Kurs:Singularitätentheorie (Osnabrück 2019)/Vorlesung 15
- Die Multiplizität
Es sei
mit der homogenen Zerlegung (in der Standardgraduierung)
Es sei , d.h. der konstante Term sei .
Wir interessieren uns dafür, wie das Schnittverhalten von mit einer Geraden aussieht. Ein Extremfall ist, dass die Gerade ganz auf liegt, das kann bei (was wir annehmen) nicht für alle Geraden gelten (bei einem unendlichen Körper). Eine jede Gerade lässt sich durch einen Aufpunkt und einen Richtungsvektor parametrisieren, d.h. sie ist das Bild einer affin-linearen Abbildung
mit
Wir betrachten die Hintereinanderschaltung
Daraus sieht man, dass für einen Punkt genau dann
gilt, wenn eine Nullstelle des Polynoms in der einen Variablen ist. Den Durchschnitt von mit erhält man also dadurch, dass man die Nullstellen von beschreibt. Der Extremfall liegt genau dann vor, wenn die Einsetzung das Nullpolynom ist. Andernfalls hat nach Korollar 19.9 (Lineare Algebra (Osnabrück 2024-2025)) die Einsetzung maximal so viele Nullstellen, wie der Grad des eingesetzten Polynoms angibt. Über einem algebraisch abgeschlossenen Körper stimmt die Anzahl der mit Vielfachheiten gezählten Nullstellen mit dem Grad überein.
Wir betrachten die Neilsche Parabel und bestimmen die Durchschnitte mit den Geraden , die durch
parametrisiert sind. Die Einsetzung ergibt die Bedingung
für . Bei hat dies den Grad , andernfalls den Grad . Die Nullstellen dieses Polynoms und ihre Vielfachheiten variieren mit den Parametern der Gerade. Die Gerade
führt beispielsweise zu
mit drei einfachen Nullstellen, die Gerade
führt hingegen zu
mit der doppelten Nullstelle bei . Eine Gerade durch den Nullpunkt kann man als
ansetzen, was zur Bedingung
führt. Hierbei ist
stets eine zumindest doppelte Nullstelle und bei sogar eine dreifache Nullstelle.
Das folgende Lemma beschreibt den Grad der eingesetzten Polynome ?
Es sei ein Körper und ein von verschiedenes Polynom vom Grad . Es sei die Parametrisierung einer Geraden im .
Dann ist
mit Polynomen in den Variablen . Insbesondere hat höchstens den Grad . Wenn ein unendlicher Körper ist, so haben außerhalb einer algebraisch definierten Teilmenge des die Einsetzungen den Grad .
Es ist
mit
Die Einsetzung für ein Monom ergibt nach dem Distributivgesetz
mit Polynomen in den . Die Monome von einem bestimmten Grad tragen nach der Einsetzung zu diesem Grad und zu den kleineren Graden bei, aber nicht zu einem höheren Grad. Daher hat maximal den Grad und sein Leitkoeffizient (vorausgesetzt, dass dieser Term nicht ist), ist
Wegen gibt es (bei unendlich) Punkte mit
und dies gilt auf der Zariski-offenen Menge im Parameterraum.
Das vorstehende Argument zeigt insbesondere, dass bei Geraden durch dem Nullpunkt, die man ja mit Aufpunkt ansetzen kann,
die homogenen Komponenten der Einsetzungen sich direkt aus den homogenen Komponenten von ergeben.
Zu einem Polynom (über einem kommutativen Ring ) mit homogener Zerlegung nennt man den minimalen Grad mit der Untergrad von .
Wie wirkt sich der Untergrad auf das Schnittverhalten mit Geraden aus?
Es sei ein Körper und ein von verschiedenes Polynom vom Untergrad . Es sei die Parametrisierung einer Geraden im durch den Nullpunkt.
Dann ist eine Nullstelle von , dessen Vielfachheit zumindest ist (was den Fall, dass das Nullpolynom ist, mit einschließen mag). Wenn ein unendlicher Körper ist, so ist die Vielfachheit dieser Nullstelle außerhalb einer algebraisch definierten Teilmenge des genau .
