Kurs:Analysis (Osnabrück 2021-2023)/Teil II/Vorlesung 31/kontrolle
In dieser Vorlesung entwickeln wir die Integrationstheorie weiter, und zwar untersuchen wir die Frage, was passiert, wenn wir in einem Integral die Intervallgrenzen gegen unendlich oder gegen eine Zahl, wo die Funktion nicht definiert ist, wandern lassen.
- Uneigentliche Integrale
Wir knüpfen an Beispiel 24.9 an, d.h., es liegen zwei Massen und vor, die untereinander den Abstand besitzen. Wie viel Energie muss man aufwenden, um die beiden Massen unendlich weit voneinander zu entfernen? In Beispiel 24.9 haben wir die Energie berechnet, um den Abstand von auf zu erhöhen, und erhielten
Für ist und daher ist .
Dieses Beispiel zeigt, dass es sinnvoll sein kann, bei bestimmten Integralen die Intervallgrenzen „gegen unendlich laufen zu lassen“. Dies führt zum Begriff der uneigentlichen Integrale.
Unter einem (uneigentlichen) Randpunkt eines (ein- oder beidseitig) unbeschränkten Intervalls verstehen wir im Folgenden auch die Symbole und . Dies heißt nicht, dass diese Symbole zu gehören, sondern lediglich, dass man dafür sinnvolle Grenzwertbetrachtungen durchführen kann. Die Definition für den Grenzwert einer Funktion gegen bzw. lautet folgendermaßen.
Es sei (oder ) ein rechtsseitig (bzw. linksseitig) unbeschränktes Intervall und
eine Funktion. Dann heißt Grenzwert (oder Limes) von für (bzw. ), wenn es für jedes ein (bzw. ) gibt mit für alle (bzw. ). In diesem Fall schreibt man
(bzw. ).
Die Rechenregeln für diesen Grenzwertbegriff (siehe Aufgabe 31.2) sind weitgehend analog zu den Rechenregeln für den bisherigen Grenzwertbegriff für Funktionen (siehe Lemma 12.12). Sie sind auch analog zu den Rechenregeln für Limiten von Folgen (siehe Lemma 6.1).
Es sei ein Intervall, ein (uneigentlicher) Randpunkt von und . Es sei eine stetige Funktion
gegeben. Man sagt, dass das uneigentliche Integral zu für existiert, wenn der Grenzwert
existiert. In diesem Fall schreibt man für diesen Grenzwert auch
und nennt dies das uneigentliche Integral von nach
Die Existenz dieses uneigentlichen Integrals hängt nicht vom gewählten Intervallpunkt ab, wohl aber der Wert des uneigentlichen Integrals. Die inhaltliche Interpretation des uneigentlichen Integrals ist wiederum der Flächeninhalt unterhalb des Funktionsgraphen, aber erstreckt über ein nicht notwendigerweise kompaktes Intervall. Wenn für die Funktion eine Stammfunktion bekannt ist, so geht es um das Bestimmen des Grenzwertes
Die Frage, ob eine uneigentliches Integral existiert, ist nur relevant, wenn ein uneigentlicher Randpunkt oder ist oder wenn der eigentliche Randpunkt eines an dieser Stelle halboffenen Intervalls ist.
Es sei ein reelles Intervall, und sei ein (uneigentlicher) Randpunkt von . Es seien
und es sei vorausgesetzt, dass das uneigentliche Integral
existiert.
Dann existiert auch das uneigentliche Integral
und es gilt
Es sei mit . Wir interessieren uns für die uneigentlichen Integrale zu für von bis . Dabei ist die Funktion bei der Intervallgrenze (bei negativem ) nicht definiert, das ist also der kritische Randpunkt. Bei ist eine Stammfunktion von . Daher ist
und der Grenzwert für existiert nicht. Das uneigentliche Integral existiert also nicht.
Es sei nun . Dann ist eine Stammfunktion zu und daher ist
Da es sich rechts um eine Potenz von mit einem negativen Exponenten handelt, ist nach der inversen Version von Aufgabe 17.7.
Das uneigentliche Integral existiert also nicht. Dies folgt übrigens auch aus Lemma 31.4, da ja für und gilt.
Es sei nun . Dann ist eine Stammfunktion zu und daher ist
Da es sich um eine Potenz von mit einem positiven Exponenten handelt, ist (nach Aufgabe 17.7). Das uneigentliche Integral existiert also und besitzt den Wert .
