Projekt Diskussion:Aktion wasserdicht/Wohnungslosigkeit
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Die Reichen müssen weichen "Die beste Kriminalpolitik liegt in einer guten Sozialpolitik", meinte Franz von Liszt vor über 110 Jahren, weil in den Gefängnissen und Zuchthäusern die Armen nahezu unter sich waren. Das wird seither immer wieder zitiert, so auch von Frau Reker im Bericht des Stadt-Anzeigers zum Präventionstag, der am Montag in Köln beginnt. www.praeventionstag.de Heute sind die Armen im Gefängnis immer noch unter sich und in der Gesellschaft findet keine Auseinandersetzung um die Frage statt, warum Armut, Not und Unsicherheit bisher nicht überwunden wurden, wenn ihnen ein mächtiger Sozialstaat, unterstützt von den Wohlfahrtsverbänden, seit über 150 Jahren den Kampf ansagt. Auch die Daten des Bundeskriminalamtes lassen fragen, ob die beste Kriminalpolitik tatsächlich in einer guten Sozialpolitik liegt. Die Bundeslagebilder Wirtschaftskriminalität des BKA werden so vorgestellt: „Die durch die Wirtschaftskriminalität verursachten Schäden belaufen sich auf über 50 % des Gesamtschadensvolumens aller in der Polizeilichen Kriminalstatistik erfassten Straftaten.“ https://www.bka.de/.../wirtschaftskriminalitaet_node.html Mit anderen Worten: die sogenannten „weiße Kragen-Täter“ richten einen größeren finanziellen Schaden an als alle armen Diebe, Einbrecher, Räuber und Betrüger zusammen. Trotzdem hält sich in der Öffentlichkeit die Wahlverwandtschaft von arm und kriminell. Prodosh Aich und Otker Bujard haben sich in ihrem Buch „Soziale Arbeit. Beispiel Obdachlose“, erschienen 1972 im Verlag Kiepenheuer & Witsch, mit der Geschichte der Armenhilfe befasst. Sie stellen fest, dass die Einstellung zur Armut in der heutigen Gesellschaft immer noch geprägt ist von der des Christentums. „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist“ und „Jedermann sei der Obrigkeit untertan“ lernt jedes Schulkind. Es war nicht die Idee der christlichen Nächstenliebe, Armut und Ungerechtigkeit zu beseitigen. Ihre Idee war nur, Armut und Ungerechtigkeit erträglich zu machen. Entsprechend war das Ziel der sich Ende des 19. Und Anfang des 20.Jahrshunderts gründenden Wohlfahrtsverbände den Armen „zum Existenzminimum zu verhelfen und nicht, durch eine Veränderung der Gesellschaftsordnung die Verteilung der Güter so zu gestalten, daß Armenhilfe in absehbarer Zeit überflüssig würde. Es ging allein darum, krasses Elend zu beseitigen und damit einen Beitrag zur Sicherung der öffentlichen Ordnung zu leisten. Diese beschränkte Zielsetzung lässt vermuten, daß neben der christlichen Barmherzigkeit auch die Sicherheit der herrschenden Klasse eines der wichtigen Motive für die Schaffung der organisierten Armenpflege geworden ist.“ Auch in der kritischen Kriminologie hat man sich für den Zusammenhang von wirtschaftlichen Verhältnissen, Sozialstruktur und Kriminalpolitik interessiert. Die Fragestellungen lauten: Werden arme Leute durch das Strafrecht häufiger kriminalisiert als andere? Und weshalb ist das so? Helga Cremer-Schäfer im Heft 4/1998 der Neuen Kriminalpolitik zur Frage: Weshalb Arme so leicht kriminell werden müssen: „Das Strafgesetz missbilligt in seinen wichtigsten Teilen (und „Delikten“) die Handlungsstrategien und Mittel, auf die junge, mittellose undisziplinierte, fremde Männer zurückgreifen, wenn sie Konflikte oder Ausschließungssituationen bearbeiten und dabei auch noch Männlichkeit darstellen: Wer die Verbindung von Lohnarbeit und Konsum ignoriert, wer – ohne Eigentum, Beziehungen oder geschickter Nutzung von Netzwerken – als letztes Machtmittel Gewalttätigkeiten benutzt, wer sich dabei opportunistisch und willkürlich gegen andere mittel- oder wehrlose Personen wendet oder gegen besonders machtvolle, der gibt bessere ‚Gelegenheiten für Anzeigen’ als andere. Es ist ziemlich aus der Mode gekommen, die ‚Anwendungsregeln’ für Strafgesetze zu untersuchen.“ (S.34) Auf dem Präventionstag treffen sich Polizist*innen und Jurist*innen, Sozialarbeiter*innen und Sozialwissenschaftler*innen. Sie alle sind gemeint, wenn Prodosh Aich und Otker Bujard in ihrer Auseinandersetzung mit der Armenhilfe schreiben: „Die Sozialarbeit hat bis zum heutigen Tag nicht das Ziel die Ursachen dafür zu beseitigen, daß ein Teil der Gesellschaft Sozialhilfe in Anspruch nehmen muß, sondern sie nimmt als unabänderliche Tatsache an, daß ein Teil der Gesellschaft auf diese Hilfe angewiesen ist.“ (S.54) „Würde die etablierte Sozialarbeit nicht davon ausgehen, daß es immer Hilfsbedürftige geben wird, so hätte sich weder der Berufszweig des Sozialarbeiters entwickeln, noch würde die Sozialarbeit als Lebensaufgabe aufgefaßt werden können.“ „Was soll mit den vielen Funktionären der Sozialämter und der freien Wohlfahrtsverbände geschehen, wenn durch eine veränderte Sozialordnung das Problem der ungleichen Verteilung und daher auch der Bedarf an Hilfe völlig verschwinden würde?“ (S.55)
--Methodios (Diskussion) 07:21, 9. Mai 2021 (CEST)
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Kassel. "Der Tagessatz – das Straßenmagazin". So pries viele Jahre lang einer der Verkäufer sein Blatt in der Kasseler Königsstraße an. Passanten kannten ihn und die Handvoll anderer Verkäufer in der Innenstadt; akzeptierten das Geschäftsmodell, das sozial Schwachen Arbeit und Lohn und so ein besseres Leben ermöglichen sollte.Doch jetzt gibt es Zoff: EXTRA TIP-Leser riefen in der Redaktion an und beschwerten sich: "Da verkaufen doch mittlerweile nur noch Ausländer! Und dazu aggressiv", berichteten die Anrufer. Stimmt es, dass beim Verkauf vermehrt auf Sinti und Roma oder rumänische Verkäufer gesetzt wird?Offensichtlich ja: "Wir haben derzeit ungefähr 15 Verkäufer, davon sind sieben bis acht Sinti und Roma oder Rumänen", erklärt Tagessatz-Redaktionsleiter Harald Wörner. Noch vor einem Jahr seien es acht bis zehn Stammverkäufer gewesen, jetzt habe man sich auch den Osteuropäern geöffnet. Probleme zwischen deutschen Stammverkäufern und den neuen gibt es angeblich nicht. Aber: "Subjektiv fühlen sich manche deutsche Verkäufer untergebuttert," so Wörner. Das Team des Tagessatzes versucht, Streitigkeiten untereinander zu verhindern, für eine gute Außendarstellung zu sorgen. So sind die Verkäufer verpflichtet, sichtbar Ausweis und Tagessatz-Mütze zu tragen. Werden Verkäufer aggressiv oder aufdringlich, folgen Gespräche, bei wiederholten Problemen wird entlassen. Wörner: "Aggressiven Verkauf oder ‘Am-Arm-zuppeln’ darf es natürlich nicht geben". Gibt es es den doch, empfiehlt Wörner Fotos mit dem Handy als Beweis zu machen oder Zeugen vorzuweisen. "Nur auf Verdacht können wir nicht allen Hinweisen nachgehen." Vertriebsinspektoren gäbe es nicht.Wörner bedauert den Schritt, Sinti und Roma in die Verkäuferpositionen gelassen zu haben, nicht. Wenn die Menschen die europäische Öffnung nutzen, dann sei "das ein politisches Thema, nicht unseres". Für ihn und sein Team ist in dieser Sache etwas anderes gefordert: "Wir brauchen derzeit viel soziale Kompetenz ". +++Was ist der Tagessatz?+++ Ziel des Tagessatzes ist es, Menschen in besonderen Lebensverhältnissen mit sozialen Schwierigkeiten ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen und sie bei der Überwindung ihrer Schwierigkeiten zu unterstützen, soweit sie dazu nicht selbst in der Lage sind.Im Vordergrund steht hier der Verkauf des Magazins. Die Verkäufer erhalten durch den täglichen Verkauf des Magazins wieder Struktur in ihrem Leben: eine feste Arbeitszeit und eine Aufgabe. Mehr Informationen auch auf www.tagessatz.de. +++Zwischenruf von Thomas Lange+++ Der Tagessatz – das ist für mich gelebte Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Das ist Integration gepaart mit dem öffentlichen Hinweis auf soziale Missstände in unserer Gesellschaft. Schützen- und lobenswert gleichermaßen.Doch die jetzige Entwicklung wirft einen Schatten auf die Arbeit: Sollte stimmen, was einige Verkäufer empfinden, nämlich verdrängt zu werden von osteuropäischen Neu-Verkäufern, dann wird die tolle Arbeit der letzten Jahre schnell zu nichte gemacht. Die Wirtschaftsflüchtlinge aus dem Osten nehmen – wie ich hörte rücksichtslos und mit viel Ellenbogenmentalität – einen Platz ein, der für sie gar nicht gedacht war. Sie sind in der Regel keine Haftentlassenen, Ex-Junkies oder Obdachlose, die zurück ins Leben finden. Sie kommen – dank offener Grenzen und Freizügigkeit – aus der Armut ihrer Länder (Bulgarien, Rumänien) und sehen im Verkauf der Zeitung schlicht ein Beschäftigungsfeld zum Geld verdienen, früher sagte man für "eine schnelle Mark". Die Grundidee der Wiedereingliederung in die Gesellschaft geht dabei verloren. Der Tagessatz muss aufpassen, nicht an Glaubwürdigkeit und Akzeptanz zu verlieren, wenn bald über die Maßen viele Osteuropäer das Blatt verkaufen.
Zoff um den Tagessatz: Osteuropäer drängen in Verkäufer-Jobs. 21.06.14 14:55 lokalo24.de Einer der mittlerweile bekannten Tagessatzverkäufer in der Innenstadt. Er und seine alteingesessenen Kollegen haben durch Rumänen und Sinti und Roma nun weitere Verkäufer dazu bekommen. Das schmeckt nicht allen und sorgt für verwunderte Blicke von Passanten. Foto: Lange© Lokalo24.de Sorge um Wandel zum Bettelblatt: Was wird aus dem Tagessatz, wenn vermehrt Osteuropäer die Straßenzeitung verkaufen?
--Methodios (Diskussion) 23:34, 12. Sep. 2020 (CEST)
Die Lage vieler Obdachloser ist verzweifelt. Corona verschärft die Situation zusätzlich. (picture alliance / Geisler-Fotopress / Christoph Hardt)
Die Stimmung ist gereizt abends um halb acht vor der Notunterkunft der Stadtmission am Berliner Hauptbahnhof. „Einfach hinten anstellen, dann können Sie auch rein.“ „Let me go, no food, no nothing, just sleep.“ „Ja, aber Sie müssen trotzdem warten wie alle anderen.“
Etwa 25 Obdachlose stehen in einer langen Schlange und warten darauf, in die Stadtmission hineingelassen zu werden. Denn bevor es eine warme Suppe und ein Bett für die Nacht gibt, ist hier ein Corona-Schnelltest verpflichtend, jeden Tag aufs Neue. Und das bedeutet anstehen und warten. Auf eine Wartenummer, dann auf den Test und dann auf das Ergebnis.
Für gute Laune sorgt das nicht: „Na da jeden Tag mit nem Stäbchen in den Hals zu gehen, das ist überflüssig. Das kann man mal ab und zu machen, aber doch nicht jeden Tag. Schlechte Idee. Corona Virus no! What is Corona Virus? Three bottles wodka, is no Corona Virus.“
Auf drei Flaschen Wodka will sich die Stadtmission bei der Bekämpfung des Virus lieber nicht verlassen – und der Berliner Senat auch nicht. Die Corona-Schnelltests für Obdachlose bezahlt das Land Berlin. 120.000 Testkits wurden im Dezember in den Wohnungsloseneinrichtungen der Stadt verteilt.
