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Kurs:Grundkurs Mathematik (Osnabrück 2018-2019)/Teil II/Vorlesung 46

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„Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.“
Immanuel Kant



Die Konstruktion der reellen Zahlen

Wir besprechen nun eine Konstruktion der reellen Zahlen. Die Idee der Konstruktion ist von der Zielsetzung her bestimmt: In soll jede Cauchy-Folge und insbesondere jede rationale Cauchy-Folge konvergieren. Von daher startet man mit der Menge aller rationalen Cauchy-Folgen und überlegt dann, welche von ihnen den gleichen Grenzwert haben müssen, falls er existiert. Beispielsweise ergibt das Heron-Verfahren zu unterschiedlichen Startwerten unterschiedliche Folgen, die aber die gleiche Wurzel, also die gleiche Lücke adressieren, und die somit identifiziert werden müssen.

Wir konstruieren, ausgehend von den rationalen Zahlen , einen vollständigen archimedisch angeordneten Körper, also ein Modell für den Körper der reellen Zahlen. Die Konstruktion ist mengentheoretisch und begrifflich ziemlich aufwändig. Sie setzt einen sicheren Umgang mit Äquivalenzrelationen, Restklassenbildung und Folgen voraus.

Es sei

also die Menge aller Cauchy-Folgen mit rationalen Gliedern. Dies ist eine riesige und erst mal unübersichtliche Menge. Sie enthält die Menge , indem wir jeder rationalen Zahl die konstante Folge zuordnen, für die jedes Folgenglied gleich ist. Eine konstante Folge ist trivialerweise eine Cauchy-Folge.



Die Menge der rationalen Cauchy-Folgen bildet mit der gliedweisen Addition und Multiplikation

einen kommutativen Ring.

Das Nullelement ist die konstante Nullfolge und das Einselement ist die konstante Einsfolge. Die Ringeigenschaften begründet man zuerst innerhalb der Menge aller rationalen Folgen. Da Addition und Multiplikation gliedweise ausgeführt werden, folgt die Assoziativität, die Kommutativität und die Distributivität der Verknüpfungen und die Eigenschaften der neutralen Elemente direkt aus den entsprechenden Eigenschaften von . Das Negative zu einer Folge ist die gliedweise negierte Folge. Die Abgeschlossenheit der Menge der Cauchy-Folgen unter Addition und Multiplikation folgt direkt aus Lemma 45.9, ebenso, dass die negierte Folge wieder eine Cauchy-Folge ist.


Eine rationale Nullfolge konvergiert nach Definition in gegen , und das soll auch in so sein. Insbesondere gibt es eine Vielzahl von Cauchy-Folgen, die gegen die gleiche Zahl konvergieren. Die Addition einer Nullfolge zu einer Folge ändert das Konvergenzverhalten und den Grenzwert, falls er existiert, nicht.

Das Produkt einer Nullfolge mit einer beliebigen Folge ist im Allgemeinen nicht wieder eine Nullfolge. Beispielsweise ist die Folge der Stammbrüche eine Nullfolge (in jedem archimedisch angeordneten Körper), wenn man sie aber mit der Folge der natürlichen Zahlen, also multipliziert, so erhält man die konstante Einsfolge, die keine Nullfolge ist. Innerhalb des Ringes der Cauchy-Folgen kann man aber Nullfolgen mit beliebigen Cauchy-Folgen multiplizieren und erhält wieder eine Nullfolge.


Im Ring der rationalen Cauchy-Folgen bildet die Menge der Nullfolgen

ein Ideal.

Die Summe von zwei Nullfolgen ist nach Lemma 44.12  (1) wieder eine Nullfolge. Es sei nun eine Nullfolge und eine beliebige Folge aus , also eine Cauchy-Folge. Nach Lemma 45.8 ist somit beschränkt und daher ist nach Lemma 44.10 das Produkt wieder eine Nullfolge.


Im Cauchy-Folgenring ist die durch das Nullfolgenideal gegebene Äquivalenzrelation einfach zu verstehen. Zwei Cauchy-Folgen und sind äquivalent, wenn ihre Differenzfolge, also die durch

gegebene Folge, eine Nullfolge ist. Insbesondere sind alle Nullfolgen zur konstanten Nullfolge äquivalent. Wenn man an die Vorstellung denkt, dass eine Cauchy-Folge eine Lücke innerhalb der rationalen Zahlen entdeckt oder lokalisiert, so bedeutet die Äquivalenz von zwei Cauchy-Folgen, dass sie die gleiche Lücke lokalisieren. Man kann also erkennen, ob zwei Cauchy-Folgen die gleiche Lücke adressieren, auch wenn man die Lücke gar nicht kennt.


Wir definieren nun die Quotientenmenge unter dieser Äquivalenzrelation, also den Restklassenring nach dem von den Nullfolgen erzeugten Ideal, als Menge der reellen Zahlen, also

Wir sprechen vom Cauchy-Folgen-Modell für die reellen Zahlen.


Der Restklassenring des Ringes der rationalen Cauchy-Folgen modulo des Ideals der Nullfolgen heißt Cauchy-Folgen-Modell der reellen Zahlen.

Unter der Identifzierungsabbildung

werden also alle Nullfolgen zu gemacht, und zwei rationale Folgen werden miteinander identifiziert, wenn ihre Differenz eine Nullfolge ist. Wir schreiben die zugehörigen Äquivalenzklassen als . Man kann jede Folge durch eine nullfolgenäquivalente Folge ersetzen, ohne den Wert der Restklasse zu ändern. Insbesondere kann man eine Cauchy-Folge an endlich vielen Gliedern abändern, ohne die Äquivalenzklasse zu ändern. Man kann sogar jede Klasse durch eine Dezimalbruchfolge repräsentieren und dadurch eine „schnellere Konvergenz“ erreichen und für unterschiedliche Klassen sicherstellen, dass ihr Konvergenzverhalten simultan ist.



