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Projekt:Praxen der Gerechtigkeit/Forst

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Rainer Forsts „Kontexte der Gerechtigkeit“

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(Christopher Nils Adolph, Freiburg)

Das Ziel dieses Kapitels ist es, eine umfassende Diagnose der Forst’schen Kontexttheorie der Gerechtigkeit zu erstellen. Ausgehend von der Anzeige, warum sich Forsts Kontexte der Gerechtigkeit als heuristisches Mittel besonders eignen, soll zunächst eine Einführung in besagtes Werk gegeben werden. Danach werde ich mich der Frage nach der Rationalität der Kontexte der Gerechtigkeit zuwenden. Restlos abbauen lässt sich das Misstrauen gegen die Forst’schen Ausführungen aber erst durch die Beantwortung der Frage nach der praktischen Vernunft in der Kontexttheorie. Das Ziel der Darstellung soll jedoch mit Taylor nicht darin bestehen, eine substanzielle Reformulierung für die Diskursethik zu finden (vgl. T: 101). Die wichtigste Konsequenz aus der folgenden Diskussion von Forsts Ausführungen, wird die Heuristik für den Vergleich von Gerechtigkeitskonzeptionen in den folgenden Kapiteln sein. Damit ist eine leitende Ordnung gemeint, die es zusammen mit den Untersuchungsleitenden Prinzipien möglich macht, die disponiblen Gerechtigkeitskonzeptionen einander in freundschaftlicher Zuwendung, gegenseitig zu Vermitteln.

ERSTE ANNÄHERUNG AN DIE KONTEXTE DER GERECHTIGKEIT

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Auf den ersten Blick scheint sich die Kontexttheorie besonders gut für das angezeigte Unterfangen als heuristisches Instrument zu eignen, weil sie verknüpft ist, mit einem universalistischen Anspruch. Dieser Anspruch findet seine erste Begründung mit der kopernikanischen Wende Kants. Kant vollzog mit dieser epochalen Wende, neben dem französischen Aufklärer Descartes, wohl den größten Schritt weg von der Natur oder von göttlichen Entitäten als Bezugspunkt des menschlichen Lebens. Zugleich stellte er den Menschen in den Mittelpunkt, sich selbst und allen Geschehnissen als der alleinige Maßstab fungierend. Diesem Maßstab weist Kant in seinen drei Kritiken subjektiv- idealistische Ausgangspunkte zu, durch seine radikalen Beschreibungen der menschlichen Vermögen, den Bedingtheiten vor aller Erfahrung und den Vernunftideen. Diese Ausgangspunkte verbürgen in den gesamten auf Kant zurückgehenden Traditionen einen allgemeinen und unbedingten Anspruch der Moraltheorie. Dieser Anspruch ist in dem einzigen synthetischen Satz a priori zusammengefasst, der gedanklich die gesamte Menschheit als freie und gleiche repräsentiert [1].

Eine Kritik dieses Satzes liegt in seiner Anwendung begründet. Wohl ist der einzelne Mensch verpflichtet vor diesem Satz sein Handeln und die Folgenabschätzung zu rechtfertigen, so tut er sich dennoch damit schwer, weil diese Rechtfertigung oft monologisch stattfindet und verständnisvolle Einsicht in die faktische unendliche Vielfalt von Handlungssituationen braucht.[2] Dem dahinter stehenden allgemeinen Problem, dass Regeln sich nicht selbst anwenden, und dass Normen und Ideale in jeweils neuen Kontextbedingungen immer zusätzlicher Deutungen bedürfen (vgl. Taylor 1986: 121), ist nur mit einer funktionstüchtigen Urteilskraft beizukommen. Das banale Fehlen dieser Urteilskraft illustriert Arendt anhand des Falls Eichmann in Jerusalem, ein Bericht von der Banalität des Bösen.[3] Aufgrund der von fehlender Urteilskraft ausgehenden Gefahr, musste Kants Selbstbefragungsprozedur revidiert und durch das diskursethische, reziproke und intersubjektive Verfahren ergänzt werden.[4]

