Kurs:Funktionentheorie (Osnabrück 2023-2024)/Vorlesung 13
- Das Lemma von Goursat
Das Besondere der folgenden Aussagen, beginnend mit dem Lemma von Goursat, ist, im Vergleich zu Satz 12.16, dass die Differentialform bzw. die Funktion nur als komplex-differenzierbar, aber nicht als stetig komplex differenzierbar vorausgesetzt wird. Letztlich wird sich in Satz 14.2 ergeben, dass die Stetigkeit der Ableitung in diesem Fall automatisch gilt.
Es sei eine offene Menge, eine komplex differenzierbare Funktion und sei ein achsenparalleles abgeschlossenes Quadrat, und sei
der stetige stückweise lineare Weg, der den Rand von gleichmäßig durchläuft.
Dann ist
Es sei die Seitenlänge des Quadrates. Dann ist der Umfang des Quadrates gleich , und das ist auch die Länge des Intervalls . Wir konstruieren rekursiv eine Folge von Quadraten mit als Startquadrat. Dabei zerlegt man durch Halbierung der Seitenlängen in vier Teilquadrate. Unter diesen wird in folgender Weise ausgewählt: Es sei der gleichmäßige (stückweise lineare) Weg entlang des Randes von , der gegen den Uhrzeigersinn durchlaufen werde und rechts unten anfängt. Es seien die entsprechenden Wege der Ränder der Teilquadrate. Dann gilt
da in der Summe rechts die äußeren Seiten der Teilquadrate einfach und die inneren Seiten der Teilquadrate zweifach mit wechselnder Orientierung durchlaufen werden. Wir wählen nun als dasjenige Teilquadrat, für das der Betrag von unter diesen vier Wegintegralen maximal ist. Dabei gilt
und induktiv erhält man die Abschätzung
Es sei nun der durch die Folge der Quadrate bestimmte Punkt der Ebene (die Folge der -Seiten und der -Seiten bilden ja jeweils eine Intervallhalbierung, und legen daher nach Satz 7.3 (Analysis (Osnabrück 2021-2023)) einen eindeutigen Punkt fest). Aufgrund der komplexen Differenzierbarkeit in gibt es nach Satz 1.2 ein und eine Funktion
mit stetig in und und mit
Wir möchten
zeigen. Dazu zeigen wir, dass
für jedes vorgegebene positive ist. Es sei also ein vorgegeben. Aufgrund der Stetigkeit von gibt es ein mit der Eigenschaft, dass für mit die Abschätzung gilt.
Es sei derart, dass
gilt. Das Quadrat hat die Seitenlänge und den Umfang , und es ist
Daher ist auf alle Punkte aus und insbesondere auf seinen Rand die Abschätzung für anwendbar. Daher ist (die Wegintegrale zu den beiden vorderen Summanden und sind nach Korollar 12.12 gleich , da sie eine Stammfunktion besitzen)
Es folgt
Es sei eine offene Menge, eine komplex differenzierbare Funktion, sei ein Dreieck, und sei
der stetige, stückweise lineare Weg, der den Rand von gleichmäßig durchläuft.
Dann ist
Beweis
Die folgenden Sätze nennt man Integralsatz von Cauchy
(für sternförmige Mengen, für Kreisscheiben).
Es sei eine sternförmige offene Menge, eine komplex differenzierbare Funktion und sei ein stetig differenzierbarer geschlossener Weg.
Dann ist
Ohne Einschränkung sei sternförmig bezüglich des Punktes . Zu definieren wir über das Wegintegral zur Differentialform zum linearen Verbindungsweg von nach , den wir mit bezeichnen (die Durchlaufgeschwindigkeit ist irrelevant), also
Es sei fixiert. Für eine hinreichend kleine Kreisscheibenumgebung (in ) von ist für das Dreieck mit den Ecken ganz in und wegen Satz 13.2 gilt
Wir betrachten den Differenzenquotienten
Unter Verwendung von Lemma 12.10 ist
Wegen der Stetigkeit von folgt, dass der Funktionslimes von für gleich ist. D.h., dass der Differentialquotient existiert und somit ist komplex differenzierbar. Die Aussage folgt daher aus Korollar 12.12.
Es sei eine offene Menge, eine komplex differenzierbare Funktion. Es sei eine abgeschlossene Kreisscheibe und es sei
der stetige Weg, der den Rand von gleichmäßig durchläuft.
Dann ist
Dies ist ein Spezialfall von Satz 13.3 unter Berücksichtigung von Aufgabe 13.2.
Es seien und seien Radien gegeben mit . Es sei eine offene Menge, die umfasst. Es sei eine komplex differenzierbare Funktion.
Dann gilt für die gegen den Uhrzeigersinn durchlaufenen Randwege bzw. der beiden Kreise die Gleichheit
Man kann die beiden ineinander liegenden Kreisränder durch eine endliche Familie von Geradenstücken verbinden (beispielsweise vom kleinen Kreis radial nach außen) derart, dass benachbarte Geradenstücke mit den anliegenden Kreisbögen eine sternförmige Menge bilden (und auch in einer offenen sternförmigen Menge innerhalb von liegen). Nach Satz 13.3 ist das Wegintegral über einen solchen (gegen den Uhrzeigersinn durchlaufenen) Weg gleich . Aufsummieren dieser Wegintegrale ergibt die Behauptung, da dabei die Geradenstücke insgesamt in beide Richtungen einmal durchlaufen werden.
Für die holomorphe Differentialform auf kann man Korollar 13.5 für jeden einfach gegen den Uhrzeigersinn durchlaufenen Kreis anwenden, der umrundet, und erhält
mit Beispiel 12.6. Siehe auch Aufgabe 13.4.
- Die Integralformel von Cauchy
Das Erstaunliche an der folgenden Aussage, der Integralformel von Cauchy, ist, dass man den Wert einer komplexe differenzierbaren Funktion in einem Punkt bestimmen kann, indem man das Wegintegral zu über einen Kreisweg auswertet, der gar nicht durch läuft.
Es sei eine offene Menge, eine komplex differenzierbare Funktion. Es sei eine abgeschlossene Kreisscheibe und es sei
der stetige Weg, der den Rand von gleichmäßig durchläuft. Es sei .
Dann ist
Es sei derart, dass
ist. Die Funktion ist dann auf definiert und holomorph. Wir können daher Korollar 13.5 anwenden und erhalten
wobei der Kreisweg um mit Radius sei. Man beachte, dass diese Gleichung für jedes positive hinreichend kleine gilt, und insbesondere der Term rechts unabhängig von einem solchen ist. Wir schreiben
Der Differenzenquotient konvergiert für gegen gegen die Ableitung . Insbesondere ist dieser Term beschränkt in einer Umgebung von und daher konvergiert das linke Integral auf der rechten Seite nach Lemma 12.10 gegen , da ja die Länge des Weges beliebig klein wird. Das rechte Integral auf der linken Seite ist unabhängig von wegen Beispiel 12.6 gleich .
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