Kurs:Mathematik für Anwender (Osnabrück 2020-2021)/Teil I/Vorlesung 23

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„Man gibt seine Kinder auf die Schule, daß sie still werden, auf die Hochschule, daß sie laut werden.“

Die Lösungsmenge eines homogenen linearen Gleichungssystems in Variablen über einem Körper ist ein Untervektorraum des . Häufig wird dieser Lösungsraum durch die Menge aller „Linearkombinationen“ von endlich vielen (besonders einfachen) Lösungen beschrieben. In dieser Vorlesung entwickeln wir die dazu notwendigen Begriffe.



Erzeugendensysteme
Die von zwei Vektoren und erzeugte Ebene besteht aus allen Linearkombinationen .

Definition  

Es sei ein Körper und ein - Vektorraum. Es sei eine Familie von Vektoren in . Dann heißt der Vektor

eine Linearkombination dieser Vektoren (zum Koeffiziententupel ).

Zwei unterschiedliche Koeffiziententupel können denselben Vektor definieren.


Definition  

Es sei ein Körper und ein - Vektorraum. Dann heißt eine Familie , , ein Erzeugendensystem von , wenn man jeden Vektor als[1]

mit einer endlichen Teilfamilie und mit darstellen kann.

Im bilden die Standardvektoren , , ein Erzeugendensystem. Im Polynomring bilden die Potenzen , , ein (unendliches) Erzeugendensystem.


Definition  

Es sei ein Körper und ein - Vektorraum. Zu einer Familie , , setzt man

und nennt dies den von der Familie erzeugten oder aufgespannten Untervektorraum.

Der von der leeren Menge erzeugte Untervektorraum ist der Nullraum.[2] Dieser wird ebenso von der erzeugt. Zu einem einzigen Vektor besteht der aufgespannte Raum aus . Bei ist dies eine Gerade, was wir im Rahmen der Dimensionstheorie noch präzisieren werden. Bei zwei Vektoren und hängt die „Gestalt“ des aufgespannten Raumes davon ab, wie die beiden Vektoren sich zueinander verhalten. Wenn sie beide auf einer Geraden liegen, d.h. wenn gilt, so ist überflüssig und der von den beiden Vektoren erzeugte Untervektorraum stimmt mit dem von erzeugten Untervektorraum überein. Wenn dies nicht der Fall ist (und und nicht sind), so erzeugen die beiden Vektoren eine „Ebene“.

Wir fassen einige einfache Eigenschaften für Erzeugendensysteme und Unterräume zusammen.


Lemma

Es sei ein Körper und ein - Vektorraum. Dann gelten folgende Aussagen.

  1. Zu einer Familie , , von Elementen in ist der erzeugte Untervektorraum ein Untervektorraum[3] von .
  2. Die Familie , , ist genau dann ein Erzeugendensystem von , wenn

    ist.

Beweis

Siehe Aufgabe 23.3.



Lineare Unabhängigkeit

Definition  

Es sei ein Körper und ein - Vektorraum. Dann heißt eine Familie von Vektoren , , (mit einer beliebigen endlichen Indexmenge ) linear unabhängig, wenn eine Gleichung

nur bei für alle möglich ist.

Wenn eine Familie nicht linear unabhängig ist, so nennt man sie linear abhängig. Man nennt übrigens eine Linearkombination eine Darstellung des Nullvektors. Sie heißt die triviale Darstellung, wenn alle Koeffizienten gleich sind, andernfalls, wenn also mindestens ein Koeffizient nicht ist, spricht man von einer nichttrivialen Darstellung der Null. Eine Familie von Vektoren ist genau dann linear unabhängig, wenn man mit ihnen nur auf die triviale Art den Nullvektor darstellen kann. Dies ist auch äquivalent dazu, dass man keinen Vektor aus der Familie als Linearkombination der anderen ausdrücken kann.


Beispiel  

Die Standardvektoren im sind linear unabhängig. Eine Darstellung

bedeutet ja einfach

woraus sich aus der -ten Zeile direkt ergibt.



Beispiel  

Die drei Vektoren

sind linear abhängig. Es ist nämlich

eine nichttriviale Darstellung des Nullvektors.




Lemma

Es sei ein Körper, ein - Vektorraum und , , eine Familie von Vektoren in . Dann gelten folgende Aussagen.