Es sei mit . Wir interessieren uns für das uneigentliche Integral zu für von bis . Der kritische (uneigentliche) Randpunkt ist also . Bei ist eine Stammfunktion von . Daher ist
und der Grenzwert für existiert nicht. Das uneigentliche Integral existiert also nicht.
Es sei nun . Dann ist eine Stammfunktion zu und daher ist
Da es sich um eine Potenz von mit einem negativen Exponenten handelt, ist . Das uneigentliche Integral existiert also und besitzt den Wert .
Bei ist für und daher kann nach Lemma 31.4 das uneigentliche Integral nicht existieren.
Wir wollen das uneigentliche Integral berechnen. Nach Lemma 27.8 ist
Die Stammfunktion von ist . Die untere Intervallgrenze ergibt den Wert , für die obere Intervallgrenze ergibt sich
Daher hat das uneigentliche Integral der Wert .
Es sei ein Intervall mit den beiden (uneigentlichen) Randpunkten und von . Es sei eine stetige Funktion
gegeben. Man sagt, dass das (beidseitig) uneigentliche Integral
existiert, wenn für ein die beiden einseitig uneigentlichen Integrale
existieren. In diesem Fall setzt man
und nennt dies das uneigentliche Integral zu von nach .
Die Existenz des beidseitig uneigentlichen Integrals hängt nicht von der Wahl des Punktes ab. Darüber hinaus hängt der Wert dieses Integrals, falls es existiert, ebenso wenig von dem gewählten Punkt ab.
Die Funktion ist nicht elementar integrierbar, d.h., man kann keine geschlossene Stammfunktion mit rationalen Funktionen, Exponentialfunktion, trigonometrischen Funktionen und ihren Umkehrfunktionen angeben. Es ist
was wir hier ohne Beweis mitteilen, siehe Satz 14.6 (Maß- und Integrationstheorie (Osnabrück 2022-2023)). Durch eine einfache Substitution ergibt sich daraus
Dieses Integral nennt man Fehlerintegral; es spielt in der Stochastik eine wichtige Rolle.
- Vergleichskriterien mit Reihen
Es sei ein rechtsseitig unbeschränktes Intervall und sei
eine stetige fallende Funktion mit für alle .
Dann existiert das uneigentliche Integral
genau dann, wenn die Reihe
Wenn das uneigentliche Integral existiert, so betrachten wir die Abschätzung
die darauf beruht, dass die linke Seite das
Treppenintegral
zu einer
unteren Treppenfunktion
für auf ist. Da die rechte Seite beschränkt ist, gilt dies auch für die linke Seite, sodass wegen
die Reihe konvergiert.
Ist umgekehrt die Reihe konvergent, so betrachten wir die Abschätzung
die gilt, da die rechte Seite das Treppenintegral zu einer
oberen Treppenfunktion
ist. Wegen
ist die Integralfunktion
wachsend
und beschränkt, da die rechte Seite wegen der Konvergenz der Reihe beschränkt ist. Daher besitzt die Integralfunktion für einen
Grenzwert
und das uneigentliche Integral existiert.
Die Funktion
ist streng fallend. Daher ist die Funktion , die für mit () durch definiert ist, eine „Majorante“ für , also . Auf jedem Intervall liefert eine obere Treppenfunktion zu . Ebenso liefert die durch bei definierte Funktion eine untere Treppenfunktion für . Daher gelten die Abschätzungen
Das Integral in der Mitte besitzt den Wert . Daraus ergibt sich mit Lemma 31.10 ein neuer Beweis, dass die harmonische Reihe divergiert.
Die Differenz zwischen der linken und der rechten Summe ist . Daher ist die Differenz
für jedes positiv, mit wachsend und nach oben beschränkt. Daher existiert für der Limes, und dieser Limes ändert sich nicht, wenn man vorne in der Summe bis aufsummiert anstatt bis . Wir setzen
und nennen sie die eulersche Konstante (oder Mascheronische Konstante). Ihr numerischer Wert ist ungefähr
Es ist ein offenes mathematisches Problem, ob diese Zahl rational ist oder nicht.
Nach Beispiel 31.6 existiert für das uneigentliche Integral , sodass aufgrund von Lemma 31.10 auch die Reihen konvergieren. Daher ist die folgende Funktion wohldefiniert.
Die Riemannsche -Funktion ist für mit durch
definiert.
Diese Funktion lässt sich komplex fortsetzen und spielt eine wichtige Rolle in der Zahlentheorie.