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Kurs:Singularitätentheorie (Osnabrück 2019)/Vorlesung 1/kontrolle

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Der Satz über implizite Abbildungen

Wir erinnern an den Satz über implizite Abbildungen, wie er in der Analysis II vorkommt.


Es sei offen und sei

eine stetig differenzierbare Abbildung. Es sei und es sei die Faser durch . Das totale Differential sei surjektiv.

Dann gibt es eine offene Menge , , eine offene Menge und eine stetig differenzierbare Abbildung

derart, dass ist und eine Bijektion

induziert.

Die Abbildung ist in jedem Punkt regulär und für das totale Differential von gilt

Das total Differential wird bezüglich der Standardbasen des bzw. des durch die Jacobi-Matrix

beschrieben. Damit das totale Differential surjektiv sein kann, muss gelten. In diesem Fall ist es das „typische Verhalten“, dass surjektiv ist und dass man daher den Satz anwenden kann. Der Satz über implizite Abbildungen gibt Anlass zu einer ganzen Theorie von geometrischen Objekten, den Mannigfaltigkeiten. Eine differenzierbare Mannigfaltigkeit ist ein topologischer Raum, der lokal wie eine offene Menge des aussieht (und wobei die Übergangsabbildungne stetig differenzierbar sein müssen). Der Satz über implizite Abbildungen besagt, dass die regulären Punkte einer Faser eine Mannigfaltigkeit bilden. Wenn man statt die komplexen Zahlen zugrunde legt, und die komplexe Differenzierbarkeit fordert, so gilt auch die komplexe Version des Satzes. Die Fasern sind dann komplexe Mannigfaltigkeiten.

Wir betrachten die geometrische Relevanz des Satzes in kleinen Dimensionen. Schon der Fall und ist sehr aussagekräftig, wir formulieren ihn explizit.

Die Nullstellenmenge zu heißt Neilsche Parabel.
Die Nullstellenmenge zu .

Sei

eine stetig differenzierbare Abbildung, sei und sei die Faser durch . Die Jacobimatrix sei surjektiv.

Dann gibt es eine offene Menge , , ein offenes Intervall und eine stetig differenzierbare Abbildung

derart, dass ist und eine Bijektion

induziert.

Hier kann man sich vorstellen, dass ein Gebirge über der Ebene beschreibt, die Fasern sind dann die Höhenlinien und der Satz besagt, dass diese in regulären Punkten lokal wie ein Graph zu einer stetig differenzierbaren Funktion in einer Variablen aussehen.

Das Nullstellengebilde zu ist eine Fläche im Raum, man spricht von einem Doppelkegel. Gemäß dem Satz über implizite Abbildungen ist es außerhalb der Kegelspitze eine zweidimensionale reelle Mannigfaltigkeit. In der Kegelspitze ist es aber definitiv keine Mannigfaltigkeit. Wenn man nämlich die Spitze aus dem Doppelkegel herausnimmt, so zerfällt dieser in zwei Zusammenhangskomponenten, während ein zweidimensionaler offener Ball, aus dem man einen Punkt herausnimmt, zusammenhängend bleibt.

Eine Verallgemeinerung des letzten Satzes davon ist durch eine stetig differenzierbare Abbildung

gegeben. Die Menge nennt man auch eine Hyperfläche. In einem regulären Punkt, wenn man also den Satz über implizite Abbildungen anwenden kann, sieht eine solche Hyperfläche lokal wie eine offene Teilmenge des aus. Die „Dimension“ dieses geometrischen Objektes ist also um kleiner als die des umgebenden Raumes . Dies ist mit „Hyper“ gemeint, bei

ist eine Hyperfläche eine Fläche.



Singualritäten

Wir interessieren uns dafür, was man über die Faser in den nichtregulären Punkten aussagen kann, also in den Ausnahmepunkten, wo der Satz über implizite Abbildugnen nicht anwendbar ist. Dabei werden wir die Funktionen , die die Faser festlegen, typischerweise als Polynome ansetzen, sodass sie beliebig oft differenzierbar sind und auf dem gesamten Raum bzw. definiert sind. Über den offenen Definitionsbereich muss man sich also keine Gedanken machen. Weiterhin liefern schon einzelne Polynome interessante Fasern. Manchmal kan man die Fasern auch in den singulären Punkten direkt verstehen, manchmal ist man ziemlich sprachlos.