Dieser intersubjektiven Befragungsprozedur ist auch Forst verpflichtet, wie seine Durchdringung von diskursiven Rechtfertigungen der verschiedenen methodischen, normativen und substanziellen Unterschiede in Bezug auf die Theorie einer gerechten Gesellschaft, beweist. Methodisch gerechtfertigt durch die Analyse von Geltung und Rechtfertigungen, gilt ihm die Differenzierung von vier verschiedenen Kontexten der Gerechtigkeit, welchen er sich systematisch zuwendet, als „systematischer Vorschlag grundbegrifflicher Klärung“ (F: 16). Damit der Begriff Gerechtigkeit jedoch „sinnvoll verwendet werden kann, “ verdeutlicht Forst an anderer Stelle, „muss ein »Kontext der Gerechtigkeit« bestehen: ein Kontext politischer und sozialer Verhältnisse, die nach einer gerechten Ordnung verlangen.“[5] Es lässt sich also festhalten, ein Kontext der Gerechtigkeit ist durch die in ihm gerechtfertigte Norm und dem Geltungskreis dieser Norm bestimmt, etwa den politischen und sozialen Verhältnissen eines Vereins. Mit dieser kommunitarisch anmutenden Grundthese, wie sie der Begriff »community« mitbedeutet, lässt Forst es in seiner Dissertation nicht bewenden. Der »Kontext der Gerechtigkeit« bildet für ihn nicht nur eine Gemeinschaft,

„die in ihren historisch erwachsenen Werten, Praktiken und Institutionen, kurz: ihrer Identität, einen normativen Horizont bildet, der für die Identität ihrer Mitglieder und damit für die Normen des Gerechten konstitutiv ist.“ (F: 14)

Stattdessen geht Forst über die »community« hinaus, indem er vier Kontexte der Gerechtigkeit im Diskurs analysiert. Was die Linearität seiner zusammenfassenden Analyse der Rechtfertigungs- und Geltungsgründe einer in der Hauptsache US- amerikanischen polit-philosophischen Debatte suggeriert, steht in Wirklichkeit jedoch als konstitutive Prinzipien der Analyse bereits voran, denn die vier Kontexte sind sowohl das letzte der Analyse, als auch das erste im Werden.[6] Die weit reichenden Konsequenzen der diskursiven Komparation der kommunitarisch - liberalistischen Gerechtigkeitsdebatte beschränkt sich damit, trotz der gelehrten Lektüre einer Unzahl von Primär- und Sekundärquellen,[7] auf deren Einordnung in die vier Kontexte, welche Forst sowohl kontextimmanent binden, als auch zugleich eine kontexttranszendente Kohäsion für sie schaffen möchte, ohne dabei einen der Kontexte zu verabsolutieren oder einen zu vernachlässigen (vgl. F18). Im Folgenden werden die Rechtfertigung und der Geltungsrahmen dieser systematischen, grundbegrifflichen Klärungen dargelegt, also der ethische, rechtliche, politische und moralische Kontext der Gerechtigkeit.