- Coronatest für Obdachlose – Stimmung in Notunterkünften ″wie ein Pulverfass″
Essen und Übernachtung nur bei negativem Corona-Schnelltest – so sieht die neue Wirklichkeit in Berliner Notunterkünften für Obdachlose aus. Was gut gemeint ist, verlängert die Abläufe, verärgert viele Obdachlose und verunsichert das Personal in den Notunterkünften.
Für Obdachlose, also für Menschen, die tatsächlich auf der Straße leben, gibt es in Berlin ungefähr 1.000 Notübernachtungsplätze – die Plätze hier bei der Stadtmission gehören auch dazu. Darüber hinaus sind in der Hauptstadt fast 34.000 Menschen wohnungslos, das heißt, sie haben keine eigene Wohnung und leben dauerhaft in öffentlichen Unterkünften, zum Beispiel in Wohnheimen.
Kältehilfe: „Jetzt dürfen nur noch 80 Leute rein“
In vielen Unterkünften werden nun Schnelltestes gemacht, aber nicht in allen. Das liege daran, dass nur Menschen mit medizinischer Ausbildung die Tests durchführen dürfen, kritisiert Berlins Sozialsenatorin Elke Breitenbach und fordert eine Korrektur dieser Bestimmung: „Weil wir finden keine Ärzte, die sich von 17 bis 23 Uhr vor eine Kältehilfeeinrichtung stellen. Und wir sind darauf angewiesen, dass wir da jetzt Unterstützung kriegen. Weil das ist tatsächlich nochmal ein ziemlich hoher Schutz. Wenn wir testen und feststellen, wo Leute positiv sind, weil da ja auch durchaus die Symptome unterschiedlich sind, oder auch gar nicht sind.“
Bei der Stadtmission am Hauptbahnhof testen aufgrund eines gemeinsamen Projekts mit der Charité Ärzte und ausgebildete Pflegekräfte. Jeden Abend stehen deshalb nun am Eingang der Notunterkunft vier Menschen mit blauen Plastikkitteln, Mundschutz und Visier vor dem Gesicht und entscheiden per Teststäbchen über ihr Schicksal – so zumindest sähen das die Obdachlosen, sagt Ulrich Neugebauer, der Leiter der Kältehilfe in der Lehrter Straße. Wegen der Corona-Bestimmungen musste er die Anzahl der Schlafplätze hier um knapp die Hälfte reduzieren.
„Ich habe das Gefühl, es ist wie ein Pulverfass. Das merken wir eben, wie die Leute mit uns umgehen, wie die Aggression und die Gewalt gegenüber Mitarbeitenden steigt. Die stehen alle freundlich vor einem, lächeln einen an und sagen, wieder testen, ja. Und in ihnen kocht es, ich habe doch gestern getestet, aber du kommst nur rein, wenn du testest, sonst gehst du weg. Und früher war die Lehrter Straße immer ein Ort, du konntest 4,5 Promille haben, du konntest vorher jemanden umgebracht haben, du kamst immer hier rein, immer, die ganze Nacht. Und jetzt dürfen nur noch 80 Leute rein. Und jetzt stehen die hier und wissen, wenn ich nicht rechtzeitig dastehe, bekomme ich keinen Platz. Und das macht total Druck.“
- Leiter der Bahnhofsmission am Berliner Zoo – „Obdachlose sind keine Marsmännchen“ - Er ist der Chef der größten Bahnhofsmission Deutschlands: Dieter Puhl und sein Team arbeiten am Berliner Bahnhof Zoo. Viele Obdachlose hätten psychische Probleme oder seien Alkoholiker, meint er. Auch denen sollte man etwas geben, denn ein Bier könne Leben retten.
Wer an seinem Arbeitsplatz wohnte, steht vor dem Nichts
Eine Notunterkunft in Berlin musste bisher geschlossen werden, weil dort zehn Menschen positiv getestet wurden. In einer sogenannten „Nacht der Solidarität“ vor einem Jahr sind knapp 2.000 Menschen in Berlin gezählt worden, die draußen übernachten. Hilfsorganisationen vermuten aber, dass es tatsächlich mindestens doppelt so viele sind. Ungefähr 60 Prozent der Berliner Obdachlosen stammen den Schätzungen zufolge aus Ost- und Südosteuropa. Und insgesamt seien durch Corona jetzt eher mehr Menschen auf der Straße als vorher, vermutet der Historiker Nico Rollmann, der eine Studie zum Thema Obdachlose in Corona-Zeiten erstellt hat.
„Das geht zum Beispiel um die sogenannten undokumentierten Arbeiter und Arbeiterinnen, ja früher hätte man gesagt um die, die eben schwarz arbeiten, die oft aus Südost- oder Osteuropa kommen und da an ihrem Arbeitsplatz mitunter auch wohnen. Die haben ihre Jobs jetzt sehr oft verloren und sind dann auf der Straße gelandet. Oder vielleicht um ein anders Beispiel noch zu nennen, die Sexworkerinnen. Also wie man ja weiß gibt es in Berlin eine große Sexindustrie. Die Frauen, die dann teilweise auch in diesen Bordellen leben, die sind geschlossen worden und die Frauen sind dann auch teilweise auf der Straße gelandet.“
Übernachten im Hostel, danach wieder auf die Straße
Mit den 1000 Notübernachtungsplätzen für Menschen, die auf der Straße leben, hat Berlin inzwischen wieder fast genauso viele wie vor der Pandemie. Weil nicht mehr so viele Menschen an einem Ort übernachten sollen, hat die Sozialverwaltung Zusatzunterkünfte geschaffen. Neben den altbekannten Adressen, wie zum Beispiel der am Hauptbahnhof, gibt es jetzt unter anderem auch Übernachtungsplätze in drei Hostels, die das Land Berlin angemietet hat. Wegen Corona hatten die Hostels ohnehin keine Gäste und profitieren jetzt von dem Arrangement, genau wie die Obdachlosen. Allerdings müssen auch die Hostels wie alle anderen Notübernachtungsplätze morgens wieder verlassen werden.
In einem der Hostels in Berlin Adlershof schlafen heute Nacht der junge Pole Gregor und seine Freundin: „Wir haben den Job verloren wegen dieser Corona Krise. Wir haben gearbeitet Probezeit in einem Hotel, ja das lohnt nicht für die Hotels, die Mitarbeiter zu halten, deswegen haben wir die Kündigung gekriegt, danach waren wir drei Wochen in einer Pension, danach leider, das Geld war vorbei.“
Und so landeten die beiden jungen Polen auf der Straße. Hier im Hostel können fast alle Obdachlosen in Zweibettzimmern unterkommen – das ist in den üblichen Notübernachtungen der Stadt nicht der Fall. Der Corona-Schnelltest hat Gregor und seine Freundin nicht abgeschreckt, aber das sei nicht immer so, sagt Katrin Liebscher vom Arbeiter Samariter Bund, der das Haus jetzt betreibt.
„Das Problem ist ja eigentlich das, dass die meisten Leute nicht in die Unterkünfte gehen, weil sie das eben hören, das spricht sich rum, dass eben getestet wird oder werden soll. Und die haben eben Angst, dass sie dann irgendwo festgehalten werden. Die wollen ihre Freiheit. Deswegen sind sie auf der Straße oft.“
Obdachlose in der Pandemie – „Corona ist mir egal – ich habe Hunger“ Der Winter ist eine schwierige Jahreszeit für Obdachlose. Kommen Winter und Corona zusammen, wird die Lage für viele noch prekärer. Beispiel Köln: Hier versuchen Hilfsvereine und die Sozialverwaltung, sich für die kommenden Monate zu rüsten.
„Eingesperrt wird niemand, auch nicht in der Quarantäneunterkunft“
Die Schlange vor der Notübernachtung am Hauptbahnhof wird trotz der Vorbehalte gegen die verpflichtenden Corona-Tests immer länger. Viele der Männer sprechen kein Deutsch, immer mal wieder müssen Betreuerinnen der Stadtmission an die Maske erinnern. Eine obdachlose Frau sitzt etwas abseits, neben ihr ein alkoholisierter Mann. Einige Testergebnisse seien in den vergangenen Tagen bereits positiv gewesen, sagt Anna Behnke von der Stadtmission.
„Wenn es ein Verdacht ist, dann werden sie isoliert alleine, im Einzelzimmer mit eigenem Bad. Und wenn wir den zweiten Test gemacht haben, den PCR-Abstrich und wissen, die Person hat Corona, dann kommt sie auf die Quarantänestation. In der Quarantänestation sind sie medizinisch betreut, da arbeiten auch Ärzte, die regelmäßig gucken.“
Die Quarantänestation direkt neben der Notunterkunft hat 16 Plätze, mit der Möglichkeit, auf 100 aufzustocken. Bisher wurde das nicht genutzt – Anfang Januar waren sieben infizierte Wohnungslose hier in Quarantäne. Einige fühlten sich wohl und kommen zur Ruhe, sagt Anna Behnke, andere seien aus der verordneten Quarantäne bereits geflohen. Viele sind alkohol- oder suchtkrank – und um diese Menschen zum Bleiben zu bewegen, gehe es ohne Alkohol in vielen Fällen nicht, sagt der Berliner Staatssekretär für Arbeit und Soziales, Alexander Fischer.
Er sieht die Sache pragmatisch: „Eingesperrt wird niemand, auch nicht in der Quarantäneunterkunft. Und es kommt jeden Tag mehrfach vor, dass ein Mensch sehr aufgeregt ist und raus will und sich Alkohol zumindest besorgen will. Und dann hat das was damit zu tun, mit den Menschen zu kommunizieren und auch zu organisieren, dass sie – und das gehört auch zur Realität in dieser Quarantänestation – sie eben auch mit Alkohol zu versorgen. Es kann ja nicht so passieren, dass man einfach wahllos eine Menge Alkohol bereitstellt. Das heißt dann konkret, dass man den Alkoholgehalt im Blut misst, um herauszufinden, wieviel Alkohol braucht der Mensch um sozusagen den zustand halbwegs stabil zu halten und diesen Alkohol dann eben auch bereitzustellen.“
Krankenhäuser bieten nur noch kurzfristige Akutbehandlung für Obdachlose
Berlins Sozialsenatorin Elke Breitenbach meint, man müsse vieles berücksichtigen: Den Schutz der Obdachlosen vor Corona, zu verhindern, dass Obdachlose zu Überträgern werden und dass die Obdachlosen unter den Coronaschutzbestimmungen oft mehr leiden als am Virus selbst. Inzwischen habe man das in der Hauptstadt ganz gut im Griff: „Die zweite Welle war schwieriger als die erste Welle, das muss man jetzt mal sagen, aber wir haben in der zweiten Welle aber natürlich auch viel mehr Hilfsangebote und Unterstützungsangebote bereitstellen können, als in der ersten Welle. Weil es war einfach ein unglaublich großer Druck und ich hatte vor allem in der ersten Welle unendlich viel Angst, dass wir da Massenausbrüche haben bei den Obdachlosen und dass die dann völlig isoliert dastehen und wir auch gar nicht wissen wohin damit.“
Hotels, Quarantänestation, Alkohol-Ausgabe. Durch Corona ist vieles möglich, was in früheren Zeiten undenkbar schien. Andererseits täten sich genau wegen Corona neue Probleme für Obdachlose auf, sagt Harry Fenzel von der Wohnungslosenhilfe Limburg in einer Online-Tagung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. Nämlich, dass Krankenhäuser ihre Hilfe reduzierten: „Und so werden Kliniken, die in Pandemiezeiten ganze Stationen wegen der Vorhaltung von Intensivbetten räumen, zu dem Ort, an dem genau diese Menschen bestenfalls eine kurzfristige Akutbehandlung bekommen haben und dann wieder auf die Straße geschickt worden sind. Und der Zweck heiligt die Mittel und Corona legitimiert den Hilfeausschluss.“
Wohnungslosenhilfe gilt nicht überall als systemrelevant
Und dann müssten die Hilfsorganisationen das Problem irgendwie lösen und gerieten dabei an den Rand ihrer Belastungsfähigkeit. Dass die Wohnungslosenhilfe nicht in allen Bundesländern oder Kommunen als systemrelevant angesehen werde, mache die Sache zusätzlich schwierig, erzählt Gabriele Kraft vom Ligaausschuss Wohnungslosenhilfe in Baden–Württemberg: „Erst als wir das erhalten hatten, das Etikett, durften unsere Mitarbeitenden beispielsweise ihre Kinder in die Notversorgung der Kitas und Schulen geben und konnten somit an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Die Systemrelevanz hätte es für viele vereinfacht, Schutzutensilien zu Beginn der Pandemie zu bekommen etc.“
Für die Menschen auf der Straße spielt das auch eine Rolle, denn sie sind stärker als zuvor auf die Hilfsorganisationen angewiesen. Das Leben draußen ist härter geworden. Einnahmequellen wie das Flaschensammeln, Verkaufen von Obdachlosenzeitungen oder Betteln sind kleiner geworden, weil insgesamt weniger Menschen unterwegs sind. Einkaufszentren zum Aufwärmen haben geschlossen, öffentliche Toiletten zum Teil ebenfalls.
