Kurs:Riemannsche Flächen (Osnabrück 2022)/Vorlesung 32

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Das algebraische Geschlecht

Eine glatte projektive Kurve über kann man als eine kompakte riemannsche Fläche und eine kompakte riemannsche Fläche algebraisch realisieren, für die erste Richtung siehe im ebenen Fall Satz 5.14, für die zweite Richtung ist Satz 26.9 ein entscheidender Schritt. Wir wollen zeigen, dass bei dieser Korrespondenz die Geschlechter übereinstimmen. In der kohomologischen Definition des Geschlechtes wird auf beiden Seiten die Dimension der ersten Kohomologie der Strukturgarbe genommen. In der analytischen Situation bezieht sich Strukturgarbe aber auf die holomorphen Funktionen mit der feinen metrischen Topologie, in der algebraischen Situation aber auf die rationalen Funktionen in der Zariski-Topologie. Aufgrund der Serre-Dualität, die es auf beiden Seiten gibt, stimmt jeweils das kohomologische Geschlecht mit dem differentiellen Geschlecht überein. Dies ist analog definiert, bezieht sich aber in der analytischen Situation auf die Dimension der globalen holomorphen Differentialformen, in der algebraischen Situation auf die Dimension der globalen Kähler-Differentialformen.

In der differentiellen Situation ist recht einfach zu sehen, dass globale Kähler-Differentialformen auch globale holomorphe Differentialformen sind und dass dabei die lineare Unabhängigkeit erhalten bleibt. Es ist also

In der kohomologischen Welt liefert ein Čech-Kozykel zur algebraischen Strukturgarbe auf einer Zariski-offenen Überdeckung auch einen Čech-Kozykel für die holomorphen Funktionen auf der riemannschen Fläche. Es ist aber keineswegs klar, dass ein solcher nichttrivialer Kozykel nichttrivial bleibt, da ja viel mehr holomorphe Funktionen zur Verfügung stehen, noch, dass alle holomorphen Kozykel zu dieser Überdeckung algebraisch repräsentiert werden können, noch, dass man mit diesen Zariski-Überdeckungen alles erfassen kann.



Satz  

Es sei eine zusammenhängende glatte projektive Kurve über und sei die zugehörige kompakte zusammenhängende riemannsche Fläche.

Dann stimmt das algebraisch definierte Geschlecht von mit dem analytisch definierten Geschlecht von überein.

Beweis  

Nach Satz 31.1 kann man die erste Kohomologie der holomorphen Strukturgarbe durch

berechnen. In der algebraischen Situation gibt es die kurze exakte Garbensequenz

wobei die konstante Garbe auf der Zariski-Topologie mit dem Funktionenkörper bezeichnet. Diese Garbe ist insbesondere welk und ihre erste Kohomologie verschwindet daher. Die Quotientengarbe kann man punktweise berechnen, die Halme in einem Punkt sind . Da ein diskreter Bewertungsring mit einer Ortsuniformisierenden und sein Quotientenkörper mit ist, gilt

nach Aufgabe 32.5. Es liegt also die gleiche Hauptteilstruktur wie im analytischen Fall vor. Somit stimmt die Garbe der analytischen Hauptteilverteilungen mit der Garbe der algebraischen Hauptteilverteilungen (wo sie definiert ist) überein. Nach Satz 26.10 ist

also hat man für und identische Beschreibungen.



Das topologische Geschlecht

Die komplex-projektive Gerade ist als reelle Manniglfaltigkeit eine -Sphäre und damit homömorph zu einer Pyramide (einem Tetrahedron). Sie setzt sich zusammen aus Dreiecken, es gibt Kanten und Eckpunkte. Die Wechselsumme dieser Zahlen ist . Die Dreieckstruktur kann man auf die Kugeloberfläche oder jede dazu homöomorphe Fläche übertragen. Man spricht von einer Triangulierung der Fläche. Es gibt natürlich eine Vielzahl von solchen Triangulierungen der Sphäre. Wenn man sie als Würfeloberfläche auffasst und jede Fläche in zwei Dreieckshälften unterteilt, so erhält man Dreiecksflächen, Kanten und Eckpunkte. Für die Wechselsumme gilt wieder .

Eine Triangulierung einer Fläche (im Sinne einer reellen zusammenhängenden zweidimensionalen Mannigfaltikeit) ist eine Überdeckung der Fläche mit zu Dreiecken homoömorphen Flächenstücken, wobei je zwei Dreiecke disjunkt sind, oder eine Kante oder einen Eckpunkt gemeinsam haben. Die Existenz einer Triangulierung ist nicht trivial.


Definition  

Es sei eine kompakte Fläche zusammen mit einer Triangulierung von mit Eckpunkten, Kanten und Dreiecken. Dann nennt man die Euler-Poincaré-Charakteristik der Triangulierung.


Beispiel  

Wir realisieren einen Torus durch gleiche Würfel, die wir ringförmig um einen nichtvorhandenen neunten Würfel legen. Dieses geometrische Objekt hat eine Überdeckung mit Quadratflächen, die wir in Dreiecke halbieren können, um eine Triangulierung zu erhalten. Da sich aber bei einer solchen einzelnen Halbierung die Flächenanzahl um erhöht, eine Kante hinzukommt und die Anzahl der Eckpunkte unverändert bleibt, können wir die Euler-Poincaré-Charakteristik auch direkt mit der gegebenen Zerlegung in Quadrate berechnen. Es gibt Ecken, Kanten (oben hat man am äußeren Rand, innen und dazwischen, an den Seiten außen hat man und innen ) und Quadrate ( oben und unten, außen und innen). Also ist



