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Kurs:Analysis (Osnabrück 2014-2016)/Teil I/Vorlesung 28/kontrolle

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Gewöhnliche Differentialgleichungen

Welche Bewegung vollzieht ein Löwenzahnfallschirmchen? Das Fallschirmchen lässt sich zu jedem Zeitpunkt von dem Wind tragen, der an der Stelle herrscht, wo es sich gerade befindet. Der Wind, seine Stärke und seine Richtung, hängt sowohl von der Zeit als auch vom Ort ab. Das bedeutet, dass hier ein gewisser „Rückkopplungsprozess“ vorliegt: Die bisherige Bewegung (also die Vergangenheit) bestimmt, wo sich das Fallschirmchen befindet und damit auch, welcher Wind auf es einwirkt und damit den weiteren Bewegungsablauf. Solche Bewegungsprozesse werden durch Differentialgleichungen beschrieben.

Differentialgleichungen sind ein fundamentaler Bestandteil der Mathematik und der Naturwissenschaften. Sie drücken eine Beziehung zwischen einer abhängigen Größe (häufig ) und der Änderung dieser Größe () aus. Viele Gesetzmäßigkeiten in der Natur wie Bewegungsprozesse, Ablauf von chemischen Reaktionen, Wachstumsverhalten von Populationen werden durch Differentialgleichungen beschrieben. Hier besprechen wir nur solche Differentialgleichungen, die durch Integration gelöst werden können.

Die Vektorfelder werden im Folgenden nicht immer auf ganz definiert sein, sondern auf einer offenen Menge . Dabei heißt offen, wenn es zu jedem Punkt eine offene Ballumgebung gibt, die ganz in liegt.


Es sei eine offene Teilmenge und es sei

eine Funktion. Dann nennt man

die (gewöhnliche) Differentialgleichung zu (oder zum Vektorfeld oder zum Richtungsfeld ).

Dabei ist erstmal nur ein formaler Ausdruck, dem wir aber sofort eine inhaltliche Interpretation geben. Das soll eine Funktion in einer Variablen repräsentieren und ihre Ableitung. Dies wird präzisiert durch den Begriff der Lösung einer Differentialgleichung.


Es sei eine offene Teilmenge und es sei

eine Funktion. Zur gewöhnlichen Differentialgleichung

heißt eine Funktion

auf einem (mehrpunktigen) Intervall eine Lösung der Differentialgleichung, wenn folgende Eigenschaften erfüllt sind.

  1. Es ist für alle .
  2. Die Funktion ist differenzierbar.
  3. Es ist für alle .

Statt Lösung sagt man auch Lösungsfunktion oder Lösungskurve. Es sei betont, dass anders als bei vielen Gleichungen wie quadratische Gleichungen oder lineare Gleichungssysteme, wo die Lösung eine Zahl oder ein Vektor ist, die Lösungen von Differentialgleichungen Funktionen sind.

Differentialgleichungen beschreiben häufig physikalische Prozesse, insbesondere Bewegungsprozesse. Daran soll auch die Notation erinnern, es steht für die Zeit und für den Ort. Dabei ist hier der Ort eindimensional, d.h. die Bewegung findet nur auf einer Geraden statt. Den Wert sollte man sich als eine zu einem Zeit- und Ortspunkt vorgegebene Richtung auf der Ortsgeraden vorstellen. Eine Lösung ist dann eine Funktion

die differenzierbar ist und deren Ableitung, vorgestellt als Momentangeschwindigkeit, zu jedem Zeitpunkt mit dem durch gegebenen Richtungsvektor übereinstimmt. In Analysis II werden wir auch Bewegungen betrachten, die sich in der Ebene oder im Raum abspielen, und die durch ein entsprechendes Richtungsfeld gesteuert werden.


Die Lösung einer Differentialgleichung ist im Allgemeinen nicht eindeutig, man muss noch Anfangsbedingungen festlegen.


Es sei eine offene Teilmenge und es sei

eine Funktion. Es sei vorgegeben. Dann nennt man

das Anfangswertproblem zur gewöhnlichen Differentialgleichung mit der Anfangsbedingung .