Es sei

eine Funktion der Form

mit stetig differenzierbaren Funktionen

und mit

für einen bestimmten Punkt . Dann ist nach Lemma 45.10 (Analysis (Osnabrück 2021-2023))

und der Satz über implizite Abbildungen ist im Punkt nicht anwendbar. In diesem Beispiel hat das Auftreten der Singularität eine einfache Erklärung. Für die Faser zu über dem Nullpunkt gilt die Beziehung

und das bedeutet, dass ein Punkt der Faser ist, in dem sich die beiden „Komponenten“  und treffen. Diese Situation gilt beispielsweise für im Nullpunkt des . Die Faser durch den Nullpunkt ist das Achsenkreuz.



Wir betrachten die Abbildung

und die Faser

Die Jacobi-Matrix ist

mit dem einzigen singulären Punkt . Das bedeutet, dass eine zweidimensionale reelle Mannigfaltigkeit ist. Es ist keineswegs klar, dass ganz keine differenzierbare Mannigfaltigkeit ist, nur weil man den Satz über implizite Abbildungen im Nullpunkt nicht anwenden kann. Es handelt sich sogar um eine topologische Mannigfaltigkeit, siehe Aufgabe 1.17. Das entsprechende Gebilde über den komplexen Zahlen ist keine topologische Mannigfaltigkeit.


In dem zuletzt gegebenen Beispiel ist es auf Anhieb schwierig, eine Aussage über die Singularität zu machen, und es ist auch gar nicht klar, was hier überhaupt sinnvolle Fragestellungen sein könnten.

Es sei ein Körper (man denke an oder ) die Faser zu einer polynomialen Abbildung und ein singulärer Punkt von . Typische Fragen sind u.A.

  1. Wie kann man die singulären Punkte beschreiben?
  2. Welche Eigenschaften, die in einem regulären Punkt einer Faser gelten, gelten auch in jedem singulären Punkt? Als Teilmenge des ist direkt ein metrischer Raum und damit auch ein topologischer Raum, doch das sind sehr allgemeine Konzepte. In einem regulären Punkt handelt es sich lokal um eine Mannigfaltigkeit und diese hat eine wohldefinierte Dimension. Gibt es auch ein sinnvolles Dimensionskonzept in den singulären Punkten? (Krulldimension). Wie sieht es mit einem Tangentialraum in singulären Punkten aus, wie mit Differentialoperatoren?
  3. Welche Eigenschaften gelten in manchen singulären Punkten, in manchen nicht? (normal, faktoriell, Cohen-Macaulay). Was sagt das darüber aus, ob man die Singularität als „milde“ oder als schwerwiegend ansehen sollte?
  4. Wie kann man die Singularität quantitativ erfassen, wie kann man die Abweichung vom regulären Standardfall messen? Dies führt zu Invarianten (Multiplizität, Milnorzahl, ...).
  5. Gibt es abgesehen von der Beschreibung als Faser andere Möglichkeiten, singuläre Räume zu beschreiben?
  6. Welche Auswirkungen hat die Existenz eines singulären Punkten auf das Komplement ? (Zusammenhangseigenschaften, lokale Fundamentalgruppe, Knoten, lokale Picardgruppe, Divisorenklassengruppe). Kann man die Singularität aus dem Komplement rekonstruieren?
  7. Welche Singularitäten lassen sich durch besonders einfache Gleichungen beschreiben? Monomiale Gleichungen, binomiale Gleichungen, ...
  8. In regulären Punkten einer Faser ist die Faser lokal diffeomorph zu einen offenen Ball des und somit sind überhaupt alle glatten Punkte der gleichen Dimension untereinander diffeomorph. Wann sind Singularitäten als gleich anzusehen? Was ist ein sinnvoller Isomorphiebegriff für Singularitäten? Inwiefern gibt es für Singularitäten eine besonders einfache Repräsentierung?
  9. Ist die Singularität nur ein einzelner Punkt (isolierte Singularität) oder bildet die Singularitätenmenge eine substantielle Teilmenge (Untervarietät)? Im zweiten Fall, sind diese singulären Punkte gleichermaßen singulär oder kann man diese Menge gemäß der Schwere der Singularität ordnen?
  10. Ein Punkt in einer Mannigfaltigkeit liegt in abgeschlossenen Untermannigfaltigkeiten unterschiedlicher Dimension. Liegt ein singulärer Punkt auf niedrigerdimensionalen glatten Untervarietäten?
  11. Kann man eine Singularität in irgendeiner Weise glätten? (Normalisierung, Singularitätenauflösung).


