Kurs:Vorkurs Mathematik (Osnabrück 2021)/Vorlesung 3
- Die rationalen Zahlen
Unter einer rationalen Zahl versteht man einen Ausdruck der Form
wobei und sind, und wobei zwei Ausdrücke und genau dann als gleich betrachtet werden, wenn (in ) gilt. Die Menge aller rationalen Zahlen wird mit bezeichnet.
Einen Ausdruck nennt man Bruch, wobei der Zähler und der Nenner des Bruches heißt. Eine rationale Zahl wird durch verschiedene Brüche beschrieben, beispielsweise ist . Man sagt auch, dass diese beiden Brüche gleichwertig sind. Für die rationale Zahl schreibt man einfach . In diesem Sinne sind ganze Zahlen insbesondere auch rationale Zahlen. Es gelten die folgenden Identitäten (dabei seien , ansonsten seien alle beliebig).
Die Addition und die Multiplikation auf rationalen Zahlen wird folgendermaßen festgelegt.
Das Problem der Wohldefiniertheit tritt dann auf, wenn man einem mathematischen Objekt, das unterschiedlich repräsentiert (dargestellt) werden kann, einen Wert zuordnen möchte, und dabei Bezug auf eine bestimmte Repräsentierung nimmt. Das Problem liegt darin, dass es a priori nicht klar ist, dass es egal ist, welche Repräsentierung man heranzieht. Eine andere Repräsentierung könnte zu einem anderen Ergebnis führen.
Die Anzahl der Haare ist keine Eigenschaft einer Säugetierart, da sie von Individuum zu Individuum stark variiert, dagegen ist die Anzahl der Finger eine Eigenschaft der Art.
Das Problem der Wohldefiniertheit wird gern übersehen, da man ja im gegenteiligen Fall gar nicht auf die Idee kommen würde, dem Objekt unter Bezug auf eine Darstellung einen Wert zuzuordnen. Dieser Gedanke ist aber nur ein Hinweis darauf, dass es einen Wohldefiniertheitsbeweis geben muss, aber selbst noch kein Beweis.
Typische Beispiele:
Die Wohldefiniertheit der Anzahl einer endlichen Menge. Wenn man eine endliche Menge von Objekten hat, warum ist es eigentlich klar, dass deren Anzahl unabhängig davon ist, in welcher Reihenfolge man die Objekte durchzählt?
Warum ist die durch
definierte Summe von zwei rationalen Zahlen unabhängig von den gewählten Repräsentanten? Siehe den Grund.
Die Wohldefiniertheit der Determinante zu einer linearen Abbildung eines Vektorraumes in sich, siehe Vorlesung aus Mathematik für Anwender I.
Die Wohldefiniert der Verknüpfung in der Restklassengruppe, siehe
Satz 41.5 (Grundkurs Mathematik (Osnabrück 2022-2023)).
Die hat wieder die Eigenschaft
und die hat wieder die Eigenschaft
Ferner gibt es wieder zu einer rationalen Zahl die negative Zahl
Sie besitzt die charakteristische Eigenschaft
Zu einer rationalen Zahl mit (also wenn Zähler und Nenner von verschieden sind) ist auch der umgedrehte Bruch eine rationale Zahl, und es gilt
Man nennt die inverse rationale Zahl zu .
Man kann die rationalen Zahlen auf der Zahlengeraden platzieren (die ganzen Zahlen seien dort schon platziert). Die rationale Zahl mit findet man so: Man unterteilt die Strecke von nach in gleichlange Teilstrecken. Die Zahl ist dann die rechte Grenze der (von links) ersten Teilstrecke. Insbesondere ist die Länge des Intervalls, dass -fach nebeneinander gelegt die Einheitsstrecke (oder das Einheitsintervall) ergibt.[1]
Als Punkte auf der Zahlengeraden lassen sich rationale Zahlen ihrer Größe nach vergleichen. Dabei gilt für und mit und die Beziehung
genau dann, wenn in die Beziehung
gilt. Um dies von der Zahlengerade her einzusehen, bringt man die beiden rationalen Zahlen auf den Hauptnenner, d.h. man vergleicht und . Die Größerbeziehung hängt dann, wegen positiv, allein von den beiden Zählern ab.
