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Kurs:Mathematik für Anwender (Osnabrück 2019-2020)/Teil I/Vorlesung 14

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„Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.“
Immanuel Kant



Differenzierbarkeit

In diesem Abschnitt betrachten wir Funktionen

wobei eine Teilmenge ist. Wir wollen erklären, wann eine solche Funktion in einem Punkt differenzierbar ist. Die intuitive Idee ist dabei, für einen weiteren Punkt die Sekante durch die beiden Punkte und des Funktionsgraphen zu ziehen und dann „ gegen laufen zu lassen“. Wenn sich dieser Grenzwertprozess sinnvoll durchführen lässt, so wird aus den Sekanten eine Tangente. Dieser Grenzwertprozess wird über den Begriff des Grenzwertes einer Funktion präzise gefasst, den wir im Anschluss an die Stetigkeit eingeführt haben.


Es sei eine Teilmenge, ein Punkt und

eine Funktion. Zu , , heißt die Zahl

der Differenzenquotient von zu und .

Der Differenzenquotient ist die Steigung der Sekante am Graph durch die beiden Punkte und . Für ist dieser Quotient nicht definiert. Allerdings kann ein sinnvoller Limes für existieren. Dieser repräsentiert dann die Steigung der Tangente an im Punkt (oder an der Stelle ).


Es sei eine Teilmenge, ein Punkt und

eine Funktion. Man sagt, dass differenzierbar in ist, wenn der Limes

existiert. Im Fall der Existenz heißt dieser Limes der Differentialquotient oder die Ableitung von in , geschrieben

Die Ableitung in einem Punkt ist, falls sie existiert, ein Element in . Häufig nimmt man die Differenz als Parameter für den Limes des Differenzenquotienten, und lässt gegen gehen, d.h. man betrachtet

Die Bedingung wird dann zu , . Wenn die Funktion einen eindimensionalen Bewegungsvorgang beschreibt, also eine von der Zeit abhängige Bewegung auf einer Strecke, so ist der Differenzenquotient die (effektive) Durchschnittsgeschwindigkeit zwischen den Zeitpunkten und und ist die Momentangeschwindigkeit zum Zeitpunkt .


Es seien und sei

eine affin-lineare Funktion. Zur Bestimmung der Ableitung in einem Punkt betrachtet man

Dies ist konstant gleich , sodass der Limes für gegen existiert und gleich ist. Die Ableitung in jedem Punkt existiert demnach und ist gleich . Die Steigung der affin-linearen Funktion ist also die Ableitung.



Wir betrachten die Funktion

Der Differenzenquotient zu und ist

Der Limes davon für gegen ist . Die Ableitung von in ist daher .




Lineare Approximierbarkeit

Wir besprechen eine zur Differenzierbarkeit äquivalente Eigenschaft, die lineare Approximierbarkeit. Diese Formulierung ist in dreifacher Hinsicht wichtig: Sie erlaubt vergleichsweise einfache Beweise für Rechenregeln für differenzierbare Funktionen, sie liefert ein Modell für Approximierbarkeit durch Polynome von höherem Grad (quadratische Approximation, Taylor-Entwicklung) und sie erlaubt eine Verallgemeinerung auf die höherdimensionale Situation (im zweiten Semester).


Es sei eine Teilmenge, ein Punkt und

eine Funktion.

Dann ist in genau dann differenzierbar, wenn es ein und eine Funktion

gibt mit stetig in und und mit

Wenn differenzierbar ist, so setzen wir

Für die Funktion muss notwendigerweise

gelten, um die Bedingungen zu erfüllen. Aufgrund der Differenzierbarkeit existiert der Limes

und hat den Wert . Dies bedeutet, dass in stetig ist.
Wenn umgekehrt und mit den angegebenen Eigenschaften existieren, so gilt für die Beziehung

Da stetig in ist, muss auch der Limes links für existieren.


Die in diesem Satz formulierte Eigenschaft, die zur Differenzierbarkeit äquivalent ist, nennt man auch die lineare Approximierbarkeit. Die affin-lineare Funktion

heißt dabei die affin-lineare Approximation. Die durch gegebene konstante Funktion kann man als konstante Approximation ansehen.