Im Übernachtcafé können sich wohnungslose und schutzbedürftige Menschen nachtsüber aufhalten. (Deutschlandradio / Jannis Keil)
Warenzäune mit Lebensmitteln, Hygieneartikeln, Kleidung
Die Zäune, an die hilfsbereite Berlinerinnen und Berliner an verschiedenen Stellen der Stadt Essen und Kleidung für die Obdachlosen hängen, seien zu Beginn der Pandemie ein Lichtblick gewesen, meint die wohnungslose Maria: „Für und Wohnungs- und Obdachlose war es schon eine schwierige Situation. Man stand also wirklich von einem auf den anderen Moment fast auf Null. Was mich überrascht hat, waren diese Warenzäune, die fand ich unheimlich toll. Gerade in der Anfangsphase waren die wirklich gut bestückt. Also da gab es Lebensmittel, da gab es Hygieneartikel, gerade für uns Frauen, ist ne tolle Sache gewesen, wenn du kein Geld hattest und nicht wusstest, wo du was herkriegen solltest, hier ging es.“
Leider habe die Spendenbereitschaft abgenommen. Der Bogen, den die Berliner um die Obdachlosen machen, sei wieder größer geworden – das ist auch wörtlich gemeint. Dabei haben die Obdachlosen Hilfe gerade jetzt offenbar besonders nötig. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe hat deutschlandweitweit Einrichtungen befragt: Fast sechs Prozent der Hilfsangebote für Wohnungslose sind demnach wegen Corona komplett eingestellt worden, jedes dritte Angebot gebe es nur noch eingeschränkt, alle anderen hätten sich irgendwie coronakonform organisiert – und das heißt häufig: so viel wie möglich ins Freie verlagert.
- Mainz – Kreative Hilfe für Obdachlose in Corona-Zeiten - Wo bleiben die zu Hause, die kein Zuhause haben? Wo sammeln sie Flaschen oder Spenden, wenn die Straßen leer sind? In Mainz haben Helfer gute Ideen und bringen einen kranken Obdachlosen zum Beispiel in einem geschlossenen Hotel unter.
„Sie dürfen sich nicht ausruhen, nicht aufwärmen“
So wie die Kleiderkammer der Berliner Stadtmission. Morgens um halb zehn warten bei Temperaturen um null Grad knapp 20 Menschen. Die Kleiderkammer ist eher eine Kleiderausgabe unter freiem Himmel. Inzwischen gebe es wenigstens ein Zelt, sagt Barbara Breuer von der Stadtmission.
„Das mussten wir halt auch coronabedingt nach außen verlagern, weil die Kleiderkammer so klein ist, dass sich da keine zwei Menschen auf einmal aufhalten dürfen. Für alle Obdachlosen der Stadt Berlin gilt so gut wie überall, ihr bleibt draußen und nicht drin. Das heißt, alle Verteilungen, ob hier die Kleiderausgabe, ob die Essensausgabe, fast alles ist open air, das heißt die Leute kommen zu einem Fenster, zu einem Schalter oder sitzen wie hier draußen in der Schlange und bekommen dann das, was sie brauchen, aber sie dürfen halt nicht reinkommen. Das heißt, sie dürfen sich nicht ausruhen, sie dürfen sich nicht aufwärmen und das ist ein Zustand der sehr unschön ist bei diesen Temperaturen.“
Ein obdachloser Mann steht unter einer Brücke am Bahnhof Zoo in Berlin. (imago / Ralph Peters)
Die meisten der Wartenden hier stammen aus Ost- oder Südosteuropa. Viele seien im Rahmen der Freizügigkeit aus EU-Ländern wie Polen, Rumänien oder Bulgarien gekommen, um in Deutschland zu arbeiten, und seien dann aus den verschiedensten Gründen gescheitert, sagen die Mitarbeiter der Stadtmission.
„Es gibt sehr viele Leute, die wirklich am Rande des Selbstmords sind“
Anna Gindina, die Leiterin der Kleiderkammer, sucht für die Betroffenen warme Schuhe oder dicke Jacken. Unterwäsche ist heute – wie eigentlich immer – Mangelware. Die Kälte mache den meisten hier mehr Sorgen als Corona: „Für uns auch, wir sind hier die meisten Zeit mit den verschiedensten Krankheiten konfrontiert. Wir haben ziemlich viel mit Tuberkulose zu tun und dann Hepatitis oder Krätze. Und ehrlich gesagt, vor Krätze habe ich mehr Angst und vor Läusen auch.“
Und vor der Kälte. Und vor der Einsamkeit, sagt der Berliner Wohnungslose Ralf: „Wir kriegen was zu essen zum Abholen, aber wir haben keinen Kontakt mehr miteinander und von daher auch kaum eine Möglichkeit, miteinander zu reden. Und da gibt es sehr viele Leute, die wirklich am Rande des Selbstmords sind. Es ist ein ganz, ganz anderes Leben. Früher war es so, wir haben uns in der Suppenküche getroffen mittags oder abends auf Veranstaltungen, wir haben immer Leute getroffen, das ist weggefallen. Das ist für die normalen Leute schon schwierig.“
Inzwischen hat Berlin reagiert. Neben den Notübernachtungsplätzen, die am Morgen stets verlassen werden müssen, gebe es nun auch mehrere Unterkünfte, in denen sich über 300 Obdachlose auch tagsüber aufhalten könnten. Zwar ist die Zahl der Bedürftigen viel höher. Aber das Angebot sei jetzt weit besser als vor Corona, erklärt Senatorin Elke Breitenbach: „Das ist schon was Besonderes, was wir bisher noch nicht hatten, dass jetzt auch Menschen, die keinen Anspruch auf Leistungen haben, dass die Menschen erstmal die Möglichkeit haben, für eine längere Zeit tatsächlich eine Unterkunft zu haben.“
Obdachlose am Alexanderplatz in Berlin (picture alliance/dpa/Wolfram Steinberg)
Ein Sponsor zahlt 170 Menschen drei Monate die Unterkunft
Durch solche zusätzlichen Unterkünften, Angebote und Hostels wird die Versorgung und Unterbringung der Berliner Obdachlosen in diesem Coronajahr statt etwas mehr als drei Millionen Euro nun 10 bis 13 Millionen Euro mehr kosten, schätzt die Berliner Sozialverwaltung. In Hamburg habe man mit einem Rund-um-die-Uhr-Angebot gute Erfahrungen gemacht, erzählt Maren Sievert von der Heilsarmee in Hamburg in der Onlinetagung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. Mit dem Geld eines Sponsors wurden 170 Menschen drei Monate in einem Hotel untergebracht. Darunter waren auch Menschen, die hier im Regelfall keine Ansprüche auf Sozialunterstützung haben.
„Sie wohnen in Einzelzimmern und wurden durch Sozialpädagoginnen beraten und begleitet. Und durch die Ruhe und Erholung, die die meisten dort eben erfahren konnten und die Begleitung und Beratung, konnten sich viele Menschen wirklich sehr gut stabilisieren in dieser Zeit. Und es kam in diesen drei Monaten zu erstaunlichen persönlichen Entwicklungen. Einige konnten im Anschluss in eine feste Unterkunft wechseln, einige konnten ein normales versicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis aufnehmen und einige Menschen, die wirklich vorher komplett fern vom Hilfesystem waren, konnten dadurch erreicht werden.“
- Obdachlose Frauen – Ein verstecktes Leben ohne eigene Wohnung - Frauen sind auf besondere Weise von Obdachlosigkeit bedroht. Wenn eine Beziehung zerbricht oder die Rente nicht reicht, verlieren manche von ihnen die Wohnung. Hilfsangebote können sie unterstützen, aber es gibt zu wenige, beklagen Sozialarbeiter.
Frauen sind auf besondere Weise von Obdachlosigkeit bedroht. Wenn eine Beziehung zerbricht oder die Rente nicht reicht, verlieren manche von ihnen die Wohnung. Hilfsangebote können sie unterstützen, aber es gibt zu wenige, beklagen Sozialarbeiter.
In der Bahnhofsmission gibt es Essen nur noch durch das Fenster
Ähnlich gute Erfahrungen gibt es in Berlin mit den Ganztagsunterkünften auch. Das Hamburger Projekt wurde allerdings nicht verlängert. In Berlin hofft Sozialsenatorin Breitenbach darauf, dass Corona die Tür für einen dauerhaften Betrieb solcher Einrichtungen geöffnet hat. Schwierig sei es nach wie vor für Menschen, die dennoch draußen übernachten, weil sie sich nicht an Regeln halten wollen oder können, Hunde haben oder Suchtprobleme. Vor Corona haben sie sich im Winter tagsüber in Einkaufszentren oder Obdachlosencafes aufgewärmt. Einkaufszentren sind jetzt vielfach geschlossen oder erlauben das Essen oder Trinken dort nicht mehr. Obdachlosencafes sind – wenn überhaupt nur noch für sehr wenige Menschen – und für sehr limitierte Zeiträume geöffnet. Sogar in der Bahnhofsmission am Zoo, Berlins bekanntestem Treffpunkt für Obdachlose, gibt es Essen für die Menschen nur noch durchs Fenster, gegessen werden muss im Stehen oder sitzend auf den Knien auf dem kalten Gehweg vor dem Haus.
Viele Menschen wüssten tagsüber einfach nicht wohin, sagt Roland Saurer von der Landesarmutskonferenz Baden- Württemberg. Erst kürzlich war er in Stuttgart: „Da ist mir dann aufgefallen, dass es nirgendwo ein Plätzchen gibt, wo jemand wenigstens mal Vesperbrot in die Hand nehmen kann oder gar den alltäglichen Bedarf nach Schutz, nach Wärme, da ist überall massiv Essig. Und ich halte das auch für wahnsinnig gesundheitsgefährdend, was da passiert.“
Früher für alle offen – heute nur nach Corona-Schnelltest – die Obdachlosenunterkunft auf der Lehrter Straße in Berlin (picture alliance / dpa / Paul Zinken/)
Restaurant als Rückzugsraum für bis zu 150 Obdachlose geöffnet
Berlin ist seit Mitte Dezember in dieser Hinsicht endlich ein Stück weiter. Ein großes Restaurant am Alexanderplatz hat wegen der Pandemie geschlossen – und nun für Obdachlose wieder geöffnet. Auf 1.500 Quadratmetern können sich hier bis zu 150 Menschen tagsüber aufhalten, freut sich Romana, die im Rollstuhl sitzt und auf der Straße lebt: „Ich bin halt sehr froh, dass ich hier willkommen bin, mit Leuten unterhalten, im Warmen sitzen, essen können, den Tag über hierbleiben, sich einfach mal ein bisschen ausruhen.“
Die Kooperation der Berliner Sozialverwaltung mit dem Restaurant sei eine Win-Win-Situation, meint der Geschäftsführer des Hofbräu Berlin, Björn Schwarz: „Und wir sind ja mit dem Hofbräu in einer sehr guten Lage und wir haben sehr viel Quadratmeter und wir haben geschlossen durch die Pandemie. Und da haben wir uns kurzerhand mit den Kollegen der Kältehilfe zusammengesetzt und so wurde schnell klar, hier können wir was tun und haben und an einen Tisch gesetzt und beratschlagt. Wir geben zwar keine Location-Miete in dieser Form weiter aber wir können hier fast zehn Mitarbeiter aus der Kurzarbeit holen.“
Der Sozialträger Gebewo betreut die neue Tagesstätte und bietet mit Partnern hier auch Hilfe und Sozialberatung an. Besonders schwierig sei das immer bei Menschen aus der EU, die hier in der Regel keine Unterstützungsansprüche haben. Aber gerade während des ersten Lockdowns sei ihre Arbeit diesbezüglich eher leichter als schwerer geworden, sagt Svenja Ketelsen von der Gebewo.