- Die reellen Zahlen
Wir werden nun die reellen Zahlen besprechen, die wir uns durch alle Punkte der Zahlengeraden vorstellen. Diese Vorstellung ist keineswegs unproblematisch, sie ist aber intuitiv sehr wertvoll. Allerdings ist die Intuition in der Mathematik kein Beweismittel. Ferner wird die Intuition häufig überschätzt und mit Gewohnheit verwechselt. Haben Sie eine sichere intuitive Vorstellung zur Multiplikation auf der Zahlengeraden?
Intuition ist ein schwieriger Begriff. In einigen Lebensbereichen (persönliche Begegnungen) sollte man seiner Intuition vertrauen, in anderen (Risikoeinschätzung bei gesellschaftlichen oder ökölogischen Gefahren) eher nicht. Am Beginn des Studiums sollte man aber der eigenen Intuition kritisch gegenüberstehen, da sich diese an der schulischen Vorerfahrung und Gewohnheit orientiert, es sollen ja aber neue Aspekte gelernt werden.
Zunächst ist in der Wissenschaft die Intuition kein Beweismittel. In der Wissenschaft geht es gerade darum, Aussagen unabhängig von subjektiven Befindlichkeiten begründen zu können, und die Begründungen explizit auf der Grundlage von wenigen explizit gemachten Grundtatsachen (in der Mathematik sind das vor allem eine einfache Mengentheorie und Logik) aufzubauen. Intuition ist da oft eine Ausflucht, wenn man die Gründe nicht explizit machen kann.
Allerdings entwickelt sich im Laufe der wissenschaftlichen Beschäftigung eine neue Intuition, die insbesondere strategischer Natur ist. Mit der Erfahrung wächst in der Tat das Gefühl, wie man ein Problem angehen könnte, in welche Richtung man etwas versuchen könnte, welcher Ansatz sich lohnen könnte und was man definitiv nicht versuchen sollte.
Unsere Vorgehensweise ist daher, grundlegende Eigenschaften der reellen Zahlen ein für allemal zu formulieren und dann alle weiteren Eigenschaften aus diesen Grundeigenschaften abzuleiten. Diese grundlegenden Eigenschaften decken sich mit unserer intuitiven Vorstellung einer kontinuierlichen Zahlengeraden und mit unserer Rechenerfahrung mit reellen Zahlen.
Grundlegende Eigenschaften von mathematischen Strukturen werden als Axiome bezeichnet. In der Mathematik werden sämtliche Eigenschaften aus den Axiomen logisch abgeleitet. Die Axiome für die reellen Zahlen gliedern sich in algebraische Axiome, Anordnungsaxiome und das Vollständigkeitsaxiom. Unter algebraischen Eigenschaften versteht man solche Eigenschaften, die sich auf die Rechenoperationen, also die Addition, die Subtraktion, die Multiplikation und die Division, beziehen. Diese Operationen ordnen zwei reellen Zahlen eine weitere reelle Zahl zu, man spricht auch von Verknüpfungen. Es genügt, nur Gesetzmäßigkeiten für die Addition und die Multiplikation aufzulisten, Subtraktion und Division ergeben sich als abgeleitete Operationen. Die Existenz der Addition und der Multiplikation ist Teil der Axiome.
Die Addition und die Multiplikation auf den reellen Zahlen (mit den Elementen ) erfüllen die folgenden Eigenschaften (bzw. Axiome).
- Axiome der Addition
- Assoziativgesetz: Für alle gilt: .
- Kommutativgesetz: Für alle gilt .
- ist das neutrale Element der Addition, d.h. für alle ist .
- Existenz des Negativen: Zu jedem gibt es ein Element mit .
- Axiome der Multiplikation
- Assoziativgesetz: Für alle gilt: .
- Kommutativgesetz: Für alle gilt .
- ist das neutrale Element der Multiplikation, d.h. für alle ist .
- Existenz des Inversen: Zu jedem mit gibt es ein Element mit .
- Distributivgesetz: Für alle gilt .