Das Cauchy-Folgen-Modell der reellen Zahlen ist ein kommutativer Ring.

Dies folgt unmittelbar aus Lemma 41.9.


Auf der Quotientenmenge sind also die Verknüpfungen durch

gegeben. Deutlich aufwändiger ist es zu zeigen, dass unser konstruiertes Modell ein Körper ist. Die zusätzliche Eigenschaft ist, dass jedes von verschiedene Element ein inverses Element besitzt. Die entscheidenden Vorbereitungen haben wir aber schon in Lemma 45.10 gemacht.



Das Cauchy-Folgen-Modell der reellen Zahlen ist ein Körper.

Dass ein kommutativer Ring vorliegt, wurde schon in Lemma 46.5 vermerkt. Wir müssen also noch zeigen, dass ein von verschiedenes Element ein inverses Element besitzt. Es sei eine Cauchy-Folge, die dieses repräsentiert. Diese Folge ist keine Nullfolge, da ja alle Nullfolgen unter der Restklassenabbildung auf das Nullelement abgebildet werden. Nach Lemma 45.10 gilt somit eine der dort angegebenen Alternativen, d.h. es gibt ein und ein mit der Eigenschaft, dass für alle Folgenglieder entweder oberhalb von oder aber unterhalb von liegen. Betrachten wir den ersten Fall, wobei wir durch Abändern der ersten Folgenglieder, was die Äquivalenzklasse nicht ändert, annehmen können, dass alle Folgenglieder oberhalb von liegen. Nach Lemma 45.11 ist dann die durch

gegebene inverse Folge ebenfalls eine Cauchy-Folge. Wegen

für alle ist auch

und somit ist eine inverse Klasse gefunden.


Ausgehend von der in Lemma 45.10 formulierten Alternative: die rationale Cauchy-Folge ist eine Nullfolge, oder es gibt ein mit für fast alle[1] , oder mit für fast alle , kann man in , in positive und in negative Zahlen einteilen und somit eine (totale) Ordnungsrelation darauf definieren.



Die in Lemma 45.10 beschriebenen Alternativen hängen nach Aufgabe 45.19 nur von der Äquivalenzklasse ab. Daher ergibt sich durch das Lemma eine Zerlegung (des Cauchy-Folgen-Modells) der reellen Zahlen in die , in positive und in negative Zahlen. Dabei sind die positiven Zahlen unter Addition und unter Multiplikation abgeschlossen, d.h. es liegt wegen Aufgabe 46.30 ein angeordneter Körper vor. Es sei ein gegeben, das durch eine rationale Cauchy-Folge repräsentiert werde. Nach Lemma 45.8 ist die Folge beschränkt und es gibt insbesondere eine natürliche Zahl mit

für alle . Damit gilt auch für die Restklassen

was bedeutet, dass archimedisch angeordnet ist.


Die Vollständigkeit der reellen Zahlen wird in zwei Schritten bewiesen. Zuerst wird gezeigt, dass die rationalen Cauchy-Folgen, mit denen wir gestartet sind, aufgefasst in , gegen ihre Klasse konvergiert, und dann, dass überhaupt jede reelle Cauchy-Folge konvergiert.


Eine rationale Cauchy-Folge

konvergiert im Cauchy-Folgen-Modell gegen die Äquivalenzklasse .

Da die rationale Zahlen sind, können wir sie direkt (als konstante Folgen) als Elemente in auffassen. Wir schreiben

Die Differenz von zum Folgenglied (in ) ist gleich der Klasse . Sei , , vorgegeben. Aufgrund der Cauchy-Eigenschaft gibt es ein derart, dass für alle

die Abschätzungen

gelten. Für ist damit auch die Differenzklasse zwischen und . Somit ist

für , was die Konvergenz bedeutet.


Die folgende Tabelle gibt die Beweisidee des folgenden Satzes an.

Grenzwert
Erste Folge
Zweite Folge
Dritte Folge



Es sei eine Cauchy-Folge in . D.h. jedes einzelne Folgenglied ist selbst durch eine rationale Cauchy-Folge repräsentiert. Für diese repräsentierende Folge schreiben wir , wobei der zweite Index der Folgenindex ist und der erste Index sich auf die zugehörige Restklasse bezieht. Wir können durch Übergang zu einer Teilfolge der .ten Folge annehmen, dass für jeden Stammbruch bereits für alle die Abschätzung

gilt. Es sei die zugehörige Diagonalfolge, ihre Folgenglieder sind also die rationalen Zahlen

Wir behaupten, dass diese Folge eine Cauchy-Folge ist und dass die vorgegebene Folge in gegen konvergiert. Es sei also mit vorgegeben.[2] Aufgrund der Cauchy-Eigenschaft der Folge gibt es ein (das wir als mindestens annehmen können) derart, dass für alle die Abschätzung

gilt. Aufgrund von Lemma 46.8 konvergiert die geeignet gewählte repräsentierende Folge gegen , und zwar mit der Eigenschaft, dass

für und somit auch

für hinreichend groß gilt. Somit ist insgesamt für

Durch den Vergleich

sieht man, dass eine Cauchy-Folge ist. Die zugehörige Klasse ist nach Lemma 46.8 der Grenzwert davon. Die obige Abschätzung gilt dann auch für .


Wir halten insbesondere fest, dass es einen vollständigen archimedisch angeordneten Körper gibt.



Fußnoten
  1. Das bedeutet für alle bis auf endlich viele.
  2. Da wir schon wissen, dass ein archimedisch angeordneter Körper vorliegt, müssen wir nur die Stammbrüche betrachten.


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