Zum Inhalt springen

Kurs:Grundkurs Mathematik (Osnabrück 2016-2017)/Teil I/Vorlesung 18

Aus Wikiversity
„Drei Schritte vor und zwei zurück, so kommt der Mensch voran“



Die ganzen Zahlen

Wir haben in der letzten Vorlesung gesehen, dass die Gleichung

mit formulierbar ist, aber es dort bei keine Lösung gibt. Wir würden gerne von dieser Gleichung links und rechts „abziehen“, um links

und rechts die Lösung für zu erhalten. Um dies durchführen zu können, müssen wir die natürlichen Zahlen zu einem größeren Zahlenbereich erweitern, nämlich zur Menge der ganzen Zahlen. Solche Zahlenbereichserweiterungen ziehen sich durch die gesamte Mathematik, egal ob in der Schule oder auf der Hochschule. Wir werden noch die Erweiterung von den ganzen Zahlen zu den rationalen Zahlen und von den rationalen Zahlen zu den reellen Zahlen kennenlernen. Eine wichtige Motivation ist dabei, so wie hier, dass man Lösungen für gewisse Gleichungen finden möchte, für die es im Ausgangszahlenbereich keine Lösung gibt, und dass man diese Lösungen auch rechnerisch auffinden und handhaben möchte. Zugleich möchte man mit den neuen Zahlen möglichst viel machen können, was man im Ausgangsbereich kann, also beispielsweise nach wie vor addieren und multiplizieren, wobei auch die gleichen Gesetzmäßigkeiten weiter gelten sollen.

Da wir von nun an mit verschiedenen Zahlenbereichen arbeiten, wird es wichtig, zu betonen, in welchem Zahlenbereich wir uns befinden. Die Gleichung

besitzt in keine Lösung. Diese Tatsache bleibt unabhängig davon bestehen, dass es in anderen Bereichen eine Lösung gibt.

Wir führen jetzt die Menge der ganzen Zahlen ein, auf denen wir dann bald die Verknüpfungen festlegen und die zugehörigen Rechengesetze nachweisen werden.


Die Menge der ganzen Zahlen besteht aus der Menge aller positiven natürlichen Zahlen , der und der Menge , deren Elemente die negativen ganzen Zahlen heißen.

Diese Definition hat den Vorteil, dass sie direkt ist und ohne mengentheoretische Überlegungen (Äquivalenzrelationen) auskommt. Jede ganze Zahl gehört unmittelbar zu genau einem der drei Typen (positiv, , negativ). Der Nachteil ist, dass die Verknüpfungen darauf, nämlich die Addition und die Multiplikation, die diese Verknüpfungen auf den natürlichen Zahlen fortsetzen sollen, nicht unmittelbar ersichtlich sind, sondern auf eine Weise festgelegt werden müssen, die zumindest auf den ersten Blick etwas willkürlich aussieht. Zugleich ist der Nachweis der Gesetzmäßigkeiten, wie beispielsweise das Assoziativgesetz, recht aufwändig, da man alle Kombinationen der möglichen Fälle untersuchen muss.

Wie verhalten sich die ganzen Zahlen bezüglich der Zählvorstellung für die natürlichen Zahlen, die wir in der fünften Vorlesung kennengelernt haben? Die richtige Vorstellung ergibt sich, wenn man die Nachfolgerabbildung auf fortsetzt, indem man für eine negative Zahl den Nachfolger als das Negative des Vorgängers von definiert, also

(bei ist dies als zu lesen). Die natürlichen Zahlen werden somit auf der Zahlengeraden von aus nach links mit fortgesetzt. Der Nachfolgerschritt ist dann immer noch der eine Schritt nach rechts. Beispielsweise ergeben sich die Reihenfolgen

Es entsteht hier eine Symmetrie am Nullpunkt, wobei die negative Zahl der positiven Zahl gegenüber liegt. Diese Symmetrie gilt insbesondere auf der Zahlengeraden.

Wenn man die ganzen Zahlen dynamisch als (gleichlange) Schritte nach rechts bzw. nach links (oder nach vorne bzw. nach hinten oder nach oben bzw. nach unten) interpretiert, so sehen die negativen Zahl so „natürlich“ wie die positiven Zahlen aus.

Der Apfelkorb G
Der Apfelkorb H


Welche Objekte bzw. Strukturen kann man mit den ganzen Zahlen zählen? Es gibt keine Mengen mit negativ vielen Elementen! Dennoch gibt es viele Situationen, wo man mit ganzen Zahlen sinnvoll zählen kann. Sobald es einen Prozess zusammen mit einem zugehörigen gegenläufigen Prozess gibt, wie etwa einen Schritt nach rechts bzw. einen Schritt nach links zu machen, oder wenn man zwei sehr große Haufen (oder Körbe) an Äpfeln hat, und der Prozess ist, einen Apfel von dem einen Haufen zu dem anderen Haufen zu transportieren (mit dem umgekehrten Transport als dem gegenläufigen Prozess), so kann man die möglichen (hintereinander ausgeführten) Prozesse durch die ganzen Zahlen beschreiben: (oder deutlicher ) bedeutet Äpfel von Haufen nach Haufen , bedeutet drei Äpfel von Haufen nach Haufen . Hierbei muss man willkürlich festlegen, welche Prozessrichtung man als positiv ansehen möchte. Auch in der Hauswirtschaft werden die Einnahmen positiv und die Ausgaben negativ verbucht. Damit zusammenhängend werden negative Zahlen häufig als Schulden und positive Zahlen als Guthaben interpretiert.