Beispiel  

Es sei eine kompakte Fläche zusammen mit einer endlichen Triangulierung und der Euler-Poincaré-Charakteristik . Wir möchten einen Henkel an die Fläche ankleben. Es seien und disjunkte Dreiecke der Triangulierung (durch eine Verfeinerung der Triangulierung kann man davon ausgehen, dass es solche disjunkten Dreiecke gibt). Wir ändern zu einer neuen Fläche ab, indem wir uns außerhalb der Fläche ein Dreieck dazudenken (man kann sich vorstellen, dass sich alles oberhalb einer Kreisscheibe abspielt, in der es die beiden Dreiecke gibt. Das dritte Dreieck wird oberhalb der „Mitte“ der beiden Dreiecke senkrecht platziert) und dieses mit den beiden Dreiecken verbindet. Es entsteht also zweimal ein Zylindermantel zu einer dreieckigen Grundfläche (ohne irgendeine Bedingung an Parallelität oder Rechtwinkligkeit oder dergleichen). Jede Mantelfläche (die konvexe Vierecke sind) zerlegen wir in zwei Dreiecke. Dadurch entsteht ein neuer topologischer Raum mit einer Triangulierung, wobei wir den Raum auch glatt realisieren können. Bei diesem Prozess gehen Dreiecke der Triangulation verloren und es kommen neue dazu. Es kommen Kanten auf den Zylindern und Kanten auf hinzu und es kommen Eckpunkte hinzu. Die Differenz der Euler-Poincaré-Charakteristik von zu ist also

Bei der Hinzunahme eines Henkels reduziert sich also die Euler-Poincaré-Charakteristik um .



Satz

Es sei eine kompakte Fläche.

Dann ist die über eine Triangulierung definierte Euler-Poincaré-Charakteristik eine topologische Invariante, d.h. sie hängt nicht von der gewählten Triangulierung ab. Sie ist

wobei die -te Betti-Zahl bezeichnet, also den Rang der -ten singulären Homologie von .

Wir definieren das topologische Geschlecht über die Euler-Poincaré-Charakteristik.


Definition  

Es sei eine kompakte orientierte Fläche. Dann definiert man das Geschlecht von als

wobei die Euler-Poincaré-Charakteristik von bezeichnet.

Für die -Sphäre ist das so definierte Geschlecht gleich . Mit Beispiel 32.4 ergibt sich, dass sich das Geschlecht bei der Anheftung eines Henkels um erhöht. Das Geschlecht ist also die Anzahl der Henkel. Für eine orientierte zusammenhängende kompakte Fläche ist . Dabei ergibt sich das erste direkt aus der Zusammenhangseigenschaft, das zweite folgt daraus mit Hilfe der Poincaré-Dualität. Daher ist mit Satz 32.5

also , der Rang der ersten singulären Homologie ist also das Doppelte des Geschlechtes.

Wir zeigen nun die Beziehung zwischen dem über die holomorphe Struktur definierten Geschlecht und dem topologischen Geschlecht.


Satz  

Es sei eine kompakte zusammenhängende riemannsche Fläche.

Dann besteht zwischen dem Grad eines kanonischen Divisors von und der Euler-Poincaré-Charakteristik von die Beziehung

Beweis  

Nach Satz 26.3 gibt es eine endliche surjektive holomorphe Abbildung

Dabei gilt nach Satz 31.8 in Verbindung mit Satz 30.10 die Beziehung

Es genügt also zu zeigen, dass für die Euler-Poincaré-Charakteristik eine entsprechende Formel gilt. Es sei die Menge der Verzweigungsbildpunkte von . Wir wählen eine Triangulierung von , in der diese Punkte als Eckpunkte auftreten. Ferner können wir durch eine Verfeinerung erreichen. dass in jedem Dreieck höchstens ein Eckpunkt ein Verzweigungsbildpunkt ist. Es sei

die Blätterzahl von . Zu jedem Dreieck der Triangulierung gibt es eindeutige (und zueinander disjunkte) Liftungen des Dreieckes ohne die Eckpunkte. Aufgrund der Eigentlichkeit der Abbildung besitzen auch die Eckpunkte bei einer gegebenen Liftung des Dreieckes eine zugehörige Liftung, wobei allerdings unterschiedliche geliftete Dreiecke einen gleichen Eckpunkt haben können. Diese geliftete Triangulierung ist eine Triangulierung von : Wenn nämlich zwei Dreiecke zwei gemeinsame Eckpunkte haben, so gehört schon die zugehörige Kante zu beiden Dreiecken. Die beiden Eckpunkte bilden auf verschiedene Punkte ab, einer der beiden Punkte ist dann nach Konstruktion der Triangulierung auf der projektiven Geraden kein Verzweigungspunkt. Die beiden relevanten Kanten müssen auf die gleiche Kante unten abbilden. Wegen der eindeutigen Liftung im unverzweigten Punkt folgt, dass die Kanten oben auch übereinstimmen.

Es sei die Anzahl der Ecken, die Anzahl der Kanten und die Anzahl der Dreiecke unten. Dabei gilt aufgrund der tetrahedrischen Triangulierung der Sphäre. In der gelifteten Triangulierung ist die Anzahl der Kanten gleich und die Anzahl der gelifteten Dreiecke gleich . Für jeden Punkt ist

D.h. die Anzahl der Urbildpunkte zu ist mit . Damit ist die Anzahl der Eckpunkte der gelifteten Triangulierung gleich

Somit ist



Korollar  

Es sei eine kompakte zusammenhängende riemannsche Fläche.

Dann stimmt das Geschlecht von mit dem topologischen Geschlecht von überein.

Beweis  

Dies folgt wegen Satz 32.7 aus Satz 30.10 und der Definition des topologischen Geschlechtes mit Hilfe der Euler-Poincaré-Charakteristik.



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