Kurs:Analysis (Osnabrück 2013-2015)/Teil I/Vorlesung 8

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Die komplexen Zahlen

In dieser Vorlesung führen wir aufbauend auf die reellen Zahlen die komplexen Zahlen ein. Damit haben wir alle für die Anfängervorlesungen relevanten Zahlbereiche zur Verfügung. Die Konstruktion der reellen Zahlen aus den rationalen Zahlen ist einigermaßen kompliziert, obwohl die reellen Zahlen scheinbar vertraut sind. Dagegen ist die Einführung der komplexen Zahlen einfach, obwohl sie zunächst nicht vertraut aussehen.


Definition  

Die Menge mit und , mit der komponentenweisen Addition und der durch

definierten Multiplikation nennt man Körper der komplexen Zahlen. Er wird mit

bezeichnet.

Die Addition ist also einfach die vektorielle Addition im , während die Multiplikation eine neuartige Verknüpfung ist, die zwar numerisch einfach durchführbar ist, an die man sich aber dennoch gewöhnen muss. Wir werden in Fakt ***** noch eine geometrische Interpretation für die komplexe Multiplikation kennenlernen.



Lemma

Die komplexen Zahlen

bilden einen Körper.

Beweis

Siehe Aufgabe 8.3.


Wir lösen uns von der Paarschreibweise und schreiben

Insbesondere ist , diese Zahl heißt imaginäre Einheit. Diese Zahl hat die wichtige Eigenschaft

Aus dieser Eigenschaft ergeben sich sämtliche algebraischen Eigenschaften der komplexen Zahlen durch die Körpergesetze. So kann man sich auch die obige Multiplikationsregel merken, es ist ja

Wir fassen eine reelle Zahl als die komplexe Zahl auf. In diesem Sinne ist . Es ist gleichgültig, ob man zwei reelle Zahlen als reelle Zahlen oder als komplexe Zahlen addiert oder multipliziert.


Definition  

Zu einer komplexen Zahl

heißt

der Realteil von und

heißt der Imaginärteil von .

Man sollte sich allerdings die Menge der komplexen Zahlen nicht als etwas vorstellen, was weniger real als andere Zahlensysteme ist. Die Konstruktion der komplexen Zahlen aus den reellen Zahlen ist bei Weitem einfacher als die Konstruktion der reellen Zahlen aus den rationalen Zahlen. Allerdings war es historisch ein langer Prozess, bis die komplexen Zahlen als Zahlen anerkannt wurden; das Irreale daran ist, dass sie einen Körper bilden, der nicht angeordnet werden kann, und dass es sich daher scheinbar um keine Größen handelt, mit denen man sinnvollerweise etwas messen kann.

Man kann sich die komplexen Zahlen als die Punkte in einer Ebene vorstellen; für die additive Struktur gilt ja einfach . In diesem Zusammenhang spricht man von der Gaussschen Zahlenebene. Die horizontale Achse nennt man dann die reelle Achse und die vertikale Achse die imaginäre Achse.


Lemma

Real- und Imaginärteil von komplexen Zahlen erfüllen folgende Eigenschaften (für und aus ).

  1. Es ist .
  2. Es ist .
  3. Es ist .
  4. Für ist
  5. Es ist genau dann, wenn ist, und dies ist genau dann der Fall, wenn ist.

Beweis

Siehe Aufgabe 8.9.



Definition  

Die Abbildung

heißt komplexe Konjugation.

Zu heißt die konjugiert-komplexe Zahl von . Geometrisch betrachtet ist die komplexe Konjugation zu einfach die Achsenspiegelung an der reellen Achse.



Lemma

Für die komplexe Konjugation gelten die folgenden Rechenregeln (für beliebige ).

  1. Es ist .
  2. Es ist .
  3. Es ist .
  4. Für ist .
  5. Es ist .
  6. Es ist genau dann, wenn ist.

Beweis

Siehe Aufgabe 8.22.



Lemma

Für eine komplexe Zahl gelten die folgenden Beziehungen.

  1. Es ist .
  2. Es ist .
  3. Es ist .

Beweis

Siehe Aufgabe *****.


Das Quadrat einer reellen Zahl ist stets nichtnegativ, und die Summe von zwei nichtnegativen reellen Zahlen ist wieder nichtnegativ. Zu einer nichtnegativen reellen Zahl gibt es eine eindeutige nichtnegative Quadratwurzel , siehe Aufgabe 6.9. Daher liefert folgende Definition eine wohldefinierte nichtnegative reelle Zahl.


Definition  

Zu einer komplexen Zahl

ist der Betrag durch

definiert.