ETHISCHER KONTEXT: RECHFERTIGUNG UND GELTUNGSRAHMEN

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Der ethische Kontext lässt sich eher von einem Erkenntnisinteresse, einer einheitlichen Fragerichtung oder Problembestimmung her erschließen, als von einem paradigmatischen, theoriegenerierenden Prinzip. „Ethische Fragen fragen nach dem, wer und was ich bin, wer ich geworden bin und sein will, als der oder die, der oder die ich »jetzt« bin.“ (Forst 1996: 389) Damit ist der ethische Kontext eindeutig dadurch umrissen, dass die darin verhandelten „Fragen des guten Lebens einer Person als Mitglied partikularer, ethischer Gemeinschaften [sind], mit deren Geschichte die einzigartige (»jemeinige«) Lebensgeschichte das Narrativ des Selbst […] verbunden ist.“ (F: 388) Es muss betont werden, dass eine durch ihre Zugehörigkeit ausgezeichnete Person in so vielen Gemeinschaften zugleich Mitglied ist, wie sie in ihrer Lebensgeschichte auszeichnen kann- ohne dass damit automatisch der Anspruch verbunden wäre, mit den Gemeinschaften identisch zu sein. Vielmehr ist damit ein „auswählendes Sichzusich – und Sichzuanderenverhalten“ gemeint, das ethisch- integrative Fähigkeiten von ethisch autonomen Personen fordert (vgl. ebd.). Dennoch steht die Vielzahl ethischer Gemeinschaften, die für eine ethische Person konstitutiv sind, insofern mit ihr in einem interdependenten Verhältnis, als sich qua intersubjektiver Konstitution, Person und Gemeinschaften notwendig bedingen. Daher stehen ethische Personen vor der Aufgabe, ihre jemeinigen, individuellen Lebensentwürfe mit ihrer Gruppen konstituierenden Zugehörigkeit für sich mit anderen, zu vermitteln. Abstrakter gesprochen verlangt ethische Autonomie, Lebenspläne »zu formen, zu revidieren und rational zu verfolgen« (Rawls), wie sie auch Zufälle und Brüche in ihr biographisches Narrativ (MacIntyre) hermeneutisch mit einbeziehen muss.

Dieser polymorphe Charakter des ethischen Kontextes bestimmt das Problem, von dem her sich ethische Kontexte erschließen. Für Rechtfertigungen von ethischen Entscheidungen und den daraus resultierenden Handlungen, lässt sich kein letzter, epistemischer Bezugspunkt ausmachen, von dem aus die verschiedenen Ansprüche miteinander vereinbar wären (Vgl. Seibert 2004: 284 >ref>Seibert, C. (2004): Politische Ethik und Menschenbild. Eine Auseinandersetzung mit den Theorieentwürfen von John Rawls und Michael Walzer. In: Brosseder, J. u.a. (Hrsg.): Forum Systematik. Bd. 20. Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag.</ref> ; F: 74). Dennoch muss jede ethische Person, um handlungsrelevante Entscheidungen zu fällen, diese zwangsläufig von einem kohärenten und einheitlichen Standpunkt her rechtfertigen. Diesen Standpunkt bezeichnet Forst als epistemologisches Element, das sich auf „die Grenzen der eigenen Vernunft und der der anderen“ bezieht (F: 74; Herv. i. Org.).

Darüber insistiert Forst auf die identitätsstiftende Funktion des ethischen Kontexts: „Ethische Werte gelten erst als gerechtfertigte Antworten auf die Fragen nach dem jeweiligen guten Leben, wenn sie im Selbstverständnis einer Person verankert und Bestandteil ihrer qualitativen Identität (geworden) sind.“ (F: 390) Dieses ethische Selbst ist solange Bestandteil einer ethischen Gemeinschaft, solange sie als Antworten auf die immer neuen Herausforderungen gemeinsame Selbstverständnisse generiert, die von den gruppenkonstituierenden Selbsten kohärent integriert werden können. „Die Antwort auf ein Problem des »für uns« Guten muss gemeinsam gegeben werden“ (F: 293), auch wenn deren praktische Umsetzung immer dem einzelnen Individuum überantwortet wird.