Es sei eine offene Teilmenge und es sei

eine Funktion. Es sei vorgegeben. Dann nennt man eine Funktion

auf einem Intervall eine Lösung des Anfangswertproblems

wenn eine Lösung der Differentialgleichung ist und wenn zusätzlich

gilt.

Es gibt kein allgemeines Verfahren eine Differentialgleichung bzw. ein Anfangswertproblem explizit zu lösen. Die Lösbarkeit hängt wesentlich von der gegebenen Funktion ab.

Das eine Differentialgleichung beschreibende Vektorfeld hängt im Allgemeinen von beiden Variablen und ab. Einfache, aber keineswegs triviale Spezialfälle von Differentialgleichungen liegen vor, wenn das Vektorfeld nur von einer der beiden Variablen abhängt.



Ortsunabhängige Differentialgleichungen

Eine gewöhnliche Differentialgleichung

heißt ortsunabhängig, wenn die Funktion nicht von abhängt, wenn also mit einer Funktion in der einen Variablen gilt.

Eine ortsunabhängige gewöhnliche Differentialgleichung

zu einer stetigen Funktion ist nichts anderes als das Problem, eine Stammfunktion von zu finden; eine Lösung der Differentialgleichung ist ja genau durch die Bedingung ausgezeichnet, dass ist. Da eine Stammfunktion nur bis auf die Integrationskonstante bestimmt ist, besitzt ein ortsunabhängiges Anfangswertproblem eine eindeutige Lösung.


Wir betrachten das ortsunabhängige Anfangswertproblem

Die Funktion besitzt die Partialbruchzerlegung

daher sind die Stammfunktionen (wir beschränken uns auf ) gleich

Die Anfangsbedingung führt auf

also ist

und die Lösungsfunktion des Anfangswertproblems ist



Wir betrachten das ortsunabhängige Anfangswertproblem

Es ist

sodass eine rationale Funktion in der Exponentialfunktion vorliegt, die wir nach Lemma 27.1 über die Substitution lösen können. Das transformierte Integral ist dabei

Eine Stammfunktion dazu ist

Somit ist

eine Stammfunktion von . Für das Anfangswertproblem setzen wir

an. Dies führt auf

also ist

die Lösung des Anfangswertproblems.




Zeitunabhängige Differentialgleichungen

Eine gewöhnliche Differentialgleichung

heißt zeitunabhängig, wenn die Funktion nicht von abhängt, wenn also mit einer Funktion in der einen Variablen gilt.

Bei einer zeitunabhängigen Differentialgleichung hängt nur das zugrunde liegende „Vektorfeld“ nicht von der Zeit ab, die Lösungsfunktionen sind hingegen im Allgemeinen zeitabhängig.


Wir betrachten die zeitliche Entwicklung einer Population, die durch folgende Eigenschaften charakterisiert ist.

  1. Die Individuen der Population leben ewig.
  2. Alle Individuen beteiligen sich ab ihrer Geburt mit gleichem (durchschnittlichen) Engagement und Erfolg an der Fortpflanzung.
  3. Zeugung und Geburt finden gleichzeitig statt.
  4. Der Fortpflanzungserfolg eines Individuums ist unabhängig von der Größe der Gesamtpopulation.

Unter diesen Bedingungen ist die Vermehrung, also der Zuwachs der Population, allein von der momentanen Populationsgröße abhängig und proportional zu dieser. Wenn man die Populationsentwicklung als ansetzt, so erhält man eine gewöhnliche Differentialgleichung

(oder kurz ) mit einer Konstanten . Die Lösungsfunktionen sind

(wobei im Populationsbeispiel ist). Man spricht von exponentiellem Wachstum der Population, und zwar unabhängig davon, ob groß oder klein ist.



Beispiel  Beispiel 28.10 ändern

Eine Wüste (oder ein Kornblumenfeld) sei kreisrund und breite sich mit der Zeit kontinuierlich aus, indem die Grenze gleichmäßig nach außen geschoben werde, und zwar pro Zeiteinheit um einen gewissen Vortrieb. Die Fläche der Wüste werde durch die Funktion beschrieben. Die Grenze der Wüste hat somit die Länge und diese Länge ist proportional zum Wüstenzuwachs zum Zeitpunkt . Es ergibt sich daher eine Differentialgleichung

mit einer Konstanten . Die Lösungen haben die Form

wie man direkt durch Ableiten bestätigen kann.