Der Betrag einer komplexen Zahl ist aufgrund des Satzes des Pythagoras der Abstand von zum Nullpunkt . Insgesamt ist der Betrag eine Abbildung

Die Menge aller komplexen Zahlen mit einem bestimmten Betrag bilden einen Kreis mit dem Nullpunkt als Mittelpunkt und mit dem Betrag als Radius. Insbesondere bilden alle komplexen Zahlen mit dem Betrag den komplexen Einheitskreis. Die Zahlen auf dem komplexen Einheitskreis stehen durch die eulersche Formel in Beziehung zur komplexen Exponentialfunktion und zu den trigonometrischen Funktionen, siehe Satz 15.10 und Fakt *****. Es sei hier erwähnt, dass das Produkt von zwei komplexen Zahlen auf dem Einheitskreis sich ergibt, indem man die zugehörigen Winkel, gemessen von der positiven reellen Achse aus gegen den Uhrzeigersinn, addiert.



Lemma  

Für den Betrag von komplexen Zahlen gelten folgende Eigenschaften.

  1. Es ist .
  2. Für reelles stimmen reeller und komplexer Betrag überein.
  3. Es ist genau dann, wenn ist.
  4. Es ist .
  5. Es ist .
  6. Für ist .
  7. Es ist .
  8. Es ist (Dreiecksungleichung).

Beweis  

Wir zeigen die Dreiecksungleichung, für die anderen Aussagen siehe Aufgabe 8.11. Zunächst gilt nach (7) für jede komplexe Zahl die Abschätzung . Daher ist

und somit ist

Durch Wurzelziehen ergibt sich die gewünschte Abschätzung.

Mit dem Betrag kann man auch die offenen und die abgeschlossenen Kreisscheiben zu einem Mittelpunkt und einem Radius definieren. Man nennt

die abgeschlossene Kreisscheibe und

die offene Kreisscheibe.



Folgen von komplexen Zahlen

Mit Hilfe des Betrages kann man für zwei komplexe Zahlen den Abstand durch

erklären. Dieser ist eine nichtnegative reelle Zahl. Mit diesem Abstandsbegriff lässt sich der Konvergenzbegriff für Folgen reeller Zahlen unmittelbar auf Folgen komplexer Zahlen verallgemeinern. Eine Folge komplexer Zahlen setzt sich aus zwei reellen Folgen zusammen: Jedes kann man als

schreiben, wobei eben der Realteil und der Imaginärteil von ist. Dabei gilt die Beziehung, dass die komplexe Folge genau dann konvergiert, wenn die beiden reellen Folgen und in konvergieren. Für den Grenzwert gilt dabei

siehe Aufgabe 8.12.

Mit dieser Beziehung kann man viele Gesetzmäßigkeiten für komplexe Folgen direkt aus der entsprechenden reellen Situation erhalten. Wir erwähnen explizit die folgenden Rechenregeln.


Satz

Es seien und konvergente Folgen in . Dann gelten folgende Aussagen.

  1. Die Folge ist konvergent und es gilt
  2. Die Folge ist konvergent und es gilt
  3. Für gilt
  4. Es sei und für alle . Dann ist ebenfalls konvergent mit
  5. Es sei und für alle . Dann ist ebenfalls konvergent mit

Beweis

Siehe Aufgabe 8.13.



Quadratwurzeln von komplexen Zahlen

Die imaginäre Einheit hat die wichtige Eigenschaft . Das Negative von besitzt die gleiche Eigenschaft, nämlich

Damit gibt es zu jeder negativen reellen Zahl (mit positiv) in die beiden Quadratwurzeln und . Im folgenden Beispiel zeigen wir, dass nicht nur jede reelle Zahl in eine Quadratwurzel besitzt, sondern überhaupt jede komplexe Zahl.


Beispiel  

Es sei eine komplexe Zahl. Dann hat die komplexe Zahl

mit dem Vorzeichen

die Eigenschaft

Insbesondere besitzt also zwei Quadratwurzeln, nämlich und , die bei zusammenfallen.

Wir zeigen dies für den Fall

Dann ist


Daraus ergibt sich, dass innerhalb von jede quadratische Gleichung

mit , mindestens eine komplexe Lösung besitzt, siehe Aufgabe 8.17.

Ein wichtiger Satz, der sogenannte Fundamentalsatz der Algebra besagt, dass überhaupt jede polynomiale Gleichung

mit und mit und mindestens eine Lösung in besitzt. D.h., dass jedes nichtkonstante Polynom über den komplexen Zahlen eine Nullstelle besitzt. Diesen Satz können wir zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht beweisen.


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