Aus den bisher vollzogenen Beschreibungen der Idee des ethischen Kontextes erschließt sich die Abhängigkeit des Geltungsrahmens ethischer Werte sowohl von der subjektiven Zustimmung, als auch von den Gemeinschaftsbezügen innerhalb derer dieser Wert konstitutiv ist. Subjektive Zustimmung heißt hier, dass ein Wert gerechtfertigt ist, „weil er meinem Leben Sinn verleiht, zu meinem guten Leben beiträgt.“ (F: 391) Für die ethische Person gilt allerdings, dass sie nicht die wäre, die sie ist, wenn die ethische Gemeinschaft nicht gewesen wäre. Dem gemäß erschließt sich der ethischen Person die Zustimmung zu ethischen Werten pflichtmäßig. Dabei muss das ethische Selbst zumindest zeitweise einen »doppelten identifikatorischen Salto« leisten, auf der einen Seite mit zwanghaften Anforderungen der Gemeinschaft, auf der anderen Seite mit un- oder nur schwer veränderlichen Teilen des Selbst, wie affektiven Dispositionen, Gewohnheiten und Charaktereigenschaften. Die Existenz einer ethischen Gemeinschaft ist erst dann gefährdet, wenn das für uns Gute nicht mehr gemeinsam gegeben werden kann, die kollektive Identität zerbricht.

RECHTSKONTEXT: RECHFERTIGUNG UND GELTUNGSRAHMEN

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Der Rechtskontext lässt sich am Besten durch die Erläuterung von Verfahrensgrundsätzen und Prinzipien begreifen. Deren Anwendung konstituiert „einen »äußeren« Rahmen »negativer Freiheit«, der die positive Freiheit der Selbstverwirklichung in Form einer »Schutzhülle« ermöglicht und zugleich begrenzt.“ (F: 295) Mit negativer Freiheit ist auch das durch Zwangsmittel unterstützte Moment des pflichtmäßigen Gehorsams gegenüber dem Recht gemeint. Dieser Monopolisierung und Dominanz der physischen Gewalt entspringt ein rechtssicherer Freiraum, innerhalb dessen, durch gegenseitige und verbindliche Achtung, friedliche und freie Kooperation in Rechtssicherheit (positive Freiheit) möglich ist. „Im Geltungsmodus des Rechts“ formuliert Habermas diesen Sachverhalt,

„verschränkt sich die Faktizität der staatlichen Rechtsdurchsetzung mit der Legitimität begründenden Kraft eines dem Anspruch nach rationalen, weil freiheitsverbürgenden Verfahrens der Rechtssetzung.“ (Habermas 1992: 46, Herv. i. Orig.)

Also stehen sowohl gleiche Freiheitsräume zur Verfügung, als auch die gleichen Zwangsverpflichtungen.

Die Rechtfertigung der Rechtsnormen geht nach Forst von der Verschränkung folgender anspruchsvoller Prinzipien aus: Allgemeinheit, Verfahrensgleichheit, Unparteilichkeit (Neutralität)[8] und Reziprozität.[9] Die akritische Interpretation des biblischen Zitats: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ (2.Mo 21.24), das in rechtsphilosophischen Diskussionen vielfach mit der Selbstjustiz konnotiert wird, kann die Verschränkung der Prinzipien verdeutlichen. Das Zitat hat zunächst die Bedeutung, dass alle Menschen betroffen sind, die dem gleichen Verfahren unterzogen, an dem gleichen unparteilichen Maß gemessen und nicht zuletzt beiderseitig, d.h. reziprok dem Maß und Verfahren unterzogen werden. Wenn jedoch alle Bürger prinzipiell gleich sind, gibt es dennoch unterschiedlich starke Rechtfertigungen dieser Prinzipien. Auf der Ebene der Rechtsperson bedeutet »Rechtfertigung« wenig anspruchsvoll, „dass Personen ihre Handlungen rechtfertigen müssen und zwar mit dem Verweis auf die »Rechtmäßigkeit« dieser Handlungen nach Maßgabe des geltenden Rechts.“ (F: 396) Die Teilnahme an der politisch begrenzten Rechtsgemeinschaft, zwangsverpflichtet zu der reziproken Respektierung der jeweiligen Rechtsgrundsätze. Eine anspruchsvollere Forderung an Allgemeingültigkeit wird erfüllt, wenn die Bürger sich als Autor und Adressaten des Rechts verstehen können. Dieses Verständnis sollte durch egalitäre Prozeduren, wie beispielsweise demokratische Wahlen, Abstimmungen und Schöffengerichte gesichert sein. Die in derlei Weise aktiv und verantwortlich an der Rechtssetzung partizipierenden Bürger sind nicht nur Rechtspersonen, sondern können auch als Staatbürger bezeichnet werden.

