsten Flächenverbrauch pro beförderter Person hat, in den deutschen Städten seit über zehn Jahren rückläufig. Parallel nimmt der Anteil der Wege zu, die mit dem Fahrrad, zu Fuß und dem ÖPNV zurückgelegt werden (vgl. These 03 in Agora Verkehrswende 2017).

Vor diesem Hintergrund eines sich ändernden Mobilitätsverhaltens und -bewusstseins finden in vielen Städten in Deutschland Diskussionen über die Aufteilung der öffentlichen Verkehrsflächen statt, die durch Versuchsanordnungen im Rahmen der Corona-Krise befördert wurden. Radfahrende fordern beispielsweise zunehmend breitere und sicherere Radwege ein (unter anderem Berlin, Hamburg). Andere Städte (zum Beispiel Düsseldorf) richten Umweltspuren ein, die nur von Bussen, Fahrrädern, Taxen, elektrisch betriebenen Fahrzeugen sowie Fahrzeugen mit drei oder mehr Insass*innen befahren werden dürfen.

Ziel sollte es sein, den Straßenraum stärker zum Vorteil von Rad- und Fußverkehr umzustrukturieren und öffentliche Räume auch in dichten Stadtvierteln lebenswerter zu gestalten. Diese Maßnahmen können gleichzeitig dazu führen, die Luftqualität in Städten zu verbessern. Laut Umweltbundesamt wurden im Jahr 2017 die Grenzwerte für Stickstoffoxide in 65 Städten überschritten. Davon sind nicht nur Metropolen wie München und Köln betroffen, sondern auch Städte wie Düren oder Limburg an der Lahn.

Für die wachsenden Städte ist allerdings auch ein leistungsfähiger Wirtschaftsverkehr (Güterverkehr, Dienstleistungsverkehr) unerlässlich. Er stellt die Versorgung und Entsorgung der Städte sicher. Dieser Verkehr findet in vielen Teilen über den motorisierten Individualverkehr (LKW, Vans, PKW) statt. Sofern möglich, sollten auch hier als Alternative in stärkerem Maße Lastenräder eingesetzt werden. Dabei ist allerdings zu beachten, dass diese Möglichkeiten deutlich eingeschränkt sind. Nach Untersuchungen des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt können gegenwärtig lediglich 0,8–3,8% der Fahrleistung (Szenario 1–3) durch Lastenräder abgewickelt werden (vgl. Gruber/Rudolph 2016).

Um genau das zu unterstützen, ist eine effizientere Parkraumbewirtschaftung sinnvoll, denn parkende PKWs – der sogenannte ruhende Verkehr – nehmen einen großen Teil öffentlicher Flächen in Anspruch. Um realistische Alternativen zum Auto zu etablieren, müssen die Flächen, die insbesondere der ruhende Verkehr für sich bindet, reduziert und gleichfalls für Radwege, Straßenbahntrassen und Busspuren freigegeben werden. Vor allem in Städten besteht hier ein immenses Potenzial. Vier von zehn Autofahrten in der Stadt sind unter fünf Kilometer lang – Distanzen, die ebenso gut mit dem Fahrrad oder sogar zu Fuß erledigt werden könnten (vgl. Umweltbundesamt 2019a).


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--Methodios (Diskussion) 09:35, 29. Apr. 2021 (CEST)Beantworten