Auf den ganzen Zahlen wird folgendermaßen eine Verknüpfung, genannt Addition, eingeführt (dabei bezeichnen natürliche Zahlen). Es ist

Die in Bemerkung 18.2 besprochenen Interpretationen für ganze Zahlen passen sehr gut zur Addition der ganzen Zahlen. Die Addition einer Reihe von Ausgaben oder Einnahmen führt zur Gesamteinnahme bzw. Gesamtausgabe; wenn man hintereinander mehrfach nach vorne (oder nach rechts) bzw. nach hinten (nach links) geht, so beschreibt die Addition den Gesamtbewegungsvorgang; wenn die einen Äpfel von nach und die anderen von nach schmeißen, so beschreibt die Addition den Gesamttransport. Hierzu muss man sich nur davon überzeugen, dass die über die Fallunterscheidung definierte Addition genau das macht, was im (Bewegungs-)Prozess geschieht. Wenn man beispielsweise zuerst Äpfel von nach transportiert und dann Äpfel ebenfalls von nach , so transportiert man insgesamt Äpfel von nach . Wenn man hingegen zuerst Äpfel von nach transportiert und dann Äpfel in die andere Richtung, also von nach transportiert, so hängt der Gesamtprozess wesentlich davon ab, ob oder ob größer (oder gleich) ist. Bei transportiert man insgesamt Äpfel von nach (vergleiche Satz 10.11), andernfalls transportiert man Äpfel von nach . Mit diesen Interpretationen werden auch die algebraischen Gesetze für die Addition ganzer Zahlen einsichtig.


Statt schreiben wir auch . Es ist sinnvoll, diesen Ausdruck und speziell für beliebige ganze Zahlen zur Verfügung zu haben. Wir setzen daher

Insbesondere ist für jede ganze Zahl .

Innerhalb der ganzen Zahlen besitzt die mit den natürlichen Zahlen formulierte Gleichung

eine eindeutige Lösung, nämlich . Bei ist das ja nach Definition die natürliche Differenz , und bei ist nach Definition

und wegen

ist nach der Definition der Addition und Lemma 10.12  (3)

Diese eindeutige Lösbarkeit überträgt sich auf eine Gleichung der Form

mit , siehe Aufgabe 18.13. Diese Aussage folgt auch aus Lemma 19.8 in Verbindung mit Satz 19.3.



Auf den ganzen Zahlen wird folgendermaßen eine Verknüpfung, genannt Multiplikation, eingeführt (dabei bezeichnen natürliche Zahlen). Es ist

Wie schon bei den natürlichen Zahlen ist die Vorstellung für die Multiplikation von ganzen Zahlen schwieriger als für die Addition, da bei der Addition beide Summanden die gleiche Rolle spielen (zumindest in der wichtigsten Interpretationen), während dies bei der Multiplikation nicht der Fall ist. Man kann nicht drei Äpfel mal fünf Äpfel ausrechnen. Wie bei den natürlichen Zahlen beschreibt der eine Faktor die Vielfachheit, mit der ein Prozess durchgeführt, den der andere Faktor quantitativ misst. Man kann also dreimal jeweils fünf Äpfel von nach transportieren und transportiert dann insgesamt Äpfel von nach . Das gleiche erreicht man, wenn man fünfmal drei Äpfel von nach transportiert. Ebenso kann man -mal Äpfel in die andere Richtung von nach transportieren, und transportiert damit insgesamt Äpfel von nach . Ganze Zahlen (der Apfeltransport samt Richtung) mit einer natürlichen Zahl zu multiplizieren besitzt also eine passende natürliche Interpretation. Schwieriger ist es, wenn beide Zahlen negativ sind. Die Definition sagt, dass dann das Produkt der zugehörigen positiven Zahlen herauskommt. Dies kann man sich so vorstellen: Es sei ein reversibler Prozess, der gegenläufige Prozess sei mit bezeichnet. Für ist die -fache Ausführung von . Für negatives

interpretiert man dann als die -fache Ausführung des gegenläufigen Prozesses. Insbesondere ist

Multiplikation mit führt also auf den gegenläufigen Prozess, und von daher ist es einleuchtend, auch

zu setzen, da der gegenläufige Prozess zum gegenläufigen Prozess der Prozess selbst ist.