Differentialgleichungen höherer Ordnung

Viele physikalische Bewegungsprozesse sind nicht dadurch determiniert, dass zu jedem Zeit- und Ortspunkt die Bewegungsrichtung (also die gerichtete Geschwindigkeit) vorgegeben wird, sondern dadurch, dass zu jedem Zeit- und Ortspunkt eine Kraft auf ein Teilchen wirkt, die dieses beschleunigt. In diesem Fall kann die Bewegung also nicht durch die erste Ableitung (Geschwindigkeit) modelliert werden, sondern durch die zweite Ableitung (Beschleunigung). Typische Beispiele hierzu sind die durch die Gravitation oder eine Federkraft hervorgerufenen Bewegungen.

Galileo Galilei (1564-1642) entdeckte das Gesetz des freien Falls.

Ein Gegenstand der Masse wird im Vakuum aus einer Höhe zum Zeitpunkt losgelassen und fällt unter dem Einfluss der Gravitation zu Boden (freier Fall im Vakuum). Dabei wirkt auf den Körper die Gravitationskraft (die Erdbeschleunigung nehmen wir für diesen Bewegungsvorgang als konstant an), die ihn nach dem Gesetz „Kraft ist Masse mal Beschleunigung“ beschleunigt. Die Beschleunigung ist also konstant und unabhängig von der Masse. Dies bedeutet, dass die Geschwindigkeit des Körpers die Differentialgleichung

erfüllt (die Wahl des Vorzeichens bewirkt, dass der Körper ins Negative fällt). Die durch die Anfangsbedingung (der Gegenstand ruhe zum Zeitpunkt ) festgelegte Lösung für die Geschwindigkeit ist daher

Der zurückgelegte Weg des Körpers ergibt sich wiederum aus der Differentialgleichung

die besagt, dass die Ableitung des Weges nach der Zeit die Momentangeschwindigkeit beschreibt. Die Lösung davon ist

Den Gesamtvorgang kann man durch die Differentialgleichung zweiter Ordnung

ausdrücken.



Beispiel  Beispiel 28.12 ändern

Ein Gegenstand der Masse wird aus der Höhe losgelassen und fällt unter dem Einfluss der Gravitation zu Boden. Dabei wirkt auf den Körper einerseits die Gravitationskraft (die Erdbeschleunigung nehmen wir für diesen Bewegungsvorgang als konstant an), die ihn beschleunigt, andererseits wird diese Beschleunigung durch den Luftwiderstand verringert. Nach einem physikalischen Gesetz ist die Reibung (bei relativ kleinen Geschwindigkeiten) proportional und entgegengesetzt zur Geschwindigkeit des Körpers. Es sei der Reibungswiderstand, also dieser Proportionalitätsfaktor. Die auf den Körper (nach unten) wirkende Gesamtkraft ist daher

Wegen

gilt daher für diesen Bewegungsvorgang die Differentialgleichung zweiter Ordnung

Wenn wir dies mit der Ableitungsfunktion schreiben, so erhalten wir die Bedingung

die nach Beispiel 29.11 die Lösungen

besitzt. Durch Intergration erhält man für die Differentialgleichung zweiter Ordnung die Lösungsfunktionen

mit beliebigen Konstanten . Siehe auch Aufgabe 29.11.



Wir betrachten die Bewegung eines Punktes auf einer Geraden, wobei die auf den Punkt (in Richtung des Nullpunkts) wirkende Kraft (bzw. Beschleunigung) proportional zur Lage des Punktes sein soll. Wenn der Punkt sich in befindet und sich in die positive Richtung bewegt, so wirkt diese Kraft bremsend, wenn er sich in die negative Richtung bewegt, so wirkt die Kraft beschleunigend. Mit der Proportionalitätskonstante gelangt man zur Differentialgleichung (zweiter Ordnung)

die diesen Bewegungsvorgang beschreibt. Als Anfangsbedingung wählen wir und , zum Zeitpunkt soll die Bewegung also durch den Nullpunkt gehen und dort die Geschwindigkeit besitzen. Man kann sofort die Lösung

angeben.