„Während des Lockdowns ist alles leichter geworden. Wir hatten auf einmal gar keine Probleme mehr in der Beratung der EU-Bürgerinnen, weil die haben sowohl finanzielle Unterstützung bekommen, die haben Zimmer bekommen und wir hatten auf einmal richtig Spaß bei der Arbeit. Keine Widerstände mehr.“
Und so leiden Obdachlose in Berlin nicht nur unter Corona, sondern können am Ende auch ein wenig von der Pandemie profitieren. Ihr Schicksal in der Zeit danach ist jedoch ungewiss.
Kälte und Corona. Obdachlos im Pandemie-Winter Etwa 34.000 Wohnungslose und mindestens 2.000 obdachlose Menschen leben allein in Berlin. Ihr Alltag ist durch Corona noch härter geworden: bei der Suche nach einer Schlafstelle, einem Gespräch, nach Hilfe. Viele sind verzweifelt. Lichtblicke gibt es nur wenige. Von Anja Nehls DLF vom 10. Januar 2021
--Methodios (Diskussion) 11:57, 11. Jan. 2021 (CET)
Zu wenig Wohnraum, fehlende soziale Absicherung und geringe Einkommen sind oft Gründe für Wohnungslosigkeit. Frauen sind besonders betroffen. (picture alliance/dpa/Wolfram Steinberg) [Obdachlose Frau mit zwei Einkaufswagen]
Frauen sind auf besondere Weise von Obdachlosigkeit bedroht. Wenn eine Beziehung zerbricht oder die Rente nicht reicht, verlieren manche von ihnen die Wohnung. Hilfsangebote können sie unterstützen, aber es gibt zu wenige, beklagen Sozialarbeiter.
„Dann ist hier eine Kleiderkammer, es gibt auch viel Spenden und so, die wir dann hier anhängen“, erklärt Iris. Zu Besuch im Frauentreffpunkt Sophie in Berlin-Mitte. „Dann sind hier die Duschen.“ Werden die viel genutzt? „Ja, sehr viel. Ach ja, und hier sind Waschmöglichkeiten.“
Die Sophie – eine Anlaufstelle für Frauen, die mit ihrem Geld kaum über die Runden kommen. Hier gibt es etwas Warmes zu essen, etwas zum Anziehen und Hilfe bei der Suche nach einer Wohnung. Studentinnen nutzen die Sophie genauso wie Alleinerziehende und Rentnerinnen.
Iris – die ihren vollständigen Namen lieber nicht sagen möchte – weist alle Neuankommenden ein. Die 53-Jährige kennt viele der Besucherinnen und ihre bewegenden Schicksale. Auch aus eigener Erfahrung weiß sie, wie es ist, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Es ist nicht lange her, dass die hochgewachsene Frau mit dem festen Händedruck selbst am Ende ihrer Kräfte war: Ihr Partner schlug und quälte sie. „Mein Selbstbewusstsein war ganz tief im Keller. Ich habe immer nur ja und Amen gesagt – zu allem, hab schön gehorcht. Bis dann irgendwann der Punkt kam, wo die Gewalt sehr nah an mir war, mit Feuer und so, wo ich dann gesagt habe: Nein!“
Trennung von gewalttätigem Mann
Nach zehn Jahren Beziehung trennte sich die gebürtige Berlinerin endlich von dem gewalttätigen Mann. Vorher war Iris unzählige Male aus der gemeinsamen Wohnung in Neustadt in Rheinland-Pfalz geflohen: „Ich hab dann auch draußen geschlafen oder bei minus 20 Grad mich irgendwo im Schuppen versteckt und hab da geschlafen, damit er mich nicht findet.“
Sicherer fühlte sich Iris im Auto. Dort hatte sie immer eine Tasche mit Kleidung liegen – für den Notfall. Besonders in den Nächten war der Wagen ein gutes Versteck – vor der Gewalt und vor neugierigen Blicken.
„Immer das Auto abgeschlossen auch von innen und kein Radio an. Nichts, ich habe immer hinten im Sitz gelegen, damit mich keiner sieht“, sagt sie. „Und teilweise habe ich das auch mit den Decken abgedeckt. Ich habe mich immer so in die Ecken gestellt oder in die bestimmten Straßen gestellt, wo keine Leute lang laufen.“
Unsichere Wohnsituation für Frauen
Häusliche Gewalt ist ein Grund, warum Frauen ihre Wohnung verlieren. Ein weiterer Grund ist die unsichere Wohnsituation vieler Frauen, weiß Katja Caliebe aus Erfahrung.
Die rothaarige Frau mit den vielen Sommersprossen im Gesicht arbeitet seit Jahren als Sozialarbeiterin in der Obdachlosenhilfe: „Viele Frauen wissen gar nicht, dass sie faktisch wohnungslos sind. Also wenn sie jetzt eine Partnerschaft eingehen und zu dem Mann ziehen und gar nicht im Mietvertrag drinstehen. Und wenn jetzt die Partnerschaft in die Brüche geht, heißt das: Die Frau hat keinen Platz mehr zum Wohnen.“
Und sie hat kein Recht, zu bleiben. Also muss eine neue Unterkunft her. Nach häuslicher Gewalt wäre das Frauenhaus eine Lösung. Allerdings gibt es zu wenige Plätze in Deutschland und die sind meist belegt. Wer sich dann auf die Suche nach einer eigenen, bezahlbaren Wohnung macht, wird schnell desillusioniert, sagt Caliebe und zuckt mit den Schultern, besonders in den Großstädten.
„Es sind zu wenige Wohnungen vor allem für alleinstehende Menschen da“, erklärt sie. „Also: Alleinstehenden Menschen steht ein Wohnraum von 50 Quadratmetern zu. Und was drüber ist, da ist fraglich, ob Sozialamt oder Jobcenter das dann finanzieren. Die haben eine Obergrenze.“
Beengter Unterschlupf bei Freunden
Auch Ilse Kramer fand lange keine neue Bleibe. Die 63-jährige Kölnerin hatte erst ihren Job und dann die Wohnung verloren, weil sie die Miete nicht mehr zahlen konnte.
Den Tag, als die Kündigung auf dem Tisch lag, im November 2007, wird sie so schnell nicht vergessen: „Ziemlich schockreich. Zumal ich hab die Kündigung bekommen und bin dann zum Wohnungsamt und die haben gesagt: Drei Monate Verlängerung, mehr nicht. Zu der Zeit war ich aber noch ein bisschen blöd und habe da nicht weiter drüber nachgedacht.“
Die Naivität half der kleinen Frau mit dem leicht gebückten Gang nicht. Sie musste raus aus der Wohnung. Ilse Kramer fand Unterschlupf bei Freunden. Erst nahm ein ehemaliger Nachbar sie für ein paar Monate auf, dann eine Bekannte mit kleinen Kindern. Aber es waren beengte Verhältnisse. Meist bliebt nur das Sofa für die Nacht und ein bisschen Platz für ein paar Habseligkeiten.
„Du hattest keinen eigenen Raum“, sagt sie. „Du warst halt drauf angewiesen: Hoffentlich ist die jetzt nicht besoffen, so dass du da nicht in die Wohnung reimkommst. Oder du musst aufpassen, du darfst die nicht sauer machen. Und du darfst nicht anecken.“
Prostitution für eine Übernachtung
Monatelang ging es für Ilse Kramer so weiter: Übernachten in der U-Bahn-Haltestelle oder im Park kam für sie nicht infrage und deshalb zog sie von Sofa zu Sofa, von Unterkunft zu Unterkunft. Couchsurfing ist ein bekanntes Phänomen bei weiblichen Wohnungslosen und ein Grund, warum von verdeckter Obdachlosigkeit die Rede ist.
Das Übernachten bei Bekannten schützt die Frauen vor Übergriffen in aller Öffentlichkeit. Aber auch bei dem ständigen Wechsel der Wohnung können neue Abhängigkeiten entstehen.
Ilse Kramer berichtet von Frauen, die sich prostituieren, um eine Nacht in einem Bett schlafen zu können: „So lange ich weiß, dass ich zehn Freunde habe, wo ich jeweils drei Nächte schlafen kann, ist das alles in Ordnung, Wenn ich aber drei Mal die Woche abends in irgendeine Kneipe gehen muss, und darauf hoffe, dass ein Typ mich abschleppt oder so, dann wird es gefährlich. Und parierst du nicht, bist du draußen.“
Auch diesen Weg musste Ilse Kramer niemals gehen. Sie fand nach 14 langen Monaten ohne eigenes Dach über dem Kopf ein neues, bezahlbares Zuhause. Die Initiative Wohnen, Bauen, Arbeiten vermietet auf einem ehemaligen Kasernengelände in Köln Ein-Zimmer-Wohnungen für einen kleinen Preis. Dort kam Ilse Kramer unter.
Keine speziellen Hilfsangebote für Frauen
Weil die weibliche Wohnungslosigkeit oft verdeckt abläuft, existierten in Deutschland lange keine speziellen Hilfsangebote für Frauen. Erst Mitte der 1990er-Jahre gab es wissenschaftliche Untersuchungen über die Bedürfnisse von Frauen auf der Straße und dann auch entsprechende Anlaufstellen.
Hier haben Männer aus guten Gründen keinen Zutritt, findet Sozialarbeiterin Katja Caliebe vom SKF, Sozialdienst katholischer Frauen in Köln: „Da spielen Gewalterfahrungen dann auch oft eine Rolle. Entweder haben die Gewalterfahrungen zur Wohnungslosigkeit geführt oder sie sind später mal Gewalterfahrungen begegnet oder mussten sie durchleiden. Ich glaube, dass das Schutzbedürfnis von Frauen dementsprechend höher ist.“
Katja Caliebe ist beim SKF für das Quartier 67 zuständig – eine Art WG für ehemals wohnungslose Frauen über 60 im Kölner Westen.
Tendenz zum Verwahrlosen
Gerade ist Aufbruchsstimmung in der WG: Gemeinsam wollen die Frauen um die Ecke in ein Café zum Waffeln essen gehen. Unternehmungen in der Gruppe – ein Erlebnis, das viele Bewohnerinnen lange Zeit in ihrem Leben entbehren mussten, erzählt die Sozialarbeiterin des Quartiers.
In dem Haus haben sechs Frauen Platz. Jede hat ihr eigenes Zimmer mit Küchenzeile und Bad und es gibt einen Gemeinschaftsraum mit Sofa und Bücherregal. Bei Bedarf hilft eine Hauswirtschafterin beim Aufräumen und Wäschewaschen. Denn nach vielen Jahren auf der Straße haben einige Bewohnerinnen die Tendenz, zu verwahrlosen.
Außerdem gibt es eine Krankenschwester, wenn eine der Seniorinnen Medikamente nehmen muss. Auf diese Hilfe ist Heide bislang nicht angewiesen. Die kleine, drahtige Frau mit dem Pagenkopf ist 69 Jahre alt. Sie möchte ihren Nachnamen lieber nicht im Radio hören.
Nachdem Heide von Berlin nach Köln zog, fand sie keine Bleibe, die sie mit ihrer Rente bezahlen konnte. Das Wohnungsamt steckte die Seniorin monatelang in eine feste Wohnunterkunft für Obdachlose. Von den Betreibern werden diese Häuser beschönigend Hotel genannt. Heide kann darüber nur lachen. Sie sagt, in Köln seien es oft trostlose, heruntergekommene Zimmer, die schon lange niemand mehr renoviert hat.
Diesen Raum müssten sich die Wohnungslosen mit anderen teilen: „Immer mit einem auf dem Zimmer, mit dem einen nichts verbindet. Und man muss wirklich sich vor dem ausziehen, waschen und … Man muss alles mit dem teilen, als wenn man mit dem verheiratet wäre. Selbst meinen Ehemann will ich nicht Tag und Nacht um die Ohren haben.“
Wieder ein normales Leben führen
Nach Monaten in der Unterkunft wurde der Platz für Heide im Quartier 67 frei. Seitdem hat die Rentnerin das Gefühl, wieder ein „normales“ Leben zu führen, wie sie sagt: „Ich kann selber bestimmen, was ich tue, wann ich es tue. Ich bin ja auch nicht mehr berufstätig. Das heißt, ich kann über die Zeit und den Raum, den ich zur Verfügung habe, frei verfügen. Wenn ich mal zu nichts Lust habe, dann mach ich nichts. Und wenn ich nachts basteln will, dann bastle ich nachts. Ich störe niemanden.“
Rückblickend erinnert sich Heide kaum, wie sie die Tage rumbekommen hat, als sie ohne eigenes Zuhause war. Sie habe viel gelesen, sagt die Rentnerin, und sich gerne in der Kölner Stadtbibliothek aufgehalten. Wichtig war ihr, nicht als Obdachlose erkannt zu werden. Heide hat nach eigener Aussage penibel auf ihr Aussehen geachtet: saubere Kleidung, keine großen Einkaufstüten mit Kleidung dabei, nur leicht geschminkt.