Die Geltung der Rechtsnorm ist wegen ihrer Rechtfertigung allgemein verbindlich und unverbrüchlich. Forst unterscheidet weiterhin eine moralische, eine politische und eine ethische Geltungsdimension des Rechts. Moralisch, weil gemäß der natürlichen Menschenwürde, jedem Menschen grundlegende Rechte wechselseitig zugesprochen werden müssen. Politisch, weil prozeduralistische Forderungen der Rechtssetzung sicherstellen, dass Recht ein weiches und anschmiegsames Gewand einer sich unter Umständen wandelnden Gemeinschaft bleibt. Insofern ethische Ansprüche allgemein gerechtfertigt und gesatzt werden, kann sogar die ethische Dimension im Recht eine Erfüllung finden. Damit ist aber nicht sichergestellt, dass Kollisionen der ethischen-, politischen- oder moralischen Geltungskontexte mit der Rechtsgeltung ausgeschlossen sind. Solche Konflikte können sowohl die Aufnahme von Ausnahmen in den Rechtskontext nach sich ziehen, als auch auf den Begriff der Billigkeit abheben. Billigkeit muss dann in jenen Fällen walten, wo das Recht nicht in der Lage ist, besondere Handlungen zu beurteilen, weil es seiner nur allgemeinen Rechtfertigung und Gültigkeit verhaftet bleibt (vgl. Aristoteles: EN 1137b19).

POLITISCHER KONTEXT: RECHTFERTIGUNG UND GELTUNGSRAHMEN

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Viele politische Philosophen von Rousseau, über Hegel bis zu Arendt sahen in der griechischen Polis die ideale politische Gemeinschaft verwirklicht. Zwar rechtfertigt niemand mehr Staaten allein durch die Natur des Menschen und besonders seine Sprachfähigkeit wie in Aristoteles in seiner Politik, aber das, was einen politischen Körper im innersten zusammenhält wird auch heute noch als sein jeweiliges Machtpotential bestimmt, wie Arendt (1999: Kap. 5) klar herausstellen kann. „Macht ist, was den öffentlichen Bereich, den potentiellen Erscheinungsraum zwischen Handelnden und Sprechenden, überhaupt ins Leben ruft und am Dasein erhält“ (Arendt 1999: 252). Entsprechend ist der Untergang von politischen Gemeinschaften durch Machtverlust gekennzeichnet, der schließlich in Ohnmacht mündet.