Dass all diese Axiome für die reellen Zahlen (und die rationalen Zahlen) mit den natürlichen Verknüpfungen gelten, ist aus der Schule vertraut. Diese Axiome nennt man auch die Körperaxiome, eine beliebige Struktur mit zwei Verknüpfungen, die diese Eigenschaften erfüllen, heißt Körper.
Zur Vereinfachung der Schreibweisen verwenden wir die Klammerkonvention, dass die Multiplikation stärker bindet als die Addition. Man kann daher statt schreiben. Zur weiteren Notationsvereinfachung wird das Produktzeichen häufig weggelassen. Die Elemente und werden als Nullelement und als Einselement bezeichnet. Es ist Teil der Axiomatik, dass sie verschieden sind.
Zu einer reellen Zahl nennt man das Element mit das Negative von . Es ist durch diese Eigenschaft eindeutig bestimmt und man bezeichnet es mit . Es ist , da wegen das Element gleich dem (eindeutig bestimmten) Negativen von ist.
Statt schreibt man abkürzend und spricht von der Differenz. Die Differenz ist also keine grundlegende Verknüpfung, sondern wird auf die Addition mit dem Negativen zurückgeführt.
Zu einer reellen Zahl , , nennt man das Element mit das Inverse von und bezeichnet es mit . Für , , schreibt man auch abkürzend
Die beiden linken Ausdrücke sind also Abkürzungen für den rechten Ausdruck.
Zu einer reellen Zahl und wird die Potenz als das -fache Produkt von mit sich selbst definiert, und bei wird als interpretiert.
- Anordnungseigenschaften der reellen Zahlen
Bekanntlich kann man die reellen Zahlen mit einer Geraden identifizieren. Auf der Zahlengeraden liegen von zwei Punkten einer weiter rechts als der andere, was bedeutet, dass sein Wert größer ist. Wir besprechen nun diese Anordnungseigenschaften der reellen Zahlen.
Die reellen Zahlen erfüllen die folgenden Anordnungsaxiome.
- Für je zwei reelle Zahlen ist entweder oder oder .
- Aus und folgt (für beliebige ).
- Aus folgt (für beliebige ).
- Aus und folgt (für beliebige ).
- Für jede reelle Zahl gibt es eine natürliche Zahl mit .
Die ersten beiden Eigenschaften drücken aus, dass auf eine totale (oder lineare) Ordnung vorliegt; die in (2) beschriebene Eigenschaft heißt Transitivität. Die fünfte Eigenschaft heißt Archimedes-Axiom.
Statt schreibt man auch . Die Schreibweise bedeutet und . Eine wichtige Beziehung in ist, dass äquivalent[2] zu ist. Diese Äquivalenz ergibt sich durch beidseitiges Addieren von bzw. aus dem dritten Axiom. Eine reelle Zahl nennt man positiv, wenn ist, und negativ, wenn ist. Die ist demnach weder positiv noch negativ, und jedes Element ist entweder positiv oder negativ oder null. Die Elemente mit nennt man dann einfach nichtnegativ und die Elemente mit nichtpositiv. Für die entsprechenden Teilmengen der reellen Zahlen schreibt man
oder Ähnliches.
Für reelle Zahlen gelten die folgenden Eigenschaften.
- Es ist .
- Aus und folgt .
- Aus und folgt .
- Es ist .
- Aus folgt für alle .
- Aus folgt für ganze Zahlen .
- Aus folgt .
- Aus folgt .
Beweis
Das folgende Lemma fasst Folgerungen aus dem Archimedes-Axiom zusammen.
- Zu mit gibt es ein mit .
- Zu gibt es eine natürliche Zahl mit .
- Zu zwei reellen Zahlen
gibt es auch eine rationale Zahl
(mit
,
)
mit
(1). Wir betrachten . Aufgrund des
Archimedes-Axioms
gibt es ein mit
.
Da positiv ist, gilt nach
Lemma 3.4 (2)
auch
.
(2). Es ist eine wohldefinierte, nach
Lemma 3.4 (7)
positive reelle Zahl. Aufgrund des Archimedes-Axioms gibt es eine natürliche Zahl
mit
.