Ebenfalls ein Spezifikum wohnungsloser Frauen, weiß Sozialarbeiterin Caliebe: „Ich kenne viele wohnungslose Frauen, denen sieht man das gar nicht an. Die würden niemals auffallen und die sind auch sehr bedacht darauf. Auch die Würde zu bewahren, darum geht das auch. Ich glaube, bei Frauen ist dieses Bedürfnis noch viel größer.“
Oft landen ältere Frauen auf der Straße
Ihr Projekt für Seniorinnen, das Quartier 67, ist ein einmalig in Nordrhein-Westfalen. Dabei ist der Bedarf groß, kritisiert Caliebe. Nach jüngsten Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe gibt es in Deutschland mindestens 59.000 wohnungslose Frauen. Tendenz steigend. Und auch die Zahl der älteren Frauen ohne Obdach steigt.
„Als ich in der Wohnungslosenhilfe angefangen habe zu arbeiten, war ich überrascht, es sind vor allem ältere Frauen“, sagt sie. „Ich habe gedacht, es sind die jüngeren, die auf der Straße leben. Aber es sind vor allem die älteren Frauen, die vielleicht gar nicht auf der Straße gelebt haben, sondern in einem Wohnraum waren und dann kann der plötzlich nicht mehr finanziert werden.“
Etwa weil der Partner verstorben ist oder der Elternteil, der gepflegt wurde, so Caliebe weiter. Und dann kann es passieren, dass die Wohnung zu groß und die Rente zu klein ist. Nach Jahren des eigenständigen Lebens ist es für die betroffenen Frauen oft besonders hart, sich einzugestehen, dass sie Hilfe benötigen.
„Das heißt, die Frau müssten dann den Gang zum Sozialamt machen und diese ganzen Anträge stellen und da durchgehen“, sagt Katja Caliebe. „Und viele Frauen wissen das entweder nicht oder sie schämen sich auch dafür zu sagen: Jetzt muss ich ja von anderen leben.“
Und nicht nur die Scham, auf Kosten anderer Leben zu müssen, hält viele Frauen davon ab, sich Hilfe bei den Ämtern zu holen.
Demütigende Erfahrungen
Zurück im Frauentreffpunkt Sophie in Berlin-Mitte. Es ist ein typischer Novembertag. Ein gutes Dutzend Frauen haben sich vor dem nasskalten Wetter inzwischen in den gemütlichen Kellerraum der Einrichtung geflüchtet. Sie sitzen am langen Tisch vor einer Küchenzeile – einige essen und unterhalten sich, andere starren ins Leere, schlafen oder sind in ein Buch vertieft.
Iris, die sich nach langer Odyssee von ihrem gewalttätigen Freund getrennt hat, eröffnet das Mittagsbüffet: Es gibt gefüllte Zucchini mit Brot und Reis. Die 53-Jährige hat nach Monaten auf der Straße eine eigene Wohnung in Berlin gefunden. Die Sozialarbeiterin in der Sophie hat sie dabei unterstützt.
Und sie hat ihr auch einen Job angeboten. Als Köchin und erste Ansprechpartnerin für Besucherinnen kann Iris in der Einrichtung der Koepjohannschen Stiftung ein bisschen Geld dazuverdienen.
Beim Jobcenter und bei anderen Ämtern hat sie bislang vor allem demütigende Erfahrungen gemacht: „Wenn man schon selbst kein Selbstbewusstsein mehr hat oder die Stärke gar nicht hat und man geht da irgendwo hin und möchte Hilfe haben und die Frau dort dann so mit dir spricht, dann sagst du automatisch: Da geh ich nicht mehr hin, dann bleib ich lieber auf der Straße.“
Um genau das zu verhindern, gibt es Einrichtungen wie den Frauentreffpunkt Sophie. Hier begleiten Sozialarbeiter die Frauen zu Ärzten und Ämtern. In Deutschland gibt es solche Angebote allerdings meist nur in den Ballungsgebieten und in Großstädten, beklagen Sozialdienste. Dabei können ein geschützter Raum und professionelle Unterstützung für Frauen wie Iris, Heide oder Ilse Kramer ein Rettungsanker sein, um zurückzufinden in einen geregelten Alltag mit Würde und eigenem Dach über dem Kopf.
Obdachlose Frauen. Ein verstecktes Leben ohne eigene Wohnung Von Stephanie Gebert DLF vom 7.Januar 2020
Obdachlosigkeit hat viele Gründe: Eine Frau sitzt mit ihren zwei Hunden am Straßenrand. (picture alliance / ZB)
Wie selbstgewählt ist das Leben auf der Straße? Wohnungslose Frauen geben sich oft tougher, als sie sind. Raubbau an der Gesundheit und niedrige Lebenserwartung blenden sie aus. Sozialmediziner sprechen vom „Zufriedenheits-Paradoxon“.
In einer überdachten Einkaufspassage mitten in Mainz hat sich Nana ihr Freiluft-Wohnzimmer eingerichtet. Auf der Grundfläche einer dünnen Isomatte. „Ach ja, so dünn ist die gar nicht. Also, mein Hintern ist auf jeden Fall nicht kalt.“
Trotz frostiger Temperaturen an diesem düsteren Dezember-Spätnachmittag. Nana kuschelt sich in dicke Decken. Auch ihren Mischlingshund deckt sie fürsorglich zu.
Der Hund Taboo soll nicht frieren. Seine Besitzerin trägt über einer Baseballkappe noch eine beigefarbene Wollmütze, tief ins schmale Gesicht gezogen. Eine grün gefärbte Strähne schaut raus. Will sie als Frau nicht erkannt werden?
„Ach, was – nein. Das ist, weil es hier so zugig ist.“ Angst hat Nana nicht, auch nachts nicht. Da baut sie auf ihren Freund, der neben ihr schläft, und ihren Hund. Nana schiebt die Kappe aus dem Gesicht. „Undercover hat sich hier in Mainz schon erledigt.“
Viele Passanten kennen sie. „Danke schön!“
Bringen ihr mal eine Brezel, einen Kaffeebecher oder ein Buch.
„Manchmal ist es sogar so, wenn ich jemanden zufällig mal eine Weile nicht getroffen habe, weil wir zeitlich einfach nicht am selben Platz waren, dann kriege ich manchmal schon zu hören ‚Ooch, Gott sei Dank, wir haben uns schon Sorgen gemacht – so lange nicht mehr gesehen‘. Ist schon süß, ja.“
Von der Schule „auf die Platte“ gewechselt
Der kleine Bücherstapel unter Nanas Geldkästchen ist ihr Markenzeichen. Und dass sie oft da sitzt und liest. Alles – außer Liebesromane: „Weil die alle gleich sind. Aber so ist es leider mit vielem – auch mit Fantasy-Romanen, da muss man schon gucken.“
„Danke schön.“ Linda, Passantin im warmen rostroten Mantel, hat gerade ein paar Münzen ins Kästchen gelegt. „Ich lauf‘ immer an ihr vorbei. Bei der Kälte jetzt mache ich mir einfach Sorgen. Ich wollte sie immer schon mal fragen, warum.“
Und jetzt fasst sich Linda ein Herz, spricht Nana auf ihre Obdachlosigkeit an. „Selbst gewählt“, antwortet Nana. Seit mehr als zehn Jahren sei sie schon unterwegs. Von der Schule „auf die Platte“ gewechselt sozusagen. Vorher hatte sie geschwänzt, war erst vom Gymnasium, dann von der Realschule geflogen. Mit dem Hauptschul-Abschluss zog sie zuhause aus. Aus einem beschaulich-langweiligen Dorf bei Sinsheim ins 20 Kilometer entfernte Heidelberg – unter die Brücke zu Punker-Freunden. Die fanden – wie sie – das Leben in einer festen Wohnung spießig. Die Clique lebt heute verstreut über ganz Deutschland, aber ein fester Kern trifft sich immer noch, erzählt Nana.
„Ja, in erster Linie ging es darum, mobil zu sein. Nicht nur in Deutschland, sondern auch außerhalb von Deutschland unterwegs. Sinn der Obdachlosigkeit war eigentlich das Rumziehen.“
Mit der Freiwilligkeit ist das so eine Sache, weiß Gerhard Trabert, Professor für Sozialmedizin. Mit dem Arztmobil des Vereins Armut und Gesundheit versorgt er Nana und andere Mainzer Obdachlose medizinisch. Heute winkt Nana ab, kein Bedarf.
„Sie brauchen nix?“, fragt er. „Nee, mir geht es gut so weit.“ Nana hält sich für abgehärtet. „Ich glaube, wenn man lange draußen ist, lernt der Körper sowieso, anders damit umzugehen. Es kommt nicht so oft vor, dass ich krank bin.“
Der Sozialmediziner beurteilt das Leben auf der Straße weniger optimistisch: „Also, viele sind kränker – zunehmend. Das Leben auf der Straße zehrt an der Gesundheit und führt eben auch zu einem früheren Sterben.“
Der Arzt Gerhard Trabert (r.) behandelt in einem Arztmobil in Mainz Obdachlose. (imago/epd)
Traberts Erfahrung ist, dass bei Wohnungslosigkeit oft Alkohol und illegale Drogen eine Rolle spielen, mal als Ursachen, mal als Folgen.
Das „Zufriedenheits-Paradoxon“ als Überlebensstrategie
„Wir kennen auch das Phänomen ‚Zufriedenheits-Paradoxon‘, dass man die eigene Situation positiver einschätzt, als sie objektiv ist. Um einfach auch in dieser Situation überleben zu können. Wenn ich mir dann noch mal verdeutliche, wie schlimm die Situation ist, wie dramatisch die Gründe waren, warum ich vielleicht auf die Straße gegangen bin, dann wird das noch schwieriger, Überlebensstrategien zu entwickeln.“
Zweimal begleite ich Gerhard Trabert bei seinen drei-, vierstündigen Arztmobil-Runden zu den Hotspots der Wohnungslosen in ganz Mainz. An einem dunklen Donnerstagabend im Dezember und an einen hellen Dienstagmorgen im Februar. Schaue mit ihm unter Brücken, in Passagen, Notwohnungen, Container. Und rede mit ihm über das Wegschieben und Verdrängen von dramatischen Lebensumständen. Das macht der Sozialmediziner nämlich als Begleiterscheinung oder als eine der Ursachen von Obdachlosigkeit aus.
„Taboo“ – die unausgesprochene Übereinkunft, bestimmte Dinge nicht anzusprechen – daran hat Nana vermutlich nicht gedacht, als sie ihren Hund so nannte. Dass sie bei aller Offenheit reserviert bleibt, führe ich auf Tabus, zurück, die ihr Leben auf der Straße bedingen und begleiten.
Anfangs reizte Nana das Herumziehen, aber mit Mitte zwanzig wird es ihr zu anstrengend, täglich einen neuen Schlafplatz zu suchen. Sie bleibt in Mainz, zeltet dort in der warmen Saison mit ihrem Freund an abgelegenen Orten. Tagsüber lässt sich Nana in der Einkaufspassage am Dom nieder. Weil sie da Geld sammeln kann, „schnorren“, nennt sie das. „Und wenn es jetzt richtig kalt wird im Winter?“, fragt Linda, die Passantin, die ihren Nachnamen nicht preisgeben will.
- „Ich kann mir das Wetter leider nicht aussuchen.“
- „Aber gerade so nachts, gibt's da einen Platz, wo man hingehen kann?“
- „Ja, jetzt gibt's die Container bald, also ab morgen.“
- „Ab morgen.“ – „Ja.“
Passantin Linda ist beruhigt. Erstmals zieht Nana zu Winteranfang in einen beheizten Vier-Bett-Container. Bislang schlief sie nur im kältesten Teil der Saison in der kleinen Containersiedlung, die von der Stadt Mainz immer vor Jahresende aufgebaut wird. Doch der vergangene Winter war so eisig, dass dauernd das Wasser im Hundenapf gefror. Und dieser wird lang, glaubt Nana. In der Einkaufspassage sitzt die Endzwanzigerin oft allein, aber im Container übernachtet sie mit ihrem Freund und zwei anderen Männern.