Forst allerdings rückt in der Absicht einen Prozeduralismus zu legitimieren, der strikt allgemeine und neutrale Normen produziert (Vgl. F: 82), von dem relationalen Kooperationsphänomen der Staatsbürger[10] ab, welches Macht gewaltfrei konstituiert.[11] Macht, wird damit verkürzt auf die „Herrschaft allgemein gerechtfertigter Gründe“ (F: 194), der die staatsbürgerliche Pflicht entspricht, politische Freiheiten wahrzunehmen (F: 401). Die Macht gleicher Bürger besteht nach Forst also darin, nebst Adressat auch souveräner Autor von allgemeinen Rechtsnomen zu sein (vgl. F: 400). Rechtsnormen werden in einem öffentlichen Diskurs produziert, der „dem kantischen Prinzip des »öffentlichen Gebrauchs der Vernunft« gemäß“, ist (F: 194). Dieser öffentliche Diskurs ist ausgezeichnet durch die ihm unterliegenden kognitiven Annahmen, denen Indifferenz, wenn nicht gar die idiosynkratische Ablehnung von Affektion und Leidenschaft entspricht. Wie Haucke (2002)[12] den Sachverhalt in Anlehnung an Plessners Grenzschrift ausdrückt, handelt es sich dabei nicht nur um eine verkraftbare Entwertung, sondern auch um ein Streben nach niemals Erreichbarem (vgl. Bubner 2002: 190f.), das zur Zerstörung des Wirklichen selbst führt: „Radikalismus heißt Vernichtung der gegebenen Wirklichkeit zuliebe der Idee“.[13] Es stimmt also etwas nicht, wenn man wie Forst annimmt, dass sich »Rechtfertigung« im politischen Kontext allein auf die Rechtfertigung von allgemeinen Normen beziehe (vgl. F: 402). Vermisst wird dabei jener „Intensitätsgrad der konkreten Freiheit“[14], der sich nach „Möglichkeit und Offenheit von Handlungs- und Gesprächsanschlüssen bemisst“ (ebd.). Es gilt ebenso in Betracht zu ziehen, dass zur Verwirklichung der zweitbesten aller Ordnungen erst dann alles getan ist, wenn auch allen Staatsbürgern der durch nichts limitierte Zugang zu öffentlicher Rede, zu Argumentation und Streit dauerhaft gewährt ist (vgl. Bubner 2002: 86. Herv. i. Org.).

Der Geltungsrahmen einer politischen Gemeinschaft wird intern durch allgemein zustimmungsfähige (vgl. F: 112) und intersubjektiv geprüfte (vgl. F: 436) Gründe abgesteckt, die zu fairen Vereinbarungen und Kompromissen führen. Begrenzt wird er durch die unverbrüchlichen moralischen Verpflichtungen gegenüber jenen, die (noch) nicht zur politischen Gemeinschaft gehören, und denen Zuflucht zu gewähren währe, würden sie verfolgt. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang neben dem Gedanken der nachhaltigen Verantwortung für nachfolgende Generationen auch der unverbrüchliche Asylgedanke gegen Hunger, Tod und Vertreibung. „Hier stoßen die Interessen der politischen Allgemeinheit an die Grenzen, die die moralische Allgemeinheit aller Menschen zieht.“ (F: 402) An dieser Grenze angelangt, nimmt Forst Bezug auf den interaktiven Universalismus wie ihn Benhabib[15] ausgearbeitet hat und fordert, „dass keine(r) der »konkreten Anderen« wegen seiner oder ihrer Andersheit missachtet wird.“ (F: 205) Eine weitere Geltungsbegrenzung ergibt sich durch den Vorbehalt der Fallibilität gegebener Gründe, auch wenn sie Gründe einer demokratischen Mehrheit sind. Mit dieser Offenheitsforderung sichert Forst die politischen Diskurse gegen die Stasis ab, büßt aber gleichzeitig deren Eindeutigkeit ein. Dieses Dilemma spitzt Forst darauf zu „prinzipiell nicht die Möglichkeit ihrer Revidierbarkeit zu zerstören, das heißt, sich selbst als vorläufige, gleichzeitig jedoch als geltende Entscheidung zu verstehen.“ (F: 195)

MORALISCHER KONTEXT: RECHTFERTIGUNG UND GELTUNGSRAHMEN

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Moralische Personen sollten als Rechtfertigungen ihrer handlungsleitenden Normen nur reziproke und im strengsten Sinn allgemeine Gründe ausweisen. Es gilt also:

„Eine jede moralische Person hat gegenüber allen (und das heißt einer jeden) moralischen Person(en) die Pflicht, die handlungsleitenden Normen, die sie für gerechtfertigt hält, mit Gründen zu verteidigen, die nicht reziprok (von »konkreten« Individuen) und allgemein (von allen Mitgliedern der moralischen Gemeinschaft) zurückweisbar sind.“ (F: 402f., Herv. i.Org.)