Dies ist nach
Lemma 3.4 (8)
In einer Abschätzungskette (oft ungenau Ungleichungskette) wird über verschiedene Zwischenschritte gezeigt, dass eine Zahl kleinergleich (manchmal auch echt kleiner) als eine andere Zahl ist. In einer Abschätzungskette können auch Gleichheitszeichen vorkommen, die Abschätzungszeichen müssen in die gleiche Richtung gehen. Die einzelnen Abschätzungen müssen begründet werden, wobei aber nicht jede Begründung explizit gemacht wird.
Typische Beispiele:
(3). Wegen ist und daher gibt es nach (2) ein mit . Wegen (1) gibt es auch ein mit . Wegen der Archimedes-Eigenschaft gibt es ein mit . Nach Lemma 3.4 (3) gilt daher . Daher gibt es auch ein derart, dass
ist. Damit ist einerseits und andererseits
wie gewünscht.
Für reelle Zahlen , , nennt man
das abgeschlossene Intervall.
das offene Intervall.
das linksseitig offene Intervall.
das rechtsseitig offene Intervall.
Für das offene Intervall wird häufig auch geschrieben. Die Zahlen und heißen die Grenzen des Intervalls (oder Randpunkte des Intervalls), genauer spricht man von unterer und oberer Grenze. Die Bezeichnung linksseitig und rechtsseitig bei den beiden letzten Intervallen (die man auch als halboffen bezeichnet) rühren von der üblichen Repräsentierung der reellen Zahlen als Zahlengerade her, bei der rechts die positiven Zahlen stehen. Manchmal werden auch Schreibweisen wie verwendet. Dies bedeutet nicht, dass es in ein Element gibt, sondern ist lediglich eine kurze Schreibweise für .
- Der Betrag
Für eine reelle Zahl ist der Betrag folgendermaßen definiert.
Der Betrag ist also nie negativ und hat nur bei den Wert , sonst ist er immer positiv. Die Abbildung
nennt man auch Betragsfunktion. Der Funktionsgraph setzt sich aus zwei Halbgeraden zusammen; eine solche Funktion nennt man auch stückweise linear.
erfüllt folgende Eigenschaften (dabei seien beliebige reelle Zahlen).
- Es ist .
- Es ist genau dann, wenn ist.
- Es ist genau dann, wenn oder ist.
- Es ist .
- Es ist .
- Für ist .
- Es ist (Dreiecksungleichung für den Betrag).
- Es ist .
Beweis
- Fußnoten
- ↑ Die Frage, wie man diese Unterteilung elementar durchführt, besprechen wir hier nicht.
- ↑ Man sagt, dass zwei Aussagen und zueinander äquivalent sind, wenn die Aussage genau dann wahr ist, wenn die Aussage wahr ist. Dabei sind die beiden Aussagen häufig abhängig von gewissen Variablenbelegungen, und die Äquivalenz bedeutet dann, dass genau dann wahr ist, wenn wahr ist.
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- Äquivalent (MSW)
- Zähler (MSW)
- Nenner (MSW)
- Wohldefiniertheit (MSW)
- Inverse rationale Zahl (MSW)
- Intuition (MSW)
- Axiom (MSW)
- Verknüpfung (MSW)
- Körper (MSW)
- Klammerkonvention (MSW)
- Nullelement (MSW)
- Einselement (MSW)
- Negative (MSW)
- Differenz (MSW)
- Inverses Element (MSW)
- Totale Ordnung (MSW)
- Archimedes-Axiom (MSW)
- Positiv (MSW)
- Negativ (MSW)
- Nichtnegativ (MSW)
- Nichtpositiv (MSW)
- Abschätzungskette (MSW)
- Grenzen eines Intervalls (MSW)
- Randpunkt (MSW)
- Untere Grenze (MSW)
- Obere Grenze (MSW)
- Halboffen (MSW)
- Betragsfunktion (MSW)
- Stückweise linear (MSW)
- Dreiecksungleichung für den Betrag (MSW)
- Kurs:Vorkurs Mathematik (Osnabrück 2021)/Vorlesungen