- „Ich habe Glück, wir haben zwei Freunde, mit denen wir in den Container gehen. Und dann ist das zwar auch ziemlich eng, aber es ist in Ordnung.“
- „Und die Männer sind okay?“
- „Ja klar, sonst würde ich nicht mit denen in die Container gehen.“
Gelöst aus „den Fesseln“ von Hartz-IV und Arbeitsamt
Für Nana mag das klar sein. Viele obdachlose Frauen aber riskieren auf der Straße ihre Selbstbestimmung, nicht nur die sexuelle.
„Gerade Frauen haben große Probleme“, bestätigt Ma-ah-tee. Ich treffe sie auf der Arztmobil-Tour vor der Psychosozialen Beratungsstelle der evangelischen Mission Leben. Das diakonische Unternehmen betreibt dort einen Tagestreff. Obdachlose Frauen und Männer können sich dort duschen oder ihre Wäsche waschen.
Während der Arzt die Seitentür seines Transporters am Straßenrand aufschiebt und damit sein mobiles Sprechzimmer öffnet, kommt Ma-ah-tee aus der Tür des Treffs. Offen und gesprächig. Vor zehn Jahren löste sich die 62-Jährige aus „den Fesseln“ von Hartz-IV und Arbeitsamt – so jedenfalls stellt sie selbst das dar.
Als die Töchter aus dem Haus waren, gab sie ihre Wohnung auf und lebt nun wie Nana im Zelt an einem abgelegenen Ort auf der anderen Rheinseite. Allerdings ganzjährig. „Ich hab jetzt ein Hauszelt, das ist abisoliert durch Notfallfolie, durch Planen. Ich hab einen Gaskocher, wenn ich den anmache, dann habe ich in fünf Minuten eine warme Bude.“
Bei der Arbeitsagentur in Mainz kann sich Ma-ah-tee ihren Tagessatz abholen – oder sie kann es lassen. Sie muss niemandem Rechenschaft ablegen. Das ist ihre neue Freiheit. Die Fußmärsche über den Rhein vom Zelt zum Amt und zum Duschen lindern ihr langjähriges Gelenkrheuma.
„Meine Allergien haben sich zurückgenommen, ich kann mittlerweile fast alles essen. Das ist sehr viel auch ein seelisches Problem gewesen, was ich hatte – durch dieses Eingesperrt-Sein. Dieses Eingesperrt-Sein ist weg, dadurch geht es mir besser. Das ist aber eine große, große Ausnahme. Die meisten auf der Straße – denen geht es verdammt schlecht. Der Doktor, der ist immer ganz erstaunt, weil es stimmt wirklich: Es geht mir, seit ich draußen bin, ging es mir von Woche zu Woche und Monat zu Monat besser.“
„Der Doktor“, Gerhard Trabert, sieht Ma-ah-tees Wohlergehen auf der Straße nicht ganz so euphorisch. Sie führe das kräftezehrende und für Frauen gefährliche Leben ja noch nicht so lange, erzählt er mir später im Auto. Auf Dauer sei die Platte ungesund.
Die Frau in den schwarzen Klamotten widerspricht: „Das ist aber der Normalfall – aber ich bin nicht normal!“
Ma-ah-tee: Frauen machen sich in Beziehungen klein
Ma-ah-tee hat ihren ersten Winter im eisigen Jahr 2010 im Zelt überstanden und glaubt, ab jetzt jeden Frost verkraften zu können. Die viel jüngere Nana kehrt nachts lieber in den engen Vierer-Container zurück, selbst wenn es in der kleinen männerdominierten Siedlung rund um ihre WG oft laut und ruppig zugeht.
Ma-ah-tee ist kräftig gebaut – das Gegenprogramm zu der zarten jungen Nana mit den blond-bunten Haaren und der etwas piepsigen Stimme. Die resolute Ma-ah-tee beobachtet, dass sich viele Frauen auf Platte in konfliktreichen Beziehungen kleinmachen, unterordnen:"Dass es also wirklich große Reibereien gibt, sie sich dann immer wieder zurücknehmen, denn sie brauchen ja den Mann zum Schutz. Und eine Frau, die den Mann zum Schutz braucht, die hat im Grunde noch mehr verloren als eine, so wie ich, die dann sagt ‚Komm Junge – nicht mit mir.‘“
Bei den jüngeren Pärchen ist es besonders schlimm, beobachtet Ma-ah-tee, oft zerstörerisch für die Frauen. Nur eine harmonisch wirkende Ausnahme kennt sie: Nana und ihren Freund. „Die sind nicht verheiratet, aber die leben glücklich zusammen. Die haben auch ihren Platz, die haben ihren Hund, da ist die Beziehung auch in Ordnung. Aber halt nicht ganz drogenfrei“, meint Ma-ah-tee.
Drogenabhängigkeit kann Obdachlosigkeit verfestigen, kommentiert Gerhard Trabert im Auto auf den wenigen Metern zur Container-Siedlung auf der Anhöhe. Aber um vom Wohnungslosen zum „Wohnenden“ zu werden, sei nicht unbedingt ein harter Entzug nötig. Ersatzprogramme mit Methadon und synthetischem Heroin ermöglichten Abhängigen in Großstädten längst ein bürgerliches Leben in vier Wänden.
Ein Wohncontainer ist mit einem Kranz geschmückt. Die Stadt Mainz hat über den Winter Wohncontainer für Obdachlose am Fort Hauptstein in der Nähe des Hauptbahnhofs aufgestellt. Die Evangelische Wohnungslosenhilfe Mainz betreut das Angebot. (picture alliance/dpa)
„Das Arztmobil ist da!“ Nana hatte mir signalisiert, dass sie in der Container-Unterkunft keinen Besuch möchte. Mit drei Männern in einem Raum gibt es ohnehin keine Intimsphäre. Das Mainzer Winterquartier aus sieben Wohn-, einem Sanitär- und Dusch-Container liegt in einer ruhigen Sackgasse zwischen einem Park und einem Sandstein-Festungsbau aus dem 19. Jahrhundert. Sozialarbeiter der „Mission Leben“ betreuen die Anlage. Und „der Doktor“ schaut regelmäßig vorbei. „Das Arztmobil ist da – wenn Sie was brauchen!“
Abschließbare Waschräume für Frauen sind unabdingbar
An dem Februarmorgen, an dem ich mich trotz Nanas Veto in die Container-Siedlung wage, öffnet auf Traberts Rufen hin keiner aus ihrer Vierer-Unterkunft die Tür. Vielleicht schlafen sie noch, vielleicht sind sie schon unterwegs.
Der Sozialmediziner wirft einen kurzen Blick in den Hygiene-Container, runzelt die Stirn. „Da hat irgendjemand die Tür an der Toilette rausgerissen, das ist halt dann immer blöd.“
Vandalismus – an der Tagesordnung. Im vergangenen Jahr hatten Bewohner die Duschen demoliert, sodass man die Türen nicht mehr verriegeln konnte. Die Randalierer haben jetzt Hausverbot. Abschließbare Waschräume für Frauen – Professor Trabert findet das unabdingbar: „Frauen brauchen diesen besonderen Schutzraum, weil alle Untersuchungen zeigen, dass gerade auch Frauen auf der Straße häufiger Gewalt – sexueller Gewalt – ausgesetzt sind.“
Und dass sie oft erst in die Wohnungslosigkeit gerutscht sind, weil sie vorher sexuell missbraucht wurden, weisen die Studien auch nach. „Deshalb ist es so wichtig, dass man diese separaten Unterbringungsmöglichkeiten für Frauen schafft.“
Der Mediziner schaut auf den neuen separaten Frauen-Container. Den hat die Stadt Mainz unlängst aufgestellt, weil Trabert und sein Verein nicht locker ließen. Vor einem Jahr war einer Frau, die auch im Winter gezeltet hatte, nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus ein Platz im Männer-Container angeboten worden.
„Und dann hat sie gesagt: nein. Was auch nachvollziehbar war, und dann ist sie leider eine Woche später in ihrem Zelt gestorben. Und das hat uns sehr betroffen gemacht. Und dann haben wir gesagt: Natürlich muss es einen separaten Frauen-Container geben. Das war für uns beschämend, dass wir jetzt erst darauf gekommen sind, das auch so vehement einzufordern.“
Nana hat den Rat des Mediziners angenommen
Dass die blasse, dünne Nana seinen Rat angenommen hat und die Winternächte jetzt im warmen Container verbringt, beruhigt ihn. Vom Alter her könnte Nana meine Tochter sein. Vermutlich würde ich als Mutter versuchen, sie vom Leben auf der Straße abzubringen. Nana lächelt: „Nee, nee, meine Mama macht das nicht. Aber meine Mama kennt mich auch. Das hätte auch keinen Sinn. Aber meine Mama weiß auch, dass ich nicht auf der Straße sterben werde. Sie weiß auch, dass da auf jeden Fall noch was kommt.“
Und was? „Auf jeden Fall was anderes, ja.“ Ihre Mutter macht sich Sorgen, weiß Nana. Deshalb hat sie sich unlängst von ihr überzeugen lassen, zumindest ein Handy zu haben. Ihre Chancen, aus der Obdachlosigkeit herauszufinden? Schwer zu beurteilen, auch für einen Insider wie Gerhard Trabert.
„Bei Jüngeren habe ich häufig das Gefühl, da sind es doch gravierende Erfahrungen gewesen, in der Kindheit, im Jugendalter – und da einen Zugang zu finden, vielleicht eine Möglichkeit auch des Austauschs, der Therapie, der Selbstfindung – das ist etwas ganz Entscheidendes. Es kommt darauf an, dass derjenige selbst dahintersteht.“
Nana überlegt, nochmal auf die Schule zu gehen. Mehr zu wissen, reizt sie. Aber ob das reicht, um wieder in ein Leben mit Stundenplänen einsteigen zu können? Sie bräuchte den festen Willen dazu, glaubt Gerhard Trabert. Ob sie den aufbringt? Der Arzt zuckt die Schultern.
Einen Berufswunsch hat die 28-Jährige nicht. Aber eine Vision schon: Leben in einem Bauwagen – irgendwie draußen, aber mit Heizung, wenn es nötig ist: „Das wäre auf jeden Fall schon mal was Gutes.“
Wohnungslose Frauen in Mainz. Verdrängen als Überlebensstrategie Von Anke Petermann DLF vom 12. Februar 2019
--Methodios (Diskussion) 10:55, 12. Jan. 2021 (CET)
Obdachlose Frauen betreten eine Winter-Notunterkunft. Tagsüber können sie die Räume nicht nutzen. (picture alliance / Angelika Warmuth)
Der Anteil der Frauen unter den Berliner Wohnungslosen steigt seit Jahren. Gründe dafür sind Altersarmut und die katastrophale Lage auf dem Wohnungsmarkt. Die meisten Frauen versuchen, nicht als Obdachlose aufzufallen. Eine von ihnen ist Sylvia.
Ein Bett mit Blümchenbezug, eine hölzerne Kommode, Tisch, Kühlschrank, ein kleiner Fernseher, und freundliche, rot karierte Gardinen an den Fenstern – das ist seit einem Dreivierteljahr Sylvias Reich.
„Mein Zimmer, mein persönlich privates Zimmer. Wo kein anderer was drin zu suchen hat. Das hier oben ist eine 7er-WG, mit sieben Personen. Das war so eingerichtet, bis auf ein paar kleine Accessoires. Ich mache auch nicht zu viel. In anderen Zimmern, da hängt wesentlich mehr, da liegt wesentlich mehr. Mir gefällt mein Zimmer so, wie es ist, aber ich möchte mich nicht zu wohlfühlen, denn ich möchte ausziehen.“
Träumen von einer eigenen Wohnung
Sylvia träumt von einer eigenen Wohnung. Seit drei Jahren ist die 56-Jährige wohnungslos. Jetzt lebt sie immerhin nicht mehr auf der Straße. Die Menschen in den zwei schmucklosen 50er-Jahre-Bauten im Berliner Norden sind alle in derselben Situation. Als Heim oder gar als Obdachlosenasyl will Sylvia ihr derzeitiges Zuhause aber nicht bezeichnen, das hat etwas mit Stolz zu tun.
„Die haben einen ganz schönen Namen dafür: Beherbergung. Das klingt gleich ganz freundlicher und anders als Wohnheim, unter Wohnheim impliziert man immer irgendwas Negatives.“
Für Sylvia war es die Rettung, von der Straße wegzukommen. Schräg gegenüber von ihrem Zimmer liegt die Gemeinschaftsküche der kleinen WG. Als erstes macht sie Kaffee. Heißen Kaffee, in einer sauberen, warmen Küche. Allerdings ohne Zucker. Sylvia ist Diabetikerin, übergewichtig. Die Hüfte und der Rücken machen Probleme.