Auch von den gewünschten algebraischen Gesetzmäßigkeiten her ist die Festlegung sinnvoll. Es soll

gelten und es soll das Distributivgesetz gelten. Dann ist für und

Bei negativem ergibt sich daraus

Das Produkt muss also bei Addition mit Null ergeben, dies ist aber gerade die charakteristische Eigenschaft von . Also ist




Die ganzen Zahlen erfüllen die folgenden Eigenschaften.

  1. Die Addition ist eine kommutative assoziative Verknüpfung mit als neutralem Element. Zu jedem gibt es ein mit
  2. Die Multiplikation ist eine kommutative assoziative Verknüpfung mit als neutralem Element.
  3. Es gilt das Distributivgesetz.
  1. Die Kommutativität der Addition beweisen wir mit einer Fallunterscheidung, je nachdem, ob die Summanden nichtnegativ (natürliche Zahlen) oder negativ sind. Wenn beide Summanden aus sind, ergibt sich dies unmittelbar aus der Kommutativität der Addition in den natürlichen Zahlen. Wenn aus ist und negativ ist, so muss man eine weitere Fallunterscheidung vornehmen. Bei ist

    nach dem (der ersten Hälfte des) zweiten Teil der Definition, und ebenso ist

    nach dem (der ersten Hälfte des) dritten Teils der Definition. Bei ist wiederum

    nach den Definitionen. Wenn beide Zahlen negativ sind ergibt sich die Kommutativität sofort aus dem vierten Teil der Definition.

    Dass das neutrale Element ist, folgt unmittelbar aus den ersten beiden Teilen der Definition der Addition. Die Assoziativität nachzuweisen ist aufwändiger, da dann drei Zahlen ins Spiel kommen, für die es jeweils mehrere Fälle gibt. Wenn eine der beteiligten Zahlen aber ist, so ist die Aussage wegen der bewiesenen neutralen Eigenschaft der klar. Wir müssen also nur noch die acht Fälle (in denen selbst jeweils wiederum Fallunterscheidungen gemäß der Größenbeziehung der beteiligten Elemente nötig sind) durchgehen, je nachdem, ob positiv oder negativ sind.

    Wenn beispielsweise mit positiven Zahlen ist, so ist

    Wenn ist, so ist dies (in ), andernfalls ist dies . Für die andere Klammerung ergibt sich

    Bei ist einerseits

    und andererseits

    Somit ist die zweite Klammerung in diesem Fall nach Aufgabe 10.18 ebenfalls gleich

    Bei unterscheiden wir die Fälle und . Bei ist und daher ist unter Verwendung von Lemma 10.12  (3)

    Bei ist erst recht und somit ist nach Lemma 10.12  (2)

    Für die anderen Fälle siehe Aufgabe 18.12.

    Bei positivem hat die Eigenschaft, dass die Summe

    ist, bei negativem mit mit erfüllt die Eigenschaft.

  2. Die Kommutativität der Multiplikation und die Eigenschaft, dass das neutrale Element ist, folgt unmittelbar aus der Definition 18.6. Zum Nachweis des Assoziativgesetzes stellt man zunächst fest, dass herauskommt, sobald ein Faktor ist. Die verbleibenden acht möglichen Fälle kann man einfach abhandeln, da das Vorzeichen des Produktes nur davon abhängt, wie viele Zahlen positiv und wie viele Zahlen negativ sind, siehe Aufgabe 18.17.
  3. Zum Nachweis des Distributivgesetzes

    können wir, indem wir bei negativem mit multiplizieren, annehmen, dass positiv ist (bei gilt die Gleichung sowieso). Wenn beide aus sind oder beide negativ, so ergibt sich die Gleichung unmittelbar. Es sei also aus und negativ. Bei ist nach Satz 10.5 auch

    In diesem Fall ist somit nach Lemma 10.13

    Bei ist nach Satz 10.5 auch

    In diesem Fall ist somit wieder nach Satz 10.5

Für die Assoziativität der Addition in geben wir noch ein weiteres einleuchtenderes Argument, das sich an der inhaltlichen Beschreibung der Addition von ganzen Zahlen als einen gerichteten Transport von Objekten (zwischen zwei Haufen, also mit Rücktransport) orientiert. Diese Interpretation deckt sich mit den Festlegungen in Definition 18.3. In dieser Interpretation ist aber das Assoziativgesetz unmittelbar einleuchtend, da man die Hintereinanderausführung von drei Transportprozessen als einen Gesamtprozess auffassen kann, aber auch die beiden ersten Prozesse zusammenfassen oder die beiden letzten zusammenfassen kann.



Der Betrag

Unter dem Betrag einer ganzen Zahl versteht man die Zahl selbst, falls diese positiv ist, oder aber die Zahl , falls negativ (und positiv) ist.

Der Betrag ist also stets eine natürliche Zahl.

<< | Kurs:Grundkurs Mathematik (Osnabrück 2016-2017)/Teil I | >>

PDF-Version dieser Vorlesung

Arbeitsblatt zur Vorlesung (PDF)