Diese Rechtfertigung bezieht sich auf die basale moralische Anerkennung von Personen als Menschen, vor denen man sich qua dem eigenen »Menschenstatus« zu rechtfertigen hat. Wie Rechtsnormen, erheben also auch die moralischen Normen, im Unterschied zu ethischen Werten, den Anspruch auf eine begründete allgemeine Geltung »für alle«, welche ethische Auffassung sie auch haben. Es gilt also in einem ersten Schritt die Kontexte ethischer und moralischer Fragen auseinander zu halten (F: 67). Ein zweiter Schritt liegt in der Neutralität der Rechtfertigung von Gründen und Verfahrensneutralität, demgemäß in der moralischen Unparteilichkeit der Rechtfertigung (vgl. F: 79). Dieser abstrakten Rechtfertigung steht die konkrete inklusive Mitgliedschaft eines jeden Menschen gegenüber, denn durch die Erfüllung dieser Ansprüche wird eine moralische Person automatisch zum Mitglied der moralischen Gemeinschaft, deren Mitglieder alle diese Gründe teilen. Diese moralische Gemeinschaft muss wegen der Rechtfertigung alle moralischen Personen umfassen, die nach Gründen handeln, die allgemein »teilbar« sind. Wider den Einwand eines moralischen Transzendentalismus[16] betont Forst die Kontextgebundenheit der moralischen Geltung. „Moralische Begründung bleibt ebenso wie ethische Reflexion […] »kontextgebunden«, nur erfordert moralische Begründung strikt reziproke und allgemeine Gründe, die in einem intersubjektiven, nicht »transzendentalen« Sinne »vernünftig« sind.“ (F: 369) Diese intersubjektiven Gründe als Basis gerechtfertigter Handlungen beziehen sich auf einen Raum zwischen Personen an (vgl. F: 365f.). Das Zwischen konstituiert sich aus vier, jeweils kontextspezifischen Fragen in der, und zugleich an die Praxis der vier Kontexte. Ethisch „nach dem »für mich« Guten, dem durch das Recht gebotenen, dem politisch »für uns« Gerechtfertigten und dem moralisch »für alle« Richtigen (vgl. F: 369). Vorausgesetzt innerhalb der Kontexte findet sich ein Konsens, so bleiben vier verschiedenen Antworten in Übereinstimmung zu bringen. Deren Integration sieht Forst als praktische Aufgabe an (F: 368), die er zwar jetzt normativ fordert, für die er aber keinen konkreten Ort angeben kann. Oder umgekehrt für die er einen abstrakten Ort angibt, dessen konkreter Zeitpunkt indifferent bleibt (vgl. F: 368).

Mittels dieses Kunstgriffs kann Forst behaupten, dass die Geltung des moralischen Kontextes durch seine intersubjektive Rechtfertigung konkret bleibe, auch wenn sie zugleich uneingeschränkt universell, unbedingt und für alle Menschen und alle Gemeinschaften gilt, weil sie nicht vernünftig zurückgewiesen werden kann. Dabei betont Forst sogar, dass der »vernünftige« Geltungsanspruch, vor allen utilitaristischen oder kommunitarischen Zielen und Erwägungen zu gelten habe (vgl. F: 59, 359).