Plötzlich obdachlos
Dennoch: Sie lacht viel und spricht offen über das, was sie erlebt hat. Dass sie bei einem Wohnungsbrand ihre Wohnung verlor. Für eine neue die Kaution nicht aufbringen konnte, weil ihr Mann ohne ihr Wissen Schulden gemacht hatte. Es kein Geld vom Amt gab, weil er Arbeit hatte und die beiden noch nicht geschieden waren. Anderthalb Jahre lebte Sylvia dann auf der Straße, schlief auf Parkbänken, in der S-Bahn oder in Notübernachtungen. Auf einmal obdachlos. Ein Schock:
„Die ersten Male, wo ich mich denn morgens bei der Bahnhofsmission am Bahnhof Zoo angestellt habe, um einen Kaffee zu kriegen, abends mir nochmal Stulle abzuholen, waren eine Überwindung, weil Du gerade an solch einem Fleck extrem mit dem Elend konfrontiert bist. Weil ja doch viele und speziell die Männer getrunken haben und nicht gewaschen und dreckig und schmutzig und stinken, ach, und dann stehst Du da als eine die… ach.“
Als eine, die eigentlich gar nicht dazugehören will. Heute geht sie ab und an noch zu „Evas Haltestelle“, einer Tagesstätte für wohnungslose Frauen im Wedding.
Immer Mittwochs gibt es hier ein großes Frühstück. Sylvia will alte Bekannte treffen. Von Freundschaften möchte sie nicht reden.
„Damals war ich jeden Tag da, weil man aus den Notunterkünften spätestes um acht morgens raus muss und abends um sieben erst wieder rein, was macht man denn den ganzen Tag?“
Hier können sich obdachlose Frauen tagsüber aufwärmen und essen, Spiele spielen, wer möchte, findet Hilfe und Beratung und nachts gibt es für 20 Frauen im Rahmen der Kältehilfe auch einen warmen Schlafplatz. Heute sind zwei Dutzend Frauen da.
„Verdeckte“ Obdachlosigkeit bei Frauen
Obdachlosigkeit sieht man den wenigsten hier an. Typisch sei das bei Frauen, sagt Sylvia, die blonden Haare tipp topp frisiert, der Pulli sauber. Das sei auch so gewesen, als sie damals auf der Straße lebte:
„Wenn man wirklich Wert drauf legt, es ist umständlich und es ist schwierig, aber man kann trotz allem gepflegt und sauber rumlaufen und wenn man im Krankenhaus sich auf einer Besuchertoilette die Haare wäscht, da hat man wenigstens warmes Wasser...“
Sie hat versucht, ihr altes Leben aufrechtzuerhalten, so gut es ging. An ihrem Arbeitsplatz , in der Küche einer Berliner Beachbar, sollte nicht auffallen, dass sie keine Wohnung mehr hatte. Drei Wochen ging das gut, dann reichten ihre Kräfte nicht mehr:
„Meistens habe ich nachts in der S-Bahn gesessen und bin die Ringbahn gefahren und bin am nächsten Morgen arbeiten gegangen, ab und an habe ich mal einen Schlaflatz in der Notunterkunft gehabt.“
Oft genug schlief sie auch draußen, solange bis die Scheidung vollzogen war, ihr nun wieder Geld vom Jobcenter zustand und ein Platz im Wohnheim. Kontakt zu alten Freunden und ihren drei erwachsenen Kindern und Enkeln hat sie die ganze Zeit über gehalten – und war immer ehrlich dabei. Es könne jeden treffen. Ganz schnell.
„Mir war es nicht peinlich. Vertuschen? Nein. Dass man nach außen nicht so aussehen möchte, ist ja was ganz anderes, dass man versucht, sich immer noch zu pflegen und zu machen, damit es eben nicht jeder sieht, das hat damit nichts zu tun, aber vertuschen? Nee!“
„Ich kann mich jeder Situation anpassen“
Kinder und Enkelkinder kommen sie regelmäßig hier besuchen – in der Beherbergung für Wohnungslose – in der sie sich immer noch jeden Tag über ihr warmes Bett, die Möglichkeit zum Kochen und Duschen freut.
„Trotzdem ist es nicht privat, privat ist nur mein Zimmer. Aber ich will da noch mehr. Sei es, dass man als Oma die Enkel mal übers Wochenende zum Schlafen hat. Wenn man eine eigene Wohnung hat ist vieles anders in der Hinsicht, mehr zu machen, als Oma oder auch als Mama, ja.“
Sylvia ist optimistisch, dass sie ihr Leben wieder in den Griff bekommt. Zur Zeit wird geprüft, ob sie für ein betreutes Einzelwohnen infrage kommt oder eine Wohnung über eine der Berliner Wohnungsbaugesellschaften bekommen kann. Irgendwann möchte sie auch wieder arbeiten. Bis jetzt sei sie an der Situation nicht zerbrochen, sagt sie, sondern eher stärker geworden:
„Ich kann mich jeder Situation anpassen, das ist so der richtige Begriff, ich glaube wenn ich ein Tier geworden wäre, wäre ich ein Chamäleon geworden.“
Unsichtbare Obdachlosigkeit unter Frauen. Aus dem Leben einer Wohnungslosen. Von Anja Nehls DLF vom 22. Januar 2019
--Methodios (Diskussion) 11:05, 12. Jan. 2021 (CET)
„Die Beschlagnahme von Wohnraum ist kein Tabu“
Ein Masterplan soll den Kampf gegen Obdachlosigkeit bis 2030 verbessern – dessen Leitmotiv lautet: „Housing First“. Ein Gastbeitrag aus der Sozialverwaltung
Von Elke Breitenbach und Alexander Fischer
Verborgen. Obdachlosigkeit ist nicht immer sichtbar. Viele Menschen kommen in Einrichtungen und bei Bekannten unter. Das Jahr 2030 spielt für die Wohnungslosenpolitik eine zentrale Rolle. Die 2015 verabschiedeten Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen verpflichten die Regierungen dazu, Armut, und damit auch Obdachlosigkeit, bis zum Jahr 2030 zu beenden. Die 2017 verkündete Europäische Säule sozialer Rechte hat das Recht auf Wohnung beziehungsweise Unterkunft bestätigt. Und schließlich hat auch das Europaparlament im November 2020 eine Resolution verabschiedet, die die Beendigung der Obdachlosigkeit bis 2030 als Ziel ausruft und abgestimmte nationale Strategien einfordert. Für Berlin, die Stadt, die oft als „Hauptstadt der Obdachlosigkeit“ bezeichnet wird, markiert diese Agenda eine besondere sozialpolitische Herausforderung.
Die im öffentlichen Raum sichtbare Obdachlosigkeit ist in Berlin ein Dauerphänomen. Weniger bekannt ist die gesamte Dimension der Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Während der ersten stadtweiten Zählung von Obdachlosen wurden Ende Januar 2020 rund 2000 Menschen angetroffen. Die weitaus meisten wohnungslosen Menschen in Berlin leben allerdings nicht auf der Straße, sondern in verschieden Formen von Gemeinschaftsunterkünften und betreuten Wohnformen. Wenn man alle Formen der Unterbringung nach Allgemeinem Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG), den Sozialgesetzbüchern VIII, IX und XII und dem Asylbewerberleistungsgesetz zusammennimmt, sind in Berlin über 50 000 wohnungslose Menschen in Gemeinschaftsunterkünften und betreuten Wohnformen untergebracht.
Hinzu kommen noch die Wohnungslosen, die vorübergehend bei Verwandten, Freund*innen oder Bekannten unterkommen. Viele wohnungslose Frauen, aber auch Jugendliche erhoffen sich hierdurch einen Schutz vor Übergriffen, landen aber oftmals in prekären Lebensverhältnissen, in denen sie Ausbeutung und sexualisierter Gewalt ausgesetzt sind.
Die Unterbringung von mehreren 10 000 Menschen ist eine Daueraufgabe der Sozial- und Ordnungsbehörden, die erhebliche personelle Ressourcen und jährlich einen dreistelligen Millionenbetrag bindet. Unterhalb des Regelsystems existiert ein zum Teil staatlich, zum Teil durch Spenden finanziertes niedrigschwelliges Hilfesystem, das immer wieder Innovationen hervorbringt, wie jüngst die „Taskforce Obdachlosenhilfe“, in der ehemalige Wohnungslose als regulär Beschäftigte Obdachlose aufsuchen.
Auch wenn die Anstrengungen der Stadtpolitik und der Stadtgesellschaft nicht zu leugnen sind, muss das Verhältnis zwischen aufgewendeten Ressourcen und den sichtbaren Ergebnissen doch mehr als nachdenklich stimmen. Die Zahl der wohnungslosen Menschen ist bis 2019 kontinuierlich gestiegen und stagniert auf hohem Niveau. Die mittel- und langfristigen Auswirkungen der Pandemie auf die Entwicklung von Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit sind heute noch gar nicht in Gänze abschätzbar.
Es gibt mehr als genug Gründe, die Berliner Wohnungslosenpolitik einer Generalrevision zu unterziehen. Die Aufgabe eines auf Empowerment und Emanzipation orientierten Sozialstaats ist es, den Weg von der Wohnungslosigkeit in eine Wohnung so kurz und schnell wie möglich zu bahnen.
Eine aus unserer Sicht unabweisbar notwendige Generalreform des Hilfesystems muss sich daher an zwei zentralen Ankern ausrichten: Wohnungsverlust verhindern und Wohnungslosigkeit beenden. „Housing First“ sollte das Leitmotiv der Wohnungslosenpolitik der 20er Jahre werden, die Beendigung der unfreiwilligen Wohnungs- und Obdachlosigkeit bis 2030 das erreichbare Ziel. Wir schlagen vor, dass sich Berlin zur Erreichung dieses Ziels einen Masterplan gibt. Die aus unserer Sicht wesentlichen Maßnahmen skizzieren wir hier und stellen sie zur Diskussion:
Bezahlbares Wohnen ermöglichen: Dreh- und Angelpunkt einer langfristig angelegten Strategie gegen Wohnungslosigkeit ist die Verfügbarkeit von bezahlbarem Wohnraum, der auch zwingend wohnungs- und obdachlosen Menschen angeboten werden muss. Bis 2025 gilt in Berlin der Mietendeckel. Auch danach wird es Regulierungsbedarf für bezahlbare Mieten geben. Hier muss vorrangig der Bund handeln. Um als Akteur am Berliner Wohnungsmarkt dauerhaft prägenden Einfluss zu nehmen, muss das Land Berlin weiter den Bestand an landeseigenen Wohnungen erhöhen. Von den rund zwei Millionen Wohnungen in Berlin gehören derzeit nur rund 16,5 Prozent den landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften. Diesen Anteil bis 2030, vorrangig durch Neubau, aber ebenso durch Zukauf zu verdoppeln, ist ein ambitioniertes und finanzierbares Ziel, das auch dann erreichbar ist, wenn das Volksbegehren zur Vergesellschaftung großer privater Wohnungsbaugesellschaften in diesem Jahr keinen Erfolg haben sollte.