  1. Wenn die Familie linear unabhängig ist, so ist auch zu jeder Teilmenge die Familie  , , linear unabhängig.
  2. Die leere Familie ist linear unabhängig.
  3. Wenn die Familie den Nullvektor enthält, so ist sie nicht linear unabhängig.
  4. Wenn in der Familie ein Vektor mehrfach vorkommt, so ist sie nicht linear unabhängig.
  5. Ein einzelner Vektor ist genau dann linear unabhängig, wenn ist.
  6. Zwei Vektoren und sind genau dann linear unabhängig, wenn weder ein skalares Vielfaches von ist noch umgekehrt.

Beweis

Siehe Aufgabe 23.10.


Bemerkung  

Die Vektoren sind genau dann linear abhängig, wenn das homogene lineare Gleichungssystem

eine nichttriviale (d.h. von verschiedene) Lösung besitzt.



Basen

Definition  

Es sei ein Körper und ein - Vektorraum. Dann heißt ein linear unabhängiges Erzeugendensystem , , von eine Basis von .


Beispiel  

Die Standardvektoren im bilden eine Basis. Die lineare Unabhängigkeit wurde in Beispiel 23.6 gezeigt. Um zu zeigen, dass auch ein Erzeugendensystem vorliegt, sei

ein beliebiger Vektor. Dann ist aber direkt

Also liegt eine Basis vor, die man die Standardbasis des nennt.




Satz  

Es sei ein Körper und ein - Vektorraum. Es sei eine Familie von Vektoren. Dann sind folgende Aussagen äquivalent.

  1. Die Familie ist eine Basis von .
  2. Die Familie ist ein minimales Erzeugendensystem, d.h. sobald man einen Vektor weglässt, liegt kein Erzeugendensystem mehr vor.
  3. Für jeden Vektor gibt es genau eine Darstellung
  4. Die Familie ist maximal linear unabhängig, d.h. sobald man irgendeinen Vektor dazunimmt, ist die Familie nicht mehr linear unabhängig.

Beweis  


Bemerkung  

Es sei eine Basis eines - Vektorraums gegeben. Aufgrund von Satz 23.12  (3) bedeutet dies, dass es für jeden Vektor eine eindeutig bestimmte Darstellung (eine Linearkombination)

gibt. Die dabei eindeutig bestimmten Elemente (Skalare) heißen die Koordinaten von bezüglich der gegebenen Basis. Bei einer gegebenen Basis entsprechen sich also die Vektoren aus und die Koordinatentupel . Man sagt, dass eine Basis ein lineares Koordinatensystem festlegt.[4]




Satz  

Es sei ein Körper und ein - Vektorraum mit einem endlichen Erzeugendensystem.

Dann besitzt eine endliche Basis.

Beweis  

Es sei , , ein Erzeugendensystem von mit einer endlichen Indexmenge . Wir wollen mit der Charakterisierung aus Satz 23.12  (2) argumentieren. Falls die Familie schon minimal ist, so liegt eine Basis vor. Andernfalls gibt es ein derart, dass die um reduzierte Familie, also , , ebenfalls ein Erzeugendensystem ist. In diesem Fall kann man mit der kleineren Indexmenge weiterargumentieren.
Mit diesem Verfahren gelangt man letztlich zu einer Teilmenge derart, dass , , ein minimales Erzeugendensystem, also eine Basis ist.



Dimensionstheorie

Ein endlich erzeugter Vektorraum hat im Allgemeinen ganz unterschiedliche Basen. Allerdings ist die Anzahl der Elemente in einer Basis stets konstant und hängt nur vom Vektorraum ab. Diese wichtige Eigenschaft werden wir jetzt formulieren und als Ausgangspunkt für die Definition der Dimension eines Vektorraums nehmen.



Satz  

Es sei ein Körper und ein - Vektorraum mit einem endlichen Erzeugendensystem.

Dann besitzen je zwei Basen von die gleiche Anzahl von Basisvektoren.

Beweis  


Dieser Satz erlaubt die folgende Definition.