Referenzen

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  1. Mit der Formulierung: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“, hat Kant diesem Satz Ausdruck verliehen. Kant, I. (1990)10: Kritik der praktischen Vernunft. 1.T., 1.B., 1.H., §7. In: Vorländer, K. (Hrsg.): Hamburg: Felix Meiner Verlag. S.36.
  2. Habermas, J. (1986): Moralität und Sittlichkeit. Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu? 16- 37. In: Kuhlmann, W. (Hrsg.): Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. S. 26f.
  3. Arendt, H. (2006)2: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München, Zürich: Piper Verlag.
  4. Vgl. Honneth, A. (2000): Das Andere der Gerechtigkeit. Habermas und die ethische Herausforderung der Postmoderne. S.133- 170. In: Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. S.140f..
  5. Forst, R. (2005): Die erste Frage der Gerechtigkeit S. 25- 31. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Ungleichheit - Ungerechtigkeit. Aus Politik und Zeitgeschichte 37/ 2005. Beilage zur Wochenzeitung das Parlament. 12. September 2005. S.25.
  6. Vgl. Aristoteles: Vgl. NE 1112b 22f., Vgl. Hegel, G.F.W. (1999)7: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I. Werke Bd. 8. In: Moldenhauer, E., Michel, K. M. (Hrsg.). Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. § 204 Anmerkung.
  7. Die 27 Seiten Literaturverzeichnis seiner Dissertation beziehen sich auf ungefähr 500 Titel.
  8. Forst unterscheidet 7 verschiedene Bedeutungen von Neutralität. Vgl. F:78 ff.
  9. Habermas formuliert nach Van Reijen folgende 4 ideale Bedingungen des gewaltfreien Diskurs, an denen sich Forst offensichtlich orientiert: „1) Äußerungen müssen verständlich sein. 2) Die Wahrheit von Aussagen muss beansprucht werden. 3) Die Partner müssen sich gegenseitig ihr Wahrhaftigkeit unterstellen. 4) Für normative Sprechakte muss ihre Richtigkeit beansprucht werden.“ (Van Reijen, W. (1986): Philosophie als Kritik. Einführung in die Kritische Theorie. Königstein/ Ts: Athenäum. S.167.)
  10. Vgl. Schlüter, C. (2000): Gleichheit - Freiheit - Gerechtigkeit Versuch einer Ortsbestimmung in praktischer Absicht. Dissertation an der Humbold-Universität zu Berlin. http://www. Edoc.hu-berlin.de/dissertationen/schlueter-christian-2000-07-12/HTML/ am 24.8.05 um 23:13. S.224.
  11. Vgl. Heidbrink, L. (2001): Moral und Konflikt. Zur Unvermeidbarkeit sprachlicher Gewalt in praktischen Entscheidungssituationen. S.265- 309. In: Erzgräber, U. Hirsch, A. (Hrsg.): Sprache und Gewalt. Berlin: Berlin Verlag. S. 268. Weil Gewalt in der Sprache prinzipiell nicht vermeidbar, aber verminderbar ist, schlägt Heidbrink vor, die diskursive Verständigung über Anspruchskollisionen durch ein hermeneutisches Verstehen von Wert- und Normenkonflikten zu erweitern und durch eine spezielle Grammatik der moralischen Artikulation im Kontext unterschiedlicher Lebensformen zu fundieren.
  12. Haucke, K. (2002): Plessners Kritik der radikalen Gemeinschaftsideologie und die Grenzen des deutschen Idealismus. S. 103- 131. In: Eßbach, W., Fischer, J., Lethen, H. (Hrsg.): Plessners »Grenzen der Gemeinschaft« eine Debatte. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. S.106f.
  13. Plessner, H. (2002): Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. S.17.
  14. Figal, G. (1995): Öffentliche Freiheit: Der Streit von Macht und Gewalt. Zum Begriff des Politischen bei Hannah Arendt. In: Gerhardt, V. Ottmann, H. u. Thompson M. P. (Hrsg.): Politischen Denken. Jahrbuch 1994. Stuttgart/Weimar: Metzlersche J.B. Verlagsbuchhandlung. S. 129.
  15. Vgl. auch Benhabib, S. (1986) Critique, Norm and Utopia. A Study of the Foundations of Critical Theory. New York: Columbia University Press. S. 339f. dt.: Dies. (1992): Kritik, Norm und Utopie. Frankfurt am Main: Fischer.
  16. Taylor, C. (1986): Die Motive der Verfahrensethik. S. 101- 135. In: Kuhlmann, W. (Hrsg.): Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. S.119. Nachfolgend mit „T“ abgekürzt.