Sei
mit . Wie aus dem Beweis zu Lemma 15.2 im homogenen Fall () ersichtlich ist, hängen die homogenen Komponenten der Einsetzung nur von den homogenen Komponenten von ab. Insbesondere ist
und für . Somit ist eine zumindest -fache Nullstelle von , und genau dann eine -fache Nullstelle, wenn der Koeffizient nicht ist. Diese Bedingung ist auf einer nichtleeren offenen Teilmenge des erfüllt.
Die Aussage im vorstehenden Satz, dass eine Eigenschaft
(nämlich das Schnittverhalten)
für alle Geraden gilt, die durch eine nichtleere Zariski-offene Menge parametrisiert werden, drückt man häufig durch die Formulierung aus, dass sie für die generische Gerade gilt. Man sagt dann kurz, dass auf der generischen Gerade durch den Nullpunkt die Vielfachheit besitzt. Entsprechende Formulierungen gibt es nicht nur für Geraden, sondern generell für Objekte, die durch einen affinen Parameterraum oder eine affine Varietät parametrisiert werden.
Es sei ein unendlicher Körper und ein von verschiedenes Polynom mit . Dann sind folgende Aussagen äquivalent.
- ist ein glatter Punkt von .
- Der Untergrad von ist .
- Für eine nichtleere Zariski-offene Teilmenge ist für jede Gerade mit Richtungsvektor die eine einfache Nullstelle des Polynoms .
Die Äquivalenz von (i) und (ii) folgt unmittelbar, da die Jacobi-Matrix im Nullpunkt direkt aus dem linearen Term von ablesbar ist. Die Äquivalenz von (ii) und (iii) ergibt sich aus Satz 15.4, da der Durchschnitt von zwei nichtleeren offenen Teilmengen im nichtleer ist.
Wir besprechen nun Besonderheiten des Schnittverhaltens mit Geraden über den komplexen Zahlen. Eine wichtige Rolle spielt dabei die sogenannte
Stetigkeit der Nullstellen.
Es sei ein von verschiedenes Polynom vom Untergrad .
Dann gibt es offene Ballumgebungen
und eine nichtleere Zariski-offene Menge derart, dass alle affin-linearen Geraden , die durch parametrisert sind und die den Ball treffen, innerhalb von die Hyperfläche mit Gesamtvielfachheit schneiden.
Es sei der Grad von und der Untergrad von . Es sei eine Zariski-offene Menge mit der Eigenschaft, dass die Einsetzungen zu den Geraden durch den Nullpunkt zum Parametertupel
den Grad und den Untergrad besitzen. Eine solche Menge gibt es aufgrund von Lemma 15.2 und Satz 15.4. Das normierte eingesetzte Polynom hat die Gestalt
wobei auf nullstellenfrei und unabhängig von den ist. Für einen fixierten Parameter mit besitzt dieses Polynom in eine Nullstelle der Vielfachheit . Nach dem Satz über die Stetigkeit der Nullstellen gibt es zu jedem ein mit der Eigenschaft, dass jedes normierte Polynom vom gleichen Grad, das (durch parametrisiert ist und) die Koeffizientenbedingungen
für alle erfüllt, in mindestens Nullstellen mit Gesamtvielfachheit besitzt. Da diese rationalen Koeffizientenfunktionen stetig sind, gibt es zu jedem ein derart, dass für
die zugehörigen Koeffizientenfunktionen diese Abstandsbedingung und die zugehörigen Geraden daher die Schnittbedingung erfüllen, dass sie in der -Umgebung des Nullpunktes insgesamt zumindest Schnittpunkte haben.
Zu einem Punkt ist nach Satz 15.4 die Vielfachheit von an auf einer generischen Geraden durch den Punkt gleich dem Untergrad von in dem Punkt. Der Untergrad wird dabei bestimmt, indem man um den Punkt entwickelt, also den Punkt in den Nullpunkt verschiebt. Wenn unendlich ist, so hat diese Zahl eine unmittelbare geometrische Bedeutung, nämlich eben die Vielfachheit des Schnittes. Diese Bedeutung ist der historische Ausgangspunkt für das Konzept Multiplizität, das ein wichtiges Singularitätsmaß ist, wie Korollar 15.5 zeigt. Eine algebraisch solidere Beschreibung dieser Invariante, die nicht nur für Hyperflächen funktioniert und die nur vom lokalen Ring der Varietät im Punkt abhängt, beruht auf der Hilbertfunktion von graduierten Moduln.
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