Wohnungslosigkeit vermeiden: Der Wohnungsverlust ist gerade auf einem umkämpften Wohnungsmarkt wie Berlin oft der Startpunkt einer Rutschbahn ins Hilfesystem, die für die betroffenen Menschen und Familien mit wachsenden sozialen und psychologischen Folgen verbunden ist und nicht zuletzt erhebliche Kosten produziert. Je früher interveniert wird, desto effektiver ist die Intervention. Der zentrale Ansatzpunkt ist die Verhinderung von Wohnungslosigkeit. Zentraler Teil des hier skizzierten Masterplans muss deshalb eine Präventionsstrategie sein, die auf einem Zwei-Phasen-Modell aufbaut. Die Phase 1 beginnt dabei weit vor einem drohenden Wohnraumverlust und ist darauf ausgerichtet, Anzeichen für einen solchen zu erkennen und zu verarbeiten. Das kann durch aufsuchende Arbeit (die in allen Bezirken deutlich ausgebaut werden muss), durch flächendeckende Angebote der Sozial- und Schuldenberatung, durch einen engeren Informationsaustausch zwischen Ämtern, Gerichten und Jobcentern (in den Grenzen des Datenschutzes) und schließlich durch die Ausweitung der Direktübernahme der Miete durch die Leistungsträger (nur bei Zustimmung der Betroffenen) geschehen. Die Phase 2 tritt ein, wenn akut Wohnraumverlust droht. Dann braucht es Instrumente, um eine Zwangsräumung zu verhindern. Hier geht es zum einen um eine vorrangig vom Bund zu liefernde Verbesserung rechtlicher Spielräume im Interesse bedrohten Haushalte. Aber auch das Land Berlin kann seine Spielräume besser nutzen, indem eine flächendeckende Interventionsinfrastruktur aufgebaut wird, die dafür sorgt, dass keine drohende Zwangsräumung unbemerkt bleibt, und kein Versuch versäumt wird, eine Räumung durch Mietschuldenübernahmen, Verhandlungen mit Vermieter*innen oder andere Maßnahmen zu verhindern. Aus unserer Sicht ist aber auch, sofern die bundesgesetzlichen Spielräume gegeben sind, die Beschlagnahme von Wohnraum kein Tabu, insbesondere dann, wenn Menschen aus vulnerablen Bevölkerungsgruppen oder Familien mit Kindern von Zwangsräumungen bedroht sind. Der Erfolg einer Präventionsstrategie bemisst sich in erster Linie an der Absenkung der Zahl erfolgter Zwangsräumungen. Derzeit werden pro Jahr rund 5000 Wohnungen in Berlin zwangsgeräumt. Diese Zahl gilt es bis 2025 zu halbieren.
Unterbringungssystem zur sozialen Wohnraumversorgung umbauen: Auf den Wohnungsverlust folgt in Berlin in den meisten Fällen die Unterbringung nach ASOG in einer der zahlreichen Wohnungslosenunterkünfte. Es gibt weder ein einheitliches System der Bedarfsfeststellung und Zuweisung, noch einheitliche Arbeitsprozesse, Qualitätsstandards und Vertragsmodelle mit Unterkunftsbetreibern. Im Ergebnis ist die Unterbringung nach ASOG in Berlin eine Art Lotterie. Man kann in einer spezialisierten Unterkunft mit sozialen und pflegerischen Angeboten oder auf Jahre in einem Mehrbettzimmer in einem Hostel landen. Aufgrund von Dysfunktionalitäten in der Systematik der Finanzbeziehungen zwischen Senat und Bezirken ist die Unterbringung nach ASOG zum Ausfallbürgen für strukturell unterfinanzierte Angebote in Regelsystemen der sozialen Sicherung geworden. Dies und die angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt sorgen dafür, dass die Unterbringung in einer der genannten Einrichtungen Jahre dauern kann. Dies zu ändern ist Ziel des Projekts „Gesamtstädtische Steuerung der Unterbringung“, das die Sozialverwaltung seit vier Jahren federführend verfolgt. Inzwischen steht das Projekt vor dem Start der Pilotphase. Ziel ist es, bis 2025 die gesamte Unterbringung von Wohnungslosen in Berlin in einem regulativen und administrativen Rahmen auf Basis einheitlicher Qualitätsstandards, Bedarfsermittlungs-, Zuweisungs- und Abrechnungsprozesse zusammenzufassen und die Verwaltung der Unterkünfte zu organisieren. Herzstück des Projekts ist eine IT-Plattform, über die künftig die Bedarfsermittlung systematisiert wird, qualitätsgesicherte und vertragsgebundene Unterkünfte erfasst, gebucht und abgerechnet werden. Das ist aber mit Blick auf den von uns vorgeschlagenen Masterplan nur ein Zwischenschritt. Die IT-Plattform ist so konzipiert, dass sie nicht auf die Zuweisung von Unterkünften limitiert ist, sondern zum Nukleus eines stadtweiten sozialen Wohnraumversorgungssystems wird. Dafür brauchen wir auch regulatorische Änderungen in der Ausführungsvorschrift Wohnen, die es den sozialen Wohnhilfen erleichtern, Wohnungen statt Betten in Gemeinschaftsunterkünften zuzuweisen. Die Messgröße zur Erreichung dieses Ziels ist die Zahl der in Gemeinschaftsunterkünften untergebrachten Menschen, die sich in Berlin bis zum Ende dieses Jahrzehnts mindestens halbieren sollte.
Soziale Wohnhilfen reformieren: Die Defizite der sozialstaatlichen Reaktion auf eingetretene Wohnungslosigkeit sind auch auf systemische Defizite zurück zu führen. Wohnungslosigkeit wird zu wenig als eigenständige soziale Problemlage wahrgenommen und stattdessen als abgeleitetes Problem persönlicher Defizite der Betroffenen reduziert. Passend dazu sind die Hilfsangebote zu wenig aufeinander abgestimmt und führen mit fortdauernder Wohnungslosigkeit zu einer immer stärkeren Entmündigung der Betroffenen. Die sozialen Wohnhilfen sind in Berlin Teil der bezirklichen Sozialämter und nach keinem stadtweit geltenden Organisationskonzept aufgestellt. Dies wird sich durch das in den neuen Leitlinien zur Wohnungsnotfallhilfe niedergelegte Konzept ändern, mit dem die sozialen Wohnhilfen berlinweit zu Fachstellen für Wohnungsnotfälle umgebaut werden. Die primäre Aufgabe der bezirklichen Fachstellen wird die Prävention von Wohnraumverlust und die Versorgung mit Wohnraum nach einem Wohnungsverlust sein. Um diese zentrale Aufgabe herum gruppiert sich die Ermittlung und Befriedigung von Ansprüchen und Bedarfen in anderen Systemen der sozialen Sicherung, die aber grundsätzlich wie in anderen Bereichen als Hilfen aus einer Hand und nach dem Grundsatz der Sozialraumorientierung erbracht werden müssen. Bis zur Mitte des Jahrzehnts muss jeder Bezirk eine solche Fachstelle für Wohnungsnotfälle haben.
Barrieren abbauen, Brücken in ein selbstbestimmtes Leben aufbauen: Die Wahrnehmung von Wohnungslosigkeit als eigenständige Problemlage darf nicht dazu führen, dass andere Ansprüche und Bedarfe in den Regelsystemen der sozialen Sicherung negiert oder ignoriert werden. Die Wohnungslosenhilfe ist zu wenig auf die unterschiedlichen Voraussetzungen und Bedürfnisse der verschiedenen Menschen in einer multiethnischen und vielfältigen Gesellschaft ausgerichtet. Die Hilfeerbringung aus einer Hand in den Fachstellen Wohnungsnotfallhilfe wird nur dann funktionieren, wenn die systematischen Barrieren in diese Regelsysteme abgebaut werden. Dazu braucht es in Berlin drei Elemente: flächendeckende diverse Beratungs- und Betreuungsangebote, niedrigschwellige Zugänge in die Hilfesysteme, die dem System der Budgetierung und Kosten- und Leistungsrechnung entzogen sind, sowie eine Flexibilisierung der Leistungstypen, insbesondere im Bereich der Hilfen in besonderen Lebenslagen. Die Hilfen müssen auch denjenigen zur Verfügung stehen, die keinen Anspruch auf Leistungen haben. Ein besonderer Stellenwert kommt in diesem Zusammenhang der sozialpolitischen Ausgestaltung der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu. Viele EU-Bürger*innen landen aus unterschiedlichen Gründen in der Obdachlosigkeit, und wenn sie keinen Anspruch auf Leistungen haben, gibt es kaum nachhaltige Unterstützungsmöglichkeiten. Hier müssen auf nationaler und auf europäischer Ebene Lösungen entwickelt werden.
Hilfen stärken: In Berlin existiert ein vergleichsweise breites Netz an niedrigschwelligen Notfallhilfen, das aus der Kältehilfe, ganzjährigen Notübernachtungseinrichtungen, medizinischer und hygienischer Versorgung, Tagesstätten, Suppenküchen sowie aufsuchenden Angeboten besteht. All diese Hilfen sind wichtig und wertvoll. Aber auch diese Systeme müssen sich ändern, wenn wir obdachlose Menschen als gleichberechtigte Bürger*innen ernst nehmen. Die Angebote müssen auf ihre Potenziale für eine Selbstermächtigung der Menschen überprüft und dahingehend qualifiziert werden. Die im Rahmen des Projekts eingestellten „Obdachlosenlots*innen“ sind ein modellhafter Ansatz, mit dem ehemals obdachlose Menschen ermächtigt werden, ihren eigenen Weg aus der Wohnungslosigkeit zu gehen, und mit regulär bezahlter Arbeit die aufsuchenden Hilfen für akut betroffene obdachlose Menschen zu verbessern.
Unterbringungsträger zu sozialen Wohnungsträgern weiterentwickeln: Das Berliner Hilfesystem für Wohnungslose fußt auf einer breiten Landschaft von Trägern, die im Auftrag und in Finanzbeziehungen mit dem Land Berlin und den Bezirken die Unterbringung und Versorgung von wohnungslosen und obdachlosen Menschen sichern. Ein Masterplan zur Beendigung der Wohnungslosigkeit kann nur gelingen, wenn er auch eine Perspektive für diesen Teil des Hilfesystems gemeinsam mit den Akteur*innen entwickelt. Wir wollen, dass die Investitionen ins Unterbringungssystem künftig in den Bau und die Bewirtschaftung bezahlbarer Wohnungen umgeleitet werden, die für die Zuweisung von Wohnraum im Rahmen einer flächendeckenden Umsetzung des „Housing-First“-Ansatzes zur Verfügung stehen. Für diesen Prozess braucht es die richtigen Anreize, Finanzierungsmodelle und Vorgaben.
Wohnungslosenpolitik auf Senats- und Bezirksebene bündeln: Der Berliner Masterplan zur Überwindung unfreiwilliger Wohnungs- und Obdachlosigkeit bis 2030 muss als gemeinsames Vorhaben von Politik und der Gesellschaft umgesetzt werden. Dafür sollten in der Senatsverwaltung für Soziales und in den Bezirken Beauftragte für Wohnungslosenhilfe ernannt werden.
Ist diese Aufzählung von Maßnahmen vollständig? Nein, es gibt noch viel mehr zu tun. Eine Verstetigung der „Nacht der Solidarität“ halten wir etwa für eine Selbstverständlichkeit. Ist das, was wir vorschlagen, bezahlbar? Und ob. Unfreiwillige Wohnungs- und Obdachlosigkeit gehören aus fiskalischer Sicht zu den teuersten Notlagen, mit denen ein Sozialstaat konfrontiert ist. Die tagessatzbasierte Unterbringung von Familien in einer der Notübernachtungen für Obdachlose kostet pro Nacht weit über 70 Euro. Weitere Millionenbeträge werden für Sozialarbeit, medizinische Hilfen und Hygieneangebote sowie für das eigentliche Regelsystem der Wohnungslosenhilfe ausgegeben. Nirgendwo gezählt und monetarisiert wird das ehrenamtliche Engagement, ohne das das Hilfesystem nicht denkbar ist. Insgesamt gibt Berlin jedes Jahr nur für die Bewältigung der akuten Wohnungs- und Obdachlosigkeit weit über 300 Millionen Euro aus.
Berlin kann mehr, wenn die Bekämpfung der Wohnungs- und Obdachlosigkeit auf Basis gemeinsamer Ziele und einer abgestimmten Strategie geschieht. Erste Schritte wurden in dieser Legislatur mit den Leitlinien der Wohnungslosenpolitik und mit der jährlichen Strategiekonferenz zur Wohnungslosenhilfe gegangen. Die Konferenz ist der richtige Ort, um über den Masterplan zu beraten. Berlin kann von der „Hauptstadt der Obdachlosigkeit“ zum europaweiten Vorreiter bei der Bekämpfung der Wohnungs- und Obdachlosigkeit werden. Der erste Schritt ist an uns.
Verborgen. Obdachlosigkeit ist nicht immer sichtbar. Viele Menschen kommen in Einrichtungen und bei Bekannten unter. Foto: P. Zinken/dpa
Elke Breitenbach (Linke) ist Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales in Berlin. Alexander Fischer (Linke) ist Staatssekretär für Arbeit und Soziales in ihrer Verwaltung. Fotos: imago/Zensen, dpa/Martin Schutt
„Die Beschlagnahme von Wohnraum ist kein Tabu“
Ein Masterplan soll den Kampf gegen Obdachlosigkeit bis 2030 verbessern – dessen Leitmotiv lautet: „Housing First“. Ein Gastbeitrag aus der Sozialverwaltung
Von Elke Breitenbach und Alexander Fischer
[Januar 2021]