Wenn man ein Blatt Papier faltet und zusammenklebt, entstehen auch Singularitäten.

Welche Möglichkeiten gibt es, Räume mit Singularitäten zu produzieren?

  1. Fasern zu polynomialen Abbildungen.
  2. Man kann willkürlich einzelne Punkte einer Mannigfaltigkeit miteinander identifizieren. Wenn man bei einem Faden zwei Punkte miteinander identifiziert, so entsteht ein Überkreuzungspunkt, der kein Punkt einer Mannigfaltigkeit sein kann. Ebenso wenn man auf einem Blatt Papier zwei Punkte miteinander „verklebt“.
  3. Man kann nicht nur einzelne Punkte miteinander identifizieren, sondern auch größere Teilmengen zu einem Punkt zusammenziehen (kontrahieren). Wenn man beispielsweise einen Zylinder aus Papier entlang eines Kreises zusammenschnürt, so entsteht ein besonderer Punkt, an dem alle Längsgeraden des Zylinders zusammenlaufen, eine Doppelkegelspitze.
  4. Quotientenmengen zu Gruppenoperationen. Reguläre Räume verfügen teilweise über gewisse Symmetrien. Auf dem gibt es beispielsweise die Punktsymmetrie am Nullpunkt . In einer solchen Situation ist die Quotientenmenge, die Punkte miteinander identifiziert, wenn sie durch eine Symmetrie ineinander überführbar sind, ein neues geometrisches Objekt, das Singularitäten haben kann.


Wir geben ein Beispiel für die zuletzt beschriebene Situation.


Beispiel  Beispiel 1.5 ändern

Die durch gegebene Nullstellenmenge hat im Nullpunkt eine Singularität. Wir betrachten auf dem den Automorphismus (die Punktspiegelung) . Jeder Punkt wird also auf den gegenüberliegenden Punkt abgebildet, nur der Nullpunkt wird auf sich selbst abgebildet. Welches geometrische Objekt entsteht, wenn man jeden Punkt mit seinem Gegenüber identifiziert? Ein sinnvoller Ansatz ist hier, nach Funkionen auf dem zu suchen, die für je zwei gegenüberliegende Punkte den gleichen Wert haben. Beispiele für solche Funktionen sind . Alle Polynome in mit dieser Invarianzeigenschaft lassen sich als Polynom in diesen drei Monomen schreiben. Diese drei Monome stehen untereinander in einer Beziehung, es gilt

Wenn man , und setzt, so ist dies die Gleichung vom Anfang. Wir haben also ein Beispiel einer Singularität, die sich als Nullstellenmenge eines Polynom und als Quotientenmenge unter einer natürlichen Identifizierung erhalten lässt.


Es gibt verschiedene Möglichkeiten, eine sinnvolle Theorie über Singularitäten aufzubauen. Als Kriterien kann man folgende Punkte nennen, die sich an den Fasern zu polynomialen Abbildungen als fundamentale Beispielklasse orientieren.

  1. Die Theorie soll geometrisch sein. Die Objekte sollen eine räumliche Struktur haben, die zwar vom abweichen darf, aber doch noch der geometrischen Intuition zugänglich sein soll.
  2. Die Theorie soll einen sinnvollen Dimensionsbegriff haben.
  3. Die geometrischen Objekte sollen sinnvolle geometrische Unterobjekte haben (so wie es Untervektorräume und Untermannigfaltigkeiten gibt).
  4. Singularitäten sollen ein Ausnahmephänomen sein. Wie die Fasern zu polynomialen Abbildungen sollen die geometrischen Objekte eine große dichte Teilmenge besitzen, die regulär ist.
  5. Dieser reguläre Ort soll für die Singularität wichtige Konsequenzen haben, die Singularität soll nicht völlig unverbunden mit ihrer Umgebung sein.
  6. Die Singularitäten sollen lokal untersucht werden können, wichtige Eigenschaften von Singularitäten sollen nicht von entfernten Punkten abhängen.
  7. Es soll eine adäquate Klasse von Funktionen geben, die auf den geometrischen Objekten definiert sind. Auf Mannigfaltigkeiten gibt es stetig differenzierbare Funktionen.


Wenn man beispielsweise von den reellen Zahlen ausgeht und darin alle rationalen Zahlen miteinander identifiziert und diese Quotientenmenge mit der Quotiententopologie versieht, so entsteht ein topologischer Raum, der recht kurios ist und nur sehr schwer vorstellbar ist.