Definition  

Es sei ein Körper und ein - Vektorraum mit einem endlichen Erzeugendensystem. Dann nennt man die Anzahl der Vektoren in einer Basis von die Dimension von , geschrieben

Man sagt auch, dass die Dimension aufgrund des vorstehenden Satzes wohldefiniert ist. Wenn ein Vektorraum nicht endlich erzeugt ist, so setzt man . Der Nullraum hat die Dimension . Einen eindimensionalen Vektorraum nennt man auch eine Gerade, einen zweidimensionalen Vektorraum eine Ebene, einen dreidimensionalen Vektorraum einen Raum (im engeren Sinn), wobei man andererseits auch jeden Vektorraum einen Raum nennt.



Korollar  

Es sei ein Körper und .

Dann besitzt der Standardraum die Dimension .

Beweis  

Die Standardbasis , , besteht aus Vektoren, also ist die Dimension .



Beispiel  

Die komplexen Zahlen bilden einen zweidimensionalen reellen Vektorraum, eine Basis ist z.B. und .



Beispiel  

Der Polynomring über einem Körper ist kein endlichdimensionaler Vektorraum. Es ist zu zeigen, dass es kein endliches Erzeugendensystem des Polynomringes gibt. Betrachten wir Polynome . Es sei das Maximum der Grade dieser Polynome. Dann hat auch jede - Linearkombination maximal den Grad . Insbesondere können Polynome von einem größeren Grad nicht durch dargestellt werden, und diese endlich vielen Polynome sind kein Erzeugendensystem für alle Polynome.




Korollar  

Es sei ein Körper und ein endlichdimensionaler - Vektorraum. Es sei ein Untervektorraum.

Dann ist ebenfalls endlichdimensional und es gilt

Beweis  



Korollar

Es sei ein Körper und ein - Vektorraum mit endlicher Dimension . Es seien Vektoren in gegeben.

Dann sind folgende Eigenschaften äquivalent.

  1. bilden eine Basis von .
  2. bilden ein Erzeugendensystem von .
  3. sind linear unabhängig.

Beweis

Siehe Aufgabe 23.18.



Beispiel  

Es sei ein Körper. Man kann sich einfach einen Überblick über die Untervektorräume des verschaffen, als Dimension von Untervektorräumen kommt nach Korollar 23.20 nur  mit in Frage. Bei gibt es nur den Nullraum selbst, bei gibt es den Nullraum und selbst. Bei gibt es den Nullraum, die gesamte Ebene , und die eindimensionalen Geraden durch den Nullpunkt. Jede solche Gerade hat die Gestalt

mit einem von verschiedenen Vektor . Zwei von verschiedene Vektoren definieren genau dann die gleiche Gerade, wenn sie linear abhängig sind. Bei gibt es den Nullraum, den Gesamtraum , die eindimensionalen Geraden durch den Nullpunkt und die zweidimensionalen Ebenen durch den Nullpunkt.


Der folgende Satz heißt Basisergänzungssatz.


Satz  

Es sei ein Körper und ein endlichdimensionaler - Vektorraum der Dimension . Es seien

linear unabhängige Vektoren in .

Dann gibt es Vektoren

derart, dass

eine Basis von bilden.

Beweis  




Fußnoten
  1. Es bedeutet keinen Verständnisverlust, wenn man hier nur endliche Familien betrachtet. Das Summenzeichen über eine endliche Indexmenge bedeutet einfach, dass alle Elemente der Familie aufzusummieren sind.
  2. Dies kann man als Definition nehmen oder aber aus der Definition ableiten, wenn man die Konvention berücksichtigt, dass die leere Summe gleich ist.
  3. In der Bezeichnung „erzeugter Untervektorraum“ wurde diese Eigenschaft schon vorweg genommen.
  4. Lineare Koordinaten vermitteln also eine bijektive Beziehung zwischen Punkten und Zahlentupeln. Aufgrund der Linearität ist eine solche Bijektion mit der Addition und der Skalarmultiplikation verträglich. In vielen anderen Kontexten spielen auch nichtlineare (oder krummlinige) Koordinaten eine wichtige Rolle. Auch diese setzen Raumpunkte mit Zahlentupeln in eine bijektive Verbindung. Wichtige nichtlineare Koordinaten sind u.A. Polarkoordinaten, Zylinderkoordinaten und Kugelkoordinaten. Mathematische Probleme können häufig durch eine geeignete Wahl von Koordinaten vereinfacht werden, beispielsweise bei Volumenberechnungen.


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