Es sei eine Teilmenge, ein Punkt und

eine Funktion, die im Punkt differenzierbar sei.

Dann ist stetig in .

Dies folgt direkt aus Satz 14.5.




Rechenregeln für differenzierbare Funktionen
Eine Veranschaulichung der Produktregel: Der Zuwachs eines Flächeninhalts entspricht der Summe der beiden Produkte aus Seitenlänge und Seitenlängezuwachs. Für den infinitesimalen Zuwachs ist das Produkt der beiden Seitenlängenzuwächse irrelevant.



Es sei eine Teilmenge, ein Punkt und

Funktionen, die in differenzierbar seien. Dann gelten folgende Differenzierbarkeitsregeln.

  1. Die Summe ist differenzierbar in mit
  2. Das Produkt ist differenzierbar in mit
  3. Für ist auch in differenzierbar mit
  4. Wenn keine Nullstelle in besitzt, so ist differenzierbar in mit
  5. Wenn keine Nullstelle in besitzt, so ist differenzierbar in mit

(1). Wir schreiben bzw. mit den in Fakt ***** formulierten Objekten, also

und

Summieren ergibt

Dabei ist die Summe wieder stetig in mit dem Wert .
(2). Wir gehen wieder von

und

aus und multiplizieren die beiden Gleichungen. Dies führt zu

Aufgrund von Fakt ***** für Limiten ist die aus der letzten Zeile ablesbare Funktion stetig mit dem Wert für .
(3) folgt aus (2), da eine konstante Funktion differenzierbar mit Ableitung ist.
(4). Es ist

Da nach Korollar 14.6 stetig in ist, konvergiert für der linke Faktor gegen und wegen der Differenzierbarkeit von in konvergiert der rechte Faktor gegen .
(5) folgt aus (2) und (4).


Diese Rechenregeln heißen Summenregel, Produktregel, Quotientenregel. Die folgende Aussage heißt Kettenregel.


Es seien Teilmengen und seien

und

Funktionen mit . Es sei in differenzierbar und sei in differenzierbar.

Dann ist auch die Hintereinanderschaltung

in differenzierbar mit der Ableitung

Aufgrund von Satz 14.5 kann man

und

schreiben. Daher ergibt sich

(wenn man durch ersetzt)

Die hier ablesbare Restfunktion

ist stetig in mit dem Wert .


Eine Veranschaulichung für die Ableitung der Umkehrfunktion. Die Umkehrfunktion besitzt den an der Hauptdiagonalen gespiegelten Graphen und die Tangente wird mitgespiegelt.



Es seien Intervalle und sei

eine bijektive stetige Funktion mit der Umkehrfunktion

Es sei in differenzierbar mit .

Dann ist auch die Umkehrfunktion in differenzierbar mit

Wir betrachten den Differenzenquotienten

und müssen zeigen, dass der Limes für existiert und den behaupteten Wert annimmt. Es sei dazu eine Folge in , die gegen konvergiert. Nach Satz 11.7 ist stetig. Daher konvergiert auch die Folge mit den Gliedern gegen . Wegen der Bijektivität ist für alle . Damit ist

wobei die rechte Seite nach Voraussetzung existiert und die zweite Gleichheit auf Lemma 8.1  (5) beruht.



Die Funktion

ist die Umkehrfunktion der Funktion mit (eingeschränkt auf ). Deren Ableitung in einem Punkt ist . Nach Satz 14.9 gilt daher für die Beziehung

Im Nullpunkt ist nicht differenzierbar.

Die Funktion

ist die Umkehrfunktion der Funktion mit Deren Ableitung in ist , dies ist für von verschieden. Nach Satz 14.9 ist für somit

Im Nullpunkt ist nicht differenzierbar.




Die Ableitungsfunktion

Bisher haben wir nur von der Differenzierbarkeit einer Funktion in einem Punkt gesprochen. Jetzt lösen wir uns von dieser punktweisen Betrachtung.


Es sei ein Intervall und sei

eine Funktion. Man sagt, dass differenzierbar ist, wenn für jeden Punkt die Ableitung von in existiert. Die Abbildung

heißt die Ableitung (oder Ableitungsfunktion) von .


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